C. Baxter Kruger
Patmos
Drei Tage, zwei Männer,
eine Begegnung mit Gott
Aus dem Amerikanischen
übersetzt von Thomas Görden
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1. Auflage
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München, by C. Baxter Kruger
Titel der Originalausgabe:
C. Baxter Kruger: PATMOS – Three Days, Two Men,
One Extraordinary Conversation
Copyright © 2016 by C. Baxter Kruger, alle Rechte vorbehalten.
Der Autor wird von Ambassador Literary, Nashville, Tennessee/USA, vertreten.
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See
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ISBN 978-3-641-20861-5
V001
www.gtvh.de
Für Kathryn,
unser Kind der Freude und Farbe.
Du bist die Tochter, die sich jeder Vater wünscht.
Inhalt
1. Durch die Dunkelheit
2. Johannes
3. Die Heilige Seele
4. Geschichte
5. Der Adler
6. Das Wäldchen
7. Prolog?
8. Karli
9. Eine Matratze für einen alten Heiligen
10. Tragödie
11. Die Lüge des Getrenntseins
12. MacDonald
13. Die tote Fliege
14. Der Biberdamm
15. Augustinus
16. Die Apokalypse
17. Ich bin es nicht
18. Von Glauben zu Glauben
19. Das große Ich bin
20. Der kleine Aidan
21. Geheimnisse
22. Fischen auf apostolische Art
23. Alligator!
24. Dem Tode nah
25. Ek, nicht apo
26. Unterwerfung
27. Ein neuer Tag bricht an
Danksagung
1. Durch die Dunkelheit
Wenn ich sonntags zu Hause bin, schlafe ich normalerweise so lange wie möglich. Doch dieser Sonntag hatte etwas anderes mit mir vor. Ein heftiger Sturm in der Nacht hatte mich kaum schlafen lassen, und das machte mich wütend, denn nach einer zweiwöchigen theologischen Vortragsreise brauchte ich dringend Erholung. Kurz nach sechs Uhr morgens weckte mich eine eigenartige Stille. Sie war noch beunruhigender als der Sturm. Ich spürte, dass der unsichtbare Krieg wieder begann. Obwohl ich Hunderten von Menschen dabei geholfen hatte, an ihren Kriegen zu wachsen, qualifizierte Hilfe zu finden oder sogar den Sieg davonzutragen, war in meinem eigenen Leben etwas Unsichtbares am Werk – etwas heimtückisch Böses, das mir immer wieder Knüppel zwischen die Beine warf. Ich sah es kommen wie eine dunkle Wolke, die vom Meer heranzieht, aber ich konnte nichts tun, um es aufzuhalten.
Da ich wusste, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war, beschloss ich aufzustehen, meine Khakihose und ein T-Shirt überzustreifen, mir einen Kaffee zu machen und die Zeitung hereinzuholen. Beim Gedanken daran, wie sehr meine Frau Mary echten Kaffee liebte – 100 Prozent Arabica, sagte sie –, musste ich lächeln, aber ich hasste es, so lange auf meine Tasse Kaffee warten zu müssen. So etwas weckte meine Ungeduld, wie dieser zähe Moment, wenn der Zähler an der Tanksäule bei den letzten Dollars nur noch schleppend vorwärtskriecht. Deshalb hatte ich mir schon vor langer Zeit geschworen, beim Tanken nie mehr im Voraus zu bezahlen, einfach weil ich das Gefühl nicht ausstehen konnte, wenn ich aufgehalten und meine Geduld strapaziert wurde. Aufgehalten zu werden war irgendwie charakteristisch für mein Leben. Wie oft hatte ich gerade dann, wenn meine Suche nach Antworten so richtig ins Rollen kam, plötzlich einen verfluchten, unbekannten Fallschirm im Rücken gespürt, der mich zurückhielt?
Das blaue Blinklicht der Kaffeemaschine riss mich aus meinen Gedanken. Ich drückte auf den Startknopf und eilte aus der Küche, um die Zeitung hereinzuholen. Ich konnte es einfach nicht ertragen, warten zu müssen. Wäre es nicht toll, die Kaffeemaschine vom Smartphone aus einschalten zu können, sie erledigt dann die ganze Arbeit, und wenn der Kaffee fertig ist, schickt sie eine SMS?
Als ich um die Ecke in die Diele ging, erwartete ich, unsere Haustür zu sehen. Aber was ich sah, war so schockierend wie die wilden Visionen des Apostels Johannes in seiner Offenbarung.
Seltsame Lichter sind an unserer Haustür nicht ungewöhnlich. In der Tür gibt es achtundzwanzig Glasfacetten, und im Winter kommt es manchmal vor, dass sich darin das Sonnenlicht fängt und Farbeffekte erzeugt. Doch an diesem Morgen traf ein Licht auf die Glasfacetten, das Hunderte Prismen aufleuchten ließ. Alle diese Prismen bewegten sich und tanzten durcheinander, als wären sie lebendig. Keine zwei Meter vor meinen Augen erzeugten sie ein überwältigendes Spektakel aus Licht und Farben.
Seit ich ein Junge war, faszinieren mich Prismen, aber noch nie habe ich gesehen oder davon gehört, dass viele einzelne Prismen zu einem größeren verschmelzen. Doch genau das formte sich zwischen mir und der Haustür. Unzählige pulsierende Farben, Regenbögen innerhalb von Regenbögen, all das vereinigte sich auf geheimnisvolle Weise zu einem lebendigen Baldachin. Ich stand reglos, gebannt von der Vision. Und dann setzte sich der Baldachin in Bewegung – genau auf mich zu.
Ich spannte mich an, in Erwartung irgendeiner Art von Zusammenprall, aber als der Baldachin mich einhüllte, geschah nichts und ich spürte überhaupt nichts. Dann, von einem Moment zum nächsten, verschwand die Welt, die ich kannte. Als hätte plötzlich jemand die Existenz meines Hauses einfach abgeschaltet. Mein Haus und der ganze Planet Erde, alles, was ich kannte, waren verschwunden, restlos verschwunden. Im nächsten Augenblick umgab mich völlige Dunkelheit, und ich war allein.
»Oh Gott!«, schrie ich. Was ist passiert? Bin ich gestorben? Bin ich tot? Wo bin ich? Was zum Teufel geht hier vor?
Ich kontrollierte mein Gesicht, Kopf und Brust, dann meinen restlichen Körper, um zu sehen, ob ich noch da war – oder hier. Meine Gedanken rasten in völliger Verwirrung.
