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Leonardo
Leonardo sog die frische Luft dieses Februarmorgens ein.
Die langen blonden Haare vom Wind zerzaust, schaute er auf die braunen Felder, die mit glitzernden Raureifflecken bedeckt waren.
Die Natur verfügte über so außergewöhnliche Macht, dass es ihm jedes Mal den Atem verschlug, wenn er deren Zeuge wurde.
Er fühlte sich so klein, unbedeutend, empfand Staunen und Dankbarkeit für das, was die Welt ihm anscheinend jeden Tag schenkte.
Und doch schien all das den Menschen egal.
Sogar er selbst hatte für den Krieg gearbeitet, diese unsinnige und grausame Fehde, die die Menschen im Namen eines beschämenden Ziels gegeneinander aufhetzte: der Eroberung von Macht und Land. Wo doch im Verweigern der Freiheit für alle nur eines lag: Scham.
Aus diesem Grund hatte er beschlossen, für Lorenzo de’ Medici zu arbeiten, der ihm schon seit einiger Zeit den Eindruck eines klugen und willensstarken, aber nicht tyrannischen oder kriegslüsternen Mannes machte. Gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte Lorenzo ihn aufgefordert, im Dienst der Medici sein Wissen zu erweitern und seine Experimente zu verfeinern, um Kriegsmaschinen zu konstruieren. Allerdings sollten sie ausschließlich der Verteidigung dienen. Niemals würde er seine Waffen dazu verwenden, eine andere Stadt anzugreifen, hatte er gesagt. Lorenzo folgte den Lehren seines Großvaters und Vaters und war davon überzeugt, dass die Zukunft von Florenz in Frieden und Wohlstand lag, in Kunst und Literatur, aber ganz sicher nicht im Krieg.
Unter diesen Voraussetzungen hatte Leonardo akzeptiert, seine Arbeit in den Dienst der Medici zu stellen. Er war in der Werkstatt von Andrea Verrocchio geblieben, weil er noch viel zu lernen hatte, ganz besonders in dem Bereich, der im Moment seine größte Leidenschaft war: die Malerei. Doch dank seiner Einfälle zur Kriegsmaschinerie erhielt er monatlich hundert fiorini und konnte so in größter Ruhe leben und, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch noch etwas beiseitelegen, um sich eines Tages ein eigenes Atelier leisten zu können.
Während er an diesem Morgen so nachdachte, erblickte er Lorenzo, der sich mit seinem Wachtrupp näherte. Die Pferde galoppierten auf der unbefestigten Straße und hatten schon bald die Hügelkuppe erreicht, genau die Stelle, an der er unter Zypressen stand und die gepflügten Felder und die unsichtbaren Winde betrachtete, die scharf und kalt wehten.
Einmal angekommen stieg Lorenzo elegant vom Pferd. Er trug ein prächtiges dunkelgrünes Wams und einen Mantel in derselben Farbe. Seine markanten Gesichtszüge verliehen seinem Blick eine außergewöhnliche Entschlossenheit, die jede seiner Handlungen mit einzigartiger Vitalität zu erfüllen schien.
Er drückte ihm mit einer ansteckenden Kraft und Dankbarkeit die Hand. Leonardo spürte die gewohnte und lebendige Freundschaft und eine fast entwaffnende Aufrichtigkeit. Er täte gut daran, einen solchen Mann nicht zu enttäuschen, dachte er. Aber er war zuversichtlich, denn an diesem Tage hatte er eine schöne, große Überraschung für ihn.
»Mein Freund«, sagte Lorenzo, »Euch zu sehen bereitet mir immer große Freude, weil ich dann stets das deutliche Gefühl habe, bald Zeuge eines Wunders zu werden.«
»Nun übertreibt es nicht, Messere, Ihr seid zu großzügig, und überhaupt müssen wir erst noch sehen, ob das, was ich für Euch vorbereitet habe, Euch tatsächlich überraschen kann.«
»Daran habe ich keinerlei Zweifel.«
Während Medicis Männer von ihren Pferden stiegen, begann Leonardo, seine Erfindung zu erläutern.
»Mein großer Herr«, fing er an, »wie Ihr seht, habe ich in den letzten Tagen einige Strohmänner gebaut, um die folgende Simulation besonders eindrücklich zu machen«, und während er das sagte, deutete er auf einige Vogelscheuchen, die ein paar Hundert Schritte von ihnen entfernt standen.
