Buch
Nach ihrer Flucht genießen Livy und Miller ihre Freiheit und die Zeit als ganz normales verliebtes Paar in New York. Doch keiner von beiden kann vor seiner Vergangenheit fliehen, und schneller als gedacht müssen sie nach London zurückkehren. Denn dort warten Antworten auf die Fragen, die über ihr Glück entscheiden und vor denen Olivia schon zu lange davonläuft. Hat sie tatsächlich ihre Mutter am Flughafen gesehen? Was verbirgt der Mensch, der ihr am nächsten steht? Kann sich Miller wirklich von seiner Vergangenheit befreien? Und ist ihre Liebe stark genug, um die Wahrheit zu überstehen?
Weitere Informationen zu Jodi Ellen Malpas sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Jodi Ellen Malpas
One Night
Das Versprechen
Roman
Aus dem Englischen
von Nicole Hölsken
Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»One Night. Unveiled«
bei Orion, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Jodi Ellen Malpas
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Antje Steinhäuser
MR · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-21047-2
V002
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Für meine Komplizin. Einige Menschen gehören nun einmal zu meinem Leben. Sie ist eine von ihnen. Katie Fanny Cooke, danke, dass du jeden Tag für mich da bist. Danke, dass du mich so nimmst und liebst, wie ich bin. Danke, dass du weißt, wann man mich in Ruhe lassen sollte, mich aber, wenn nötig, drängst, über meine Sorgen zu reden. Danke, dass du in mir liest wie in einem Buch. Danke für … alles.
Prolog
William Anderson saß nun schon seit über einer Stunde an der Ecke der Straße in seinem Lexus. Eine ganze verdammte Stunde, und immer noch hatte er es nicht fertiggebracht auszusteigen. Unverwandt und mit schmerzenden Augen starrte er die alte viktorianische Häuserreihe an. Er hatte diesen Teil der Stadt seit mehr als zwanzig Jahren gemieden – mit einer einzigen Ausnahme: Um sie damals nach Hause zu bringen.
Jetzt jedoch musste er seiner Vergangenheit ins Auge sehen. Er musste aus dem Auto aussteigen. Er musste an diese Tür klopfen. Und er fürchtete sich davor.
Aber er hatte keine Wahl, obwohl er sich weiß Gott das Hirn zermartert und einen Ausweg aus dieser Situation gesucht hatte. Ohne Erfolg. »Du musst die Suppe jetzt auslöffeln, Will«, murmelte er vor sich hin und stieg aus. Leise schloss er die Wagentür und ging aufs Haus zu, verärgert, dass er seinen donnernden Herzschlag einfach nicht zu beruhigen vermochte. Es pochte wild in seiner Brust, hallte in seinen Ohren wider. Mit jedem Schritt stand ihm ihr Gesicht klarer vor Augen, bis er sie schließen musste, weil es einfach zu sehr schmerzte.
»Verdammtes Weib«, murmelte er und erschauerte.
Er fand sich viel schneller vor der Haustür wieder, als ihm lieb war, und starrte sie an. Sein armes Hirn wurde von viel zu vielen schlechten Erinnerungen heimgesucht. Er fühlte sich ganz schwach. Dieses Gefühl befiel William Anderson nicht allzu häufig, dafür hatte er gesorgt. Nach ihr hatte er verdammt gewissenhaft darauf geachtet.
Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und schloss noch einmal kurz die Augen, atmete tiefer ein denn je. Dann hob er die zitternde Hand und klopfte an die Tür. Sein Herzschlag beschleunigte sich noch mehr, als er Schritte vernahm, und beinahe hätte er aufgehört zu atmen, als die Tür aufgerissen wurde.
Sie hatte sich kaum verändert, außer dass sie jetzt wahrscheinlich … wie alt war? Achtzig? War es wirklich schon so lange her? Sie wirkte nicht einmal schockiert, und er wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Das würde er erst beurteilen können, wenn er wieder ging. Es gab so vieles, worüber sie reden mussten.
Kühl zog sie die mittlerweile grauen Augenbrauen in die Höhe, und als sie milde den Kopf schüttelte, verzogen Williams Lippen sich zu einem leichten Lächeln. Einem nervösen Lächeln. Wieder einmal zitterte er wie Espenlaub.
»Sieh mal einer an. Wen haben wir denn da?«, sagte sie seufzend.
Kapitel 1
Wie schön es hier ist! Aber noch perfekter wäre es, wenn ich nicht so voller Sorge, Angst und Verwirrung wäre.
Ich drehe mich in dem Queen-Size-Bett auf den Rücken und blicke zu den Dachfenstern in der gewölbten Decke unserer Hotelsuite hinauf. Der lichtblaue Himmel ist von sanften Wolkenflocken übersät. Außerdem kann ich von hier aus die Wolkenkratzer sehen, die sich dem Himmel entgegenrecken. Ich halte den Atem an und lausche den mittlerweile vertrauten Geräuschen des morgendlichen New York – Hupen, Pfiffe und das geschäftige Treiben der Stadt sind sogar hier im zwölften Stock deutlich hörbar. Wir sind von ähnlichen Wolkenkratzern wie dem, in dem wir wohnen, umgeben. Doch das Hotel-Gebäude wirkt inmitten dieses Beton- und Glas-Dschungels geradezu verloren. Diese Stadt ist einfach unglaublich, aber nicht dadurch ist mein Aufenthalt hier perfekt. Sondern durch den Mann, der neben mir in dem weichen, großen Bett liegt. Ich bin überzeugt, dass die Betten in Amerika größer sind als europäische Betten. Alles hier scheint größer zu sein – die Bauten, die Autos, die Persönlichkeiten … meine Liebe zu Miller Hart.
Wir sind jetzt seit zwei Wochen hier, und ich vermisse Nan ganz schrecklich, telefoniere jedoch täglich mit ihr. Wir haben uns von dieser Stadt verschlingen lassen und hatten nichts weiter zu tun, als uns ineinander zu versenken.
Mein perfekter, unvollkommener Mann ist hier völlig entspannt. Er ist immer noch eine extreme Persönlichkeit, aber damit kann ich leben. Seltsamerweise finde ich viele seiner zwanghaften Gewohnheiten mittlerweile liebenswert. Mittlerweile kann ich das sogar aussprechen. Ich kann es sogar ihm sagen, obwohl er so beharrlich die Tatsache ignoriert, dass seine Zwanghaftigkeit ihn in Bezug auf die meisten Bereiche seines Lebens lähmt. Auch in Bezug auf mich.
