Kapitel 1
Als Patrick sein Notizbuch öffnete, um nachzuschauen, welche Themen er bei der Mediation ansprechen wollte, bohrte Caitlin die Fingernägel in die Handfläche. Sie fragte sich, wo sie gelesen hatte, dass einen gerade die kleinen Besonderheiten eines Menschen, in die man sich am Anfang verliebt hatte, am Ende dazu brachten, ihn mit der Gabel erstechen zu wollen.
Patrick sah immer noch gut aus, mit den prägnanten Wangenknochen und dem dichten braunen Haar, das schneller wuchs als ihres. Er war immer noch energiegeladen und verdammt munter für jemanden, der unübersehbar darunter litt, dass er von Frau und Kindern getrennt war – vermutlich wegen der Extraportion Schlaf, dachte Caitlin gehässig. Er roch immer noch nach Kaffee und Rasierwasser, hielt ihr bei den Mediationssitzungen immer noch die Tür auf und trug immer noch die Manschettenknöpfe in Bonbonform, die ihm Joel und Nancy zu Weihnachten geschenkt hatten. Aber das wurde alles zunichtegemacht von seiner unerbittlichen, nervtötenden, zur Weißglut treibenden Kontrollsucht, die Caitlin anfangs für altmodische Galanterie gehalten hatte.
Trennung und Scheidung, dachte sie, brachte das Schlimmste in einem Kontrollfreak zum Vorschein. Mehr noch als die Ehe.
»Nur, um noch einmal auf die Alimente zu sprechen zu kommen.« Patrick tippte mit dem Stift auf die Seite. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Zahlen, die meine Frau …« Sein Gesicht fror für den Bruchteil einer Sekunde ein und ließ eine unerwartete Verletzlichkeit durchscheinen. Dann hatte er sich wieder im Griff und konzentrierte sich auf die Fakten. »Die Zahlen, die Caitlin nennt, scheinen mir jeder Basis zu entbehren. Ich habe mir die Quittungen für die wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe mal angeschaut, und da komme ich auf ganz andere Beträge.« Er hielt inne. »Auf ganz andere.«
Caitlin betrachtete den Kaktus auf dem Schreibtisch der Mediatorin. Patrick hatte es immer geliebt, sie als seine Frau zu bezeichnen; dabei hatte er immer töricht gelächelt, als könnte er sein Glück kaum fassen. Das war allerdings Patrick, der Ritter in der goldenen Rüstung, gewesen – der Einzige, der vor sechs Jahren auf dem windgepeitschten Seitenstreifen der M25 hinter ihrem leblosen Renault angehalten hatte, in dem sie allmählich in Panik geraten war. Joel hatte mit großen Augen in seinem Kindersitz auf der Rückbank gesessen, der Autobahnverkehr war an ihnen vorbeigerauscht und hatte den kleinen Wagen zum Zittern gebracht, und ihr Handy hatte keinen Mucks mehr von sich gegeben. Aber dann hatte Patrick ans Fenster geklopft. Sie hätte Angst haben sollen, aber die offenkundige Sorge, die sich in seinem Gesicht spiegelte, weil eine Frau mit einem kleinen Jungen liegen geblieben war, verlieh Caitlin sofort ein Gefühl der Sicherheit. Patrick marschierte zur Notrufsäule – im Gegensatz zu ihr hatte er die passende Kleidung für dieses Sauwetter – und wartete bei ihnen, bis Hilfe eintraf. Als in der dichten Dunkelheit die Blinklichter der Pannenhilfe aufschienen, reichte sie ihm verlegen die Hand und dankte ihm stumm, und er ließ sie nicht wieder los.
