Buch
Alles hat irgendwo einen Anfang. Für den Elite-Militärpolizisten Jack Reacher war dieses Irgendwo Carter Crossing, Mississippi, 1997.
Eine einsame Straße. Der Schauplatz eines Verbrechens. Eine Vertuschung. Eine junge Frau ist tot, und verlässliche Indizien deuten auf einen Soldaten von der nahegelegenen Militärbasis als Schuldigen. Doch dieser Soldat hat mächtige Freunde in Washington.
Reacher wird inoffziell beauftragt, alles herauszufinden, was er kann, und es dann zu verbergen. Aber als er Carter Crossing erreicht, trifft Reacher auf den örtlichen Sheriff Elizabeth Deveraux, die es nach Gerechtigkeit verlangt und die Geheimnisse gar nicht leiden kann. Die beiden sind sich nicht sicher, ob sie einander trauen können, tun sich aber dennoch zusammen. Als Reacher auf unerwartete Zusammenhänge stößt, setzt er alles daran, die Wahrheit aufzudecken, während andere alles tun, um die Wahrheit zu begraben. Die Verschwörung lässt Reacher an der Rechtmäßigkeit seines Auftrags zweifeln – und macht aus ihm einen Mann, den man fürchten muss.
Autor
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.
Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag
Lee Child
Der letzte Befehl
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Wulf Bergner
Ich widme dieses Buch David Thompson, 1971–2010
Ein toller Buchhändler und ein guter Freund
1
Mit hundertfünfunddreißigtausend Quadratmetern Grundfläche, dreihundertfünfundvierzigtausend Quadratmetern Bürofläche, achtundzwanzig Kilometern Korridoren und dreißigtausend Beschäftigten ist das Pentagon, der Sitz des amerikanischen Verteidigungsministeriums, das größte Bürogebäude der Welt. Aber es hat nur drei Eingänge, die jeweils in eine bewachte Eingangshalle führen. Ich wählte den Südosteingang, den eigentlichen Haupteingang, der Bus und Metro am nächsten liegt, weil er am belebtesten war und von Zivilangestellten bevorzugt wurde. Ich wollte möglichst viele Zivilisten um mich herum haben, am liebsten in einer endlos langen Schlange, um vor »Zufällen« sicher zu sein – vor allem davor, ohne Warnung erschossen zu werden. Verhaftungen gehen immer mal wieder schief, manchmal versehentlich, manchmal absichtlich, deshalb wollte ich Augenzeugen. Ich wollte zumindest anfangs unter unabhängiger Beobachtung stehen. Das Datum weiß ich natürlich noch. Es war Dienstag, der 11. März 1997, mein letzter Arbeitstag als Angestellter der Leute, die dieses Gebäude erbaut hatten.
Lang ist’s her.
Außerdem lag der 11. März 1997 zufällig genau viereinhalb Jahre vor jenem zukünftigen Dienstag, der die Welt verändern würde, deshalb waren die Kontrollen am Haupteingang wie so viele Dinge in der guten alten Zeit gründlich, ohne gleich hysterisch zu sein. Nicht dass ich Anlass zur Hysterie gegeben hätte. Nicht aus einiger Entfernung. Ich trug meinen Dienstanzug – frisch gereinigt, Oberhemd frisch gewaschen, Schuhe auf Hochglanz poliert – mit allen Orden, Ehrenzeichen und Aufnähern, die ich in dreizehn Dienstjahren angesammelt hatte. Ich war sechsunddreißig, hielt mich kerzengerade und marschierte mit festem Schritt: in jeder Beziehung ein vorbildlicher Major der U.S. Army Military Police, wenn man davon absah, dass mein Haar zu lang war und ich mich fünf Tage nicht mehr rasiert hatte.
Damals war für die Sicherheit des Pentagons der Defense Protective Service zuständig, und ich konnte schon aus vierzig Metern Entfernung zehn seiner Kerle in der Eingangshalle ausmachen, was erheblich zu viele zu sein schienen, sodass ich mich fragte, ob das wirklich alles DPS-Männer waren oder ob einige aus unseren Reihen kamen und in dieser Tarnung auf mich warteten. Unsere qualifizierte Arbeit wird hauptsächlich von Warrant Officers ausgeführt, die zur Tarnung häufig in andere Rollen schlüpfen. Sie verkörpern Colonels, Generale, Mannschaftsdienstgrade und alle möglichen anderen Leute und machen ihre Sache gut. Für sie wäre es nichts Besonderes gewesen, hier in DPS-Uniform auf die Zielperson zu warten. Aus dreißig Metern erkannte ich keinen von ihnen, aber andererseits ist die Army eine sehr große Einrichtung, und man hätte Leute genommen, die ich garantiert nicht kannte.
Ich ging weiter, war Teil einer vielköpfigen Menge, die durch die Eingangshalle zu den Türen strömte: Frauen und Männer in Uniform, im Dienstanzug wie ich oder in dem alten Flecktarnanzug, den wir damals noch hatten; Frauen und Männer, die militärisch wirkten, aber keine Uniform, sondern Anzüge oder Arbeitskleidung trugen, und offensichtliche Zivilisten aus beiden Kategorien, die Taschen, Aktenkoffer oder Pakete mit sich führten. Alle diese Menschen wurden langsamer, bewegten sich seitlich und gingen weiter, als der breite Strom sich vor den Einlasskontrollen zu einem Rinnsal aus Einzelgängern oder kollegialen Duos verengte. Ich reihte mich einzeln hinter einer Frau mit blassen, nicht abgearbeiteten Händen und vor einem Kerl in einem blauen Anzug ein, der an den Ellbogen glänzte. Beides Zivilisten, Bürohocker, vermutlich irgendwelche Analysten, also genau das, was ich brauchte. Unabhängige Beobachter. Es war kurz vor Mittag. Dieser Märztag war sonnig und schon ein bisschen warm. Frühling in Virginia. Jenseits des Flusses würden die Kirschbäume bald zu neuem Leben erwachen. Die berühmte Blüte stand unmittelbar bevor. Überall im ganzen Land lagen Flugtickets und Spiegelreflexkameras für Sightseeingtouren in die Hauptstadt bereit.