Wenigstens gibt es hier in New York keine Störfaktoren – niemanden, der ihm seinen wertvollsten Besitz wegzunehmen versucht. Ich bin überglücklich, dass er mich als solchen bezeichnet. Gleichzeitig ist es eine Bürde, die ich jedoch gern auf mich nehme. Denn ich weiß, dass das Asyl, das wir uns hier geschaffen haben, nicht von Dauer ist. Wir werden uns der dunklen Welt wieder stellen müssen. Dieser Kampf lauert am Horizont unseres momentan beinahe perfekten Lebens. Und ich hasse mich selbst dafür, dass ich an meiner eigenen Kraft zweifele, uns beide durchzubringen – an jener Kraft, auf die Miller so sehr vertraut.
Neben mir regt sich etwas, was mich gedanklich wieder in die luxuriöse Suite zurückführt, die wir seit unserer Ankunft in New York bewohnen, und ich lächele, als ich sehe, wie er sich mit einem süßen kleinen Raunen an sein Kissen schmiegt. Die dunklen Locken auf seinem schönen Kopf sind vollkommen zerzaust, und auf seinem Kinn wachsen dunkle, raue Stoppeln. Er seufzt und lässt im Halbschlaf die Hand übers Bett wandern, bis er meinen Kopf findet und seine Finger meine wilden Locken spüren. Sein Lächeln wird breiter, während ich ganz still daliege und sein Gesicht betrachte, spüre, wie seine Finger sich in meinem Haar vergraben, während er wieder sanft einschlummert. Das ist eine ganz neue Gewohnheit meines perfekten Teilzeit-Gentleman. Er spielt stundenlang an meinem Haar herum, sogar noch im Schlaf. Wenn ich aufwache, sind sie oft ganz verknotet, manchmal sind Millers Finger sogar noch mit meinen Strähnen verwoben, aber ich beklage mich nie. Ich brauche die Berührung – jegliche Berührung – von ihm.
Langsam schließe ich wieder die Augenlider, beruhigt von seinen Händen. Aber allzu bald ist mein innerer Frieden dahin, und vor meinem geistigen Auge stehen ein paar beunruhigende Bilder – besonders der quälende Anblick von Gracie Taylor. Ich schlage die Augen auf und setze mich ruckartig auf, zucke zusammen, als mein Kopf am Haar zurückgerissen wird. »Shit!«, zische ich und fange an, Millers Finger vorsichtig aus meinem Haar zu lösen. Er grummelt ein paar Mal, wacht aber nicht auf, und ich lege seine Hand auf das Kissen, bevor ich leise zur Bettkante rücke. Ich werfe noch einen Blick über meine nackte Schulter und sehe, dass Miller immer noch tief und fest schläft. Im Stillen hoffe ich, dass seine Träume leicht und heiter sind. Im Gegensatz zu meinen eigenen.
Ich lasse die Füße in den flauschigen Teppich sinken und stehe auf, recke mich ein wenig und seufze. Ich bleibe neben dem Bett stehen und starre blicklos zum großen Fenster hinaus. Ist es möglich, dass ich meine Mutter zum ersten Mal seit achtzehn Jahren wiedergesehen habe? Oder war das eine Halluzination, die auf den Stress zurückzuführen war?
»Sag mir, was deinen hübschen Kopf bedrückt«, unterbricht seine verschlafene, heisere Stimme meine Gedanken. Er liegt auf der Seite, hat die Hände unter die Wange gelegt. Ich schenke ihm ein gezwungenes Lächeln, das ihn mit Sicherheit nicht überzeugen wird, und lasse mich von Miller und seiner Perfektion von meinem inneren Aufruhr ablenken.
»Nur Tagträumereien«, sage ich leise und ignoriere seinen skeptischen Blick. Meine Gedanken quälen mich, seit wir in dieses Flugzeug gestiegen sind. Immer und immer wieder spielte ich diesen Augenblick im Geiste wieder durch, und Miller registrierte meine schweigsame Nachdenklichkeit kommentarlos. Er fragte nicht nach, führte sie vermutlich auf die traumatischen Erlebnisse zurück, die uns nach New York verschlagen hatten. In Teilen hätte er damit ja sogar recht. Viele Ereignisse, Enthüllungen und Bilder plagen mich seit unserer Ankunft hier. Ich bin wütend, dass ich Miller und seine hingebungsvolle Anbetung nicht in vollen Zügen genießen kann.
»Komm her«, flüstert er, bleibt aber ganz still liegen, ohne auch nur die Hand nach mir auszustrecken. Nur dieser leise Befehl.
»Ich wollte uns einen Kaffee kochen.« Es ist töricht zu glauben, dass ich seinen besorgten Fragen noch länger ausweichen kann.
»Ich frage nur einmal.« Er stützt sich auf den Ellbogen und legt den Kopf schief. Er presst die Lippen aufeinander, und seine kristallblauen Augen brennen sich in mich hinein. »Ich will mich nicht wiederholen müssen.«
Ich schüttele seufzend den Kopf und schlüpfe wieder ins Bett, schmiege mich an seine Brust, während er ganz still liegen bleibt und abwartet, bis ich die richtige Position gefunden habe. Als ich bequem liege, umfängt er mich mit seinen Armen und vergräbt die Nase in meinem Haar. »Besser?«
Ich nicke an seiner Brust und lasse den Blick über seine harten Brustmuskeln schweifen, während er mich überall erspürt und tief einatmet. Ich weiß, dass er mich unbedingt trösten und beruhigen will. Aber das schafft er momentan nicht. Er hat mein Schweigen bereits eine ganze Weile ertragen, was ihm unfassbar schwergefallen sein muss. Ich grübele mal wieder. Ich weiß es, und Miller weiß es ebenfalls.
Er zieht sich aus der Wärme meines Haares zurück und streicht ein paar Mal darüber. Dann mustert er mich mit besorgten blauen Augen. »Hör nie auf, mich zu lieben, Olivia Taylor.«
»Niemals«, bekräftige ich und habe mit einem Mal ein total schlechtes Gewissen. Ich will ihm versichern, dass er nie an meiner Liebe zweifeln muss – niemals. »Nicht grübeln.« Ich fahre mit dem Daumen über seine volle Unterlippe, sehe, wie er bedächtig blinzelt und meine Hand an seinem Mund mit der seinen umfängt.