Angst ist nicht das richtige Wort. Ich hatte es draußen in der Wildnis schon viele Male mit der Angst zu tun bekommen, wenn ich mich im Dickicht verirrt hatte, während die Kojoten heulten, nachts in den Wäldern voller merkwürdiger Geräusche, aber stets hatte es dabei etwas um mich herum gegeben, das mir ein Gefühl des Eingebundenseins in die reale Welt vermittelte. Doch in diesem Universum der Dunkelheit, von allem abgeschnitten, war ich völlig allein, und es gab keinerlei Bezugspunkte: keine herabhängenden Ranken, kein im Wind raschelndes Laub, keine zirpenden Grillen, keine quakenden Frösche, noch nicht einmal das Summen einer Mücke. Eben noch war ich auf meine Haustür zugegangen, und im nächsten Moment fand ich mich allein in einer Schwärze wieder, die so intensiv war, dass sie lebendig wirkte.
So seltsam das klingen mag, ich dachte an einen schottischen Haferkeks. Heute muss ich über diesen Gedanken lachen, aber mir kam tatsächlich ein Haferkeks in den Sinn. Schottische Haferkekse sind trocken und, nun ja, geschmacklos. Die stumme Dunkelheit war so leer, dass sie nach nichts schmeckte, und gemessen an der feuchten Schwüle von Mississippi war sie trocken wie Sägemehl. Ich schrie, rief nach irgendetwas – diese dunkle Leere erschien mir äußerst merkwürdig, wenn man bedenkt, dass ich doch offenbar durch einen Eingang aus so viel schönen Farben und Licht hierhergelangt war.
Solche Gedanken währten nur kurze Augenblicke, während die Dunkelheit, von der ich schwöre, dass sie sich bewegte, von allen Seiten auf mich eindrang, als wollte sie mich lebendig verschlucken. Ich konnte absolut nichts sehen.
Ich geriet in Panik. Wo ist die Tür? Was ist mit meinem Haus passiert? Wo ist meine Familie? Als mir meine völlige Ohnmacht klar wurde, packte mich ein Wirbel aus nacktem Entsetzen, Verwirrung und Zorn. Ich wusste nicht, was ich tun sollte oder ob ich überhaupt etwas tun konnte. Mir war, als hätte der Schrecken lebendige Gestalt angenommen und sei gerade dabei, mein Leben zu erdrosseln. Vielleicht war ich tatsächlich tot.
»Herr Jesus!«, schrie ich. »Was tust du? Das ist nicht fair. Du hast uns Leben versprochen, und ich suche seit meiner Jugend – das weißt du. Wer auf der Welt hätte härter gearbeitet als ich? Und das ist nun der Lohn dafür?«
Ich hörte keinerlei Reaktion, kein Wort, keinen Laut, nichts. Nur die grässliche Stille völliger Isolation in der schwärzesten Dunkelheit – ein Nichts, wie ich es noch nicht einmal den selbstgerechten Pharisäern in meinem Leben wünschen mochte.
»Ich habe getan, was ich konnte, um den Dingen auf den Grund zu gehen«, rief ich. »Dreißig Jahre lang – mein ganzes Erwachsenenleben – habe ich um Antworten gerungen. Ich habe mit großer Sorgfalt Theologie studiert, sogar die Anfänge des Christentums, und Geschichte und Psychologie. Ich habe eine Therapie gemacht, falls du das vergessen haben solltest – ja, eine Therapie! – und das hier soll jetzt das Ende sein? Das ist doch wohl ein schlechter Witz! Ist das das Königreich, das du uns versprochen hast? Was willst du denn noch von mir? Sag es mir! Du hast uns Ströme von lebendigem Wasser versprochen, unaussprechliche Freude. Ich habe die Konfessionen durchforstet, selbst die Charismatiker. Ich habe endlos gesucht, aber keine wirklichen Antworten gefunden, und jetzt endet mein Leben in diesem Nichts? Soll das alles sein? Treibst du einen üblen Scherz mit mir?«
Ich schäumte regelrecht vor Empörung. Wut, die sich während eines halben Jahrhunderts angestaut hatte, brach aus meinem Herzen hervor. Die Ungerechtigkeit, die mir widerfuhr, war so niederschmetternd, dass ich auf die Knie sank, unendlich enttäuscht, emotional am Ende, erschöpft von Jahrzehnten voller Worte und Definitionen, die, wie mir nun klar wurde, nichts als leere Ideen gewesen waren, die hohlen Illusionen und falschen Versprechungen der Religion.
»Ich weigere mich, auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden«, protestierte ich. »Da muss es noch mehr geben. Das kann nicht das Ende sein.« Was auch gerade geschieht, so werde ich nicht enden. Ich werde den Weg nach Hause finden.
Während ich einsam und verlassen in der Dunkelheit hockte und fieberhaft überlegte, was ich tun sollte, bemerkte ich vor mir, weit entfernt, ein schwaches, kaum wahrnehmbares Grau, wie ein Licht, das versuchte, geboren zu werden, es aber nicht so richtig schaffte. In meinem Herzen flackerte Hoffnung auf, starb aber sogleich, als mein Gehirn das Bild eines Zuges erzeugte, der in einem Tunnel auf mich zu raste. Perfekt, dachte ich, nach all meiner Sinnsuche und Gewissensprüfung von einem geistlosen Zug überfahren zu werden! Aber da waren keine Gleise, keine Vibrationen. Der Geruch verrottender Gurken schwebte in der schwarzen Weite und stieg mir in die Nase. Ich kniff die Augen zusammen, als könnte das meinen Geruchssinn schärfen und natürlich auch bewirken, dass ich besser sah, aber es half nicht.
Ich berührte mit der linken Hand den Boden. Ich fühlte feinen, pulverigen Mondstaub zwischen meinen Fingern und sagte, halb laut und halb zu mir selbst: Ich bin wohl auf der dunklen Seite des Mondes. Alles, was ich bisher gesagt oder hinausgeschrien hatte, war von der Leere verschluckt worden, doch diesmal erzeugten meine Worte ein Echo. Daraus schloss ich, dass ich mich – jetzt, falls es vorher noch nicht der Fall gewesen war – in einer Höhle befand.
Fest entschlossen, nicht spurlos aus dem Leben meiner Familie zu verschwinden und allein zu sterben, stand ich auf und ging instinktiv auf das graue Licht zu. Mit jedem Schritt wurde das Licht größer und heller. Aus der Ferne hörte ich das Geräusch von Füßen im Gleichschritt, wie eine Marschkapelle, die ohne Instrumente übt. Die Schritte der Kapelle wurden lauter, je weiter ich mich auf das Licht zu bewegte, aber noch immer hörte ich keine Trommeln, Flöten oder Rufe.