Als er sie nach ein paar Verabredungen zauberhaft altmodisch umwarb und eine Beziehung daraus erwuchs, rettete er Caitlin noch auf ganz andere Weise. Damals war ihr das Leben längst entglitten. Das Haus, die Finanzen, alles. Für Patrick war nichts zu schlimm, um nicht Abhilfe zu schaffen. Kein Schaden in ihrem Haus war so gravierend, dass er ihn nicht behoben hätte. Er hatte eine Abneigung gegen Unordnung und Ungerechtigkeit, schloss eine eigene Restschuldversicherung ab und befreite mit bloßen Händen Spinnen aus dem Badezimmer. Ein moderner Ritter. Und Caitlin – mit ihrem vaterlosen Kind, dem verkorksten Abschluss und dem vollkommenen Mangel an Selbstachtung – ließ sich nur zu gerne retten.
Dieselbe methodische Ruhe kam Folter gleich, seit Patrick ihre Ehe aufgegeben hatte. Während er redete, erschrak Caitlin vor seiner Fähigkeit, alle Ursachen und Fehler auf verschiedene Stapel zu sortieren, damit sich die Mediatorin ein präzises Bild machen konnte. Auf dieselbe Weise hatte er die Einzelteile des ersten Ikea-Schranks ausgebreitet, damit ja keine Schraube oder Unterlegscheibe verloren ging. Ein paar relevante Punkte hier, ein paar rationale Berechnungen dort, hübsch sauber und endgültig. Keine schwammigen Gefühle würden seine Schlussfolgerungen tangieren können.
Das war genau der Unterschied zwischen ihnen, dachte Caitlin, als Patrick seine laserscharfe Aufmerksamkeit auf Steuergutschriften richtete. Sie hatte sich auf ihre Trennung vorbereitet, wie sie vor ihrer Begegnung mit Patrick einen Ikea-Schrank zusammengebaut hatte: Ohne sich groß um Expertenmeinungen zu bekümmern, hatte sie sich direkt hineingestürzt. Schmerz, Frustration und Tränen waren die Folge gewesen. Tränen und Wein und ein stundenlanges Studium von Trennungsratgebern im Internet, die ebenso gut auf Schwedisch hätten geschrieben sein können. Das Schlimmste war das Schuldgefühl, dass sie es geschafft hatte, den kostbaren Sechskantschlüssel zu Patricks Herzen zu verlieren.
Patrick hatte sie einst für die perfekte Frau gehalten. Jetzt konnte er ihr kaum noch in die Augen schauen, und die glückliche, solidarische, sichere Beziehung, nach der sie sich ein Leben lang gesehnt hatte, war dahin.
Caitlin lehnte sich auf ihrem Plastikstuhl zurück. Vielleicht waren Patrick und sie einfach zu verschieden, um es auf lange Sicht miteinander auszuhalten. Und während Patrick und die Mediatorin redeten, freute sich ein Teil ihres Gehirns, dass sie endlich die Spülmaschine einräumen konnte, wie sie es wollte, und dass sie sich eine blonde Strähne ins Haar färben könnte, ohne dass jemand irritiert eine Augenbraue hob. Sie würde schon klarkommen. Sie war ja auch vorher klargekommen. Das eigentliche Problem war, wie man es schaffen konnte, nicht mehr so zerstörerisch in das Leben der beiden verwirrten Zuschauer dieses Dramas einzugreifen, denn das hatte keiner von ihnen verdient.
Joels und Nancys ängstliche Gesichter vertrieben Caitlins heimliche Fantasie, sich eine dezente Tätowierung stechen zu lassen, und sie zuckte zusammen. Andererseits war es für die beiden sicher besser so, als ständig zwischen zwei streitenden Erwachsenen zu stehen, oder?
