unter menschen wohnen schatten
jeder mensch ist ein versteck
guter mond, du gehst so stille
über meinen kopf hinweg
LEONHARD LOREK, jamais vu
Wir stellten das Auto in einer Seitenstraße ab. Hier wohnte niemand mehr. Die Grundstücke waren verwildert, die Häuser standen leer. Manche waren zu verkohlten Ruinen abgebrannt. In der Luft lag immer noch der Geruch von Rauch.
»Eine Gallone Benzin ist hier billiger als eine Eintrittskarte fürs Kino«, sagte Mia und nahm ihre Kamera. »Die Jugendlichen machen das zum Vergnügen. Es ist interaktiv. Sie verteilen das Benzin, zünden das Haus an, warten auf die Feuerwehr. Die ganze Umgebung hier ist voller abgebrannter Häuser. Wenn die Feuerwehr überlastet ist, kann sie keine Wagen schicken. Dann schauen die Nachbarn einfach zu, wie das Haus herunterbrennt.«
Die Gegend hinter der Packard Plant, die früher eine riesige Autofabrik gewesen war, hatte sich in den letzten Jahren zu einer urbanen Prärie gewandelt. Jetzt, Ende November, lag sie unter einem grauen, bereits eisigen Himmel. Wir waren stundenlang durch die Viertel gefahren, durch Straßen und über Schotterwege, längst von braunem Unkraut überwuchert, und waren keiner Menschenseele begegnet. In den verlassenen Gärten rosteten Autowracks vor sich hin. Schaukeln schwangen frei im Wind. Auf einer Veranda wuchs ein junger Baum zwischen den morschen Holzbrettern hervor. Gelegentlich liefen uns fünf oder sechs Hunde hinterher, eine eilige Horde. Abgemagerte Streuner, die keine Heimat mehr hatten, weil ihre Besitzer vor langer Zeit wegzogen waren und sie zurückgelassen hatten. Mir war nicht klar, ob sie unsere Nähe suchten oder uns verjagen wollten.
»Im Winter kommen auch Wölfe hierher«, sagte Mia, als wir auf das Haus zugingen. »Aber gefährlich sind diese verlassenen Hunde, die uns Menschen kennen und keine Angst vor uns haben. Sie wissen, dass wir verletzlich sind. Sie hassen uns für das, was wir ihnen angetan haben. Nimm dich vor ihnen in Acht.«
Uns standen Atemwolken vor dem Mund. Die Kälte biss sich an unseren Lippen fest, aber sie machte uns auch wach und hellhörig.
»Lass uns hineingehen«, sagte ich.
Der milchig weiße Himmel schien heller zu werden, man konnte die Rundung der Sonne erkennen. Wir gingen durch die Vordertür hinein. Ich hielt den Atem an, als wir den Flur betraten. Man wusste nie, was einen erwartete. Meist waren die Häuser wirklich unbewohnt. Aber manchmal …
Manchmal hatten sich Hobos dort eingerichtet. Obdachlose, Stadtstreicher. Oder Jugendliche, die von zu Hause ausgerissen waren. Sie nutzten die Häuser gelegentlich als Rückzugsorte. Sahen uns missmutig an, wenn wir durch die Verandatür kamen, und hielten ihre Hunde zurück. Tasteten nach einem Baseballschläger. Wir verstanden nicht, was sie uns zuriefen, und rannten sofort wieder raus. Ein anderes Mal störten wir zwei Dealer, die ihr Lager sortierten. Anfänger, glücklicherweise, sie waren genauso erschrocken wie wir. Einmal stand ein Reh im Wohnzimmer, mit zitternden Beinen und vor Panik geweiteten Augen.
Dieses Haus war leer. In den unteren Zimmern standen nur noch eine Couch, daneben einige Kartons und ein Regal mit Zeitschriften aus vergangenen Jahrzehnten. Ein Geschenk zum Muttertag, noch in der Plastikverpackung, lag auf dem Boden. Wir gingen die Treppe hoch und sahen uns das Kinderzimmer an. Eine Puppe lag in der Ecke, das Gesicht auf dem Teppichboden. Kinderzeichnungen von einer Familie am Tisch, alle Gestalten hatten lange Spinnenfinger und ein breites Grinsen. Mia machte Fotos, wir rührten nichts an. Durch das zerbrochene Fenster wehte eiskalte Luft.