Er breitet meine Finger auseinander und küsst meinen Handteller. »Die Straße führt in beide Richtungen, wundervolles Mädchen. Ich kann es nicht ertragen, wenn du traurig bist.«
»Ich habe dich. Da kann ich gar nicht traurig sein.«
Er schenkt mir ein winziges Lächeln und beugt sich vor, um mich zärtlich auf die Nasenspitze zu küssen. »Ich bin anderer Ansicht.«
»Du kannst aller möglichen Ansichten sein, Miller Hart.« Schnell packt er mich und zieht mich auf seinen Bauch, spreizt die Schenkel, sodass ich dazwischen zu liegen komme. Er umfasst meine Wangen und schiebt den Kopf vor. Unsere Lippen sind nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt, und sein heißer Atem trifft auf meine Haut. Mein Körper reagiert instinktiv. Ich kann es nicht verhindern. Will es auch gar nicht.
»Lass mich dich schmecken«, murmelt er und sieht mir in die Augen.
Ich recke mich nach oben, presse meine Lippen hart auf die seinen. Dann krieche ich auf seinem Körper empor, bis ich rittlings auf seinen Hüften sitze und ihn erspüre – hart und heiß zwischen meinen Pobacken. Ich summe in seinen Mund, dankbar für seine Ablenkungsstrategie. »Ich glaube, ich bin süchtig nach dir«, raune ich, umfange seinen Hinterkopf und zerre ihn ungeduldig hoch, bis er sich aufsetzt. Meine Beine schlingen sich um seine Taille, und seine Hände umfassen meinen Hintern, ziehen mich noch dichter zu sich heran, während unsere Zungen einen schwelend heißen, langsamen Tanz miteinander vollführen.
»Gut.« Er unterbricht unseren Kuss und verlagert mich etwas, bevor er in die Kommode greift und ein Kondom herausholt. »Deine Periode ist doch eigentlich bald fällig«, bemerkt er, und ich nicke, strecke die Hand aus, um ihm zu helfen. Ich nehme das Kondom an mich und reiße das Päckchen auf, verlange genauso sehr nach Anbetung wie Miller. »Gut. Dann können wir endlich auf diese Dinger verzichten.« Das Kondom wird übergestreift, ich wieder gepackt, hochgehoben, und dann schließt er die Augen, als er seine Erregung in meine feuchte Öffnung gleiten lässt. Ich senke mich auf ihn herab, nehme ihn bis zum Anschlag in mich auf.
Mir stockt der Atem. Ich stöhne leise und befriedigt. Unsere Vereinigung jagt sämtliche Sorgen davon, sodass nichts bleibt als erbarmungslose Lust und unsterbliche Liebe. Er ist tief in mir, hält ganz still, und ich lasse den Kopf in den Nacken sinken und vergrabe die Nägel in seinen harten Schultern, um mich festzuhalten. »Beweg dich«, bitte ich, lasse die Hüften in seinem Schoß kreisen. Ich bekomme kaum Luft vor Verlangen.
Sein Mund findet meine Schultern, und sanft beißt er hinein, als er mich mit bedächtigen Bewegungen in seinem Schoß kreisen lässt. »Gut so?«
»Besser als alles, was ich mir vorstellen kann.«
»Ich stimme zu.« Seine Hüften bäumen sich mir entgegen, während er mich mit mahlenden Bewegungen nach unten führt, bis unsere erregten Körper vor Lust erbeben. »Olivia Taylor, ich bin so verdammt fasziniert von dir.«
Sein gemessener Rhythmus ist mehr als perfekt. Langsam und bedächtig steigert er unsere Erregung, jede Drehung bringt uns der Explosion näher. Die Reibung seine Lenden an meiner Klitoris am Ende einer jeden Kreisbewegung lässt mich stöhnen und keuchen. Dann wird mein Körper wieder emporgehoben, der köstliche Druck lässt nach, aber nur kurz, bis ich erneut in den Abgrund der Lust hinabgeschleudert werde. Er weiß genau, was er tut. Sein bedächtig langsames Blinzeln und seine leicht geöffneten, sinnlichen Lippen steigern mein Verlangen ins Unermessliche.
»Miller«, keuche ich und verberge mein Gesicht an seinem Hals, denn ich kann mich nicht mehr aufrecht halten.
»Wende dein Gesicht nicht von mir ab, Olivia«, sagt er warnend. »Zeig es mir.«
Ich keuche, lecke und beiße an seiner Kehle, seine Bartstoppeln kratzen an meinem verschwitzten Gesicht. »Ich kann nicht.« Seine geschickte Anbetung setzt mich immer wieder aufs Neue außer Gefecht.
Ich hole tief Luft. »Ich liebe dich, Miller Hart.«
Langsam erhebt er sich, bis er mit funkelnden Augen auf mich herabblickt. Sein wunderschöner Mund verzieht sich zu einem winzigen Lächeln. »Ich akzeptiere deine Liebe.«
Am liebsten würde ich ihn wütend anfunkeln, aber das schaffe ich nicht, denn ich bin überglücklich, dass er mir sein sonst so seltenes Lächeln so bereitwillig und neuerdings auch so häufig auftischt. »Was bist du doch für ein Klugscheißer.«
»Und du, Olivia Taylor, bist der Segen der Götter.«
»Oder dein Besitz.«
»Alles das Gleiche«, flüstert er. »In meiner Welt jedenfalls.« Er küsst mich sacht auf die Augenlider, dann gleitet er sanft aus mir heraus, setzt sich auf die Fersen. Befriedigung rauscht heiß durch meine Adern, und Frieden erfüllt mich ganz und gar, als er mich auf seinen Schoß zieht und meine Beine um seinen Körper herumführt. Die Decken sind unordentlich zerknüllt, aber das kümmert ihn nicht im Geringsten.
»Dieses Bett ist ein einziges Chaos«, sage ich neckend, als er mir das Haar ordentlich über die Schulter legt und mir über die Arme streicht, um meine Hände zu umfassen.