»Die finanziellen Vereinbarungen müssen wir in dieser Sitzung noch nicht endgültig festlegen«, sagte Andrea, die Mediatorin. Ihre Stimme war angenehm, aber ihre Miene stellte klar, dass sie nichts von der eingeplanten Stunde für Rechthabereien verschwenden wollte. »Höchste Priorität hat es, ein Arrangement für die Kinder zu finden. Wir reden hier über …«, sie schaute auf ihren Zettel, »… Joel, der zehn ist, wie ich sehe, und die vierjährige Nancy.«
»Viereinhalb nächsten Monat«, sagte Caitlin. »Am fünften September wird sie fünf.« Sie schenkte Andrea ein Lächeln. Die sah selbst wie eine Mutter aus und wusste sicher, welcher Teil der Mediation wirklich wichtig war. Nicht das Geld. Nicht die Frage, wer das Auto bekam. »Ich begreife es immer noch nicht ganz, dass sie im September schon in die Schule kommt! Mein kleiner Wildfang.«
»Unser kleiner Wildfang«, sagte Patrick. Caitlin schlug die Beine übereinander, um sich zu bremsen. Klar, sie hätte unser sagen sollen. Patrick ließ sie ständig so auflaufen und witterte Verletzungen, wo gar keine beabsichtigt waren. Andererseits war es ja tatsächlich sie, die den Kindern Essen kochte, ihre originelle, immer wieder neue Sprache verstand, ihre Tränen vorausahnte, ihre Müdigkeit, ihr Lächeln, ihren Hunger. Ihr, Caitlins, Leben war verwoben mit ihrem Schlaf, ihren Läusen, ihren endlosen Fragen und den Stimmungen, die rasend schnell zwischen Liebe und Frust schwanken konnten. Nach ihr reckten sich die Hände der Kinder. Patrick hatte immer mit einem trockenen Lachen erklärt, dass er nur die Person sei, die für die Kinder zahle. Was ihnen beiden ein schlechtes Gefühl eingeflößt hatte.
»Ich möchte mich an der Erziehung beteiligen«, fügte Patrick hinzu. »Für mich ist es wichtig, so viel Kontakt wie möglich zu den Kindern zu haben.«
Caitlin konnte es sich nicht verkneifen, ihm einen schrägen Blick zuzuwerfen. Patrick arbeitete so hart, dass er die Kinder selbst vor der Trennung nur selten zu sehen bekommen hatte. Sie kämpfte gegen die Versuchung an, ihn nach den Namen von Nancys drei Lieblingsteddys zu fragen. Er wusste ja nicht einmal, dass jede Woche ein anderer von den dreien ihr absoluter Lieblingsbär war.
»Was ist?« Patrick schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Caitlin registrierte, dass sich ein paar neue Silbersträhnen in seine Koteletten geschlichen hatten. »Willst du sagen, du möchtest das nicht, dass die Kinder uns beide sehen?«
»Natürlich nicht.« Gott, ging ihr das auf den Wecker. »Warum um alles in der Welt sollte ich das nicht wollen?«
Patricks heimliche Unterstellung hing aber nun in der Luft. Das war ungewöhnlich hinterhältig von ihm. Er mag mich einfach nicht mehr, dachte Caitlin unglücklich. Das passiert, wenn man auf ein Podest gestellt wird – der Absturz ist programmiert.
»Das ist gut, dass Sie sich die Verantwortung teilen wollen.« Andrea nahm einen Stift, um sich Notizen zu machen. »Wie sieht Ihre Wohnsituation im Moment aus? Caitlin, Sie leben noch im Haus der Familie in Bristol?«
Sie nickte. »Ja, es ist mein Haus.«
»Wer ist hier spitzfindig?«, ging Patrick dazwischen. »Es ist unser Haus.«
Caitlin reagierte gar nicht darauf. »Es hat meiner Großmutter gehört, und sie hat es mir vererbt. Ich lebe seit Joels Geburt dort. Patrick ist nach unserer Hochzeit eingezogen. Im Januar ist er wieder ausgezogen. Als er seinen neuen Job angetreten hat.«
»Das ist kein neuer Job, sondern derselbe Job an einem anderen Ort«, erklärte Patrick.