Es waren meine letzten Tage in Detroit, im Dezember war mein Auslandshalbjahr vorbei. Meine Eltern in Berlin freuten sich schon seit Wochen auf meine Rückkehr. Ich nicht. Ich wäre gern noch ein paar Monate lang mit Mia durch die verlassenen Häuser und die aufgegebenen Fabriken gezogen. Wäre gern mit ihr im Frühling nach New York oder Chicago gefahren. Aber ich musste zurück, meine Zeit war vorbei. Unsere Zeit war vorbei.
An diesem Tag fanden wir noch eine ehemalige Kirche, nicht weit von Corktown entfernt. Die umliegenden Häuser waren bewohnt, an der nächsten Straßenecke war ein Liquor Store, vor dem ständig drei oder vier Leute herumlungerten. Wir fühlten uns von ihnen beobachtet und fuhren dreimal um den Block, ehe wir ausstiegen. Die Trinker kümmerten sich überhaupt nicht um uns.
Die Dämmerung setzte schon ein, als Mia und ich in den Kellereingang schlüpften. Das Regenwasser war im ersten Frost zu großen Pfützen vereist. Wir nickten uns wortlos zu, als wir die Treppe nach oben fanden. Es war eine der merkwürdigsten Kapellen, die ich je gesehen hatte. Das Halbrund der Bänke war noch gut erhalten. Die Kanzel für den Prediger war auch noch da. Fünfzig oder sechzig Gebetbücher waren in eine Ecke geworfen, in der Nässe aufgequollen und dann zu dicken Klumpen vereist.
Auch ein Flügel stand da, er wirkte wie ein urzeitliches Tier. Ein Bein war abgebrochen – seitdem kniete das Tier, und es sah aus, als könnte es sich ohne Hilfe nicht mehr aufrappeln. Mia tippte leicht auf die Tasten, die Töne kamen nur zaghaft hervor und klangen wie aus längst vergangenen Zeiten.
Wir saßen eine ganze Weile in der vordersten Reihe und hielten uns an den Händen – ein Paar, das einer unhörbaren Predigt lauscht.
Nach meinem Halbjahr in Amerika fand ich mich in Berlin nicht mehr zurecht. In der Schule wiederholte ich die zweite Hälfte der zehnten Klasse, meine früheren Freunde waren jetzt ein Jahr weiter. Sie hatten andere Kurse, hörten andere Musik, gingen auf andere Partys. Ich ging auf keine Partys mehr, sondern verbrachte die Abende in meinem Zimmer, um mit Mia zu skypen. Anfangs jeden Abend, bis in die Nacht. Sie erzählte mir von den verlassenen Häusern, den Fabriken, die sie neu entdeckt und erkundet hatte. Schickte mir Bilder. Kleine Filme, in denen ich sie flüstern und atmen hörte, während sie durch ein altes, verlassenes Schulgebäude schlich. Oder eine Bücherei erforschte, die vor Jahren geschlossen worden war. In den Regalen lagen noch Tausende von Büchern. Oben im Gebälk einer alten Kirche flatterte eine Taube auf, Mia erschrak so sehr, dass sie fast ihr Handy fallen ließ, das Bild wackelte. Dann lachten wir beide vor Erleichterung. In diesen Momenten fühlte ich mich ihr nah.
»Ich wünschte, du wärest hier«, sagte Mia. »Ich vermisse dich.«
»Ich vermisse dich auch«, sagte ich. Es klang komisch über Skype.
»Du musst wiederkommen«, sagte sie. »Ich will nicht immer allein losziehen.«
Wenn wir uns verabschiedeten, blieb ich vor dem schwarzen Monitor sitzen. Mein Zimmer war still. Meine Eltern schliefen längst. Aber für Mia, drüben in Detroit, begann der Tag jetzt erst richtig. Und ich konnte nicht einschlafen, weil ich die ganze Zeit an sie denken musste.