»Mein zwanghaftes Bedürfnis, dich in meinem Bett zu haben, überwiegt jegliche zwanghafte Ordnungsliebe.«
Mein sanftes Lächeln verwandelt sich in ein breites Grinsen. »Nanu, Mr Hart, haben Sie sich da gerade zu Ihrer Zwanghaftigkeit bekannt?«
Er legt den Kopf schief, und ich löse eine meiner Hände aus seinem Griff. Dann schiebe ich ihm bedächtig seine widerspenstige Locke aus der feuchten Stirn.
»Vielleicht hast du damit ja nicht ganz unrecht«, antwortet er gefasst, aber ohne jede Belustigung in der Stimme.
Meine Hand stockt, und ich mustere ihn eindringlich, suche nach seinem süßen Grübchen. Aber es ist nirgends in Sicht, und ich sehe ihn fragend an, versuche herauszufinden, ob er endlich zugibt, dass er an einer massiven Zwangsstörung leidet.
»Vielleicht«, wiederholt er mit Pokerface.
Ich schnappe nach Luft und versetze seiner Schulter einen Schlag, was ihm ein süßes Glucksen entringt. Dieser Anblick und der belustigte Laut, den er von sich gibt, faszinieren mich wie eh und je. Das ist das Schönste, was es gibt – nicht nur in meiner –, sondern auf der ganzen Welt. Daran besteht kein Zweifel.
»Ich bin geneigt, von definitiv zu sprechen«, unterbreche ich sein Gelächter.
Er schüttelt verwundert den Kopf. »Manchmal kann ich es kaum fassen, dass du hier bist.«
Mein Lächeln verblasst. Ich bin verwirrt. »In New York?« Ich wäre mit ihm auch in die Äußere Mongolei gegangen, wenn er es von mir verlangt hätte. Überallhin. Er lacht leise und wendet den Blick ab, aber ich umfasse sein Kinn und zwinge ihn, mich wieder anzusehen. »Genauer.« Ich ziehe herrisch die Augenbrauen hoch und presse die Lippen aufeinander – trotz meines überwältigenden Drangs, in sein Gelächter mit einzustimmen.
»Einfach nur hier«, sagt er und zuckt leicht mit den muskulösen Schultern. »Bei mir, meine ich.«
»Im Bett?«
»In meinem Leben, Olivia. Dass du meine Dunkelheit in blendendes Licht verwandelst.« Sein Gesicht kommt ganz nah, seine Lippen berühren hauchzart die meinen. »Dass du meine Albträume durch wunderschöne Träume ersetzt.« Er hält meinen Blick fest, verstummt und wartet, dass ich seine von Herzen kommenden Worte ganz und gar begreife. Und ich verstehe ihn – jetzt wie immer.
»Du könntest einfach nur sagen, wie sehr du mich liebst. Das ginge auch.« Ich schürze die Lippen, kann kaum ernst bleiben, zumal mein verliebtes Herz nach seiner bedeutsamen Äußerung meine Brust zu sprengen droht. Ich habe Lust, ihn auf den Rücken zu schubsen und ihm meine Gefühle für ihn in einem atemberaubenden Kuss zu demonstrieren. Doch ein winziger Teil von mir wünscht sich, dass er meinen nicht allzu subtilen Hinweis aufgreift. Er hat niemals von Liebe gesprochen. Sein Lieblingswort ist fasziniert, und mir ist natürlich klar, was er damit meint. Trotzdem wünsche ich mir sehr, diese drei einfachen Worte einmal aus seinem Mund zu hören.
Miller legt mich auf den Rücken und erstickt mich mit seinem Stoppelbart, küsst jeden vorhandenen Zentimeter meiner Grimasse. »Ich bin zutiefst fasziniert von dir, Olivia Taylor.« Er umfängt meine Wangen. »Du ahnst nicht, wie sehr.«
Ich ergebe mich und lasse mich von ihm überwältigen.
»Ich würde am liebsten den ganzen Tag mit meiner Gewohnheit im Bett verbringen, aber wir haben einen Termin.« Er knabbert an meiner Nase und zieht mich vom Bett empor, stellt mich auf die Füße und verstrubbelt mir das Haar. »Geh duschen.«
»Ja, Sir!« Ich salutiere vor ihm und ignoriere, dass er die Augen verdreht, als ich zur Dusche schlendere.
Kapitel 2
Ich stehe auf dem Asphalt vor unserem Hotel und schaue zum Himmel empor. Das ist mittlerweile mein tägliches Ritual. Jeden Morgen gehe ich nach unten, lasse Miller oben noch irgendetwas erledigen, stelle mich auf die Straße, lege den Kopf in den Nacken und staune in den Himmel hinauf. Menschen weichen mir aus, Taxis und glänzende schwarze SUVs rauschen vorbei, und das Chaos in New York City erfüllt meine Ohren. Ich bin wie gebannt vom Zauber der überragenden Bauten aus Glas und Metall, die diese Stadt bewachen. Es ist einfach … unglaublich.
Nicht viele Dinge können mich aus diesem gebannten Staunen reißen, aber seine Berührung gehört dazu. Und sein Atem an meinem Ohr.
»Buh«, raunt er und dreht mich in seinen Armen um. »Die wachsen nicht über Nacht, weißt du?«
Ich schaue wieder hinauf. »Ich verstehe nur nicht, wie sie so aufrecht stehenbleiben können.« Er packt mein Kinn und zieht mein Gesicht herunter. Seine Augen blicken sanft und amüsiert drein.
»Vielleicht solltest du deine Faszination dafür nutzen.«
Ich ziehe erstaunt den Kopf zurück. »Wie meinst du das?«
Seine Hand gleitet in meinen Nacken, und er führt mich langsam auf die Sixth Avenue zu. »Vielleicht solltest du Bauingenieurwesen studieren.«
Ich entziehe mich seinem Griff und nehme ihn bei der Hand. Er lässt mich gewähren, wobei er wie immer seine Finger bewegt, bis er sich wohl damit fühlt. »Ich interessiere mich eher für die Geschichte dieser Gebäude, nicht für die Konstruktion.« Ich schaue zu ihm auf, mustere seinen Körper von Kopf bis Fuß, lächele. Er trägt Jeans. Hübsche, lose sitzende Jeans und ein einfaches weißes T-Shirt. Anzüge wären hier lächerlich und unangemessen, und ich scheute nicht davor zurück, ihm das auch zu sagen. Er widersprach mir nicht, sondern ließ sich von mir den ganzen ersten Tag unseres hiesigen Aufenthaltes durchs Saks schleifen. In New York braucht er keine Anzüge; er muss niemanden mit seiner Maske als distanzierter Gentleman hinters Licht führen. Mit Bummeln hat er allerdings immer noch nicht allzu viel am Hut. Und er geht auch nicht gern unter Menschen.
