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Der letzte Wille
In den folgenden Tagen war die Totenwache abgehalten worden.
Alle Vertreter der großen Familien von Florenz waren gekommen, um Giovanni die Ehre zu erweisen. Sogar jene, die ihn im Leben als ihren ärgsten Feind angesehen hatten, darunter auch die Albizzi, die sich seit jeher als die Herren von Florenz aufspielten. Sie hatten Rinaldo geschickt, der mit dem für ihn typischen Blick voller Verachtung und Arroganz erschienen war, aber diesen Besuch doch nicht hatte vermeiden können. Zwei Tage lang hatte im Palazzo Medici ein ständiges Kommen und Gehen der besseren Gesellschaft geherrscht.
Nun, da alles vorüber war und das Begräbnis zwar würdig, aber maßvoll begangen worden war, hatten sich Cosimo, Lorenzo und ihre Ehefrauen in einem der großen Säle des Palazzos eingefunden, um Giovannis letzten Willen zu vernehmen.
Ilarione de’ Bardi, der Vertraute der Familie, welchem Giovanni uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht hatte, hatte soeben die Siegel erbrochen und war im Begriff, seinen letzten Willen zu verlesen. Lorenzo hatte eine verdrießliche Miene aufgesetzt und schien tief in düstere Gedanken versunken. Cosimo vermutete, dass er mit seinen Nachforschungen vorankam, und beschloss, bald mit ihm darüber zu sprechen und die Fortschritte zu erörtern. Unterdessen hatte Ilarione mit der Eröffnung begonnen.
»Meine Söhne und einzige Erben: Ich habe es nicht für nötig erachtet, ein Testament zu verfassen, da ich euch schon vor vielen Jahren in die Führung der Medici-Bank berufen habe und euch in allen Belangen der Leitung und des allgemeinen Tagesgeschäftes an meiner Seite hatte. Ich weiß genau, dass mir die Lebenszeit vergönnt war, die Gott mir in seiner Güte am Tag meiner Geburt zugedacht hat, und ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, sagen zu können, dass ich zufrieden sterben werde, weil ich weiß, dass ich euch vermögend und bei guter Gesundheit zurücklasse. Ihr werdet gewiss in der Lage sein, in Florenz ein Leben in Ehren und angemessenen Würden zu führen und Trost in zahlreichen Freundschaften zu finden. Ich bin sicher, sagen zu können, dass der Tod mich nicht schwer ankommen wird, im klaren und deutlichen Bewusstsein, dass ich niemandem je Leid zugefügt habe, vielmehr, soweit es mir möglich war, jenen Gutes getan habe, die bedürftig waren. Aus ebenjenem Grunde ermahne ich euch, dasselbe zu tun. Wenn ihr in Sicherheit leben und respektiert werden wollt, rate ich euch, die Gesetze zu achten und nichts von dem zu nehmen, was anderen zusteht. Wenn ihr das beachtet, werdet ihr keinerlei Neid auf euch ziehen und Gefahr von euch fernhalten. Ich sage euch dies, damit ihr immer daran denkt, dass eure Freiheit dort endet, wo die der anderen beginnt, und weil das, was man jemandem antut, weniger Hass schürt als das, was man ihm nimmt. Achtet daher auf das, was ihr tut, denn auf diese Weise werdet ihr viel mehr haben als jene, die gierig sind und die Güter anderer begehren; diese werden am Ende die ihrigen verlieren und zu guter Letzt in Elend und Kummer versunken ihr Dasein fristen. Indem ich diese wenigen Regeln des gesunden Menschenverstandes befolgt habe, ist es mir gelungen, da bin ich sicher – allen Feinden, Niederlagen und Enttäuschungen zum Trotz, die jeden von uns im Leben einmal treffen –, in dieser Stadt meinen guten Ruf zu wahren und, soweit möglich, sogar zu mehren. Ich hege keinen Zweifel daran, dass auch ihr den euren wahren und mehren werdet, wenn ihr diese meine wenigen und einfachen Ratschläge befolgt. Wenn ihr aber meint, euch anders verhalten zu müssen, dann werde ich euch mit ebenso großer Sicherheit voraussagen, dass dies nur zu einem einzigen Ende führen kann, und zwar jenem, das all die genommen haben, die sich selbst ruiniert und ihre Familien in unsagbares Verderben gestürzt haben. Meine Söhne, ich segne euch.«
Hier machte Ilarione eine Pause. Piccarda war längst wieder in Tränen ausgebrochen, stille Tränen, welche auf den Wangen feuchte Spuren hinterließen. Sie trocknete sie mit einem Taschentuch aus feinstem Leinen, ohne jedoch ein Wort zu sprechen. Sie wollte vor allem, dass Giovannis Wille und Worte noch einen Moment lang im Raum standen und die Vision formten, die zum Verhaltenskodex seiner Söhne werden sollte.
Schließlich stellte Ilarione die Frage, die die offensichtlichste und dringlichste war.