Es war so dunkel, dass ich mich sehr langsam vorwärts bewegen musste. Nach vielleicht drei Metern stolperte ich über einen Stein und fiel der Länge nach aufs Gesicht. Als ich mich auf den Rücken drehte, fühlte ich einen Druck auf meinen Schultern und Beinen, als versuchte jemand, mich an den Boden zu fesseln wie Gulliver. Aber etwas in mir kämpfte dagegen an.
Ich rappelte mich auf und klopfte mir den Staub ab. Wie ein Zombie schlich ich dem Licht entgegen, die Arme vorsichtig ausgestreckt. Ich hatte Todesangst, dass ich jeden Augenblick kopfüber in einen unermesslichen Abgrund stürzen könnte, als sei der Ort, an dem ich mich befand, nicht schon furchterregend genug.
Schließlich gelangte ich zum Ausgang jenes dunklen Ortes, bei dem es sich, wie sich nun zeigte, tatsächlich um eine Höhle handelte. Von Erleichterung überwältigt, versuchte ich, etwas zu erkennen, während meine Augen sich allmählich an das Sonnenlicht gewöhnten. Vor mir lag eine vollkommen baumlose Welt, so kahl wie der Mars und so weit wie der Ozean. Es sah aus, als hätte jemand eine riesige Arena mit orangefarbenem Staub gefüllt und dann daraus mit hundert Hochdruck-Wasserstrahlern eine Landschaft geschnitten. Der Himmel war blau, aber alles andere leuchtete orange. So weit ich schauen oder es mir vorstellen konnte, beherrschten dramatische Felsen und Schluchten die Landschaft. Ich dachte an das »Lied des Mose« mit der »Wüste, wo wildes Getier heult«.
Sprachlos und wie gelähmt stand ich da, bis das Rauschen der Meeresbrandung in mein Bewusstsein drang und den Bann brach. Ich blickte umher, um das Meer zu entdecken. Dabei sah ich, dass der Eingang der Höhle sich in einer Felswand befand. Nur ein Pfad, gut einen Meter breit, trennte mich vom Sturz in die Tiefe. Und über mir erhob sich eine vielleicht zehn Meter hohe Steilwand. Ich dachte: Wo ist dieser Ort? Bin ich in der Hölle? Oder vielleicht in Australien?
Ich hörte wieder die im Gleichschritt marschierenden Füße. Das Geräusch wurde lauter. Ich stand still wie eine Kirchenmaus und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung es kam. Dann packte wie aus dem Nichts eine Hand meine rechte Schulter.
Bevor ich aufschreien konnte, zischte eine Stimme hinter mir: »Römer! Folge mir. Schnell!«
Ich drehte mich um und sah einen Mann mit weißen Haaren. Er hielt eine Öllampe in der Hand.
»Rasch, hier entlang!« Er sprach mit Autorität und deutete auf den Höhleneingang. Als mir klar wurde, dass er mich in die Dunkelheit zurückführen wollte, erstarrte ich. »Moment mal. Was ist hier eigentlich los, verdammt?«
»Wenn die Römer dich entdecken, töten sie dich ohne Erbarmen«, sagte er. »Folge mir und bleibe am Leben.«
»Also gut, ich folge dir«, sagte ich, ohne lange zu überlegen, und dachte: Wer immer diese Römer sind, diesen alten Mann kann ich leicht überholen und etwas Zeit gewinnen, falls nötig.
Während wir durch die Höhle eilten, hörte ich irgendwo Wasser fließen, nicht gerade ein Fluss, aber doch deutlich mehr als ein Rinnsal. Ich versuchte, mir Einzelheiten des Weges einzuprägen, aber das war sinnlos.
Schließlich betrat der alte Mann einen Raum auf der linken Seite und löschte die Lampe. Ich erhaschte einen Blick auf seinen langen Bart, sah dann noch etwas, das wie Weinschläuche aussah, und einen großen Korb, ehe völlige Dunkelheit herrschte.
Ich atmete schwer in der kühlen Luft, die mir sehr trocken zu sein schien. Vielleicht einen Meter vor mir konnte ich ihn keuchen hören, aber ich sah nichts. Wenn etwas schiefgeht, dachte ich, werde ich es wohl schaffen, meinen Weg zurück zum Höhleneingang zu finden, wo wenigstens die Sonne scheint.
»Hier finden sie uns nicht«, sagte er ruhig und mit bemerkenswerter Zuversicht.
»Nur Gott weiß, warum ich dir in diese verdammte Höhle gefolgt bin, aber dieses Theater muss jetzt aufhören. Wer bist du? Wo sind wir? Wie bin ich hierhergekommen? Ich möchte endlich Erklärungen.«
Er holte tief Luft und seufzte. »Alles wird sich zur rechten Zeit aufklären, junger Mann. Für den Moment musst du wissen, dass du hier bei mir in Sicherheit bist. Vertraue mir.«
»Vertrauen? Wie kann ich einem alten Mann vertrauen, der wie aus dem Nichts plötzlich in einer Höhle auftaucht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich hierhin gelangt bin oder wer du bist. Ich hatte am Eingang der Höhle etwas Licht gefunden, aber jetzt hast du mich zurück in die Dunkelheit geführt.«
»Wir sind in Sicherheit«, erklärte er mit Nachdruck. Dann fügte er geheimnisvoll hinzu: »Das Licht leuchtet in der Dunkelheit.«
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, saß in der Finsternis und versuchte, mir über meine Lage klar zu werden. Als die Wirkung des Adrenalins nachließ, fing mein Körper an zu zittern. Wenigstens bin ich nicht allein. Dieser alte Mann scheint keine Gefahr darzustellen, und offensichtlich kennt er sich hier in dieser Höhle aus. Das könnte sich als hilfreich erweisen. Und er hat mir seinen guten Willen gezeigt. Aber ich will Antworten.