»Also, erinnerst du dich an deine heutige Herausforderung?«, fragt er, als wir an der Ampel stehenbleiben. Er zieht die Augenbrauen hoch, und ich lächele zu ihm auf.
»Ja, und ich bin gut vorbereitet.« Gestern saß ich stundenlang in der New York Public Library und vergaß dort völlig die Zeit, während Miller ein paar geschäftliche Telefonate erledigte. Ich wollte dort gar nicht mehr weg. Zunächst hatte ich mich selbst damit gequält, dass ich den Namen »Gracie Taylor« googelte, aber sie schien überhaupt nicht zu existieren. Nachdem meine Suchanfragen ins Leere gelaufen waren, verlor ich mich in Dutzenden von Büchern. Nicht alle davon befassten sich mit historischer Architektur. Sondern ich befasste mich auch mit dem Thema Zwangsstörungen und fand heraus, dass sie häufig mit Wutausbrüchen einhergehen. Es ist also kein Wunder, dass Millers Temperament sich derart häufig Bahn bricht.
»Und welches Gebäude hast du dir für heute ausgesucht?«
»Das Brill Building.«
Er sieht stirnrunzelnd auf mich herab. »Das Brill Building?«
»Ja.«
»Nicht das Empire State Building oder das Rockefeller Center?«
Ich lächele. »Die Geschichte dieser beiden Gebäudekomplexe kennt doch jeder.« Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass auch die Historie der Londoner Sehenswürdigkeiten jedermann hinlänglich bekannt ist. Aber das erwies sich als Irrtum. Miller hatte zum Beispiel keine Ahnung über die Hintergründe des Café Royal. Vielleicht hatte ich mich ja auch ein wenig zu intensiv mit dieser prächtigen Stadt befasst. Eigentlich gibt es nichts, was ich nicht weiß. Entweder ist das armselig, oder ich habe auch eine Zwangsneurose oder gäbe einfach nur eine verdammt gute Stadtführerin ab.
»Tatsächlich?«
Ich freue mich über seinen Zweifel. »Zugegeben, das Brill Building ist nicht ganz so bekannt, und sicher würdest du jetzt gern hören, was ich erfahren habe.« Die Ampel schlägt um, und wir überqueren die Straße. »Es ist ziemlich wichtig für das Musikgeschäft.«
»Tatsächlich?«
»Ja.« Ich blicke zu ihm auf, und er lächelt mich liebevoll an. Vielleicht beunruhigt ihn mein sinnloses Interesse an historischer Architektur, aber trotzdem genießt er meine Begeisterung. »Und weißt du auch noch, was deine heutige Herausforderung ist?« Ich halte ihn fest, bevor er uns über eine weitere Straße führen kann.
Mein hübscher, zwanghafter Mann schürzt die Lippen und mustert mich eindringlich. Ich grinse. Er erinnert sich. »Irgendetwas mit Fast Food.«
»Hot Dogs.«
»Ach ja«, bestätigt er beklommen. »Du willst, dass ich einen Hot Dog esse.«
»Genau«, versichere ich ihm und muss mich zurückhalten, um nicht hysterisch loszukichern. Jeden Tag, den wir hier in New York verbringen, haben wir dem anderen eine Aufgabe gestellt, die er erfüllen muss. Millers Herausforderungen für mich waren allesamt durchaus interessant. Ich sollte einen Vortrag über ein wichtiges Gebäude der Stadt halten oder baden, ohne ihn anzufassen, während er mich durchaus berühren durfte. Bei dieser Quälerei scheiterte ich im Übrigen kläglich. Nicht dass ihn das sehr gestört hätte, aber ich verlor dadurch einen Punkt. Die Aufgaben, die ich ihm stellte, waren ein bisschen kindisch, aber für Miller vollkommen angemessen. Er musste im Central Park auf der Wiese sitzen, in einem Restaurant speisen, ohne sein Weinglas zurechtzurücken, und heute muss er einen Hot Dog essen. Meine Aufgaben sind allesamt sehr leicht … eigentlich. Er hat einige erfüllt und andere nicht. So konnte er zum Beispiel der Versuchung, sein Weinglas ordentlich zurechtzurücken, nicht widerstehen. Der Punktestand? Acht für Olivia, sieben für Miller.
»Wie du willst«, schnaubt er und versucht, mich über die Straße zu ziehen. Aber ich bleibe stehen und warte darauf, dass er mir wieder seine Aufmerksamkeit schenkt.
Er sieht mich aufmerksam an, offenbar überschlagen sich seine Gedanken. »Du willst, dass ich so einen Hot Dog an einem schmuddeligen kleinen Stand an der Ecke esse, oder?«
Ich nicke und weiß, dass er eben einen schmuddeligen kleinen Stand an der Ecke entdeckt hat. »Hier ist einer.«
»Wie praktisch«, murmelt er und folgt mir zögernd zu dem Hot-Dog-Wagen.
»Zwei Hot Dogs bitte«, sage ich zu dem Verkäufer, während Miller unbehaglich neben mir von einem Fuß auf den anderen tritt.
»Klar, Süße. Zwiebeln? Ketchup? Senf?«
Miller tritt vor. »Nein …«
»Doch, alles!«, unterbreche ich ihn und ignoriere sein verärgertes Schnaufen. »Und zwar viel.«
Der Verkäufer gluckst vor sich hin, als er das Brötchen mit dem Hot Dog füllt und dann jede Menge Zwiebeln hineingibt, bevor er das Ganze noch mit einem großen Klacks Ketchup und Senf veredelt. »Alles, was die Lady wünscht«, sagt er und reicht mir das fertige Werk.
Ich gebe es sogleich lächelnd an Miller weiter. »Lass es dir schmecken.«
»Das bezweifele ich«, murmelt er und beäugt sein Frühstück skeptisch.
Ich lächele den Verkäufer entschuldigend an und nehme meinen eigenen Hot Dog entgegen. Dann gebe ich ihm einen Zehn-Dollar-Schein. »Der Rest ist für Sie«, sage ich und ziehe Miller schnell am Arm fort. »Das war unhöflich.«
»Was denn?« Er wirft mir einen erstaunten Blick zu, und ich verdrehe über seine Unwissenheit die Augen.