Wir hatten uns erst im Herbst kennengelernt, als wir beide dieselbe alte Autofabrik erkundet hatten, die Fisher Body Plant. Die meisten Urban Explorer waren allein unterwegs. Normalerweise ging man sich aus dem Weg, nickte sich höchstens kurz zu, in einer Art stillem Einverständnis. Ja, wir haben beide ein seltsames Hobby, du verpetzt mich nicht, ich verpetze dich nicht. So long! Aber Mia war stehen geblieben, hatte sich meine Fotos angesehen und mir ihre gezeigt. Vom Dach aus hatten wir beide die Skyline von Downtown Detroit fotografiert, und dann hatte sie mich mitgenommen. Sie kriegte sich gar nicht mehr ein vor Staunen, weil ich mit dem Bus und zu Fuß unterwegs gewesen war. In Motown!
»Poor boy!«, sagte sie.
Von da an nahm sie mich mit. Am Anfang bedeutete es nichts, wir zogen einfach gemeinsam los, es war sicherer zu zweit und auch unterhaltsamer. Dann planten wir unsere Touren und waren länger unterwegs, und es bedeutete doch etwas. Sie konnte ein paar Worte Deutsch und schwärmte von Berlin.
»Berlin und Detroit, wir sind so«, sagte sie und legte die Zeigefinger ihrer Hände aneinander.
Sie meinte die Hässlichkeit der Städte, sie meinte die Technomusik, und vielleicht meinte sie auch uns beide.
Was mich betraf, so hatte sich daran nichts geändert, die Zeigefinger lagen immer noch aneinander, auch wenn Mia weiterhin in Detroit war und ich jetzt in Berlin. Ich hatte ein Foto von ihr an meine Schreibtischlampe geklebt.
Morgens in der Schule bekam ich die Augen nicht auf. Die anderen Schüler kamen mir jung vor. Naiv. Oberflächlich. Sie hielten mich für arrogant und abwesend. Ich sagte nie was im Unterricht, nur in Englisch, um den Lehrer zu ärgern, der einen grauenhaften deutschen Akzent hatte.
Ich brachte die Stunden in der Schule herum, verschlief zu Hause die Nachmittage und wartete dann darauf, mit Mia zu telefonieren.
Aber nach ein paar Wochen, Ende Januar, Anfang Februar, hatte sie immer weniger Zeit zum Skypen. Musste für die Schule arbeiten. War mit anderen Leuten unterwegs. Wenn wir uns Nachrichten schrieben, war sie wortkarg. Und ich vermisste sie mehr denn je.
Berlin ging mir auf die Nerven. Die Straßen waren laut und voll, die Autofahrer ruppig. Ich hatte hier nichts verloren. Ich wollte nur weg. Ich wollte zurück nach Detroit. Zu Mia. Zumindest den Sommer über.
»Vergiss es!«, sagte mein Vater. »Ich habe keine tausend Euro übrig. Ist ja toll, dass du dich mit deiner Gastfamilie und mit Mia so super verstanden hast. Aber jetzt bist du wieder hier, in Berlin. Kriegst du das eigentlich mit, dass wir auch hier sind? Deine Mutter und ich?«
Nein, dachte ich. »Ja«, sagte ich. »Natürlich. Aber ich kenne hier niemanden mehr. Ich will hier nicht sein. Bitte, Papa. Nur diesen einen Sommer. Es sind nur tausend Euro, so arm bist du doch nicht.« Ich wusste, wo ich ihn treffen konnte.
»Hör auf, Jan«, sagte er. »Du bist sechzehn, du kannst dein eigenes Geld verdienen. Ich habe dir ein halbes Jahr Amerika finanziert, damit du ein anderes Land kennenlernst und die Sprache beherrschst. Aber nicht, damit du in den Ruinen von Detroit dein Herz verlierst.«
»Nur den Sommer noch«, sagte ich. »Wenn ich sie nicht wiedersehe in diesem Sommer, dann verlieren wir uns. Und das überlebe ich nicht.«
Er sah mich lange und eigentlich ziemlich lieb an, er lachte kein bisschen, er fühlte genau, wie ernst es mir war. Dann schüttelte er den Kopf.
