mare
Rubinrotes Herz,
eisblaue See
Aus dem Amerikanischen von
Claudia Feldmann
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
Originaltitel: Red Ruby Heart in a Cold Blue Sea
Copyright © 2010 by Morgan Callan Rogers
© 2016 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Simone Hoschack, mareverlag, Hamburg
Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Datenkonvertierung eBook bookwire
ISBN eBook: 978-3-86648-313-2
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-131-2
www.mare.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Nachdem wir um ein Haar ein Sommerhaus abgefackelt hätten, wurde beschlossen, dass meine Freunde und ich uns bis zum Schulbeginn im September nicht mehr sehen durften. Es war Juli 1963, ich war elf Jahre alt, und Carlie, meine Mutter, nahm mich unter ihre Fittiche. Sie und Daddy fanden, man könne es meiner Großmutter nicht zumuten, die ganze Zeit darauf aufzupassen, dass ich nichts anstellte, während sie bei der Arbeit waren. Daddy verdiente sein Geld mit dem Hummerfang und musste jeden Tag die Fallen kontrollieren, deshalb gab Carlie, die als Kellnerin im Lobster Shack arbeitete, ein paar ihrer Schichten ab, um zu verhindern, dass ich im Gefängnis landete.
Unter Carlies spielerischer Aufsicht zu stehen, war nicht das Schlechteste, was mir je passiert war. Ich hatte sie während der beiden letzten Juliwochen fast ganz für mich allein, und wir unternahmen jeden Tag etwas anderes. Wir holten uns in Rays Gemischtwarenladen oben an der Straße ein Eis, setzten uns damit auf die Stufen vor unserem Haus und schauten auf das Wasser, das vom Hafen am Ende von The Point zu uns herüberblitzte. Wir wanderten von unserem Garten durch den Wald zum nahe gelegenen Naturschutzgebiet und machten dort ein Picknick. Wir saßen stundenlang im Lobster Shack, bummelten durch Long Reach, die nächstgelegene Stadt, tanzten und sangen zu Elvis-Platten, spielten Karten, sonnten uns oder gammelten einfach nur herum.
An dem Tag, den ich am besten in Erinnerung behalten sollte, packten wir den Picknickkorb und machten uns mit Petunia, Carlies 1947er Ford Coupé, auf den Weg zur Route 100. Wir kamen durch Long Reach, rollten auf einer Brücke über einen breiten Fluss und fuhren eine schmale Landzunge entlang bis zum Mulgully Beach, der ganz an der Spitze lag. Dort waren wir mit Carlies Freundin Patty verabredet.
Patty kellnerte zusammen mit Carlie. Sie hatte butterblumengelbes Haar, hellblaue Augen und Grübchen, die so tief waren, dass sie Murmeln darin hätte verstecken können.
»Na, warst du auch schön brav?«, fragte sie und packte eine Portion Pommes frites und eine Cola aus, die der Koch vom Lobster Shack ihr für mich mitgegeben hatte. »Das will ich jedenfalls schwer hoffen. Sonst endest du womöglich noch wie ich.«
Sie war hübsch, witzig und ließ sich nichts gefallen. Unhöflichen Kunden kippte sie »aus Versehen« ein Glas Wasser über den Schoß, oder sie mussten länger warten. Einmal war eine Gruppe von zehn Gästen verschwunden, ohne ihr Trinkgeld zu geben, und die Leute hatten tatsächlich die Stirn gehabt, noch mal wiederzukommen. »Denen hab ich’s gezeigt«, hatte Patty zu Carlie und mir gesagt. Nachdem sie sie mit freundlichem Lächeln bedient hatte, schlich sie sich hinaus auf den Parkplatz und ließ ihnen die Luft aus einem der Reifen. Als die Leute später draußen standen und sich fragten, was sie jetzt machen sollten, war Patty zu ihnen gegangen, hatte ihr Trinkgeld verlangt und es auch bekommen. Ihre Art gefiel mir, obwohl Grand, meine Großmutter, dazu wahrscheinlich gesagt hätte: »Ein Unrecht hebt das andere nicht auf.«
Carlie bekam immer reichlich Trinkgeld. Während Patty flirtete und kicherte und jedem zu verstehen gab, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte, brauchte Carlie solche Manöver gar nicht. Sie brachte jeden Raum zum Strahlen und zog die Menschen magisch an. Für mich war sie das Zentrum des Universums. Und für Daddy auch.