Seine Stimme durchbohrte die Leere. »Woher kommst du?«
»Ich ... wohne in Brandon«, erwiderte ich. Diese Frage wenigstens kann ich beantworten. »Aber die Frage ist nicht, wo ich herkomme. Die Frage ist, wie ich hierhergelangt bin, wer du bist, und was es mit diesen Römern auf sich hat?«
Er zündete seine Öllampe an und stand auf. Dabei strahlte er Kraft und Vertrauen aus. Hinter ihm flackerten Schatten an der Wand. Als ich ihn ansah, war mein erster Gedanke: Weisheit. Er war sehr alt, klein und schmal, aber man sah ihm an, dass er früher kräftig gewesen war – auf die schlanke, zähe Art. (Ich wäre auch gerne schlank gewesen, aber das Erbe meiner schottischen Vorfahren ließ das nicht zu.) Seine Hände waren immer noch stark und größer, als ich erwartet hatte, gemessen an seiner Statur. Sein Haar war lang und weiß, geradezu strahlend weiß, wie auch sein Bart – sie bildeten einen starken Kontrast zur Schwärze der Höhle. Tiefe Altersfurchen durchzogen sein Gesicht. Jede von ihnen konnte gewiss Geschichten aus einem an Abenteuern reichen Leben erzählen. Sein Gesicht schien frei von jeder Traurigkeit. Seine Augen – umrahmt von Krähenfüßen und Brauen, die so buschig waren, dass sie ein Eigenleben zu führen schienen – strahlten mit ungebrochener Intensität. Das war es, was mich an ihm am meisten beeindruckte: seine tiefbraunen, so lebhaft leuchtenden Augen. Das Wissen und die Erfahrung vieler Jahre spiegelten sich darin.
Aufrecht stand er da, mit der Gewissheit eines Visionärs, der sich vom Leben bestätigt fühlte. Er trug eine Art Kutte, in der Taille von einem Ledergürtel zusammengehalten, der durch langen Gebrauch dunkel gewordenen war. Sein Gewand musste, so dachte ich, früher einmal weiß gewesen sein. An der rechten Schulter trug er eine alte braune Umhängetasche, die im Lauf seiner vielen Abenteuer oft geflickt worden war.
Es war etwas an diesem alten Mann, das mich beruhigte. »Danke«, sagte ich. »Ich bin tief erschüttert und völlig verwirrt ...«
»Sind wir das nicht alle?«, warf er ein. Er strich sich durch seinen langen Bart und lächelte. Ich sah, dass ihm einige Zähne fehlten, und die übrig gebliebenen wirkten abgenutzt und klein. Aber an seinem Lächeln war etwas Heiliges. So bizarr dieser Ort auch wirkte, zu dem ich auf mysteriöse Weise gelangt war, ich fühlte mich sicher. Davon, mich wirklich wohlzufühlen, war ich Lichtjahre entfernt, aber ich fühlte mich in Sicherheit.
Immer noch zitternd, gelang mir ein aufgesetztes Lachen. »Ich wollte bei mir zu Hause zur Tür gehen, doch dann passierte etwas Merkwürdiges mit Lichtern und Prismen, und dann fand ich mich in dieser Höhle wieder.«
2. Johannes
Der alte Mann führte mich zurück zum Eingang der Höhle. Obwohl ich ohnehin schon kaum zu atmen wagte, drehte er sich zu mir um und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann betrat er vorsichtig den Pfad. Er bewegte sich mit der Lautlosigkeit eines Kavallerie-Kundschafters, weswegen ich vermutete, dass es sich bei ihm um einen kampferprobten Kriegsveteranen handelte. Lauschend wie ein sichernder Hirsch, ließ er den Blick über die kahle Landschaft schweifen. Als er auch nach oben in die Felswand geschaut hatte, wirkte er zufrieden. Alles schien in Ordnung. Er hielt inne, als spräche er innerlich ein kurzes Gebet, dann drehte er sich zu mir um.
»Ich heiße Johannes«, sagte er lächelnd. »Ich freue mich über deinen Besuch, junger Mann. Willkommen in meiner Welt.« Er breitete in einer Geste aufrichtiger Gastfreundschaft die Arme aus.
»Johannes«, sagte ich und erwiderte das Lächeln. »Den Namen mochte ich immer schon. Ich nehme an, es ist eine gute Sache, dass wir uns begegnet sind, aber könntest du mir erklären, was passiert ist? Wie, um alles in der Welt, bin ich hierhergelangt? Und wie komme ich wieder nach Hause?«
Er atmete tief durch und wirkte für einen Moment überrascht, aber ich war mir nicht sicher, ob ich seinen Gesichtsausdruck richtig deutete.
»Ich wollte einfach nur zur Haustür gehen und die Zeitung hereinholen, und dann fand ich mich plötzlich in dieser Höhle wieder. Dann bist du aufgetaucht, und ...«
»Die Zeitung? Hmmm ...«, murmelte er, als hätte er einen kleinen Hinweis zur Lösung eines Rätsels erhalten.
»Ja, die Sonntagszeitung«, sagte ich mit wachsender Ungeduld.
Jetzt wirkte er aufrichtig ahnungslos. »Was ist eine Sonntagszeitung?«
Ich wollte lachen, verkniff es mir aber. »Ich weiß zwar nicht, wo wir sind, aber du wirst doch wohl schon eine Zeitung gesehen haben, selbst wenn die Nachrichten darin dich nicht interessieren.«
»Nein, habe ich nicht.« Dann fragte er: »Die Nachrichten in dieser ... Zeitung – geht es dabei um Jesus?«
Seine Frage traf mich unerwartet, und ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. »Na ja, manchmal gibt es Artikel über Religion, aber die sind meistens Scheiße.«
In seinen Augen blitzte Humor auf. Er hob die rechte Hand und sagte laut: »Skubala!«
»Skubala?«
»So heißt ›Scheiße‹ auf Griechisch.« Er lachte in sich hinein.
Vollkommen verwirrt warf ich die Hände in die Luft und drehte mich um, sodass ich aus der Höhle ins Freie schauen konnte. »Das führt nicht weiter. Ich komme nicht weiter«, flüsterte ich.
»Junger Mann, Skubala ist das griechische Wort für ›Scheiße‹.«
»Das ist doch total verrückt! Erst lässt du mich vor den Römern fliehen. Dann hast du keine Ahnung, was Zeitungen sind, kennst aber das griechische Wort für ›Scheiße‹. Wahrhaftig, was für eine gequirlte Scheiße! Warum verrätst du mir nicht endlich, wie ich hierhergeraten bin und wie ich wieder nach Hause komme?« Ich hörte meine Mutter sagen, mit diesem unnachahmlichen Ausdruck der Missbilligung im Gesicht: »Für Unhöflichkeit gibt es keine Entschuldigung.« Aber mir war nicht nach höflichen Plaudereien zumute.
Johannes schüttelte den Kopf, sodass sein langer Bart wedelte wie ein Fischschwanz.
»Was ist?«, fragte ich.