Andrea schrieb etwas auf ihren Block. »Und wo wohnen Sie im Moment, Patrick?«
Ha! Nur zu, dachte Caitlin. Sag’s ihr.
Eine kurze Pause trat ein, als Patrick eine Antwort formulierte, die ihn ins beste Licht rücken sollte. »Ich suche noch nach einer Unterkunft. Meine Firma hat mich zu Beginn des Jahres nach Newcastle versetzt.«
Fünf Montagmorgen war das jetzt her. Caitlin wurde bewusst, dass bald Valentinstag war, und in ihrer Brust klaffte plötzlich ein Loch. Immer mindestens zwölf Rosen und ein paar zärtliche, aufmerksame Zeilen, die er ihr in die Jackentasche oder ins Portemonnaie geschmuggelt hatte. Dieses Jahr würde er es nicht tun. Und auch sonst nie wieder.
»Dreihundert Meilen weit weg«, sagte sie stattdessen, um das schmerzliche Schweigen zu brechen. »Hältst du das für vernünftig, Joel und Nancy jede Woche auf eine solche Reise zu schicken?«
»Hältst du es für vernünftig, deinen Ehemann allein gehen zu lassen, wenn er die Chance bekommt, die Situation für die gesamte Familie zu verbessern? Und das nur, weil du dein Wohnzimmer magst.« Das sagte er in dem Tonfall, der zum Ausdruck brachte, dass ihm allmählich die Geduld ausging. Caitlin ballte innerlich die Fäuste.
Sie drehte sich zu ihm hin, damit er die Wut in ihren Augen sehen konnte, und sagte ruhig: »Da wir schon einmal bei Vernunft sind: Ich halte es nicht für vernünftig, sich am anderen Ende der Welt für einen Job zu bewerben, ohne es der Familie auch nur mitzuteilen.«
»Ich habe mich nicht darum beworben! Ich wurde von der Zentrale dorthin versetzt. Das ist Teil meiner beruflichen Verpflichtungen!« Patrick rang die Hände. »Was sollte ich denn tun? Denen sagen, dass ich nicht gehen kann, weil meine Frau sich mehr für ihren Kamin als für ihren Ehemann interessiert? So läuft das nicht, Caitlin. Man hat nicht immer die Wahl.«
Caitlin biss sich auf die Lippe. Es ging nicht nur um den Kamin, das wusste er. Aber in der Tat ging es auch darum. Der Kamin war der Ort, an dem ihre Großmutter ihre Welt wieder zusammengeflickt hat, als sie nach der Uni in Scherben lag. Dort hat sie ihre beiden Kinder gewiegt und Patrick dabei beobachtet, wie er in Nancys schlafendes Gesicht geschaut hat, überwältigt von der Liebe, die er für dieses Baby empfand. Das brennende Kohlenfeuer vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Glück. So wie Patrick es einst getan hatte. In der Tat, sie hatte das Haus nicht verlassen wollen. Es war nicht der eigentliche Grund gewesen, aber es hatte den Ausschlag gegeben. Symbolisch.
Sie wandte sich wieder an Andrea, wild entschlossen, die Ruhe zu bewahren.