»Nun, wo ich vorgetragen habe, worum ich gebeten worden bin, frage ich euch: Was wollen wir mit der Bank machen?«
Cosimo ergriff das Wort.
»Wir werden alle Verwalter unserer Bankhäuser in Italien nach Florenz rufen, damit sie uns über ihre jeweilige Situation Bericht erstatten. Fürs Erste möchte ich dich bitten, Ilarione, dich darum zu kümmern.«
Der Vertraute der Medici nickte gewichtig.
Dann verabschiedete er sich.
Piccarda hatte in der Bibliothek des Hauses auf Cosimo gewartet und sah ihn nun mit festem Blick an, wie sie es immer tat, wenn sie ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte.
Sie saß in einem edlen, mit Samt bezogenen Sessel. Die rote Glut im Kamin knisterte, und ab und an erhob sich ein Funke wie ein rebellisches Glühwürmchen bis hinauf zur Kassettendecke.
Piccarda hielt das lange Haar, das von warmer kastanienbrauner Farbe war, unter einer bestickten und perlengesäumten Haube mit einer Kappe aus Goldbrokat zusammen, die mit wertvollen Steinen besetzt war. Ihr pelzverbrämtes Obergewand, die cioppa, betonte durch sein tiefes Indigo die weiche Farbe ihrer dunklen Augen. Es wurde dicht über der Taille durch einen wundervollen silbernen Gürtel gefasst. Die Falten, die an den Händen zusammengehalten wurden, stellten auf diskrete Weise die bemerkenswerte Fülle des wertvollen Stoffes zur Schau, die für dieses Kleidungsstück verwendet worden war. Weite geschlitzte Ärmel endeten am Handgelenk mit einer weiteren Stickerei, diesmal in Silber, und waren so geschnitten, dass man darunter die Ärmel der gamurra aus grau schimmerndem Brokatsamt sehen konnte, deren Anfertigung ohne Zweifel aufwändig gewesen war.
Ungeachtet der harten Tage, die hinter ihr lagen, sah Piccarda blendend aus und war entschlossen, ihrem Sohn klarzumachen, was er zu tun hatte. Cosimo war sicher kein Dummkopf, aber er hegte eine Vorliebe für Kunst und Malerei, die sich nach ihrer Meinung nicht immer so gut mit dem Erbe vertrug, mit dem er betraut war. Und Piccarda wollte keine Irrtümer oder Missverständnisse aufkommen lassen. Sie musste sichergehen, dass Cosimo begriffen hatte, was von ihm erwartet wurde.
»Mein Sohn, dein Vater hätte sich nicht klarer und leidenschaftlicher ausdrücken können. Und doch bin ich sicher, dass er dir im Sterben auch weitere Ratschläge nicht erspart hat. Florenz ist wie ein wilder Hengst: wunderschön, aber man muss ihn im Zaum halten. Jeden Tag. Auf der Straße findest du Leute, die willens sind, dir zu helfen und dich in deinem Tun zu unterstützen, aber auch Nichtsnutze und Tagediebe, bereit, dir die Kehle durchzuschneiden, und perfide Feinde, die versuchen werden, dein gutes Herz und deine Rechtschaffenheit auszunutzen.«
»Mutter, ich bin nicht naiv«, protestierte Cosimo und dachte daran, dass er gerade sehr wohl lernte, wie naiv er war.
»Lass mich fortfahren. Ich weiß bestens, dass du das nicht bist und bereits einen wichtigen Anteil am Wachstum dieser Familie hast, aber nun wird die Lage komplizierter, mein Sohn. Ich bin überzeugt, dass du deinen Weg machen wirst, der sich bei allem Respekt für deinen Vater ganz nach deinen Überzeugungen gestalten wird. Ich möchte dir ans Herz legen, auf dem vorgegebenen Weg zu bleiben und dementsprechend dein Verhalten nach dem der Stoiker auszurichten: geprägt von dem äußeren Streben nach dem Gemeinwohl, der Mäßigung in jeder Hinsicht und einem ausdrücklichen Verzicht auf persönliches Ansehen und Prahlerei. Ich will dir außerdem sagen, dass ich vorhabe, immer bei dir zu sein, jetzt und in Zukunft, und dass meine erste Sorge sein wird sicherzustellen, dass die ganze Familie hinter dir steht, welche Entscheidungen du auch immer triffst. Doch bedenke immer: Die Finanzen mögen florieren und das Ansehen unbestritten sein, die Feinde sind zahlreich und hinterhältig. Dabei denke ich insbesondere an Rinaldo degli Albizzi. Hüte dich vor ihm und seinen politischen Schachzügen. Er ist skrupellos und zu allem bereit. Sein Ehrgeiz kennt keine Grenzen, und ich bin sicher, dass er alles tun wird, um dir zu schaden.«
»Ich werde auf der Hut sein, Mutter, und mir Geltung zu verschaffen wissen.«
»Natürlich kannst du auf deinen Bruder zählen. Ich war immer der Meinung, dass ihr, du und Lorenzo, euch wunderbar ergänzt in Charakter und Gemüt. Er der Schnellere und Ungestümere, du der Nachdenklichere und Analysierende. Wo er handelt, gehst du erst in dich und handelst dann mit umfassenderem Blick auf die Welt und das Schöne und Nützliche im Leben. Ihr seid euch immer nahgestanden und respektiert die Art und Weise und das Vorgehen des anderen. Nochmals zu dem, was dich erwartet: Sieh zu, dass du dich um deine Angelegenheiten kümmerst, und denke immer daran, dass es sehr wichtig ist, die Schachzüge deiner Gegner vorauszusehen. Giovanni hat sich immer gesträubt, am politischen Leben der Stadt teilzunehmen, aber damit bin ich nie so recht einverstanden gewesen. Ich glaube vielmehr, dass es wichtig ist, eine Position in der Mitte einzunehmen: dem Volk, das immer auf unserer Seite stand, nah zu bleiben und doch eine Laufbahn in politischen Ämtern und öffentlichen Positionen anzustreben, durch die man ebenso den Anliegen der Bevölkerung Geltung verschaffen wie den Belangen des Adels Rechnung tragen kann und so auch bei den einflussreichsten Familien Unterstützer findet. Auch darauf solltest du hinarbeiten, um dir doppelten Rückhalt zu verschaffen.«
Cosimo verstand vollkommen, wie richtig und klug Piccardas Ratschläge waren. Er nickte. Doch seine Mutter war längst noch nicht fertig.