Ich vergrabe die Zähne in meinem Brötchen und bedeute ihm, es mir gleichzutun. Aber er mustert den Hot Dog nur wie das Seltsamste, das er je gesehen hat. Er dreht ihn sogar ein paar Mal in der Hand um, betrachtet ihn aus verschiedenen Blickwinkeln, als würde er dadurch schmackhafter. Schweigend genieße ich meinen eigenen und warte darauf, dass er in seinen hineinbeißt. Ich bin schon halb fertig, bevor er anfängt, auch nur daran herumzuknabbern.
Dann sehe ich zu meinem Schrecken – der fast genauso groß ist wie Millers –, wie ein großer Klacks Zwiebeln mit jeder Menge Ketchup und Senf herausrutscht und auf sein leuchtend weißes T-Shirt tropft.
»Oh …« Ich schürze die Lippen und schlucke schwer, stelle mich auf den drohenden Zusammenbruch ein.
Er starrt auf seine Brust, seine Kiefermuskeln verspannen sich, der Hot Dog wird zu Boden geschleudert. Ich bin ganz angespannt, verbeiße mir jeden Kommentar, um seine eindeutige Verärgerung nicht noch zu steigern. Er schnappt sich meine Serviette und fängt an, wie ein Wilder an dem Stoff herumzureiben, wodurch er den Fleck noch größer macht und die Soße noch ein bisschen mehr hineinreibt. Ich zucke zusammen. Miller holt tief Luft, um sich zu beruhigen. Dann schließt er langsam die Augen und öffnet sie wieder, fixiert mich. »Einfach … verdammt … perfekt.«
Ich blähe die Backen auf, meine Lippe rutscht schmerzhaft durch meine Zähne, aber ich kann mir das Lachen einfach nicht verkneifen. Ich werfe meinen Hot Dog in den nächstbesten Mülleimer und kriege mich gar nicht mehr ein. »Tut mir leid!«, japse ich. »Du … du siehst aus, als wäre das Ende der Welt gekommen.«
Seine Augen lodern, er umfasst meinen Nacken und führt mich die Straße entlang, während ich mich wieder in den Griff zu bekommen versuche. Das wird er nicht dulden, egal ob wir nun in London, New York oder Timbuktu sind.
»Der da genügt«, erklärt er.
Ich schaue auf und sehe einen Diesel-Shop auf der anderen Straßenseite. Schnell führt er mich hinüber, obwohl die Fußgängerampel innerhalb von drei Sekunden umschlägt. Anscheinend lässt er sich noch nicht mal von der Möglichkeit, überfahren zu werden, davon abhalten, den entsetzlichen Fleck auf seinem T-Shirt loswerden zu wollen. Ich weiß absolut sicher, dass er normalerweise ein solches Geschäft nicht betreten würde, aber sein besudeltes Shirt lässt ihm keine Wahl. Er hat keine Zeit, sich einen weniger lässigen Laden zu suchen.
Wir gehen hinein und werden auf der Stelle von lauter, pulsierender Musik begrüßt. Miller reißt sich das verschmutzte Shirt vom Körper und enthüllt jedermann seine scharf gemeißelten Muskeln. Definierte Linien erheben sich vom Bund seiner perfekt tief hängenden Jeans bis hin zu seinen unfassbar harten Bauchmuskeln … und dann diese Brust hinauf. Ich weiß nicht, ob ich vor Lust schreien oder ob ich ihn anbrüllen soll, weil er diesen atemberaubenden Anblick jedermann entblößt.
Unzählige weibliche Verkäuferinnen fallen fast über ihre eigenen Füße, um uns als Erste bedienen zu können. »Kann ich Ihnen helfen?« Eine zierliche Asiatin gewinnt und lächelt ihren Kolleginnen überheblich zu, bevor sie Miller beinahe ansabbert.
Sofort gleitet seine Maske an ihren Platz, was mich freut. »Ein T-Shirt, bitte. Irgendwas.« Er deutet mit einer Handbewegung abschätzig auf die Regale.
»Gewiss!« Und weg ist sie, sammelt auf dem Weg einige Kleidungsstücke ein und ruft uns über die Schulter hinweg zu, ihr zu folgen, was wir tun, nachdem Miller mir die Hand in den Nacken gelegt hat. Wir gehen in den hinteren Bereich des Ladens, und die Verkäuferin hat mittlerweile ganze Wagenladungen von T-Shirts auf dem Arm. »Ich lege sie alle in die Umkleidekabine, und Sie rufen mich, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Ich lache, was mir einen neugierigen Seitenblick von Miller und geschürzte Lippen von Miss Flirty einbringt. »Vielleicht sollte man vorher besser mal deinen Bizeps abmessen.« Ich strecke den Arm aus, streiche mit der Hand seinen Schenkel hinab und ziehe vielsagend die Augenbraue hoch. »Oder vielleicht besser die Beininnenseite.«
»Frech«, sagt er knapp, bevor er der Verkäuferin wieder die nackte Brust zuwendet und den Berg von Klamotten auf ihrem Arm durchsieht. »Das hier wird genügen.« Er zieht ein hübsches, lässiges, blau-weiß kariertes Hemd mit aufgerollten Ärmeln und einer Tasche auf jeder Brust heraus. Achtlos zerrt er die Preisschilder ab, schlüpft hinein und geht davon. Miss Flirty bleibt mit weit aufgerissenen Augen stehen, und ich folge ihm zur Kasse. Er knallt die Preisschilder zusammen mit einem Hundert-Dollar-Schein auf die Theke und verlässt das Geschäft, während er sich das Hemd zuknöpft.
Ich sehe ihm hinterher. Miss Flirty steht neben mir, ganz verblüfft, aber noch immer sabbernd. »Hm, danke.« Ich lächele und folge meinem angespannten Teilzeit-Gentleman mit den schlechten Manieren.
»Das war dermaßen unhöflich!«, rufe ich aus, als ich ihn draußen einhole. Er schließt gerade den letzten Knopf.
»Ich habe ein Hemd gekauft.« Er lässt die Arme sinken, offensichtlich perplex von meiner scharfen Bemerkung. Ich finde es bedenklich, dass er gar nicht merkt, wie seltsam er sich benimmt.