»Keine Hypotheken abbezahlen zu müssen ist finanziell von großer Bedeutung für unsere Familie. Die Kinder haben beide ein eigenes Zimmer. Joel besucht eine tolle Schule, wo Nancy im September auch anfangen wird. Gleich nebenan haben wir einen Spielplatz. Und mein Job ist ebenfalls in der Nähe, denn ich arbeite auch, obwohl ich natürlich nicht so viel verdiene wie Patrick. Außerdem …«, Caitlin rang sich dazu durch, die eigentlichen Wahrheiten auszusprechen, auch wenn Patrick sie partout nicht hören wollte, »… hatte ich das Gefühl, dass unsere Beziehung den Umzug nicht überleben würde. Wir haben kaum noch miteinander geredet. Ich wollte die Kinder nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, nur um dann wieder mit ihnen zurückzukommen.«
Patrick fixierte sie mit diesem offenen Blick, mit dem er ihr direkt in den Kopf zu schauen schien. Dieser Blick provozierte sie dazu, irgendetwas daherzureden, nur damit er … wegguckte. »Ist das der einzige Grund, warum du Bristol nicht verlassen willst? Sei ehrlich, Caitlin.«
Caitlin schaute ihn verwirrt an. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Es war nicht das erste Mal, dass Patrick so etwas sagte, aber bei Nachfragen hüllte er sich immer in Schweigen. Sie hatte nachgebohrt, aber er hatte immer abgeblockt, als würde sie schon wissen. Klar, die Dinge waren schon eine Weile etwas schwierig. Welche Eltern mit zu wenig Schlaf, zu wenig Sex und zu viel Arbeit waren nicht unleidlich oder aufbrausend? Aber irgendwie hatten sich diese Schwierigkeiten zu einem eisernen Schweigen verfestigt. Nicht dass sich die Liebe vollständig in Luft aufgelöst hätte. Anfang Dezember hatten sie sich zu Caitlins Geburtstag einen Abend freischaufeln können, und es war, als wäre ihnen beiden wieder eingefallen, warum sie sich ineinander verliebt hatten. Caitlin hatte sich in ihren gepunkteten Tellerrock gequetscht, und Patrick war früh von der Arbeit gekommen und hatte auf dem Weg in die Stadt zum ersten Mal seit Monaten ihre Hand genommen. Als Caitlin sich in einem Schaufenster erblickte, mit den dunklen Korkenzieherlocken und den scharlachroten Lippen, eine Sexbombe in Begleitung eines attraktiven Manns, ging ihr das Herz auf. Und als sie im Pub nach ein paar Ciders eine komödienreife Zusammenfassung von Joels Schulstück ablieferte, lachte Patrick schallend, so wie früher. Zehn Jahre jünger sah er aus. Glücklich. Sie schlenderten nach Hause, ignorierten die Anrufe der Babysitterin, und unter einer Laterne zog sie Patrick an sich und küsste ihn. Gott sei Dank, dachte sie, als er unter ihrer Winterjacke nach ihrer Hüfte griff, alles wird gut.
Aber gleich die nächste Woche war furchtbar. Sie kehrte zu spät von ihrem Zumba-Kurs heim, worauf Patrick immer gereizt reagierte, was Caitlin sofort in die Defensive geraten ließ. Angeblich hatte er Angst, wenn sie im Dunkeln allein draußen war, und sie mochte es nicht, »kontrolliert« zu werden. Joel fing sich Läuse ein, der Wäschetrockner gab den Geist auf – und hatte natürlich keine Garantie, weil sie vergessen hatte, ihn registrieren zu lassen –, und dann rief Patricks Chef wegen des Jobs an. Eine Diskussion entspann sich, zunächst höflich und dann, als Joel und Nancy im Bett waren, ziemlich erhitzt. Schon nachdem sie mit den Kindern zu der Weihnachtsüberraschung nach London gefahren waren, hatten sie sich alle möglichen Dinge an den Kopf geworfen und doch nichts geklärt. Schweigen hatte sich herabgesenkt, schlimmer als jede Streiterei. Auf beiden Seiten hatten die Ressentiments die Oberhand gewonnen. Als Patrick nun wieder darauf zu sprechen kam, wurde Caitlin bewusst, dass er keinen ihrer Gründe verstanden hatte. Oder dass sie ihn einfach nicht interessierten.
Nach Neujahr verkündete Patrick dann, er müsse eine Entscheidung treffen. Caitlin, die gerade mit Joels Schultasche und einem von Nancys Wutanfällen beschäftigt war, forderte ihn auf, er möge doch in erster Linie an seinen Job denken, weil er das ja ohnehin tue. Er warf ihr wieder einen dieser Blicke zu, aber Caitlin wusste immer noch nicht, was sie verbrochen hatte. Außer dass sie nicht die perfekte Frau war, die Patrick in ihr sehen wollte.