Ich nannte sie immer Carlie, nie Mutter, Mom oder Ma. Mit achtzehn war sie mit Petunia aus Massachusetts hierhergekommen. Daddy hatte mir erzählt, wie sie sich vor Rays Laden begegnet waren. Sie hatte ihn sofort umgehauen. »Ich war grad fertig mit dem Fang«, sagte er, »und da dachte ich mir, ich geh mal zu Ray und hol mir ein Sixpack ’Gansett. Vor dem Laden stand ein Auto, die Stoßstange glänzte in der Sonne. Dann schob sich jemand davor. Es war ein Mädchen, und es lächelte mich an. Hübsche Augen, rotes Haar. Bisschen dünn, aber das war mir egal.«
Carlie hatte Daddy erzählt, dass sie den Sommer über im Lobster Shack arbeitete. »An dem Abend hab ich bei Ma gegessen«, sagte Daddy, »und obwohl sie extra Finn ’n Haddie für mich gemacht hatte, konnte ich an nichts anderes denken als an Carlie, die nur ein Stück die Straße runter war.«
Die beiden hatten im August 1951 geheiratet, und im Mai 1952 war ich auf die Welt gekommen. Sie hatten mich Florine genannt, nach Daddys Mutter Florence und Carlies Mutter Maxine.
An dem Tag, als wir auf dem Weg zum Mulgully Beach waren, tippte Carlie mit ihren rosa lackierten Fingernägeln im Takt auf Petunias Lenkrad. Ihre Locken fielen wie rote Bänder auf ihre Schultern. Ah lewie lewa, oh whoa, I saida we gotta go, dröhnte es aus dem Radio. Dottie Butts, meine beste Freundin, und ich hatten mal einen ganzen Nachmittag vor dem Radio gehockt und uns Louie Louie immer wieder angehört, weil uns jemand erzählt hatte, der Song wäre versaut. Aber wir verstanden die Worte kaum. Dottie meinte, es klinge, als hätte man dem Sänger die Zunge in Streifen geschnitten. Schließlich hatten wir immerhin zwei Zeilen zusammen: »Every night, at ten, I lay her again. I fuck that girl then I went away.« Aber vielleicht irrten wir uns auch. Ich fragte Carlie, wie der Text ihrer Meinung nach lautete, aber sie zuckte nur die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Wahrscheinlich geht es nur um den Rhythmus.«
Als wir am Strand ankamen, zahlte Carlie eine Gebühr, und wir stellten Petunia auf dem staubigen Parkplatz ab. Die Autos glänzten in der Sonne so stark, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.
»Lass das«, sagte Carlie. »Davon kriegst du Falten über der Nase, und dann siehst du schon mit zwanzig alt aus. Wir besorgen dir am Strandkiosk eine Sonnenbrille.« Sie drehte den Rückspiegel zu sich und zog sich die Lippen in Knallrosa nach, dann nahmen wir den Picknickkorb, eine alte Decke und unsere Handtücher und machten uns auf den Weg. Als sich Carlie in der Umkleide die Unterhose auszog, schimmerte ihr Schamhaar wie Kupfer. Feuerbusch. Den Ausdruck hatte ich eines Tages im Lobster Shack aufgeschnappt, als ich darauf wartete, dass Carlie Feierabend hatte. Am Nebentisch saßen zwei Männer, und ich hörte, wie der eine zum anderen sagte: »Die Rothaarige da, die hat bestimmt ’nen Feuerbusch.« Als ich Carlie jetzt nackt sah, dachte ich genau dasselbe. Sie zog den Badeanzug über ihre Hüften und ihre kleinen Brüste und streifte sich die Träger über die Schultern. Ich tat dasselbe mit meinem mageren, unbehaarten Körper und wünschte mir sehnlichst irgendwelche Rundungen oder Ausbuchtungen, die darauf hindeuteten, dass ich auch zur Frau wurde. »Wart’s nur ab«, hatte Carlie vor einer Weile zu mir gesagt, als ich mich mal wieder über meinen kindlichen Körper beschwerte. »Noch eine kleine Weile, dann wirst du so traumhaft aussehen, dass die Jungs deinetwegen vor die Wand laufen.« Das machte mir ein wenig Hoffnung.