»Es ist die Art, wie du es gekauft hast«, erwidere ich und blicke hilfesuchend gen Himmel.
»Du meinst, ich habe der Verkäuferin gesagt, was ich haben will, sie hat es gefunden, ich habe es angezogen und dann dafür bezahlt?«
Ich lasse erschöpft den Kopf wieder sinken und sehe den vertrauten, unbewegten Gesichtsausdruck. »Klugscheißer.«
»Ich zähle nur die Fakten auf.«
Selbst wenn ich die Energie hätte, mit ihm zu streiten, was nicht der Fall ist, würde ich nicht gewinnen. Alte Gewohnheiten legt man halt nicht so leicht ab.
»Fühlst du dich jetzt wieder besser?«, frage ich.
»Wird schon gehen.« Er streicht sich das karierte Hemd glatt und zerrt am Saum.
»Ja, wird schon gehen.« Ich seufze. »Wohin jetzt?«
Seine Hand findet ihren Lieblingsplatz in meinem Nacken, und er dreht mich mit der Hand in eine andere Richtung. »Das Brilliant Building. Zeit für deine Aufgabe.«
»Es heißt Brill Building«, lache ich. »Und es geht hier entlang.« Ich biege schnell ab, wodurch Miller mich loslassen muss, und ergreife seine Hand. »Wusstest du, wie viele berühmte Musiker ihre Hits im Brill Building geschrieben haben? Einige der berühmtesten der amerikanischen Musikgeschichte.«
»Faszinierend«, sagt Miller nachdenklich und sieht mich liebevoll an.
Ich lächele und streichele sein dunkles, stoppeliges Kinn. »Nicht so faszinierend wie du.«
***
Nachdem wir ein paar Stunden durch Manhattan gestreift sind und ich Miller einen historischen Vortrag, nicht nur über das Brill Building, sondern auch zur St. Thomas Church gehalten habe, schlendern wir in Richtung Central Park. Wir lassen uns Zeit, während wir schweigend und gemächlich über den von Bäumen und Bänken gesäumten Weg laufen. Wir haben das Chaos der Stadt hinter uns gelassen, und Frieden umgibt uns. Nachdem wir die Straße überquert haben, die den Park in zwei Hälften teilt, sämtlichen Joggern ausgewichen sind und die riesigen Treppen zum Brunnen hinabgestiegen sind, umfasst er meine Taille mit beiden Händen und hebt mich auf den Rand der riesigen Brunnenschale. »Da«, sagt er und zieht meinen Rock herunter. »Gib mir deine Hand.«
Ich gehorche, lächele über seine förmliche Art und lasse mich von ihm um den Brunnen herumführen. Miller ist noch auf dem Boden. Er hebt den Arm, um mich weiter festzuhalten, und ich überrage ihn. Ich mache kleine Schritte und sehe, wie er die andere Hand in die Tasche seiner Jeans schiebt. »Wie lange müssen wir hierbleiben?«, frage ich leise und richte den Blick nach vorn, vornehmlich, um zu vermeiden, dass ich abrutsche, und ein wenig, um den Blick auf sein jetzt sicher gequältes Gesicht zu vermeiden.
»Ich weiß es nicht genau, Olivia.«
»Ich vermisse Nan.«
»Ich weiß.« Er drückt tröstend meine Hand. Aber es funktioniert nicht. Ich weiß, dass William es sich zur Aufgabe gemacht hat, in meiner Abwesenheit für ihr Wohlergehen zu sorgen. Aber genau das macht mich unruhig, denn ich habe immer noch keine Ahnung, was er meiner Großmutter über seine Verbindung zu meiner Mutter oder zu mir erzählt hat.
Ich schaue auf und entdecke ein kleines Mädchen, das mir auf der Brunnenmauer entgegenhüpft und das erheblich sicherer auf den Beinen ist als ich. Für uns beide ist hier oben nicht genug Platz, also will ich hinuntergleiten. Ich schnappe nach Luft, als ich gepackt und herumgewirbelt werde, sodass sie weiterhüpfen kann. Dann werde ich erneut auf den Brunnenrand gestellt. Meine Hände liegen auf seinen Schultern, während er wieder ein paar Sekunden lang mein Kleid glattstreicht. »Perfekt«, sagt er leise, nimmt meine Hand und führt mich weiter. »Vertraust du mir, Olivia?«
Seine Frage verblüfft mich, nicht, weil ich an meiner Antwort zweifele, sondern weil er seit unserer Ankunft hier nicht mehr gefragt hat. Er hat nie darüber gesprochen, was wir in London zurückgelassen haben, was für mich vollkommen in Ordnung war. Unmoralische Schweine, Verfolger, Cassie, die sich wie eine Irre auf Miller stürzte, Sophia, die mich warnte, mich von ihm fernzuhalten, Sex für Geld …
Es überraschte mich selbst, wie leicht es mir fiel, das alles tief in mir zu vergraben und im Chaos New Yorks abzutauchen – einem Chaos, das ich beruhigend finde im Vergleich zu dem, womit ich mich quälen könnte. Ich weiß, dass Miller sich darüber wundert, dass ich keine Fragen mehr stelle, aber dennoch gibt es etwas, das ich nicht so leicht verdrängen kann. Etwas, das ich nicht in Worte fassen kann, nicht vor Miller, und nicht mal vor mir selbst. Nur nach Nan habe ich gefragt. Doch jetzt spüre ich, dass Miller mein Schweigen nicht länger akzeptiert.
»Ja«, antworte ich nachdrücklich, aber er sieht mich nicht an und geht auch nicht weiter auf meine Antwort ein. Er richtet den Blick weiter nach vorn, hält sanft meine Hand, während ich dem Schwung des Brunnenrandes folge.
»Und ich vertraue darauf, dass du deine Sorgen mit mir teilst.« Er bleibt stehen und dreht mich ihm zu, nimmt meine Hände in die seinen und blickt zu mir empor.
Ich presse die Lippen aufeinander, liebe ihn umso mehr, weil er mich dermaßen gut kennt, aber hasse es, dass ich wahrscheinlich niemals etwas vor ihm werde verbergen können. Ich hasse zudem, dass er offensichtlich riesige Schuldgefühle hat, weil er mich in diese Welt gezogen hat.
»Sag es mir, Olivia.« Seine Stimme ist sanft, ermutigend. Und drängend.