Ich wartete in der Schlange. Weit vor mir taten die DPS-Kerle, was Sicherheitsleute machen. Vier von ihnen hatten spezifische Aufgaben: zwei bemannten die Auskunftstheke, und zwei kontrollierten Dienstausweise und ließen ihre Inhaber das offene Drehkreuz passieren. Zwei weitere standen direkt hinter den Glastüren, suchten mit erhobenen Köpfen die Eingangshalle ab und beobachteten die Anstehenden. Die letzten vier blieben im Schatten hinter den Drehkreuzen, bildeten dort eine geschlossene kleine Gruppe und schwatzten miteinander. Alle zehn waren bewaffnet.
Es waren die vier hinter den Drehkreuzen, die mir Sorgen bereiteten. Auch wenn das Verteidigungsministerium damals im Jahr 1997 im Verhältnis zu den uns drohenden Gefahren zweifellos einen Personalüberhang hatte, war es höchst ungewöhnlich, vier Männer, die im Dienst waren, untätig herumstehen zu sehen. Die meisten Dienststellen sorgten wenigstens dafür, dass ihr überschüssiges Personal vorgab, beschäftigt zu sein. Aber diese vier hatten anscheinend nichts zu tun. Ich reckte mich hoch und bemühte mich, ihre Schuhe zu erspähen. Schuhe können viel verraten. Wer sich tarnt, denkt oft nicht an sie, vor allem nicht in einem uniformierten Umfeld. Weil der DPS-Dienst viel Ähnlichkeit mit dem eines Streifenpolizisten aufwies, trugen diese Leute am liebsten bequeme Copschuhe, mit denen man den ganzen Tag gut gehen und stehen konnte. Getarnte Warrant Officers der Militärpolizei würden vielleicht eigene Schuhe tragen, die meist etwas schmaler geschnitten waren.
Aber ich konnte ihre Schuhe nicht erkennen. Nicht im Halbdunkel und aus dieser Entfernung.
Die Schlange bewegte sich weiter, kam wie vor dem 11. September 2001 üblich zügig voran. Keine mürrische Ungeduld, keine Frustration, keine Angst. Nur eine Routine alter Art. Die Frau vor mir benutzte Parfüm. Ich konnte den zarten Duft riechen, der von ihrem Nacken aufstieg. Das gefiel mir. Die beiden Kerle hinter der Glaswand entdeckten mich aus zehn Metern Entfernung. Ihr Blick wandte sich von der Frau ab und erfasste mich. Er ruhte eine Sekunde länger auf mir als unbedingt nötig und wanderte dann zu dem Mann hinter mir weiter.
Danach kehrte er zurück. Die beiden Männer musterten mich ganz unverhohlen von oben bis unten, bestimmt vier bis fünf Sekunden lang, bevor ich den nächsten Schritt machte und sie nochmals den Mann hinter mir in Augenschein nahmen. Sie wechselten kein Wort miteinander. Sagten auch nichts zu ihren Kollegen. Keine Warnung, kein Alarm. Das konnte zwei mögliche Gründe haben. Erstens, der beste Fall: Ich war nur ein Typ, den sie noch nicht gesehen hatten. Vielleicht war ich auch aufgefallen, weil ich größer und schwerer war als alle anderen in hundert Metern Umkreis. Oder weil ich wie ein Fotomodell zu den goldenen Eichenblättern eines Majors eine Ordensspange mit hohen Auszeichnungen wie einem Silver Star trug, aber mit Fünftagebart und langem Haar wie ein richtiger Höhlenmensch aussah – eine Diskrepanz, also Grund genug für den langen zweiten Blick, hinter dem vielleicht nur flüchtiges Interesse steckte. Wache zu stehen kann langweilig sein, und ungewöhnliche Anblicke sind stets willkommen.
Oder zweitens, der schlimmste Fall: Für sie war lediglich irgendein erwartetes Ereignis eingetreten, weil alles nach Plan lief. Als hätten die beiden sich vorbereitet und Fotos studiert und sagten sich jetzt: Okay, da ist er, genau pünktlich. Also warten wir jetzt noch zwei Minuten, bis er drinnen ist, und erledigen ihn dann.
Denn ich wurde erwartet und kam genau pünktlich. Ich hatte einen Termin um zwölf Uhr, um mit einem bestimmten Colonel in seinem Dienstzimmer im zweiten Stock des Rings C bestimmte Dinge zu besprechen, und war mir ziemlich sicher, dass ich nie dort ankommen würde. Geradewegs in eine Verhaftung zu marschieren war eine ziemlich brachiale Taktik, aber wenn man sich vergewissern will, ob der Herd heiß ist, muss man ihn manchmal anfassen.
Der Kerl vor der Frau vor mir trat an die Tür und hielt einen Dienstausweis hoch, den er um den Hals gehängt trug. Er wurde durchgewinkt. Die Frau vor mir ging weiter und hielt dann inne, weil die beiden DPS-Beobachter in genau diesem Augenblick hinter dem Glas hervortraten. Die Frau machte ihnen Platz, damit sie sich gegen den Strom vor ihr herausquetschen konnten. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, und die beiden Kerle standen plötzlich genau da, wo sie gestanden hatte: einen Meter vor mir, aber nicht mit dem Rücken zu mir, sondern mir zugekehrt.
Sie blockierten die Tür. Sie sahen nur mich an. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich echte DPS-Leute vor mir hatte. Sie trugen Copschuhe, und ihre etwas ausgebeulten Uniformen hatten sich ihren individuellen Körperformen über längere Zeit hinweg angepasst. Das waren keine Uniformen, die jemand an diesem Morgen zur Tarnung aus dem Schrank geholt und erstmals angezogen hatte. Ich blickte an den beiden Männern vorbei zu ihren vier Partnern, die weiter nichts taten, und versuchte, den Sitz ihrer Uniformen zu beurteilen, um einen Vergleich zu haben. Aber das war fast nicht möglich.