Als wir fertig waren, sagte Carlie: »Na, dann komm«, und wir nahmen unsere Sachen und gingen zum Strandkiosk. Sie kaufte mir eine rosafarbene, schmetterlingsförmige Sonnenbrille, dann hüpften wir quiekend mit unseren nackten Füßen über die glühend heißen Bohlen des Holzstegs.
»Los, Tempo!«, rief Carlie. Wir rannten, so schnell wir konnten, bis zum Ende der Bohlen und schauten hinunter auf den gleißend hellen Sand und die flaschengrünen, schaumgekrönten Wellen. Dort unten waren mehr Leute, als ich sonst in einem ganzen Jahr zu sehen bekam, auf Decken ausgebreitet oder tobend und kreischend im Wasser.
Als wir auf halbem Weg nach unten waren, stand eine Frau im schwarzen Badeanzug von ihrer gelben Decke auf und winkte uns zu. »Hey, Florine«, rief Patty, und wir liefen zu ihr und warfen unsere Sachen auf die Decke.
»Ist das heiß!«, sagte Carlie. »Ich muss mich erst mal abkühlen.« Sie nahm meine eine Hand, Patty die andere, und dann rannten sie mit mir ins Wasser. Bevor ich auch nur Zeit hatte zu schreien, packte mich eine Welle, schleuderte mich herum wie ein Wäschebündel, schleifte mich über den Sandboden und spuckte mich wieder auf den Strand, wo Carlie mich auffing.
»Na, hast du Schiss?«, fragte sie. Natürlich hatte ich Schiss, aber wir warfen uns immer wieder hinein, bis wir völlig zerschunden und erschöpft waren. In der Pause zwischen zwei Wellen tauchten wir unter und versuchten, so gut wie möglich den Sand aus dem Badeanzug zu spülen. Dann schleppten wir uns zurück zur Decke, Carlie und Patty vorneweg, ich hinterher. Vor mir gingen die zwei schönsten Frauen, die ich kannte. Obwohl sie beide eher klein waren, bewegten sie sich sehr aufrecht und stolz. Sie warfen gleichzeitig den Kopf zurück, und ihr nasses Haar schleuderte salzige Wasserspritzer durch die Luft. Als ich meinen Kopf zurückwarf, verlor ich das Gleichgewicht und wäre beinahe hingefallen.
Als wir es uns auf der Decke bequem gemacht hatten, aßen wir Sandwiches mit Erdnussbutter und Traubengelee, tranken Root Beer und sahen hinaus aufs Meer.
»Na, habt ihr wieder irgendwelche Häuser abgebrannt?«, fragte Patty.
»Das war keine Absicht«, verteidigte ich mich. »Außerdem ist es gar nicht abgebrannt.«
»War doch nur ein Scherz. Diesen reichen Pinkeln schadet es gar nicht, wenn sie ab und zu mal etwas Feuer unterm Hintern kriegen.«
»Lasst uns über was anderes reden«, sagte Carlie. Sie holte tief Luft und atmete geräuschvoll aus. »Ist das nicht herrlich?« Sie zog ihren einen Träger von der Schulter. »Habe ich schon einen Sonnenbrand?«
»Du bist doch gerade erst gekommen«, sagte Patty.
»Na ja, aber bei meiner irischen Haut …«, entgegnete Carlie und begann, ihre Beine mit Babyöl einzureiben.
»Was ist mit mir?«, fragte Patty. Carlie schnaubte nur. Alles, was wir von Patty sehen konnten, war gleichmäßig goldbraun.
»Und ich, bin ich braun?«, fragte ich.
Carlie nahm die Sonnenbrille ab und musterte meine Schultern. »Nein, du hast meine Haut geerbt. Aber dein Vater, der wird im Handumdrehen braun.«
»Wie geht’s dem alten Herrn?«, erkundigte sich Patty. Ich wollte gerade protestieren, er war nämlich überhaupt nicht alt (obwohl er zwölf Jahre älter war als Carlie), aber Patty sah meinen Gesichtsausdruck und zeigte mir ihre Grübchen. »Ist nur so eine Redensart, Florine«, sagte sie. »Dein Daddy ist ein echter Hingucker.«
»Was ist ein Hingucker?«, fragte ich.