»Ich muss dir nicht sagen, dass es aussieht, als hätte Giovanni di Contugi Giusto Landini in Volterra aufgewiegelt. Die Gründe dafür liegen im Katastergesetz, für das sich dein Vater verbürgt hat. Wir können es uns im Hinblick auf die Politik der Stadt nicht erlauben, in dieser Angelegenheit nicht Position zu beziehen. Ich will dir nicht vorwerfen, dass du den Arbeiten an der Domkuppel zu viel Aufmerksamkeit schenkst, aber es könnte uns teuer zu stehen kommen, wenn wir uns aus dem politischen Geschehen heraushalten. Schenke diesem Umstand eine gewisse Beachtung. Ich verlange nicht von dir, dich weiter zu exponieren als nötig, denn Rinaldo degli Albizzi könnte dein plötzliches Interesse an öffentlichen Dingen schlecht aufnehmen, aber ebenso wenig können wir ihm und seiner Familie die Initiative überlassen. Florenz bereitet sich auf einen Waffengang gegen Volterra vor, und unsere Position muss klar sein.«
»Andererseits können wir auch die gemeinen Leute, das Volk, nicht im Stich lassen«, wandte Cosimo ein, »mein Vater, Giovanni, hat das Katastergesetz befürwortet, weil es der Florentiner Bevölkerung dazu verholfen hat, den Adel stärker besteuert zu sehen.«
»Doch das hat ihm Rinaldo degli Albizzi nie verziehen. Was ich dir zu sagen versuche, ist, dass wir uns jetzt nicht gegen ihn stellen können.«
»Ich weiß. Deshalb ist Rinaldo mit seinen bewaffneten Leuten gemeinsam mit Palla Strozzi gegen Giusto Landini gezogen.«
»Natürlich. Dein Vater hätte sich auf die Seite des Adels gestellt, aber ohne eine allzu klare Position einzunehmen. Und das wäre auch richtig gewesen. Was jetzt jedoch zählt, ist, deutlich zu machen, auf wessen Seite wir stehen: Du kannst dir nicht erlauben, keine klare politische Linie zu vertreten und deine Absichten nicht zu erkennen zu geben. Gib Florenz also – ohne das Werk deines Vaters in Abrede zu stellen – deine Unterstützung.
Denn Giovannis Absicht war es, die finanziellen Mittel und Opfer proportional zu verteilen, und daran ist nichts Schlechtes. Und es liegt auch kein Widerspruch darin, an diesem Prinzip festzuhalten und sich einer Stadt entgegenzustellen, die sich gegen Florenz erhebt.«
»Ich weiß«, seufzte Cosimo, »ich werde mich wohl den anderen Familien anschließen, damit nicht der Eindruck entsteht, ich wollte mich zu sehr profilieren. Gleichzeitig aber muss ich darauf achten, dass unsere Rolle als Beschützer der gesamten Bevölkerung gewahrt bleibt. Wenn wir die einfachen Leute verlieren, geht alles verloren, wofür Vater gearbeitet hat.«
Piccarda nickte zufrieden. Cosimo traf mit gutem Urteilsvermögen die richtige Entscheidung. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, wenn auch mit einer Spur von Bitterkeit. Zu mehr kam sie nicht, denn Contessina stürmte mit weit aufgerissenen Augen in die Bibliothek.
Sie sah aus, als sei ihr der Teufel auf den Fersen.
»Giusto Landini …«, stieß sie mit tonloser Stimme hervor, »Giusto Landini ist tot – getötet durch die Hand Arcolanos und seiner Schergen!«