Sie wurde von Scham befallen.
»Caitlin?«, hakte Andrea nach. »Sie sehen so aus, als wollten Sie etwas sagen. Über das geteilte Sorgerecht vielleicht?«
Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, was im Moment wichtig war. »Ich möchte nicht, dass Joel und Nancy das Gefühl bekommen, sie seien schuld an der Situation. Wir möchten nicht, dass die Sache sie härter trifft, als es ohnehin schon der Fall ist. Joel hat … Na ja, Joel hat keine Erinnerungen an seinen leiblichen Vater, weil der nie Teil seines Lebens war …« Ihre Stimme verlor sich. Nach zehn Jahren hatte sie immer noch keinen eleganten Weg gefunden, die Sache zu erklären.
Patrick sprang ein. »Joel nennt mich ›Daddy‹, seit er vier ist. Ich hoffe, er betrachtet mich als seinen Vater. Was mich betrifft, habe ich ihn und Nancy immer gleich geliebt. Absolut gleich.«
»Natürlich hast du das.« Innerlich sah Caitlin wieder den Moment auf der dröhnenden Autobahn, als Patrick den weinenden Joel aus seinem Kindersitz hob und in den Pannenhilfewagen setzte. Joels Tränen waren sofort versiegt. Damals hatte sie es sofort gewusst, und Joel auch: Dies war ein guter Mann, und sie waren nicht mehr allein. Dennoch hatte er seine Meinung geändert. Nicht über Joel oder Nancy, sondern über sie, Caitlin. Über ihre Beziehung.
»Mir scheint deutlich zu sein, dass Ihnen beiden viel am Glück Ihrer Kinder liegt.« Andreas Tonfall hatte etwas Versöhnliches. »Das ist schon einmal ein guter Anfang. Lassen Sie uns also einen Weg für die Wochenenden finden. Gibt es Großeltern, die sich vorstellen könnten, den Kontakt zu ermöglichen?«
»Leider nein. Mein Vater ist gestorben, als ich noch ganz klein war, und meine Mutter ist in einem Pflegeheim.« Der verletzliche Patrick war verschwunden, jetzt war er wieder ganz der Manager. Caitlin griff zu ihrem kalten Kaffee und wünschte, es wäre Wein.
Zu Hause werde ich mir ein Glas richtig guten eiskalten Wein einschenken, dachte sie. Bei dem Gedanken lief ihr die Spucke im Mund zusammen. Sobald Joel im Bett war. Jetzt würde beim Anblick der Flasche auch niemand mehr demonstrativ seufzen.
»Caitlin?«
»Meine Eltern wohnen in die andere Richtung, in London.«
»Okay.« Andrea wandte sich wieder an Patrick. »Gibt es andere Verwandte? Tanten, Onkel? Paten vielleicht? Freunde der Familie?«
Überrascht vernahm Caitlin, dass Patrick sich räusperte. »Ich wollte soeben meine Schwester ins Spiel bringen«, sagte er. »Sie lebt in Longhampton. Das ist für eine Wochenendreise nicht zu weit. Nur siebzig Meilen.«
»Eva?« Das hatte dramatischer geklungen, als beabsichtigt, aber sei’s drum. Eva?