»Junger Mann, ich wandele schon ziemlich lange auf Erden, fast mehr Jahre, als ich zählen kann, aber das habe ich noch nie gesehen!«
»Was?«
»Dass jemand Scheiße quirlt«, erwiderte er wie ein Junge, der sein erstes unanständiges Wort entdeckt. »Geht das?«
»Ist bloß eine Redensart.« Er fand es lustig, aber ich lachte nicht.
»Gibt es dafür ein spezielles Werkzeug, einen Scheiße-Quirl?« Das Ganze machte ihm sichtlich Spaß.
Ich zügelte meine Gereiztheit und Unruhe, so gut es ging. »Kann ich jetzt bitte erfahren, wie ich hierhergelangt bin und wie ich von hier ...«
»Ich glaube, der Heilige Geist ist dafür verantwortlich«, unterbrach mich Johannes, wobei seine Augenbrauen sich bewegten wie die von Charlie Chaplin.
»Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wie kann es sein, dass ich aus meinem Haus in diese Höhle versetzt wurde? Ich glaube, meine Frau hatte recht ...«
Er hob beschwichtigend die Hand, wollte offensichtlich keinen Anlass bieten, dass ich mich noch mehr aufregte.
»Sie sagt mir schon seit Jahren, dass ich den Verstand verliere.« Ich lächelte schief.
»Der Heilige Geist«, beharrte er. »Dass der Heilige Geist seine Hände im Spiel hat, ist offensichtlich.«
»Aber warum? Wie? Und wie komme ich nach Hause?«
»Niemand weiß, wie der Heilige Geist diese Dinge vollbringt«, sagte Johannes. »Dieses Geheimnis vermag unser Verstand nicht zu ergründen. Aber hier bei mir bist du in Sicherheit. Atme jetzt mal tief durch und beruhige dich.«
»Aber wo ist hier? Wo sind wir? Und wer sind die Römer?«, bohrte ich nach.
»Ich bin erst vor ein paar Stunden zurückgekehrt«, antwortete Johannes ruhig.
Ich bemühte mich sehr, meinen Ärger zu verbergen. »Von wo zurückgekehrt?«
»Aus Ephesus. Jesus hat mich beauftragt, für ein paar Tage hierher zurückzukehren, um etwas zu erledigen.«
»Jesus? Ephesus? Wovon redest du?«
»Jesus wirst du ja wohl kennen?«, fragte er. Er hatte das Thema gewechselt, ohne mir mehr über die Römer zu verraten.
»Ja – ich meine, ich glaube an Jesus. Ich bin Theologe, oder jedenfalls war ich das, aber jetzt scheint es in meinem Leben überhaupt keine Gewissheit mehr zu geben.«
»Bist du nie Jesus begegnet?«, fragte er in ernstem Ton, fast wie bei einem Verhör.
»Persönlich?«
»Natürlich«, sagte der alte Mann, als sei ich wirklich nicht bei Verstand, und irgendwie vermittelte er mir dadurch das seltsame Gefühl, dass unsere Begegnung kein Schock für ihn war.
»Nein, das kann man nicht sagen. Jesus ist vor über zweitausend Jahren gestorben und auferstanden. Ich studiere die christliche Religion seit vielen Jahren, aber persönlich begegnet bin ich Jesus natürlich nicht.«
Er hob seine weißen Augenbrauen.
»Moment mal«, sagte ich schnell, weil ich auf etwas aufmerksam geworden war. »Hast du eben gesagt, du kommst aus Ephesus?«
»Stimmt«, antwortete er, als sei das völlig belanglos.
»Ephesus, die Stadt in Kleinasien?«
»Die Stadt Ephesus, ja.« Er wunderte sich sichtlich über meine Fragen. »Ich habe hier auf der Insel gelebt. Dann wurde ich befreit und lebe seitdem in Ephesus.«
Oh, Scheiße!, dachte ich. »Und wo sind wir jetzt?«
»Dieser kleine Teil der Welt wird Patmos genannt, und ...«
»Patmos! Das liegt ja, von dort aus gesehen, wo ich wohne, am anderen Ende der Welt. Völlig ausgeschlossen! Das kann doch nur ein Scherz sein.« Ich fühlte mich wieder hilflos.
»Nur der Heilige Geist weiß, wie du hierhergekommen bist, aber jetzt bist du hier, mit mir auf der Insel Patmos, und ...«
Ehe er seinen Gedanken beenden konnte, traf mich die Erkenntnis, als hätte mir jemand mit einer Bratpfanne auf den Kopf geschlagen. Ich rief: »Johannes! Patmos! Höhle!«
Er wich erschrocken zurück. Sein Schatten tanzte hinter ihm über den Boden. Langsam entspannte er sich wieder. Er drehte beide Arme und Hände nach oben, neigte den Kopf und starrte mich an, als dächte er: Gott segne den armen Kerl. Die Lichter sind an, aber es ist niemand zu Hause.
Während der alte Mann mich voller Mitleid ansah, dachte ich: Willy Wonka sieht erstaunlich vernünftig aus. Ich fühlte, wie ich die Nerven verlor. »Also, Johannes von Patmos, vermutlich wirst du mir jetzt erzählen, dass du der Sohn des Zebedäus bist.«
Er musste gar nichts sagen. Ich sah es in seinen Augen. »Mein Vater war Zebedäus, ein Fischer. Auch ich war Fischer und wurde dann ein Jünger Jesu. Manche nennen mich einen Kirchenältesten, andere einen Apostel.«
»Ja, klar – und ich bin Mose!«, rief ich aus. »Ich möchte auch etwas von dem Zeug, das du rauchst.«
Er sah mich an, als hätte ich einen IQ von 0,2, worauf ich mit Sarkasmus reagierte.