»Das geht nicht, Jan. Wenn du im Sommer hinfährst, wird es entweder so schön mit ihr, dass du im Herbst oder Winter wieder hinwillst. Oder es wird furchtbar, weil ihr euch nicht mehr kennt. Auch wenn es jetzt wehtut: Vergiss Detroit. Vergiss Mia!«
Niemals!, dachte ich.
Um dem schwarzen Monitor, der nur mein Spiegelbild, aber nicht Mia zeigte, zu entgehen, begann ich in Berlin nach verlassenen Gebäuden zu suchen. Vielleicht konnte ich ihr später davon erzählen. Ihr Bilder schicken, kleine Filme. Ich würde darin sagen: »Ich vermisse dich«, und dann würde sie antworten: »Ich dich auch.«
Aber es gab in Berlin kaum noch leer stehende Häuser. Kaum noch Überreste und Ruinen aus der Wendezeit. Kaum noch verwilderte Grundstücke oder Brachen oder Fabriken, die irgendwann verlassen worden waren und nun niemandem mehr gehörten.
Es gab den Spreepark im Plänterwald, in dem uralte Dinosaurier aus Plastik hilflos auf dem Rücken lagen und verrotteten und die Gleise der Kinderbahn längst von Disteln und Bärlauch überwuchert waren. Der Betreiber des Vergnügungsparks war nach Südamerika geflohen, als er seine Schulden nicht mehr zahlen konnte, und hatte die Achterbahn, die Bimmelbahn für die Kinder, die Kulissen einer Westernstadt einfach zurückgelassen. Als Kinder waren wir oft durch den löchrigen Maschendrahtzaun geschlüpft und hatten die Überreste mit archäologischem Interesse erforscht. Die Saurier schienen mit offenen Mündern zu schlafen, wir tätschelten ihnen aufmunternd die Stirn, doch sie regten sich nicht. Jetzt sicherte ein stabiler Gitterzaun das Gelände. Mehrsprachige Warnschilder drohten mit üblen Strafen, wenn man über die Umzäunung kletterte. Außerdem patrouillierte ein Wachschutz zu unregelmäßigen Zeiten. An manchen Wochenenden aber drehte sich knarrend und quietschend das Riesenrad, das immer noch über die Bäume des Plänterwalds ragte. Es drehte sich langsam und mühevoll und wie von Geisterhand. Die leeren Gondeln schwebten wie in Zeitlupe nach oben, und das Wimmern des rostigen Metalls schnitt einem ins Trommelfell.
Oben in Weißensee gab es ein ehemaliges Kinderkrankenhaus. An einem Freitagabend ging ich noch mal hin, weil ich hoffte, ein paar Bilder für Mia machen zu können. Neben der Ausfallstraße stand ein Bauzaun, der nicht einmal kleine Kinder aufgehalten hätte. Sämtliche Türen und Fenster waren aus dem Gebäude herausgebrochen worden. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, die Öffnungen wenigstens notdürftig mit Brettern zu vernageln. Die Räume waren entsprechend nass und modrig.
Ich lief durch die Zimmer, in denen früher die kleinen Patienten gelegen hatten, konnte fast noch ihr Husten und Weinen hören, das Klappern der Schüssel, wenn die Krankenschwestern kühle Waschlappen auf die fieberheißen Gesichter legten. Das war zwanzig Jahre her, bald nach dem Fall der Mauer war das Krankenhaus geschlossen worden. Jetzt waren die Zimmer kahl, und die Graffiti an den Wänden machten mich wütend wegen ihrer erbärmlichen Hast und Lieblosigkeit.
Hinter dem Hauptgebäude gab es einen Park, in dem uralte Bäume rauschten. Die Wege zu den Nebengebäuden waren überwuchert von Sträuchern und jungen Birken. Ich tastete mich in ein Nebengebäude hinein und stellte mir vor, dass Mia hinter mir ging und die Sprüche ihrer besorgten Mutter vor sich hin flüsterte. Die Wände des Treppenhauses waren abgetragen oder eingestürzt, sodass die Betonstufen frei in der Luft standen, die Bäume reichten mit ihren Zweigen hinein. Im dritten Geschoss war ein Fotograf gerade dabei, sein Model zu positionieren. Das Mädchen hatte außer hohen Stiefeln und einem Diadem im Haar nichts an, sie kicherte aufgeregt, während sie eine Pose nach der anderen probierte.