Der Kerl rechts vor mir fragte: »Sir, können wir Ihnen behilflich sein?«
Ich fragte: »Wobei?«
»Wohin wollen Sie heute?«
»Muss ich Ihnen das sagen?«
»Nein, Sir, absolut nicht«, entgegnete der Kerl. »Aber wir könnten dafür sorgen, dass Sie schneller hinkommen, wenn Sie möchten.«
Vermutlich durch eine unauffällige Tür in einen kleinen absperrbaren Raum, dachte ich. Sicher hatten auch sie wie ich die Zivilisten als Zeugen im Auge. Ich sagte: »Danke, ich warte gern, bis ich drankomme. Ich bin ohnehin der Nächste.«
Darauf wussten die beiden Kerle nichts zu sagen. Schachmatt. Die Stunde der Amateure. Dass sie versucht hatten, mich hier draußen zu verhaften, war dämlich gewesen. Ich konnte sie wegstoßen, mich herumwerfen und losspurten und binnen Sekunden in der Menge verschwinden. Und sie würden nicht schießen. Nicht hier draußen. In der Eingangshalle waren zu viele Menschen unterwegs. Zu hohe Kollateralschäden. Dies war 1997, vergessen Sie das nicht. Der 11. März. Viereinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der neuen Regeln. Aus ihrer Sicht war es weit besser abzuwarten, bis ich die Kontrollen passiert hatte. Die beiden Handlanger konnten die Tür hinter mir schließen und sich Schulter an Schulter davor aufbauen, während ich an der Auskunftstheke die schlechte Nachricht erhielt. Darauf konnte ich theoretisch kehrtmachen und mich an den beiden vorbei zum Ausgang durchkämpfen. Doch das würde ein paar Sekunden dauern, und in dieser Zeit konnten die vier Männer, die scheinbar nichts zu tun hatten, mich von hinten mit ungefähr tausend Kugeln durchlöchern.
Und wenn ich weiterstürmte, konnten sie mich von vorn erschießen. Und wohin hätte ich mich wenden sollen? Ins Pentagon zu flüchten war bestimmt keine gute Idee. Das größte Bürogebäude der Welt. Dreißigtausend Beschäftigte. Vier Stockwerke. Zwei Kellergeschosse. Achtundzwanzig Kilometer Korridore. Die Ringe sind untereinander durch zehn speichenförmige Gänge verbunden, sodass angeblich jeder Punkt des Gebäudes in maximal sieben Minuten erreichbar ist. Diese Angabe basierte vermutlich auf dem bei sechseinhalb Stundenkilometern liegenden beschleunigten Marschtempo der U.S. Army, was bedeutete, dass ich jeden Punkt in etwa drei Minuten erreichen konnte, wenn ich rannte. Aber wohin? Ich konnte eine Besenkammer finden, Leuten ihren mitgebrachten Lunch klauen und ein bis zwei Tage durchhalten, um dann doch geschnappt zu werden. Oder ich konnte Geiseln nehmen und versuchen, meine Argumente vorzubringen, aber ich hatte noch nie erlebt, dass das geklappt hatte.
Also wartete ich.
Der DPS-Kerl rechts vor mir sagte: »Sir, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Dann ging er an mir vorbei. Sein Partner ging auf der anderen Seite an mir vorbei. Beide schlenderten davon wie zwei Typen, die froh sind, nicht mehr eingeengt zu sein und Streife gehen zu können, um ihren Blickwinkel zu verändern. Vielleicht waren sie doch nicht so dämlich. Sie taten ihre Arbeit und hielten sich an ihren Plan. Sie hatten versucht, mich in einen kleinen abgesperrten Raum zu locken, aber das hatte nicht geklappt, was nicht weiter schlimm war, weil sie gleich zu Plan B übergegangen waren. Sie würden abwarten, bis ich drinnen war und die Tür sich hinter mir geschlossen hatte; dann würden sie alle Hereinkommenden für den Fall, dass drinnen geschossen werden musste, aus Sicherheitsgründen abweisen. Die Glastrennwand in der Eingangshalle sollte bestimmt aus schusssicherem Glas bestehen, aber kluge Köpfe würden nie darauf wetten, dass das Verteidigungsministerium genau das bekam, wofür es gezahlt hatte.
Die Tür war direkt vor mir. Sie stand offen. Ich holte tief Luft und betrat den Empfangsbereich.
Wenn man sich vergewissern will, ob der Herd heiß ist, muss man ihn manchmal anfassen.
2
Die Frau mit dem Parfüm und den blassen Händen befand sich schon weit auf dem Korridor hinter dem offenen Drehkreuz. Sie war durchgewinkt worden. Geradeaus vor mir lag die mit zwei Mann besetzte Auskunftstheke. Links voraus waren die zwei Kerle damit beschäftigt, Dienstausweise zu kontrollieren. Das offene Drehkreuz befand sich zwischen ihren Hüften. Die vier bereitstehenden Kerle taten weiterhin nichts. Sie bildeten eine stille, wachsame Gruppe, als wären sie ein unabhängiges Team. Ihre Schuhe konnte ich noch immer nicht sehen.
Ich atmete nochmals tief durch und trat an die Theke.
Wie ein Lamm an die Schlachtbank.
Der linke der beiden Männer schaute mich an und sagte: »Ja, Sir.« In seiner Stimme lagen Erschöpfung und Resignation. Das war keine Frage, sondern eine Antwort, als hätte ich schon etwas gesagt. Er sah jung und nicht unintelligent aus. Vermutlich ein echter DPS-Angehöriger. Warrant Officers der Militärpolizei lernen schnell, aber sie könnten trotzdem niemals an der Auskunft im Pentagon Dienst tun.
Der Mann hinter der Theke sah mich erwartungsvoll an, und ich sagte: »Ich habe einen Termin um zwölf Uhr.«
»Bei wem?«
»Colonel Frazer«, antwortete ich.
Der Kerl tat so, als würde er diesen Namen nicht erkennen. Das größte Bürogebäude der Welt. Dreißigtausend Beschäftigte. Er blätterte in einem Buch von der Größe eines Telefonbuchs und fragte dann: »Sie meinen Colonel John James Frazer, Sir? Verbindungsoffizier zum Senat?«
Ich sagte: »Ja.«
Oder: Schuldig im Sinne der Anklage.