»Ihr stimmt mir sicher zu, dass einer der wichtigsten Männer jeder Armee der Armbrustschütze ist. Wir erinnern uns alle daran, wie die Schlacht von Anghiari gewonnen wurde. Ohne die großartigen genuesischen Armbrustschützen, die von den Abhängen der Hügel aus Astorre Manfredis Armee an der Flanke angegriffen und vernichtet haben, stünden wir heute vielleicht nicht einmal hier.« Er ließ die Worte wirken. Er war ein fähiger Redner, wusste, wie wichtig Pausen sind, und war theatralisch genug, um eine Entdeckung oder eine Erfindung aufs Beste zu präsentieren. Die Vorstellung wurde stets genauso gut vorbereitet wie das Werk selbst. Er musste Neugier und Aufmerksamkeit wecken, der Erzählung den richtigen Rhythmus geben. Er fuhr fort: »Wir wissen auf jeden Fall, dass die Armbrust eine alte Waffe ist, die, wo möglich, die Reichweite und die Kraft des Bogens übertreffen sollte, dessen Weiterentwicklung sie ja auch ist. Sie zeichnet sich vor allem durch Effizienz aus, zusätzlich zu Kraft und Präzision.«
Mit diesen Worten war Leonardo auf einen Tisch zugegangen, den er hatte bringen lassen, und mit einer etwas theatralischen Geste zog er ein graues Leintuch fort und enthüllte einige Armbrüste aus glänzendem Holz.
»Wir sprechen also von einer ausgeklügelten und strategischen Waffe. Andererseits verliert sie ihre Genauigkeit, seit immer kräftigere Modelle gebaut werden, und das Nachladen wird so kompliziert, dass es ihre Effizienz einschränkt. Die Einführung von Stahlbogen hat sicher die Leistung gesteigert, aber auch unbestreitbare Probleme in der Handhabung verursacht. Die Bogen sind inzwischen so schwer zu spannen, dass der Schütze die Sehne nicht mehr allein spannen kann, nicht einmal mit beiden Händen, weshalb man Hebel, Winden oder Flaschenzüge benötigt. Völlig verrückt, denn das bedeutet einen dramatischen Zeitverlust und setzt den Schützen nicht zuletzt ständiger Lebensgefahr aus.«
»Ganz zu schweigen davon«, warf Lorenzo ein, »dass alle zusätzlichen Gerätschaften, die der Armbrustschütze mit sich tragen muss, seine Beweglichkeit einschränken.«
»Genau. Ich ergänze noch, dass es einfach nicht sein darf, so viel wertvolle Zeit beim Nachladen verlieren zu müssen.«
Leonardo machte noch eine Pause, seine Zuhörer warteten auf seine Erklärung, jetzt stieß er zum Kern der Sache vor.
»Aus diesem Grund möchte ich Euch ans Herz legen, was ich ›schnelle Armbrust‹ nenne, eine Armbrust, bei der das Spannen viel schneller geht. Wie Ihr sehen könnt, ist die Säule zweigeteilt. Die untere, von einem robusten Scharnier gehalten, lässt sich leicht öffnen …« Leonardo nahm eine der Armbrüste vom Tisch und klappte in einer fließenden Bewegung die Hauptsäule in zwei Teile auseinander. »Und durch ein Hebelsystem im Inneren nähert sich die Nuss der Sehne im Ruhezustand, um sie zu packen und gleitend zu spannen.«
In diesem Moment hörte man ein Schnappen, und Lorenzo und seine Männer sahen mit großem Erstaunen, wie die Sehne bereits perfekt gespannt und bereit war, einen Bolzen abzuschießen.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, legte Leonardo einen Bolzen ein und zielte mit der Waffe auf einen der Strohmänner.
Er drückte den Abzug, und der Bolzen schoss los, pfiff durch die Luft und bohrte sich mit einem düsteren, todbringenden Zischen in den Kopf des Strohmannes.
Lorenzo konnte eine begeisterte Bewegung nicht unterdrücken. Die Wachen, die bei ihm geblieben waren, standen mit offenem Mund da. Das gesamte Spannen und Laden des Bolzens hatte nur wenige Augenblicke gedauert, und während sie noch auf die getroffene Vogelscheuche starrten, hatte Leonardo die Waffe bereits erneut geladen und schoss einen weiteren Bolzen ab.