»Also gut, Johannes, Sohn des Zebedäus, Ältester-Schrägstrich-Apostel, bestimmt sagst du mir jetzt, dass dies der Tag des Herrn ist und du vom Heiligen Geist beseelt bist.«
»In der Tat«, antwortete er zu meinem Erstaunen. Die Höhle schien zu erzittern, als sei sie mit seinem Herzen verbunden. »Und der Heilige Geist ist in mir und in dir.«
»Ich weiß nicht, was hier los ist. Aber wenn du glaubst, du wärest der Apostel Johannes und das hier wäre die Insel Patmos, dann stimmt mit deinem heiligen Geisteszustand etwas nicht.«
»Junger Mann«, entgegnete er und hob die Stimme etwas an. »Ich weiß nicht, wie du hierhergelangt bist oder warum du so merkwürdige Kleidung trägst, aber ich weiß, dass ich Johannes bin, ein Apostel Jesu, und dass das hier« – er breitete die Arme aus – »die Insel Patmos ist!«
»Nein! Nein! Nein! Das kann nicht dein Ernst sein.« Ich zitterte vor Aufregung, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und ich war völlig neben der Spur. »Natürlich ist es mein Ernst«, sagte Johannes mit ruhiger Stimme. »Warum sollte ich lügen?«
Die Art und Weise, wie er mit mir sprach, besänftigte mich ein wenig. Ich gewann die Fassung zurück und war endlich fähig, mich zu entschuldigen. »Ich wollte nicht respektlos sein. Bitte verzeih. Das alles ist ein großer Schock und ein Rätsel für mich. Ich bin schon viel gereist, aber auf Patmos war ich noch nie.«
»Jetzt bist du es«, sagte er mit einem herzlichen Lächeln. »Komm, setz dich. Du musst müde von der Reise sein. Ich werde dir etwas zu essen und Wasser bringen. Dann können wir uns unterhalten.«
Schweiß trat mir auf die Stirn, als mir klar wurde, dass er es todernst meinte und dass ich mit einem apostolischen Geistesgestörten auf einer verfluchten orangefarbenen Insel festsaß, auf der Flucht vor Römern. Adrenalin jagte durch meinen Körper. Mein Magen verkrampfte sich. Es fühlte sich an, als hätte ein Wal an meinem Köder angebissen und mich aus dem Boot gezerrt. Ich umklammerte meinen Kopf mit beiden Händen – vielleicht wollte ich mich an mir selbst festhalten oder meinen Verstand daran hindern, aus meinem Schädel zu springen. So etwas ist doch vollkommen unmöglich. Meine Hände zitterten, dann mein Körper. Ich verlor – verlor die Kontrolle, verlor alles – und fiel zu Boden, als wäre ein Baseball mit höchster Geschwindigkeit auf mich zugerast und hätte mich umgeworfen.
3. Die Heilige Seele
Ich lag hilflos auf dem Rücken und hörte, wie jemand über meinem Kopf etwas flüsterte, aber ich verstand die Worte nicht. Nach einem kurzen Moment lösten sich die rauchigen Schleier vor meinen Augen auf, und das Gesicht des alten Mannes schwebte, nun deutlich sichtbar, über meinem. Sein langer weißer Bart war um mich herum drapiert, während er meinen Kopf in seinem rechten Arm hielt und mir mit einem feuchten Tuch sanft über das Gesicht wischte.
Während eine schwache Hoffnung in mir aufkeimte, erfasste mich eine neue Welle der Panik. Anscheinend war das Ganze kein Traum. »Was ist los? Wo bin ich? Wo ist meine Familie? Das kann doch alles nicht wahr sein!«
»Du bist in Sicherheit, mein Freund. Du bist in Sicherheit«, versicherte Johannes mir. »Kannst du aufstehen?«
»Ich glaube, ja«, sagte ich mit zittriger Stimme.
Er ergriff meine Hand und half mir auf. Er ist verblüffend stark, dachte ich, als er mich herumdrehte und durch die Dunkelheit der Höhle langsam zu einer Kammer führte, die ganz in der Nähe auf der linken Seite lag. Diesen Raum hatte ich zuvor gar nicht wahrgenommen.
»Setzt dich dort hin«, sagte er und zeigte auf einen großen, flachen Stein. Daneben befand sich eine Art Lager, das wohl sein Schlafplatz gewesen war. »Ich hole dir Wasser. Weiter drinnen in der Höhle gibt es eine Quelle.« Ich hörte, wie sich seine Schritte leise entfernten.
Ich blickte mich benommen um und war erstaunt, wie klein der Raum wirkte. Mit meiner Größe von einem Meter achtzig musste ich mich bücken, um eintreten zu können. Drinnen war es dann aber recht geräumig. Die Kammer war wie eine Luftblase geformt. Wände, Boden und Decke waren eintönig erdbraun, nicht glatt, aber auch nicht unangenehm zerklüftet. Drei einfache Öllampen brannten. Sie sahen genauso aus wie auf den Bildern in der Sonntagsschule und leuchteten die Kammer komplett aus. Doch dann fuhr es mir durch den Kopf, dass es hier drinnen mehr Licht gab, als die drei Lampen überhaupt erzeugen konnten.
Das Lager des alten Mannes – ein Haufen ausgeblichener, staubiger blauer, violetter und roter Lumpen, ohne Matratze oder Kissen – sah aus, als hätte seit Jahren niemand mehr darauf geschlafen. Ich schüttelte meinen Kopf, um wieder klar denken zu können. Mein Mut sank, als ich mich fragte, wie jemand in einem solchen Rattennest schlafen konnte. Drei Lampen, zwei flache Steine – sieht aus, als hätte er einen Besucher erwartet, dachte ich. Dann bemerkte ich, dass jemand etwas auf Griechisch an die Wände geschrieben hatte, und auch noch in einer anderen Sprache, bei der es sich offenbar um Aramäisch handelte. Ehe ich mich näher damit befassen konnte, kehrte Johannes mit dem Wasser zurück.
Ich war wieder zu mir gekommen, war mir allerdings nicht mehr sicher, wer oder was dieses »Ich« eigentlich war – falls ich das je gewusst hatte. Plötzlich musste ich an meinen Freund Julio denken und an seine Lieblingsredewendung – »verrückt wie eine Eidechse, die sich auf der Straße sonnt«. Ich lachte.
»Hier, etwas Wasser und Brot«, sagte Johannes freundlich. Er kniete neben mir und beobachtete mit großen Augen, wie ich seinen Wasserkrug in einem Zug leerte.
»In deinem Land gibt es wohl kein Wasser?«, fragte er lachend.
»Entschuldige bitte. Ich war so ausgetrocknet, dass ich Staub furzen könnte.«
Ein schelmisches Lächeln huschte über sein uraltes Gesicht. »Staub furzen?«, fragte er, und in seinen Augen blitzte das Licht der flackernden Lampen auf, als er den Kopf neigte.
»Nur so eine Redensart.«
»Was bedeutet sie?«
»Dass man sehr, sehr durstig ist. Danke für das Wasser, und das Brot.« Ich war für beides dankbar, aber das Brot schmeckte wie alte, pappige Cracker. Ich nickte höflich und reichte ihm mit beiden Händen seinen Tonkrug zurück. Dann sagte ich vorsichtig: »Haben wir gerade über das gesprochen, wovon ich denke, dass wir darüber gesprochen haben?«
»Junger Mann, nur der Herr weiß, was in deinem Kopf vorgeht«, murmelte er und lachte leise in sich hinein.