Weit links von mir beobachteten mich die vier Kerle des Reserveteams. Aber sie rührten sich nicht von der Stelle. Noch nicht.
Der Kerl hinter der Theke fragte nicht nach meinem Namen. Das brauchte er nicht, weil er vermutlich eingewiesen worden war und ein Foto von mir gesehen hatte – und weil zu meinem Dienstanzug ein Namensschild auf der Patte der rechten Brusttasche gehörte: exakt mittig und einen Viertelzoll unter dem oberen Saum getragen.
Sieben Buchstaben: REACHER
Oder dreizehn Buchstaben: Verhaftet mich!
Der Kerl an der Auskunft sagte: »Colonel John James Frazer ist in 3C315. Sie wissen, wie Sie dort hinkommen?«
Ich sagte: »Ja.« Dritte Ebene, Ring C, in der Nähe von Radialkorridor drei, Sektion 15. Die Pentagonversion eines Koordinatensystems, das hier auch nötig war, wenn man an die dreihundertfünfundvierzigtausend Quadratmeter Bürofläche dachte.
Der Kerl sagte: »Sir, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag«, und sein unschuldiger Blick glitt an meiner Schulter vorbei zu dem nächsten Wartenden. Ich blieb noch einen Moment stehen. Diese Leute machten wirklich alles perfekt – mit einer Zierschleife obendrauf. Ein alter Rechtsgrundsatz lautet: Actus non facit reum nisi mens sit rea – Keine Schuld ohne Bewusstsein der Schuld, was grob gesagt bedeutet, dass man für sein Tun nicht unbedingt zur Verantwortung gezogen werden kann. Absichtliches Handeln gilt als Prüfstein. Die DPS-Männer warteten darauf, dass ich durch das Drehkreuz ging und das Labyrinth betrat.
Was die Erklärung dafür war, dass das Reserveteam auf ihrer Seite des Durchgangs, nicht auf meiner, bereitstand. Indem ich diese Linie überschritt, gab ich meine Absichten zu erkennen. Vielleicht hatte es Zuständigkeitsprobleme gegeben. Vielleicht waren Anwälte hinzugezogen worden. Frazer wollte mich liquidieren lassen, das stand fest, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass kein Verdacht auf ihn fiel.
Ich atmete nochmals tief durch, überschritt die Linie und machte damit alles real. Ich ging zwischen den beiden Kontrolleuren hindurch und spürte die kalten Stahlflanken des Drehkreuzes. Der bewegliche Stab war eingeklappt, so konnte nichts meine Schenkel streifen. Ich kam auf der anderen Seite heraus und blieb stehen. Die vier Männer standen rechts von mir. Ich betrachtete ihre Schuhe. Die Bekleidungsvorschriften der Army sind überraschend vage, was Schuhe betrifft. Schwarze Halbschuhe, konservativ, ohne Verzierungen, mindestens drei Paar Ösen, vorn geschlossen, höchstens fünf Zentimeter Absatz. Daran hielten sich alle vier, aber keiner von ihnen hatte Copschuhe an. Nicht wie die beiden Kerle draußen in der Eingangshalle. Sie trugen vier Variationen desselben klassischen Themas: auf Hochglanz poliert, straff geschnürt, mit kleinen Furchen, aber nicht wirklich abgenutzt. Vielleicht gehörten sie tatsächlich zum DPS. Vielleicht auch nicht. Das ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls nicht sofort.
Ich sah sie an, und sie erwiderten meinen Blick, aber keiner sagte etwas. Ich ging um die Gruppe herum und marschierte weiter ins Innere des Gebäudes. Ich benutzte den Ring E entgegen dem Uhrzeigersinn und bog am ersten Radialkorridor links ab.
Die vier Kerle folgten mir.
Sie blieben ungefähr zwanzig Meter hinter mir, dicht genug, um mich im Auge behalten zu können, und weit genug entfernt, um mich nicht zu bedrängen. Maximal sieben Minuten zwischen zwei beliebigen Punkten. Ich kam mir wie ein Stück Fleisch zwischen zwei Sandwichhälften vor. Bestimmt würde ein weiteres Team vor 3C315 warten – falls sie mich nicht schon vorher abfingen. Ich marschierte geradewegs auf sie zu. Nirgends eine Fluchtmöglichkeit, nirgends ein Versteck.
Auf dem Ring D benutzte ich die Treppe, um zwei Ebenen höher ins dritte Geschoss zu gelangen. Dort wechselte ich nur so aus Spaß die Richtung, ging entgegen dem Uhrzeigersinn weiter und passierte die Radialkorridore fünf und vier. Auf Ring D herrschte reger Betrieb. Leute mit Armen voller khakifarbener Akten hasteten von einem Ort zum anderen. Uniformierte Männer und Frauen liefen mit ausdruckslosen Mienen aneinander vorbei. Das Gedränge war wirklich sehr dicht. Ich umging Leute, wich ihnen aus und kam weiter gut voran. Unterwegs wurde ich immer wieder angestarrt. Wegen meiner Haare und des Fünftagebarts. Ich machte bei einem Wasserspender halt, beugte mich hinunter und nahm einen Schluck. Die vier zusätzlichen DPS-Männer waren nirgends zu sehen. Andererseits brauchten sie mich nicht wirklich zu beschatten. Sie wussten, wohin ich wollte und wann ich dort eintreffen sollte.
Ich richtete mich auf, ging weiter und bog rechts auf den Radialkorridor drei ab. Dort roch die Luft nach Uniformwolle, Linoleumpolitur und ganz schwach nach Zigarren. Die Ölfarbe an den Wänden schien aus Dutzenden von Schichten zu bestehen. Ich blickte nach links und rechts. Auf dem Flur befanden sich Leute, aber keine größere Ansammlung vor Sektion fünfzehn. Vielleicht warteten sie drinnen auf mich. Ich hatte schon fünf Minuten Verspätung.