»Ja, Eva.« Patrick wirkte überrascht. »Was soll die Reaktion?«
»Die arme Frau ist soeben Witwe geworden!« Patrick konnte erstaunlich blind sein, wenn es um die emotionalen Bedürfnisse von Menschen ging. »Meinst du wirklich, dass es für einen der Beteiligten hilfreich ist, wenn wir Joel und Nancy zu einer trauernden Frau schicken?«
»Es ist zwei Jahre her, dass Mick gestorben ist«, erklärte Patrick entschieden. »Und sie ist nicht der Typ, der den Rest des Lebens Schwarz trägt und nicht mehr das Haus verlässt.«
»Woher willst du das wissen? Wir sehen sie doch nie.« Zwei Jahre schon, Wahnsinn. Sie hatten Eva zum letzten Mal bei der Beerdigung gesehen. Caitlin hatte sich fest vorgenommen, ihre Schwägerin regelmäßiger anzurufen, aber dann waren die Monate mit Haushaltspflichten, Verabredungen zum Spielen und banalen Familienangelegenheiten verstrichen. Außerdem war Eva oft im Urlaub. Und es kam hinzu, dass sie nicht die Person war, mit der Caitlin leicht ins Gespräch kam. Eva war alles, was sie nicht war. Sie hatte ein eigenes Unternehmen, verkehrte mit Prominenten und hatte zwei Hunde, aber keine Kinder, und das schien ihr auch zu gefallen. Caitlin wusste nie, worüber sie mit Eva reden sollte, weshalb sich ihre Gespräche immer auf einen höflichen Austausch über das Wetter beschränkten.
Und dann das umwerfende Haus. Selbst jetzt fühlte sich Caitlin schlampig, wenn sie daran dachte. »Eva ist nicht wirklich auf Kinder eingestellt, oder? Ihr ganzes Haus ist weiß. Weiße Sofas, weiße Teppiche, weiße … Überall Weiß.«
Und Glas. Glas, so weit das Auge reichte, alles blank poliert. Wunderschön, aber nicht gerade ideal für zwei Temperamentsbolzen.
»Ich sehe nicht, was Teppiche mit der Sache zu tun haben sollen.« Patrick schüttelte den Kopf, als redete sie dummes Zeug. »Sie ist die Tante der Kinder. Sie gehört zur Familie. Ich bin mir sicher, dass sie uns gerne hilft.«
»Hast du sie denn überhaupt schon gefragt?«, hakte Caitlin nach.
Patricks Blick flackerte. »Ja.«
»Nein, hast du nicht.«
»Okay, gut«, ging Andrea dazwischen. »Wir sollten keine festen Vereinbarungen treffen, solange wir nicht wissen, ob sie funktionieren.«
»Meine Schwester ist uns eine große Hilfe in dieser Zeit, die für alle Beteiligten sehr schmerzhaft ist«, sagte Patrick. Caitlin wusste, dass er hohle Phrasen wie diese im Schlaf aus dem Ärmel schütteln konnte. Es würde sie nicht überraschen, wenn er seit dem weihnachtlichen Pflichtanruf nicht mehr mit Eva gesprochen hätte.
Dann kam ihr noch ein Gedanke. »Was ist mit Evas Hunden?«
»Was soll mit denen sein?« Patrick schaute sie an.
»Wenn sie nicht an Kinder gewöhnt sind, könnten sie ihr Territorium verteidigen wollen. Man liest schreckliche Dinge darüber, dass Hunde, die Kinder nicht gewohnt sind, plötzlich ganz tückisch werden. Selbst liebe Hunde.« Ein Jack Russell Terrier, der angeblich niemandem etwas tat, hatte ihr als Kind mal ein Stück Fleisch aus der Wade gerissen. Um liebe Hunde machte sie seither einen großen Bogen. Die Vorstellung, dass Joel die wenig begeisterten Hunde in ein improvisiertes Musical einband oder Nancy sie zu fest knuddelte, wie sie es von ihren Stofftieren gewohnt war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Was für Hunde hat Ihre Schwester denn?«, fragte Andrea ruhig.
»Möpse, ziemlich fette sogar. Jedenfalls keine wilden Rottweiler. Vermutlich haben sie mehr Angst vor Joel als andersherum.«
»Warum musst du meine Bedenken immer kleinreden?«, fragte Caitlin.