Außerdem gab es noch das »Haus der Statistik« am Rande des Alexanderplatzes. Ein verlassenes Verwaltungsgebäude mitten in der Stadt, das einen ganzen Straßenblock einnahm und aus blinden Augen auf das Gedränge der Leute schaute – das interessierte die Urban Explorer in Berlin natürlich brennend. Hier war echter Ruhm zu holen. Hin und wieder schafften es Einzelne von uns tatsächlich, hineinzukommen. Aber sie wurden alle gefasst. Anzeige oder Abreibung, das konnten sie sich dann aussuchen. Die Security-Leute, die das Haus bewachten, trainierten alle bei einem Hellersdorfer Kickboxverein. Deshalb entschieden sich die erwischten Urban Explorer normalerweise für eine Anzeige. Das kostete zwar mehr, aber man musste wenigstens nicht wochenlang aus der Schnabeltasse trinken.
Ich ging allein hin und umrundete das Haus fast drei Stunden lang. Die unteren Fensterreihen waren fest verschlossen oder vermauert. Die Türen sowieso. Außerdem stand ein massiver Bauzaun davor. Und natürlich gab es eine Menge Überwachungskameras, mit denen man nicht rechnete, weil sie so klein und unsichtbar waren. Wie sollte man da unentdeckt hineinkommen? Bei meinen Umrundungen sah ich hin und wieder auch die Lichter einer Stablampe durch die unteren Etagen funzeln. Die Wachleute hockten also nicht nur in einem Büro und starrten auf die Überwachungsmonitore, sondern gingen zusätzlich noch eine vorgegebene Route ab.
Es war wirklich unmöglich hineinzukommen, aber je länger ich um das Haus herumschlich, während der Freitagnachtverkehr an mir vorbeirauschte, desto mehr geriet ich in Trance. Seit langer Zeit, eigentlich seit meiner letzten Tour mit Mia befand ich mich wieder in dem Zustand, in dem man nichts als Wahrnehmung und Witterung ist, pure Bereitschaft zum Handeln. Wenn ich eine Lücke im Zaun gesehen hätte, wäre ich sofort hineingegangen. Ohne zu zögern. Ohne an die Wachleute zu denken. An ihre Quarzer und die Schnabeltasse.
Wer in diesem Zustand ist, dem kann nichts passieren. Das hatten Mia und ich in Detroit immer wieder erlebt. Wir waren unverwundbar. Einmal waren wir in ein verlassenes Hotel geklettert. Es war einer der letzten warmen Tage gewesen, das Licht der Herbstsonne schmolz geradezu an den Kanten der Fassade. Früher Nachmittag, unten drängte sich der Verkehr Richtung Downtown, aber wir kletterten zwei Stockwerke außen an der Fassade hoch, um hineinzukommen. Es war der helle Wahnsinn, trotzdem dachten wir keine Sekunde lang darüber nach, wie gefährlich es war, als wir uns von Fenstersims zu Fenstersims hangelten, bis wir endlich eine Öffnung fanden. Uns konnte nichts geschehen. Wir waren Ninjas, die eine Mission hatten. Erst viel später, lange nachdem wir sämtliche Etagen, Flure und Zimmer, die Lobby und die Diensträume erforscht hatten, lange nachdem wir unseren Triumph in einem Burgerladen in Corktown gefeiert und die Bilder in Mias Kamera wieder und wieder angeschaut hatten und ziellos durch die Nacht gefahren waren, erst dann, als wir noch mal am Hotel vorbeikamen und unseren Weg die Fassade hinauf nachvollzogen, wurde uns klar, wie scharf die Rasierklinge war, auf der wir getanzt hatten. In jener Nacht küssten wir uns zum ersten Mal.
Das war in Detroit gewesen. Hier am Alexanderplatz im kalten Februar fand ich keinen Zugang. Ich wollte unbedingt rein, aber es war aussichtslos. Das Gebäude lachte mich mit seinen dreihundert Fenstern aus. Und ich war allein. Mia war nicht bei mir.