Ich kehrte nicht um, sondern blieb auf Radialkorridor drei und ging über Ring B zum Ring A hinüber. Ins Herz des Gebäudes, in dem alle Korridore endeten. Oder begannen – je nach Dienstgrad und Perspektive. Jenseits des Rings A gab es nur noch einen gut zwei Hektar großen Innenhof, der dem Loch eines fünfeckigen Donuts glich. In der guten alten Zeit hatten die Leute ihn »Nullpunkt« genannt, weil sie sich ausrechneten, dass die Sowjets mit ihrer größten und besten ICBM ständig darauf zielten, als wäre er das Schwarze einer riesigen Zielscheibe. Ich glaube, dass sie unrecht hatten. Ich glaube, dass die Sowjets für den Fall, dass die ersten vier Raketen versagten, mit ihren fünf größten und besten ICBMs darauf zielten. Kluge Köpfe würden auch nie darauf wetten, dass die Sowjets genau das bekommen hatten, wofür sie gezahlt hatten.
Auf Ring A wartete ich, bis ich zehn Minuten Verspätung hatte. Die anderen sollten lieber im Ungewissen bleiben. Vielleicht suchten sie mich bereits. Vielleicht bekamen die vier unterbeschäftigten Kerle bereits einen Anschiss, weil sie mich aus den Augen verloren hatten. Ich holte nochmals tief Luft, stieß mich von der Wand ab und marschierte auf dem Radialkorridor drei über Ring B zu C zurück. Dort bog ich ab, ohne aus dem Tritt zu kommen, und hielt auf Sektion 15 zu.
3
Vor Sektion 15 wartete niemand. Kein Team aus DPS-Männern. Überhaupt niemand. So weit das Auge reichte, war auch der Korridor auf beiden Seiten völlig leer. Und auffällig still. Offenbar befand sich jeder schon dort, wo er hinwollte. Die Mittagsbesprechungen waren in vollem Gange.
Die Tür von Sektion 15 stand offen. Ich klopfte kurz an – aus Höflichkeit, als Ankündigung, als Warnung – und trat sofort ein. Die Dienstzimmer im Pentagon waren ursprünglich Großraumbüros mit nur angedeuteten Unterteilungen durch Karteischränke und andere Büromöbel gewesen, aber im Lauf der Jahre waren Wände eingezogen worden. Dafür war 3C315, Frazers Dienstzimmer, ein relativ typisches Beispiel: ein kleiner quadratischer Raum mit einem Fenster ohne bemerkenswerte Aussicht, einem Orientteppich auf dem Fußboden, gerahmten Fotos an den Wänden, einem stahlgrauen Dienstschreibtisch, drei Stühlen (einer davon mit Armlehnen) und einem extrabreiten Karteischrank.
Und es war ein kleiner quadratischer Raum, in dem sich außer Frazer, der am Schreibtisch saß, niemand aufhielt. Er sah zu mir auf und lächelte.
Er sagte: »Hallo, Reacher.«
Ich schaute nach links und rechts. Kein Mensch. Absolut niemand. Hier gab es keine private Toilette. Keinen großen Schrank. Keine weitere Tür. Und der Korridor hinter mir war leer. In dem riesigen Gebäude herrschte Stille.
Frazer sagte: »Schließen Sie die Tür.«
Ich schloss die Tür.
Frazer sagte: »Setzen Sie sich, wenn Sie wollen.«
Ich setzte mich.
Frazer sagte: »Sie kommen spät.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich bin aufgehalten worden.«
Frazer nickte. »Kurz vor zwölf ist hier die Hölle los. Mittagspausen, Schichtwechsel, weiß der Teufel, was noch alles. Der reinste Zoo! Ich nehme mir nie vor, um zwölf irgendwohin zu gehen und verkrieche mich einfach nur hier.« Er war einen Meter fünfundsiebzig groß, wog geschätzte neunzig Kilo, war stämmig und breitschultrig, rotgesichtig, schwarzhaarig und Mitte vierzig. In seinen Adern floss altes schottisches Blut, gefiltert durch die fruchtbare Erde Tennessees, von wo er stammte. Er hatte als Teenager in Vietnam gekämpft und sich später am Golf ausgezeichnet. Er war ein altmodischer Krieger, aber weil er zu seinem Pech so gut reden und lächeln konnte, wie er kämpfte, war er zum Verbindungsoffizier beim Senat ernannt worden; denn die Leute, die das Geld bewilligten, waren heute der eigentliche Feind.
Er fragte: »Also, was haben Sie heute für mich?«
Ich schwieg. Ich hatte nichts zu sagen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich so weit kommen würde.
Er sagte: »Hoffentlich gute Nachrichten.«
»Keine Nachrichten«, sagte ich.
»Nichts.«
Ich nickte. »Nichts.«
»Sie haben mir mitgeteilt, Sie wüssten einen Namen. Das hat in Ihrer Mitteilung gestanden.«
»Ich weiß keinen Namen.«
»Warum haben Sie’s dann behauptet? Wieso wollten Sie mich sprechen?«
Ich machte eine kurze Pause.
»Das war eine Abkürzung«, sagte ich.
»In welcher Beziehung?«
»Ich habe verbreitet, ich wüsste einen Namen. Ich war neugierig, wer unter einem Stein hervorkriechen und versuchen würde, mich zum Schweigen zu bringen.«
»Und das hat niemand getan?«
»Bisher nicht. Aber vor zehn Minuten hat die Sache noch anders ausgesehen. In der Eingangshalle haben vier Männer in DPS-Uniform gestanden. Sie sind mir anfangs gefolgt. Ich dachte, sie sollten mich verhaften.«
»Wohin verfolgt?«
»Auf Ring B bis zu C. Dann habe ich sie auf der Treppe abgeschüttelt.«
Frazer lächelte wieder.
»Sie sind paranoid«, sagte er. »Sie haben sie nicht abgeschüttelt. Ich habe Ihnen gesagt, dass es um zwölf Uhr Schichtwechsel gibt. Diese Kerle kommen wie alle mit der Metro, sie schwatzen ein bisschen miteinander und machen sich dann auf den Weg in ihren Bereitschaftsraum. Der liegt im Ring B. Diese vier haben Sie nicht verfolgt.«
Ich schwieg.