»Na, was auch immer hier vor sich geht, ich werde schon noch ein paar Minuten – oder vielleicht doch eher Tage – brauchen, um dahinterzukommen. Das muss man sich mal vorstellen ...« Mein Sarkasmus blitzte wieder auf: »Wenn du durch ein mysteriöses Wunder wirklich der Apostel Johannes bist und wir hier auf Patmos sind – wie kann es dann sein, dass du Englisch sprichst – noch dazu mit Südstaatenakzent?«
Da sprang der alte Herr auf, drehte sich tänzerisch im Kreis und Abenteuerlust funkelte in seinen Augen. »Das ist also die Sprache, die wir sprechen: Englisch, mit ... Südstaatenakzent!«, rief er fasziniert.
Ich saß einfach nur da, aß ein Stück Brot und versuchte zu begreifen, in was ich da hineingeraten war. Nachdrücklich sagte ich: »Zur Zeit Jesu wurde mit Sicherheit kein Englisch mit Südstaatenakzent gesprochen.«
Doch er war bereits einem anderen Hinweis auf der Spur. »Den Heiligen Geist kennst du nicht?«, fragte er. Bei diesen Worten kam es mir so vor, als würde die Kammer, oder wenigstens die Luft darin, flimmern.
»Ich habe die Doktrin des Heiligen Geistes jahrelang studiert.« Ich hielt einen Moment inne. »Aber ich weiß einfach nicht mehr, was ich weiß.«
Die Krähenfüße um Johannes’ Augen verengten sich, und er stöhnte leise. »Bist du Grieche?« Er lachte und setzte sich neben mich. Bevor ich antworten konnte, wiederholte er langsam die Doktrin des Heiligen Geistes jahrelang studiert, wobei er jedes Wort betonte. Ich empfand es als Aussage und als Frage, und zugleich als so etwas wie eine Offenbarung.
Er klopfte sich mit dem Finger auf die Lippen, dann sagte er: »Der Heilige Geist ist keine ›Doktrin‹, was auch immer dieses Wort bedeuten mag. Der Heilige Geist«, erklärte er mir mit sichtlicher Freude, »ist eine Person, und diese Person liebt die Gemeinschaft und ist die Meisterin der Kommunikation. Im Lauf der Jahre habe ich viele Sprachen gesprochen, und oftmals war ich mir dabei nicht sicher, um welche Sprache es sich handelt. Ich vertraue auf den Heiligen Geist. Wenn der Geist es will, dass ich deine Sprache spreche, dann geschieht es und ich spreche sie, mit Südstaatenakzent und allem.« Seine Augen funkelten. »Übrigens stamme ich aus dem südlichen Galiläa.«
Dass er den Heiligen Geist mochte und respektierte, war offensichtlich. Ich hielt das nicht für unmöglich, aber es unterschied sich sehr von meiner eigenen Erfahrung. Faszinierend war es aber auf jeden Fall.
»Das hört sich nach einem ziemlich coolen Wunder an«, sagte ich. »Da bin ich gerne dabei.«
»Weißt du eigentlich«, sagte er mit einem schiefen Lächeln, »dass der Heilige Geist dich beim Wort nimmt, wenn du solche Dinge sagst?«
»Welche Dinge?«
»Da bin ich dabei.«
»Habe ich etwas Falsches gesagt?« Plötzliche Furcht befiel mich, als hätte ich ein Tor zu einer noch bizarreren Welt geöffnet.
»Keineswegs«, antwortete er. »Der Heilige Geist missachtet niemals unseren freien Willen. Sie sorgt für uns trotz unserer Blindheit, und wenn wir wenigstens für einen Moment ehrlich mit ihr sind, kann sie in unserem Leben viel Gutes bewirken. Ich weiß nicht, wie sie das bewerkstelligt, aber sie kann in unserem Leben sogar gleichzeitig Zukunft und Vergangenheit verändern.«
»Sie? Nun mal langsam, Kumpel! Es ist ein stürmischer Sonntagmorgen, oder jedenfalls war es das. Ich wollte nur mal eben die Zeitung aus dem Briefkasten holen, und plötzlich werde ich durch einen verrückten Zufall zu dir in diese Höhle versetzt. Alles, was ich will, ist nach Hause zurückkehren, und du erzählst mir von Patmos, vom Apostel Johannes – und jetzt behauptest du auch noch, der Heilige Geist wäre eine Sie.«
»Überrascht dich das?« Er wandte sich ab, dachte nach und ignorierte offensichtlich meinen Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren. »Was bedeutet dieses Wort Kumpel? Der Geist übermittelt mir dafür keine Übersetzung.«
»Es ist nur ein Wort und heißt so viel wie ›Freund‹.«
»Dann ist es etwas Gutes?«
»Das kommt auf den Zusammenhang an. Aber ich verwende es immer in einem positiven Sinn. Es war nicht respektlos gemeint.«
Johannes stand auf und strich sich mit der linken Hand durch den Bart. »Ich finde es jedes Mal faszinierend, wenn sie mir keine Übersetzung schickt«, murmelte er schließlich staunend, wobei er mir den Rücken zudrehte. »Ich glaube, ich verstehe warum. Sie mag Namen, konkrete Personen. Wörter wie dieses Kumpel schätzt sie weniger.«
»Ehrlich gesagt, habe ich versucht, mich vom Heiligen Geist möglichst fernzuhalten. Aber sowieso beschäftigt der Heilige Geist mich im Moment herzlich wenig. Ich habe andere Sorgen.«
Er sah mich an, als traute er seinen Ohren nicht. »Wie kann irgendjemand auf die Idee kommen, sich vom Heiligen Geist fernzuhalten?«
»Ich mag eben keine Gespenster«, erwiderte ich, heftiger als beabsichtigt.
»Gespenster?« Seine weißen Augenbrauen schnellten so weit nach oben, dass sie ihm fast von der Stirn zu springen schienen.
»Nun, ›Geist‹ wird in unserer Sprache oft als Synonym für ›Gespenst‹ gebraucht.«
Da schlug der alte Mann die Hände vors Gesicht, schüttelte heftig den Kopf und rief: »Gespenst? Was für eine schreckliche Übersetzung! Welchen Trost kann denn ein Gespenst spenden? Junger Mann, du solltest das unbedingt ändern lassen!« Als er meinen betroffenen Gesichtsausdruck sah, fuhr er in leiserem Ton fort: »Der Heilige Geist ist kein Gespenst. Sie ist eine wunderschöne Person, die schönste von allen, viel zu schön für unsere Gedanken.«
In der Irrationalität dieses Tages gelang es mir für einen Moment, meine theologische Orientierung wiederzufinden. »Wenn der Heilige Geist eine Person ist, wieso trägt diese Person dann keinen Namen? So, wie Jesus und Gott?«
»Wir sind«, flüsterte er, mit einem Leuchten im Gesicht.