Ich schaue zu Boden, sehe ihn näher rücken. »Wahrscheinlich ist es albern«, sage ich mit leichtem Kopfschütteln. »Ich glaube, dass mir mein Schock und das Adrenalin irgendwelche Bilder vorgegaukelt haben.«
Er legt die Hände um meine Taille und hebt mich herunter, setzt mich auf den Brunnenrand. Dann kniet er sich vor mir hin und nimmt meine Wangen in die Hände. »Sag es mir«, flüstert er.
Sein Bedürfnis, mich zu trösten, gibt mir den Mut, ihm zu beichten, was mich seit unserer Ankunft hier quält. »In Heathrow … ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber eigentlich kann das gar nicht sein, und ich weiß, es ist dumm und unmöglich und absolut abwegig, und ich konnte nicht richtig sehen und war so gestresst, müde und emotional.« Ich hole Luft, ignoriere seine weit aufgerissenen Augen. »Es konnte nicht sein. Ich weiß das. Ich meine, sie ist tot, und das schon seit …«
»Olivia!«, unterbricht Miller mein Gebrabbel. Seine großen blauen Augen blicken beunruhigt drein. »Wovon um alles in der Welt sprichst du?«
»Meine Mutter«, hauche ich. »Ich glaube, ich habe sie gesehen.«
»Ihren Geist?«
Eigentlich glaube ich nicht an Geister. Oder doch? Ich habe keine Antwort, also zucke ich nur mit den Schultern.
»In Heathrow?«, fragt er noch einmal.
Ich nicke.
»Als du erschöpft und emotional warst und von einem Ex-Escort-Boy mit schrecklich aufbrausendem Temperament gekidnappt wurdest?«
Ich sehe ihn mit verengten Augen an. »Ja«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ich verstehe«, antwortet er nachdenklich und wendet kurz den Blick ab, bevor er mich wieder ansieht. »Und das ist der Grund, warum du derart schweigsam und verschlossen warst?«
»Ich weiß, wie albern sich das anhört.«
»Nicht albern«, widerspricht er leise. »Todunglücklich.«
Ich sehe ihn stirnrunzelnd an, aber er fährt fort, noch bevor ich seine Schlussfolgerung in Frage stellen kann.
»Olivia, wir haben so viel durchgemacht. Unsere jeweilige Vergangenheit war in den letzten Wochen stets präsent. Es ist verständlich, dass du dich verloren fühlst und verwirrt bist.« Er beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf den Mund. »Bitte vertrau dich mir an. Lass nicht zu, dass deine Sorgen dich niederdrücken, wenn ich da bin, um sie dir abzunehmen.« Er löst sich von mir, fährt mir sacht mit den Daumen über die Wangen. Seine außergewöhnlichen Augen blicken so aufrichtig drein, dass ich dahinschmelze. »Ich kann es nicht ertragen, wenn du traurig bist.«
Plötzlich komme ich mir total albern vor. Mir fällt nichts mehr ein, also lege ich ihm die Arme um die Schultern und ziehe ihn zu mir heran. Er hat recht. Es ist kein Wunder, dass in meinem Kopf alles durcheinandergeht, nach allem, was wir durchgemacht haben. »Ich weiß nicht, wo ich ohne dich wäre.«
Er erwidert meine heftige Umarmung und atmet den Duft meines Haares ein. Ich spüre, wie er nach einer Locke greift und sie sich um den Finger wickelt. »Du wärest in London und würdest ein sorgenfreies Leben führen«, antwortet er leise und nachdenklich.
Sein düsterer Kommentar veranlasst mich, mich sofort von seinem Körper zu lösen. Seine Worte gefallen mir nicht, und noch viel weniger sein Ton. »Mein Leben wäre schal und leer«, widerspreche ich. »Versprich mir, dass du mich nie verlässt.«
»Ich verspreche es.« Er sagt es ohne jedes Zögern, doch in diesem Moment ist es mir nicht genug. Ich bin nicht sicher, was ich noch von ihm hören will, das mich überzeugen könnte. Es ist ein bisschen wie mit der Akzeptanz meiner Liebe. Immer noch schwankt er ein bisschen, und das gefällt mir nicht. Immer noch lebe ich mit der Angst, dass er mich noch einmal verlassen könnte, auch wenn er das nicht will.
»Ich will einen Vertrag«, platze ich heraus. »Etwas Gesetzliches, das besagt, dass du mich nie verlassen kannst.« Sofort wird mir klar, wie dumm diese Bemerkung ist, und ich zucke zusammen, versetze mir hier, mitten im Central Park, selbst eine Ohrfeige. »Das kam ganz falsch heraus.«
»Das will ich hoffen!« Er hustet, wäre fast vor Schreck auf den Hintern gefallen. Ich habe es vielleicht nicht so gemeint, wie es klang, aber sein deutlicher Widerwillen ist dennoch für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich habe bis heute noch nie wirklich übers Heiraten oder darüber hinaus nachgedacht. Für Zukunftsträume vom Glück war in diesem ganzen Schlamassel kein Raum, aber mit einem Mal ist das anders. Und sein deutliches Zurückschrecken macht den Gedanken umso dringender. Ich will eines Tages heiraten. Ich will die Kinder, den Hund und das gemütliche Familienhaus. Ich will die Unordnung, die die Kinder überall hinterlassen. Und in diesem Augenblick weiß ich, dass ich das alles mit Miller will.
Dann jedoch packt mich die Realität mit ihren Klauen. Offensichtlich kommt Heiraten für ihn absolut nicht in Frage. Er hasst Unordnung, was mein chaotisches Familienhaus sofort im Nebel versinken lässt. Und was die Kinder angeht? Nun ja, ich werde nicht fragen, und das brauche ich auch gar nicht, denn ich erinnere mich an das Foto von einem verlorenen, schmutzstarrenden kleinen Jungen.
»Wir sollten gehen«, sage ich und stehe auf, um nicht noch etwas Dummes zu sagen und eine weitere unerwünschte Reaktion hervorzurufen. »Ich bin müde.«
»Ich stimme zu«, antwortet er offensichtlich erleichtert. Sein Ton ist nicht gerade dazu angetan, meine Mutlosigkeit zu vertreiben. Oder meine Hoffnungen auf die Zukunft, … in der wir uns endlich auf ein Sie-lebten-glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage konzentrieren können.