Zu Hause suchte ich die billigsten Flüge nach Detroit heraus, egal, was mein Vater gesagt hatte. Wenn ich bald buchte, würde ich nicht mal tausend Euro brauchen.
Meine Mutter kam ins Zimmer und brachte mir ein Glas Milch. Das war ihre Art, mir zu zeigen, dass sie für mich da war. Früher hatte ich gern Milch getrunken, literweise, zu Cornflakes und Müsli, als Kakao und einfach so. Aber früher war früher, und jetzt mochte ich Milch nicht mehr. Sie kapierte es nicht.
»Immer noch Sehnsucht?«, fragte sie.
Ich nickte. Vielleicht half es, wenn ich sie auf meine Seite brachte.
»Es sind nur fünfhundert Euro, wenn ich jetzt buche«, sagte ich. »Mehr Geld brauche ich doch eigentlich nicht. Die Kingsleys haben schon gesagt, dass ich kommen kann.«
»Du hast erst deine Gastfamilie gefragt, ehe du uns fragst?«
»Na, ich hab Papa gefragt«, sagte ich.
»Das ist ja toll, dass ich auch mal was mitkriege«, sagte meine Mutter, und auf ihrer Stirn zeigte sich diese Ärgerfalte, die ich ganz und gar nicht mochte. »Spricht auch mal jemand mit mir?«
»Er will mir das Geld nicht geben«, sagte ich. »Er meint, ich soll es mir selbst verdienen.«
»Da hat er völlig recht«, sagte sie.
»Aber das ist unmöglich bis zum Sommer. Und länger halte ich es nicht aus.«
Die Falte verschwand und wich einem sanften, etwas traurigen Lächeln. Meine Mutter trat einen Schritt näher und fuhr mit der Hand über meinen Haaransatz. Das hatte ich früher auch mal gut gefunden. Jetzt drehte ich den Kopf unmerklich zur Seite, wollte nicht unhöflich sein.
»Ich kann mir vorstellen, dass es wehtut«, sagte sie leise und nickte dem kleinen Bild an meiner Schreibtischlampe zu. »Du bist hier, sie ist in Detroit. Du vermisst sie. Ich hatte früher auch Urlaubsflirts und konnte sie lange nicht vergessen. Weil die Zeit zusammen so toll war, das Land so aufregend, irgendwie habe ich mich in der Fremde immer freier gefühlt. Aber es geht vorbei, Jan, glaub mir, irgendwann hört es auf.«
Niemals!, dachte ich.
Der Englischlehrer forderte mich auf, ein Referat über Detroit zu halten, und ich zeigte der Klasse eine Stunde lang alle Bilder von Mia, die auf unseren Touren entstanden waren: die Eiszapfen, die von der Decke der Fisher Body Plant hingen. Das riesige Areal der Packard Plant. Die Warenlager unten am Fluss, die seit Jahren leer standen. Das legendäre, riesige Gebäude zwischen Fluss und Innenstadt: die Michigan Central Station. Wir waren nicht hineingekommen, aber wir hatten die Schalterhalle mit ihren Marmorsäulen durch die vergitterten Fenster gesehen. Die alte Wartehalle mit einer riesigen gewölbten Decke, größer als manche Kathedrale in Europa.
Ich zeigte Bilder vom Broderick Tower, dessen Eingangsbereich mit schwarzem Marmor verkleidet war. Das Adams Theater, in dessen Kassenhäuschen immer noch Papierschlangen von Tickets aus den Büroschränken hingen. Ich zeigte ihnen Bilder von Barbershops mit Sesseln und Heißlufthauben, zerbrochenen Waschbecken und blinden Spiegeln. Verlassene Polizeistationen, Gerichtssäle, Gefängnisse. Die Farbe war von den Gitterstäben abgeplatzt, ein schwer erträglicher Geruch nach Wut und Angstschweiß hing immer noch in der Luft.