Er sagte: »Es gibt immer wieder Gruppen, die einfach nur rumhängen. Sogar jede Menge. Wir sind personell gewaltig überbesetzt. Dagegen muss etwas unternommen werden. Das ist unvermeidlich. Diese Litanei höre ich im Kongress tagtäglich. Das lässt sich nicht vermeiden. Daran sollten wir alle denken. Vor allem Leute wie Sie.«
»Wie ich?«, fragte ich.
»In der heutigen Army gibt’s viele Majore. Vermutlich zu viele.«
»Auch viele Colonels«, sagte ich.
»Weniger als Majore.«
Ich schwieg.
Er fragte: »Hatten Sie auch mich auf Ihrer Liste von Wesen, die unter einem Stein hervorkriechen könnten?«
Du warst der einzige Name darauf, dachte ich.
Er fragte: »Hab ich draufgestanden?«
»Nein«, log ich.
Er lächelte wieder. »Gute Antwort. Hätte ich was gegen Sie gehabt, hätte ich Sie drunten am Mississippi umlegen lassen. Vielleicht wäre ich vorbeigekommen, um es selbst zu erledigen.«
Ich schwieg. Er sah mich einen Augenblick lang an, dann erschien auf seinem Gesicht ein Lächeln, das sich in ein Lachen verwandelte, das er angestrengt zu unterdrücken versuchte, was ihm aber nicht gelang. Es klang wie ein Blaffen, ein Niesen, und er musste sich zurücklehnen und zur Decke aufsehen.
Ich fragte: »Was?«
Sein Blick erfasste mich wieder. Er lächelte noch immer, als er sagte: »Entschuldigung, ich musste nur gerade an eine Redensart denken. Sie wissen, was man über einen Trottel sagt? Dass er sich nicht mal verhaften lassen konnte.«
Ich schwieg.
Er sagte: »Sie sehen schlimm aus. Hier gibt es Friseure. Sie sollten zu einem gehen.«
»Das kann ich nicht«, entgegnete ich. »Ich muss so aussehen.«
Fünf Tage zuvor war mein Haar noch fünf Tage kürzer, aber anscheinend lang genug gewesen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Leon Garber, der damals wieder mein Kommandeur war, hatte mich zu sich beordert; und weil in seiner Mail stand, ich solle mich nicht mit meiner äußeren Erscheinung aufhalten, rechnete ich mir aus, er wolle das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und mir eine Zigarre verpassen, während das Beweismaterial noch auf meinem Kopf vorhanden war. Und genau so begann unsere Besprechung. Er fragte mich: »Welche Dienstvorschrift regelt die persönliche Erscheinung des Soldaten?«
Das empfand ich als reichlich unverschämte Frage, weil sie von ihm kam. Garber war bestimmt der ungepflegteste Offizier, den ich kannte. Holte er sich aus der Kleiderkammer ein neues Uniformjackett, sah es nach einer Stunde aus, als hätte er darin zwei Kriege geführt, darin geschlafen und drei Schlägereien in Bars überstanden.
Ich behauptete: »Ich kann mich nicht erinnern, welche Dienstvorschrift die persönliche Erscheinung von Soldaten regelt.«
Er sagte: »Ich auch nicht. Aber ich scheine mich daran zu erinnern, dass Details zu Haarschnitt, Fingernägeln und Frisur in Kapitel eins, Absatz acht geregelt sind. Das steht mir alles klar vor Augen, wie’s auf der Seite steht. Können Sie sich an den Wortlaut erinnern?«
Ich sagte: »Nein.«
»Dort heißt es, Normen für Frisuren seien notwendig, um innerhalb des Soldatenstands Einheitlichkeit herzustellen.«
»Verstanden.«
»Diese Normen sind vorgeschrieben. Wissen Sie, was sie besagen?«
»Ich hatte verdammt viel zu tun«, antwortete ich. »Bin gerade aus Korea zurückgekommen.«
»Japan, dachte ich.«
»Das war nur ein Zwischenstopp.«
»Wie lange?«
»Zwölf Stunden.«
»Gibt’s in Japan Friseure?«
»Oh, bestimmt.«
»Brauchen japanische Friseure für einen Herrenhaarschnitt länger als zwölf Stunden?«
»Sicher nicht.«
»In Kapitel eins, Absatz acht, Paragraf zwo steht, dass das Kopfhaar ordentlich frisiert, dass Länge und Fülle des Haars nicht exzessiv sein oder zottelig, ungekämmt oder extrem aussehen dürfen. Stattdessen heißt es dort, das Haar müsse einen zwanglos angepassten Eindruck machen.«
Ich sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was das heißt.«
»Darunter versteht man, dass die Umrisse der Frisur eines Soldaten seiner Kopfform folgen sollen, um ganz natürlich in einem spitz zulaufenden Nackenschnitt zu enden.«
Ich sagte: »Gut, ich kümmere mich darum.«
»Das sind Vorschriften, verstehen Sie? Keine Vorschläge.«
»Okay«, sagte ich.
»Paragraf zwo bestimmt, dass gekämmtes Haar nicht über Ohren oder Augenbrauen fallen und nicht den Kragen berühren darf.«
»Okay«, sagte ich wieder.
»Würden Sie Ihre gegenwärtige Frisur nicht als zottelig, ungekämmt oder extrem aussehend bezeichnen?«
»Im Vergleich wozu?«
»Und wie stehen Sie in Bezug auf die Sache mit dem Kamm und den Ohren, den Augenbrauen und dem Kragen da?«
»Ich kümmere mich darum«, wiederholte ich.
Dann lächelte Garber, und der Tonfall unserer Besprechung änderte sich vollständig.
Er fragte: »Wie schnell wächst Ihr Haar überhaupt?«
»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Normal schnell, nehme ich an. Vermutlich wie bei allen Leuten. Wieso?«
»Wir haben ein Problem«, erklärte er mir. »Drunten in Mississippi.«
4
Garber sagte, das Problem drunten in Mississippi betreffe eine siebenundzwanzigjährige Frau namens Janice May Chapman. Sie stellte ein Problem dar, weil sie tot war. Sie war in der Kleinstadt Carter Crossing einen Straßenblock hinter der Main Street ermordet worden.