Noch ein Pfeifen und noch ein Kopf, der vom Bolzen durchbohrt wurde.
»Erstaunlich!«, kommentierte Lorenzo begeistert, er konnte der Faszination dieser unglaublichen Armbrust nicht widerstehen und nahm eine vom Tisch.
Er klappte die Hauptsäule auseinander und wieder zusammen, lud die Waffe, ohne die Sehne auch nur zu berühren und ohne irgendein Hilfsmittel zu benutzen, es war einfach unfassbar.
»Auf diese Weise gelingt das Laden sehr schnell, findet Ihr nicht, Signore?«, fragte Leonardo.
Zur Antwort traf Lorenzos Bolzen den dritten Strohmann in Höhe des Herzens.
»Gut gemacht, Signore!«, rief der Kommandant der Wachen aus, die Lorenzo bei diesem Morgenritt begleitet hatten.
»Hervorragend, Leonardo«, verkündete der junge Medici, »Ihr seid ein Genie und der Stolz unserer Stadt! Eure Erfindung macht aus einer Armbrust nicht nur eine kraftvolle und schnelle Waffe, sondern auch eine der effizientesten und gefährlichsten.«
»Perfekt für eine wirkungsvolle Verteidigung im Fall eines Angriffs«, betonte Leonardo, und ein dunkler Schatten glitt über seine blauen Augen.
Es war nur ein Augenblick, aber Lorenzo sah es deutlich.
»Sicher, mein Freund, aber ich nehme meine Versprechen ernst. Wir werden sie nur zur Verteidigung gegen eventuelle Überfälle unserer Feinde einsetzen.«
Leonardo nickte. Er hatte hören müssen, wie Lorenzo es aussprach.
Sicher, Worte waren Schall und Rauch, aber die Worte eines Mannes wie Lorenzo konnten die Erde erbeben lassen. Leonardo wusste es nur zu gut und war ihm noch dankbarer, weil er sicher war, dass er trotz seines jugendlichen Alters weder seinem Temperament, über das er mit Sicherheit verfügte, noch dem für sein Alter typischen Ungestüm erlauben würde, den Verlockungen der Gewalt oder der Aggressivität nachzugeben.
Er lächelte und dachte daran, dass er nicht älter war, sogar ein paar Jahre jünger als Lorenzo, aber ihn hatten Krieg, Konflikt und das Schlachtfeld nie interessiert. Er wusste sich zu verteidigen, wenn es nötig war, aber sich zu schlagen gehörte nicht zu seinen Prioritäten, er fand es sogar so dumm und unnütz, dass er nicht einmal begriff, wieso die Herrscher der Nachbarstaaten das nicht verstanden.
Und es gab viele: Florenz, Imola, Forlì, Ferrara, Mailand, Modena, Rom, Neapel, Venedig … all diese Reiche sahen im Krieg und im Konflikt ein unverzichtbares Mittel, um die eigene Existenz zu sichern. Es schien fast, als hätten sie ein verzweifeltes Bedürfnis nach Konflikten, um sich selbst zu verewigen.
Er schüttelte den Kopf.
Da war es schon wieder passiert, er war in seinen Gedanken versunken. Aber gerade als er zu sich zurückgekehrt war, umarmte Lorenzo ihn und bedankte sich.
»Leonardo«, sagte er ihm, »unsere Freundschaft und Zusammenarbeit ehrt mich und feiert jeden Tag den Ruhm von Florenz. Ihr werdet für Eure unschätzbaren Dienste belohnt werden. Jetzt lade ich Euch ein, mit mir in die Stadt zurückzukommen. Meine Männer werden sich darum kümmern, Eure Gerätschaften zu transportieren, wenn Ihr so großzügig seid und mit meinen Ingenieuren darüber sprecht, werde ich bei Euch mindestens zweihundert dieser unglaublichen Armbrüste bestellen.«
»Nehmt diese von mir«, erwiderte Leonardo und reichte ihm eine, »es ist die beste und schönste von allen, die ich bisher gebaut habe.«
»Besser geht es nicht«, rief Lorenzo aus, und seine Stimme verriet, wie stolz und glücklich er über die Gabe war. »Doch jetzt kommt mit mir in die Stadt zurück, wir müssen über etwas sprechen, das mir sehr wichtig ist und das Euch, wie ich glaube, Freude machen wird.«
»Was ist es?«
»Das werde ich Euch zu gegebener Zeit erklären. Vertraut mir.«