»Wie habt ihr das bloß ausgehalten?«, fragte einer in der Klasse. »Das zieht einen doch voll runter. So eine abartig armselige und hässliche Stadt.«
»Detroit war mal eine reiche Stadt«, sagte ich, und alle lachten. »Eine schöne Stadt«, sagte ich trotzig und zeigte ihnen Bilder von luxuriösen Stadtvillen und prächtigen Theatern, die mittlerweile alle heruntergekommen und verfallen waren. »Die ersten Wolkenkratzer – die gab es hier, nicht in New York.«
»Aber jetzt ist es Ödland, Zombiegegend«, sagte einer aus der letzten Reihe. »Das sieht noch schlimmer aus als in Brandenburg.«
Ein paar in der Klasse kicherten. Die Mädchen wollten wissen, mit wem ich dort gewesen war, wer die Fotos gemacht hatte und ob es nicht verboten sei, in all die Gebäude hineinzugehen.
»Es kümmert sich niemand darum«, sagte ich. »Wenn ihr nichts kaputt macht, lassen sie euch in Ruhe.«
Ich erzählte nichts von den streunenden Hunden, nichts von den Landstreichern und Dealern, nichts von den Polizeisirenen, die man in der Innenstadt eigentlich dauernd hörte, und auch nichts von der Feuerwehr, die am Wochenende nicht hinterherkam mit dem Löschen von wahllos angezündeten Häusern.
»Aber ist es nicht total trostlos, in den verlassenen Gebäuden herumzustöbern?« Die Frage kam von einem Mädchen mit blauen Haaren, sie hieß Nele.
Ich konnte nicht erklären, was ich daran so aufregend fand. Ich erzählte von den Spuren der Bewohner aus früheren Jahren. Hinterlassene Fotos ihrer Kinder, die inzwischen längst erwachsen oder vielleicht sogar schon gestorben waren. Manchmal fand ich auch Zeitschriften aus den Sechzigerjahren. Briefe, Einkaufszettel. Hochzeitsfotos. Das Brautpaar lächelt stolz in die Kamera, es ist ein glücklicher Moment. Ein Moment, der niemals vergehen sollte. Solche Momente hatte ich auch mit Mia gehabt, wenn wir in einem prachtvollen, aber verlassenen Konzertsaal Selfies von uns machten.
Nach der Stunde kam der Junge aus der letzten Reihe zu mir.
»Ich heiße Luis, alle nennen mich Lu«, sagte er.
»Ich weiß«, antwortete ich.
Lu trug immer Streifenpullis. Er war ein Gamer. In der Realität der Schule schien er sich zu langweilen, das immerhin hatten wir beide gemeinsam.
»Wenn du im April mit rauskommen willst nach Brandenburg, könnte ich ein Wort für dich einlegen«, sagte er.
»Was soll ich denn in Brandenburg?«
»Wir treffen uns da in einem verlassenen Kinderheim«, sagte er. »Wir spielen ein Spiel. Ilinx. Virtuelle Realität.«
»Ich bin kein Gamer«, sagte ich.
»Okay.« Er zuckte mit den Schultern und drehte sich weg.
An der Tür wartete Nele, das blauhaarige Mädchen, sie nickte mir zu. Als Lu an ihr vorbeiging, grüßten sie sich mit einem komplizierten Aliengruß, der seit dem letzten Jahr in war und den ich verpasst hatte.
Am Abend versuchte ich, Mia zu erreichen, aber sie reagierte weder auf meine Nachrichten noch auf Anrufe. Sie war einfach verschwunden. Ich schaute noch einmal die Fotos durch, wieder und wieder, und erzählte dem kleinen Porträtbild an meiner Schreibtischlampe, wie mein Tag gewesen war, dass ich sie vermisste und so weiter. Sie lächelte einfach nur.
Zehn Tage später hatte ich morgens eine Nachricht von Mia. Sie schrieb, dass wir an ihrem Nachmittag, also in meiner Nacht skypen könnten. Sie sei zurück. Ich freute mich den ganzen Tag über unsagbar darauf.