»War sie eine von uns?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Garber. »Sie war eine Zivilistin.«
»Wieso ist sie dann ein Problem?«
»Dazu komme ich noch«, erklärte Garber. »Aber zuerst müssen Sie die Story kennen. Das Gebiet dort unten ist finsterste Provinz; die Nordostecke des Bundesstaats im Grenzgebiet zu Alabama und Tennessee. Es gibt eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende Eisenbahnlinie und eine früher unbefestigte Nebenstraße, die sie bei einem Ort mit einer Quelle in Ost-West-Richtung quert. Die Lokomotiven konnten dort Wasser aufnehmen, und die Fahrgäste konnten aussteigen, um etwas zu essen – deshalb ist die Kleinstadt gewachsen. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg verkehren nur noch zwei Züge täglich, beides Güterzüge, keine Fahrgäste, daher war die Kleinstadt wieder auf dem Weg nach unten.«
»Bis?«
»Steuergelder. Sie wissen, wie so was läuft. Washington konnte nicht zulassen, dass weite Teile des Südens zu Dritte-Welt-Staaten wurden, deshalb haben wir etwas Geld reingesteckt. Sogar ziemlich viel Geld. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Leute, die am lautesten nach einem schlanken Staat rufen, immer in den Bundesstaaten mit den höchsten Subventionen zu leben scheinen? In einem schlanken Staat wären sie erledigt.«
Ich fragte: »Was hat Carter Crossing bekommen?«
Garber sagte: »Carter Crossing hat einen Army-Standort namens Fort Kelham bekommen.«
»Okay«, sagte ich. »Von Kelham habe ich schon gehört. Aber ich habe nie gewusst, wo es genau liegt.«
»Früher war es riesig«, fuhr Garber fort. »Der Baubeginn war 1950, glaube ich. Es hätte so groß wie Ford Hood werden sollen, aber letztlich war es doch zu weit östlich der I-55 und zu weit westlich der I-65, um wirklich brauchbar zu sein. Man musste weit auf Nebenstraßen fahren, um es überhaupt zu erreichen. Oder vielleicht haben Politiker aus Texas lautere Stimmen als Politiker aus Mississippi. Jedenfalls wurde Hood weiter ausgebaut, und Kelham ist am Halm verdorrt. Es hat bis zum Ende des Vietnamkriegs durchgehalten und ist dann in eine Ranger-Schule umgewandelt worden – was es noch immer ist.«
»Ich dachte, Ranger würden in Benning ausgebildet.«
»Das 75th schickt seine besten Leute für einige Zeit nach Kelham. Das ist nicht weit. Hat irgendwas mit dem dortigen Gelände zu tun.«
»Das 75th ist ein Regiment für Special Operations.«
»Das habe ich auch schon gehört.«
»Gibt es genug Ranger, die dort eine Sonderausbildung bekommen, um eine ganze Kleinstadt am Leben zu erhalten?«
»Beinahe«, sagte Garber. »Carter Crossing ist nicht sehr groß.«
»Wovon gehen wir also aus? Dass Chapman von einem Ranger ermordet worden ist?«
»Das bezweifle ich«, sagte Garber. »Der Täter war eher ein einheimischer Hillbilly, denke ich.«
»Gibt’s in Mississippi Hillbillys? Gibt’s dort überhaupt Hügel?«
»Gut, dann Hinterwäldler. Bäume haben sie genug.«
»Wie auch immer, warum reden wir überhaupt darüber?«
An dieser Stelle stand Garber auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, durchquerte den Raum und schloss die Tür. Er war natürlich älter als ich und viel kleiner, aber fast ebenso breit. Und er war besorgt. Es kam selten vor, dass er die Tür seines Dienstzimmers schloss, und noch seltener schaffte er’s, fünf Minuten lang zu reden, ohne eine mühsam zurechtgebogene kleine Ermahnung, einen Aphorismus oder einen Merkspruch anzubringen, um den Punkt, auf den es ihm ankam, in eine Form zu bringen, die man nicht so leicht vergaß. Jetzt setzte er sich wieder, wobei die Luft aus seinem Sitzpolster seufzend entwich, und fragte: »Haben Sie schon mal vom Kosovo gehört?«
»Balkan«, antwortete ich. »Wie Serbien und Kroatien.«
»Dort drüben wird’s Krieg geben. Wir wollen anscheinend versuchen, ihn zu verhindern. Das dürfte misslingen, und wir werden uns damit begnügen müssen, eine der beiden Seiten in Schutt und Asche zu bomben.«
»Okay«, sagte ich. »Immer gut, einen Plan B zu haben.«
»Dieser serbisch-kroatische Krieg war eine Katastrophe. Wie der in Ruanda. Total peinlich. Wir leben schließlich im zwanzigsten Jahrhundert.«
»Mir ist’s vorgekommen, als passte er gut ins zwanzigste Jahrhundert.«
»Heutzutage sollte das anders sein.«
»Warten Sie das einundzwanzigste ab. Das ist mein Rat.«
»Wir werden auf nichts warten. Wir wollen versuchen, im Kosovo das Richtige zu tun.«
»Na, dann viel Erfolg. Aber bitte ohne meine Hilfe. Ich bin nur ein Polizist.«
»Wir haben schon Leute drüben. Jeweils für kurze Zeit, wissen Sie, rein und raus.«
Ich fragte: »Wer?«
Garber sagte: »Friedenswächter.«
»Was, von den Vereinten Nationen?«
»Nicht genau. Nur unsere Leute.«
»Das wusste ich nicht.«
»Weil es niemand erfahren soll.«
»Wie lange geht das schon?«
»Zwölf Monate.«
Ich fragte: »Wir setzen seit einem vollen Jahr heimlich Bodentruppen auf dem Balkan ein?«
»Das ist keine so große Sache«, erwiderte Garber. »Zum Teil geht’s dabei um Aufklärung. Für den Fall, dass später etwas passieren muss. Aber vor allem soll für Ruhe gesorgt werden. Dort drüben gibt es viele Gruppierungen. Fragt uns jemand, behaupten wir immer, die andere Seite habe uns eingeladen. So glauben alle, die anderen hätten unsere Unterstützung. Das ist ein nützliches Abschreckungsmittel.«
Ich fragte: »Wen haben wir hingeschickt?«
Garber sagte: »Ranger der Army.«
Garber erklärte mir, während Fort Kelham nach außen hin eine legitime Ausbildungsstätte für Ranger bleibe, seien dort jetzt auch zwei Kompanien – Kompanie Alpha und Kompanie Bravo – mit handverlesenen Soldaten aus dem 75th Ranger Regiment stationiert, die sich bei heimlichen einmonatigen Einsätzen im Kosovo abwechselten. Kelhams relative Abgeschiedenheit mache es zu einem idealen Stützpunkt für Geheimoperationen. Obwohl, sagte Garber, wir eigentlich gar keinen Anlass hätten, irgendwas geheim zu halten. Wir schickten nur sehr wenige Leute nach drüben, und das Ganze sei ein humanitärer Einsatz, der aus edelsten Motiven erfolge. Aber Washington sei nun mal Washington, und manche Dinge blieben besser ungesagt.