»Ihm geht’s gut«, erwiderte Carlie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Er ist draußen bei seinen Hummern.«
»Also alles wie immer«, sagte Patty. »Übrigens, jemand vermisst dich.«
»Wer denn?«
Patty grinste anzüglich. »Du weißt schon.« Ich konnte Carlies Gesicht nicht sehen, aber sie musste Patty einen Blick zugeworfen haben, denn Patty sah zu mir, und ihr Grinsen verschwand. Sie griff nach ihrer gelben Häkeltasche und nahm einen Dollar aus dem Portemonnaie. »Wie wär’s, wenn du dir ein Eis holst? Ich geb dir eins aus«, sagte sie zu mir. »Ist das in Ordnung?«, fragte sie Carlie.
»Du hast Sand auf der Nase«, sagte Carlie zu mir und wischte ihn weg. »Hol dir ruhig ein Eis, aber dann kommst du gleich zurück, okay?«
Ich rannte über den heißen Sand und den noch heißeren Steg zum Kiosk. Davor war eine Schlange, und ich hatte das Gefühl, stundenlang anstehen zu müssen, obwohl es wahrscheinlich nur ein paar Minuten waren. Ich holte mir ein Vanilleeis mit Schokostreuseln und machte mich vorsichtig auf den Rückweg, um mich nicht zu bekleckern.
Auf halbem Weg zu unserem Platz bemerkte ich den Mann bei Carlie und Patty. Er war braun gebrannt, noch dunkler als Patty, und hatte schwarzes Haar. Er lag rücklings auf der Decke, die Ellbogen aufgestützt, und unterhielt sich mit Carlie, die ihm mit angezogenen Knien gegenübersaß.
Ich biss die Spitze meiner Eiswaffel ab und ging auf sie zu. Der Mann sah zu mir auf, ein Auge wegen des grellen Sonnenlichts zugekniffen. Als er mich anlächelte, schob sich ein schief stehender Zahn über seine Unterlippe. »Hi«, sagte er. »Und du bist Florine?« Sein Haar war mit Brillantine zurückgekämmt und glänzte. Seine Augen waren blau. Sein Blick wanderte von mir zu Carlie. »Scheint eher nach ihrem Vater zu schlagen«, sagte er. »Sie hat deine Haarfarbe, aber sie wird mal größer als du. Vor allem an bestimmten Stellen.« Patty kicherte. Ich aß den Rest von meinem Eis und kam zu dem Schluss, dass ich ihn nicht mochte. »Gehst du mit mir spazieren?«, fragte ich Carlie.
Sie sah mich über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg an. Ihr Gesicht war leicht gerötet. »Na klar.« Sie stand auf und wischte sich den Sand ab. Der Mann betrachtete ihre Beine. Er bewegte die Hüften und streckte seine Brust noch ein wenig mehr heraus.
»Wer ist das?«, fragte ich, als wir außer Hörweite waren.
»Mike«, sagte Carlie. »Ein Kunde aus dem Lobster Shack. Bloß ein Freund.«
»Ist das der, der dich vermisst?«
»Was meinst du damit?«
»Patty hat gesagt, jemand vermisst dich.«
Carlie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Ist auch nicht wichtig. Ich vermisse ihn nicht.« Sie blieb stehen, reckte sich und sah hinaus aufs Meer. Dann sagte sie: »Komm her. Stell dich vor mich.« Ich tat es, und sie beugte sich hinunter und zeigte auf die Linie, wo das Meer und der Himmel sich trafen. »Siehst du den Horizont?«
»Ja.«
»Wenn du durch diese Linie gehen und auf der anderen Seite herauskommen könntest, wärst du in einer völlig anderen Welt. Wäre das nicht toll?«
»Ja«, sagte ich. Eine Möwe landete vor uns, legte den weißen Kopf schief und musterte uns mit ihrem gelben Auge. Carlie verscheuchte sie.