Zehn Tage. Jeder dieser zehn Tage war mir vorgekommen wie ein ganzes Jahr. Endlos und quälend leer. Am Wochenende war ich mit Google Street View in Detroit unterwegs gewesen, um zumindest die Straßen und Häuserreihen wiederzusehen, nach denen ich mich so zurücksehnte. Ich hatte Mia eine Nachricht geschrieben, sie gelöscht, noch einmal geschrieben und dann endgültig gelöscht. Ich hatte stundenlang aus dem Fenster gestarrt. Als ich versuchte, mich mit neuen Serien abzulenken, ertappte ich mich immer wieder dabei, dass mein Blick über den Monitorrand wanderte und nach dem kleinen Foto von Mia an der Schreibtischlampe tastete. Ich dachte an ihre Nackenhaare, ihre Fingerknöchel, ihren federnden Gang, an ihre konzentrierte Miene beim Fotografieren. An ihre leicht gebräunte Haut. Ihre Schultern. Sie war kitzlig unter den Achseln.
»Junge, dich hat es ja wirklich schlimm erwischt«, sagte mein Vater an einem dieser Tage, es klang weniger vorwurfsvoll als vielmehr bewundernd. Ich konnte nicht darauf antworten, weil ich ihn mit meinem Hass und meiner Verachtung strafen wollte, bis er die tausend Euro für die Reise im Sommer herausrückte.
Meine Mutter schickte mir einen Link zum Thema »Zehn Tipps gegen Liebeskummer bei Jugendlichen«:
Hineinhorchen ins Seelenleben
Keine Verharmlosung, keine Floskeln
Nachsichtig sein
Permanente Gesprächsbereitschaft (»Du kannst immer zu mir kommen.«)
Eigene Kummer-Erlebnisse erzählen
Ohne Worte trösten
Moderates Verwöhnprogramm
Selbstbewusstsein stärken (»Ein banaler Friseurbesuch kann Wunder wirken!«)
Halt durch-Kontinuität (»Natürlich gehst du heute zur Schule!«)
Auf Alarmzeichen achten (»Zieht sich das Kind immer mehr zurück, ist teilnahmslos, leidet unter Schlaflosigkeit oder Appetitlosigkeit, sollten Sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.«)
Ich dachte nicht lange darüber nach, warum sie mir Tipps für Eltern schickte, deren Kinder Liebeskummer hatten. Es lohnte sich nicht. Das war so eine typische Mama-Aktion. Ihre Art, mir zu zeigen, dass sie an mich dachte und dass sie gerade nicht wusste, wie sie mit mir umgehen sollte. Anders konnte sie es wohl nicht zeigen. Musste sie auch nicht.
Ich schickte ihr den Link zurück. Ich hatte keinen Liebeskummer, ich wartete einfach auf eine Nachricht von ihr. Ein Lebenszeichen. Ich konnte nicht glauben, dass sie mich vergessen hatte. Oder loswerden wollte. Nicht Mia. Nicht so.
Aber ganz sicher war ich mir auch nicht. Zehn Tage können verdammt lang sein. An jedem dieser Tage konnte sich eine Falltür des Zweifels öffnen: Sie hat mich vergessen, sie zieht mit einem anderen Typen rum, sie fand mich eh blöd …
Ich ging alle ihre Nachrichten noch mal durch, befragte ihr Fotolächeln, marterte mich, indem ich lange versuchte, mich genau an ihren verletzten Gesichtsausdruck zu erinnern, als ich vor Monaten einen blöden Witz gerissen hatte. Die Stunden schleppten sich dahin, in manchen Momenten war ich einfach nur selig, weil ich davon überzeugt war, dass alles gut werden würde. Keep Calm and Carry On, stand auf der Wohnungstür unserer Nachbarn, es war ein alter Slogan der britischen Regierung im Luftkrieg gewesen. Ich blieb ruhig. Ich machte weiter.
An dem Tag, an dem ich morgens Mias Nachricht bekommen hatte, stand ich auf dem Schulhof und redete mit Lu. Er hatte den entrückten Gesichtsausdruck von Leuten, die wissen, dass sie sich nur vorübergehend in dieser öden Realität aufhalten müssen. Sie wissen, dass es eine bessere Welt gibt, eine Welt voller Zombies, die es auszumerzen gilt. Zumindest war das Lus Traum. Meiner war ein Sommer mit Mia in Detroit. Tausend Euro entfernt. Also unerreichbar.
»Willst du noch mal hin?«, fragte er mich.
»Nach Detroit? Auf jeden Fall.«
»Was hindert dich?«, fragte er.