»Dieser Name steht nicht in der Bibel – nicht einmal in den Schriften des Apostels Johannes.« Ich stand auf, sodass nun mein Körper tanzende Schatten an die Wand warf. »Aber, wie ich schon sagte, interessiert mich das alles im Moment herzlich wenig.«
»Ihr Name wird aber doch überall ausgesprochen«, entgegnete mir der alte Mann mit einer schlichten Autorität und wiederum ignorierend, was ich zuletzt gesagt hatte. »Sie sagt allen Menschen, wie sie heißt. Doch die meisten sind noch nicht in der Lage, es zu hören oder auszusprechen. Auch du trägst einen Namen, der nur dem Herrn bekannt ist, und der Heilige Geist sagt dir diesen Namen jeden Tag. Eines Tages wirst du ihn deutlich hören, und dann wirst du wissen, wer du bist – und dann wirst du auch in der Lage sein, ihren Namen auszusprechen.«
Ich seufzte. »Kann mir denn der Heilige Geist helfen, wieder nach Hause zurückzukehren?«
»Vielleicht bist du ja gerade deshalb hier«, sagte Johannes und lächelte, als hätte er etwas verstanden, das ich noch nicht begreifen konnte. »Der Herr liebt die Zahl Drei.«
»Die Drei?« Jetzt war ich völlig verwirrt.
»Du weißt schon: Jona.«
»Du sprichst in Rätseln. Ich kenne die Geschichte Jonas, aber was hat das damit zu tun, dass ich hier bin oder wie ich wieder nach Hause komme?«
»Ich habe da so eine Ahnung«, sagte er, »dass du, wie Jona im Bauch des großen Fisches, drei Tage hier bei mir bleiben wirst.«
»Das heißt also, nach drei Tagen kann ich wieder nach Hause?«
»Oder du findest dein Zuhause«, sagte er geheimnisvoll.
»Es finden? Was soll das bedeuten?« Ich zuckte innerlich zusammen, als hätte die Frage eine wichtige Botschaft für mich, aber ich konnte nur an Jona im Bauch des Riesenfisches denken und daran, dass ich für drei Tage spurlos verschwunden sein würde. Meine Frau und meine Kinder würden sich schreckliche Sorgen machen. Aber dann musste ich plötzlich lächeln, als ich an meinen Sohn John Williams und seine Reiterei dachte. Er würde die Soldaten ihre Rüstungen anlegen lassen, und dann würden die Soldaten den ganzen Erdball absuchen, um mich zu finden. Sie würden es schaffen, ganz bestimmt!
Ich wandte mich wieder Johannes zu, mit neuer Zuversicht und sogar einer Spur von Trotz. »Du behauptest also, dass das hier der Bauch der Bestie ist?«
»Der Bauch der Bestie ist jener Ort, wo Jesus uns allen begegnet.«
Seine große Lebenserfahrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und an seiner Zuversicht merkte ich, dass er wusste, wovon er sprach. Aber seine Worte schienen mir auch eine Herausforderung zu enthalten, als stünden mir große Entdeckungen bevor, wenn ich bereit war, mich darauf einzulassen.
»Ich habe nach dem Leben gesucht von dem Tag an, als ich aus dem Leib meiner Mutter kam. Drei weitere Tage – wenn das alles hier wirklich real ist – damit komme ich klar, wenn mein Sohn mich nicht vorher findet.«
»Wir werden sehen.« Er lachte leise. Seine Wangen leuchteten. »Wir werden sehen.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon wir eigentlich redeten und was als Nächstes geschehen würde, aber irgendwie wusste ich, dass ich diesem alten Mann vertrauen konnte. Er schien eindeutig nicht zu der Sorte Mensch zu gehören, die anderen übel mitspielten. Also vertraute ich darauf, dass mein Sohn mich finden oder ich selbst in drei Tagen den Weg nach Hause finden würde, öffnete mich für die Erfahrung und ließ den Theologen in mir die Führung übernehmen. Ich konnte einfach nicht anders und fragte, warum er den Heiligen Geist als weiblich betrachtete.
gebrochenichalles, was ich warWie kann das sein?
Ich hörte in der Ferne ein Lied erklingen, während ich das Gefühl hatte, dass mein Selbst sich ausdehnte, vielleicht wirklicher wurde, offener und bereiter für dieses Leben oder diese erstaunliche Person. Dann endete das alles so plötzlich, wie es begonnen hatte.
Ein paar Augenblicke später brach ich das Schweigen. Ich fühlte mich überwältigt und etwas benommen, aber zugleich zutiefst geehrt. »Johannes«, fragte ich, »haben wir gerade erlebt, was du ›am Tag des Herrn vom Geist ergriffen werden‹ nennst?« Die Frage war aufrichtig gemeint, aber nicht frei von Hintergedanken, denn ich sagte mir, dass Johannes seine eigenen Worte aus der Offenbarung erkennen müsste, wenn er tatsächlich der Apostel war.
»Ja, junger Mann«, erwiderte er mit einem sonderbaren Augenzwinkern, »aber wir sind erst einmal nur auf den Wagen gestiegen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich weiß nicht, ob ich es verstehe, aber ich glaube, ich mag sie – auch wenn es mir sonderbar vorkommt, vom Heiligen Geist als weiblich zu sprechen, also von der Heiligen Seele.«
»Sonderbar, nun gut«, erwiderte er, »aber spürst du nicht, dass es wahr ist?«
»Doch, das spüre ich. Sie ist sehr real.«
»Die Heilige Seele ist so tief wie der Ozean«, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln, »und so klar und einfach wie die Luft.«
»Ich weiß nicht, wie viel davon – oder von ihr – ich verkraften kann.«
»Sie hat viel Zeit. Es geht darum, dass du dich für ihre Liebe öffnest. Gib dich ihr hin. So wird das Leben für dich viel realer.«
»Wenn sie hier ist, ist dieser Ort keine dunkle Höhle mehr.«
»Sie verlässt uns niemals. Nie. Aber wir haben noch keine Weinschläuche, die stark genug wären, ihre Gegenwart fassen zu können.«