Wir gingen zu einer Ansammlung von Felsen und setzten uns auf einen flachen schwarzen, der gerade groß genug für uns beide war. Wir betrachteten eine Weile Carlies Horizont, dann sagte sie mit verträumter Stimme: »Als ich klein war, stellte ich mir vorm Einschlafen immer vor, ich könnte fliegen. Ich flog an alle möglichen Orte, landete und sah mich um, ob ich dort jemanden kannte. Dann, als ich älter war, fuhr ich hierher, und da war dein Vater, der auf mich zukam, die Sonne hinter seinem Kopf wie ein Heiligenschein. Blaue Augen, strahlendes Lächeln, breite Schultern, groß und kräftig, und da habe ich mir gesagt: ›Das ist er, Carlie. Hier bleibst du.‹ Er ist ein guter Mann, Florine. Einer der besten, denen ich je begegnet bin.« Sie hielt inne und sah mich an. »Woran denkst du, bevor du einschläfst?«
»Ich weiß nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Du bist wie dein Vater. Und das ist gut so.« Sie tätschelte meinen Arm, und ich zuckte zusammen. »Ach herrje«, sagte sie. »Schätzchen, du hast einen Sonnenbrand. Wir müssen zurück und dir was überziehen. Und dann fahren wir nach Hause, einverstanden?«
Patty und Schiefzahn-Mike hüpften in den Wellen herum. Als sie uns sahen, winkten sie und liefen zur Decke zurück.
Patty bespritzte mich mit kalten Tropfen. »Willst du noch mal rein?«
»Sie hat einen Sonnenbrand«, sagte Carlie. »Ich fahr mit ihr nach Hause.«
Mike lüpfte den Träger an Carlies Schulter und fuhr mit dem Finger über die Linie zwischen roter und weißer Haut. »Du hast auch einen.«
»Lass das«, fuhr Carlie ihn an.
Mike wich zurück. »Ich kenn die Regeln nicht, Carlie. Du musst sie mir sagen.« Mit gesenktem Kopf schlurfte er zu den Felsen, von denen wir gerade kamen.
»Wir reden später weiter«, sagte Carlie zu Patty, die ausgestreckt auf der Decke lag, ein Bein angewinkelt, und Mike nachsah. Dann nahmen wir unsere Sachen und gingen.
Auf dem Heimweg schwiegen wir beide, und wir schalteten auch nicht das Radio ein. Ungefähr auf halbem Weg nach Long Reach sah ich, wie ein Junge in meinem Alter sich an einem Tau, das am Ast eines großen Baums befestigt war, über einen See schwang. Als er über dem Wasser war, ließ er das Tau los. Seine weite orangerote Badehose flatterte, und er zappelte wie wild mit den Beinen, als wollte er wieder zurück. Vielleicht landete er nie im Wasser. Wir waren an ihm vorbei, bevor ich es sehen konnte.
Das mit dem Feuer war so: Wir bauten Mist, und wir wurden erwischt.
An dem Abend, als die ganze Sache anfing, hatten Dad und Carlie mal wieder ihren üblichen Streit, wie in letzter Zeit öfter. Während ich in meinem Zimmer auf Dottie, Glen und Bud wartete, verfolgte ich das Hin und Her. Unser Haus war klein, sodass ich von meinem Zimmer aus fast alles hören konnte, was im Elternschlafzimmer gesprochen wurde. Das Problem war, dass Daddy, der ruhende Anker der Familie, es hasste, irgendwohin zu fahren, während Carlie, die Rastlose, das Reisen liebte. Sie und Patty fuhren einmal im Jahr ein Stück die Küste hinauf, aber sie wollte, dass Daddy mit uns als Familie verreiste.
Daddy sagte: »Warum versuchst du immer wieder, mich zu ändern?«
»Weil wir jeden verdammten Tag dasselbe tun. Aufstehen, essen, arbeiten, essen, schlafen und wieder aufstehen. Lass uns doch mal was tun, was wir noch nie getan haben. Irgendwohin fahren, wo wir noch nie gewesen sind.«
»Ich tue gar nicht jeden Tag dasselbe«, wandte Daddy ein.
»Stimmt. Dienstags und donnerstags trägst du ein anderes Hemd. Hör mal, Schatz, es muss ja nichts Teures sein, und ich habe ein bisschen Trinkgeld gespart.«
»Ich muss das Haus streichen. Und das von Ma auch. Und ich muss das Holz reinholen. Jetzt ist der falsche Zeitpunkt. Wir fahren nächsten Sommer, versprochen. Irgendwie kriegen wir das schon hin.«
»Ach, Leeman, es wird immer der falsche Zeitpunkt sein. Warum tun wir’s nicht einfach?«
Ein lautes Klopfen an meiner Zimmerwand ließ mich zusammenzucken. Ich wartete einen Moment ab, ob meine Eltern es gehört hatten. Doch sie redeten weiter, und so schob ich das Fliegengitter hoch und schwang mich aus dem Fenster. Glen, der von uns vieren bisher am größten war, reckte sich und zog das Gitter wieder herunter, damit keine Mücken ins Zimmer kamen.