»Das tu ich doch gar nicht. Ich verstehe nur nicht, wieso du dich auf die unwesentlichen Dinge versteifst und die wichtigen Themen lieber aussparst. Wo ist das Problem, wenn die Kinder bei Eva sind?« Wieder dieser Blick. Dieser anklagende, verletzte Blick.
Sie schüttelte den Kopf und verstummte resigniert. Es gab keinen Grund außer: Ich will nicht, dass du mir meine Kinder wegnimmst.
Patricks Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Außerdem hast du dann endlich mal ein freies Wochenende. Hast du dir das nicht immer gewünscht? Ständig jammerst du, dass du keine Zeit für dich hast. Keinen Raum. Dir ist selbst nicht klar, was du willst.«
Oh, jetzt weiß ich wieder, warum wir uns scheiden lassen, dachte Caitlin mit geballten Fäusten. Jetzt weiß ich es wieder.
Andrea schob eine Schachtel Taschentücher über den Tisch. Caitlin wurde klar, dass sie aussah, als wäre sie den Tränen nah. »Vielleicht könnten Sie ihr zusammen mit den Kindern einen Besuch abstatten, Caitlin, noch vor dem ersten Kontaktwochenende? Das würde die Situation für Joel und Nancy etwas normaler erscheinen lassen. Und Sie könnten sich ein klares Bild davon machen, was für Vereinbarungen zu treffen wären.«
»Ich sollte aber auch dabei sein«, erklärte Patrick.
»Natürlich.« Andrea wirkte plötzlich ausgelaugt. Wie anstrengend, dachte Caitlin, wenn man es ständig mit Erwachsenen zu tun hat, die sich wie Kleinkinder um das größte Stück Kuchen zanken, Stunde um Stunde um Stunde. »Es ist sehr wichtig, dass der Besuch für Nancy und Joel eine positive, ermutigende Erfahrung ist.«
»Könntest du damit leben?« Patrick schaute sie an, eine Augenbraue hochgezogen. So schienen alle Gespräche mit ihm zu enden: als würde man von einem Zug mitgerissen, in den man ursprünglich einsteigen wollte. Wann hat er sich so verändert?, fragte sie sich. Würde dieser neue Mensch ein weinendes Kleinkind aus einem defekten Wagen heben? Würde er zur ersten Verabredung außer Tulpen auch noch ein Starthilfekabel, ein Kännchen Öl und ein Warndreieck mitbringen?
Andrea beobachtete sie. Caitlin riss sich zusammen. Es war noch gar nicht ausgemacht, dass Eva zustimmte. Vermutlich würde sie es gar nicht wollen, dass Joel und Nancy ihr makelloses Haus mit den weißen Teppichen auf den Kopf stellten. Vielleicht wohnte sie ja nicht einmal mehr dort. Nicht ausgeschlossen, dass sie in Micks Ferienhaus lebte, wo auch immer das war – Provence oder Saint Tropez oder egal wo. Irgendwo jedenfalls, wo man Leinenklamotten trug, Gin Tonic trank und Cliff Richard kannte.
»Gut«, sagte sie. »Ruf Eva an und frag, ob wir sie an einem der nächsten Wochenenden besuchen können.«
»Das tu ich gleich heute Nachmittag«, sagte Patrick. »Dann kommen wir wenigstens weiter.«
»Wunderbar!« Andrea klang erleichtert. »Dann haben wir ja ein positives Ergebnis, das wir aus der heutigen Sitzung mitnehmen können. Gut gemacht, alle beide.«
»Haben wir noch Zeit, über eine der Fragen zu reden, die ich zum monatlichen Budget habe?«, fragte Patrick. »Wo ich schon einmal hier bin?«
Caitlin schaute auf die Uhr. Ihnen blieben noch fünf Minuten. Ihr kam es vor, als säßen sie schon Stunden hier.
»Nein«, sagte Andrea bestimmt. »Lassen Sie uns mit einem Lichtblick aufhören.«