Ich fragte: »Hat Carter Crossing eine Polizei?«
Garber sagte: »Ja, es gibt eine.«
»Lassen Sie mich raten. Sie kommt mit ihren Ermittlungen wegen Mordes nicht weiter und möchte auf Schnüffeltour gehen. Sie möchte einige der in Kelham Stationierten in den Kreis der Verdächtigen einbeziehen.«
Garber sagte: »Ja, das will sie.«
»Auch Männer der Kompanien Alpha und Bravo?«
»Ja.«
»Sie will ihnen alle möglichen Fragen stellen.«
»Ja.«
»Aber wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Leute ausfragt, weil wir ihr heimliches Kommen und Gehen tarnen müssen.«
»Korrekt.«
»Hat sie einen hinreichenden Verdacht?«
Ich hoffte, Garber werde Nein sagen, aber stattdessen sagte er: »Auf gewissen Indizien basierend.«
Ich fragte: »Indizien?«
Er sagte: »Der Zeitpunkt liegt sehr ungünstig. Janice May Chapman ist drei Tage nach der Rückkehr der Kompanie Bravo von ihrem jüngsten Kosovo-Einsatz ermordet worden. Die Abgelösten kommen im Direktflug aus Übersee zurück. Kelham hat einen eigenen Flugplatz, so groß ist die Anlage. Aus Geheimhaltungsgründen landen sie im Schutz der Dunkelheit. Die Heimkehrer bleiben erst mal zwei Tage interniert, um ausführlich befragt zu werden.«
»Und dann?«
»Am dritten Tag bekommt die heimgekehrte Kompanie eine Woche Urlaub.«
»Den alle in der Stadt verbringen.«
»Meistens.«
»Auch in der Main Street und den Straßen dahinter.«
»Dort sind die Bars.«
»Und in den Bars lernen sie Frauen kennen.«
»Wie immer.«
»Und Chapman war eine Einheimische.«
»Und als freundlich und umgänglich bekannt.«
Ich sagte: »Klasse.«
Garber sagte: »Sie ist vergewaltigt und verstümmelt worden.«
»Wie verstümmelt?«
»Danach habe ich nicht gefragt. Ich wollt’s nicht wissen. Sie war siebenundzwanzig. Jodie ist auch siebenundzwanzig.«
Seine einzige Tochter. Sein einziges Kind. Heiß geliebt.
Ich fragte: »Wie geht’s ihr?«
»Danke, gut.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist Anwältin«, sagte er, als wäre das kein Beruf, sondern ein Ort. Dann fragte er seinerseits: »Wie geht’s Ihrem Bruder?«
Ich sagte: »Dem geht es gut, soviel ich weiß.«
»Noch immer im Finanzministerium?«
»Soviel ich weiß.«
»Er war ein guter Mann«, sagte Garber, als sei das Ausscheiden aus der Army gleichbedeutend mit dem Tod.
Ich sagte nichts.
Garber fragte: »Also, was täten Sie dort drunten in Mississippi?«
Das war im Jahr 1997, deshalb sagte ich: »Die örtliche Polizei können wir nicht ausschließen. Nicht unter diesen Umständen. Aber wir können auch nicht voraussetzen, dass sie viel Fachkenntnis oder große Ermittlungsmöglichkeiten hat. Deshalb sollten wir ihr Hilfe anbieten und jemanden dort runterschicken. Alle Ermittlungen auf dem Stützpunkt könnten wir übernehmen. War der Täter jemand aus Kelham, servieren wir ihn auf einem Silbertablett. Damit wird der Gerechtigkeit Genüge getan, und wir können verbergen, was geheim bleiben muss.«
»So einfach ist die Sache nicht«, meinte Garber. »Sie wird noch schlimmer.«
»Wodurch?«
»Kompaniechef von Bravo ist ein Kerl namens Reed Riley. Kennen Sie den?«
»Der Name klingt bekannt.«
»Aus gutem Grund. Sein Vater ist Carlton Riley.«
Ich sagte: »Scheiße.«
Garber nickte. »Senator Riley. Der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses. Der unser bester Freund oder schlimmster Feind werden wird, je nachdem wie diese Sache ausgeht. Und Sie wissen, wie’s bei solchen Kerlen ist. Einen Captain der Infanterie als Sohn zu haben bringt ihm eine Million Wählerstimmen. Einen Helden als Sohn zu haben ist doppelt so viele wert. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passieren wird, wenn einer der Männer des jungen Reeds sich als Mörder erweist.«
Ich sagte: »Wir müssen sofort jemanden nach Kelham in Marsch setzen.«
Garber sagte: »Deshalb haben Sie und ich jetzt diese Besprechung.«
»Wann soll ich dort sein?«
»Ich will Sie nicht dort haben«, erklärte Garber.