»Los, gehen wir«, sagte Bud. Wir schlichen über den ausgetretenen Pfad, der hinter unserem Haus entlang und zum Wald hinauf führte. Am Waldrand kletterten wir über die Cheeks, einen großen weißen Felsen, der in der Mitte durchgebrochen war. Dann knipste Bud seine Taschenlampe an, und wir marschierten hinter ihm her, ich als Erste, danach kam Dottie, Glen bildete die Nachhut.
Wir waren alle elf Jahre alt, allerdings wurde Bud im November zwölf. Wir waren mehr oder weniger zusammen aufgewachsen, da unsere Häuser sich dicht an dicht an die Granitfelsen von The Point schmiegten und unsere Familien seit Generationen hier draußen fischten. Wir kannten uns also ziemlich gut, aber im Sommer 1963 herrschte eine seltsame Rastlosigkeit und Befangenheit unter uns. Auf Dotties breiter Brust zeichneten sich kleine Hügel ab, Glens Badehose beulte sich vorne aus, und auf Buds Oberlippe sprossen ein paar braune Haare. Obwohl sich bei mir nichts Nennenswertes tat, fühlte ich mich genauso merkwürdig wie die anderen. Es gab Launen und Ausbrüche, jemand stapfte schon mal wütend davon, und die Blicke zuckten hin und her wie Elritzen, die nicht gefressen werden wollten.
So schlich unsere seltsame Viererbande hinter dem tanzenden Lichtstrahl einer Taschenlampe durch den Wald des Naturschutzgebietes. Wanderpfade schlängelten sich durch dichte Kiefern- und Fichtenhaine und führten zu zerklüfteten Klippen, gegen die Tag und Nacht die Brandung hämmerte. An Sommertagen wimmelte es hier von Familien, die an den einfachen Holztischen ein Picknick abhielten, auf dem kleinen Spielplatz spielten und Wanderungen unternahmen. Nachts war ich noch nie hier gewesen, und ich fand es unheimlich. Die Geister der Picknicker und Wanderer streiften die Härchen an meinen Armen. Spuren von Glück und Trauer und anderen, äußerst sonderbaren Gefühlen machten mich zappelig. »Ganz schön gruselig, was?«, flüsterte Dottie.
Unsere Schritte machten dumpfe Geräusche auf dem harten Boden. Glens Turnschuhe quietschten wie alte Scharniere, und mein einer Knöchel knackte laut. Als direkt vor Buds Füßen ein schwarzer Schatten entlanghuschte, blieb er abrupt stehen. Dottie lief mit so viel Schwung in mich hinein, dass ich ihn umwarf und auf ihn drauffiel. Er schlug wie ein Wilder um sich, während ich versuchte, mich aufzurichten. Schließlich packte Glen mich und half mir hoch. Bud stand auf und klopfte sich die Erde von Hemd und Shorts. »Rück mir nicht so auf die Pelle, verdammt noch mal«, knurrte er mich an.
»Bleib du nicht so plötzlich stehen«, entgegnete ich. »Außerdem solltest du mehr essen. Ich dachte, ich wäre auf einem Skelett gelandet.«
Dottie schob mich zwischen sich und Glen. »Jetzt habt ihr beide einen Puffer.«
Wir setzten uns wieder in Bewegung, und kurz darauf fiel der Lichtstrahl von Buds Taschenlampe auf eine Abzweigung, die so von Büschen verdeckt war, dass man sie kaum bemerkte. Dieser Pfad führte zu den großen privaten Sommerhäusern. Wir waren ihn schon mal im Winter gegangen, als das Naturschutzgebiet verlassen und die Häuser verriegelt waren, aber noch nie im Sommer, und erst recht nicht nachts.
Wir wollten bloß ein paar Feuerwerksknaller in die Luft jagen. Uns in die Nähe einiger Häuser schleichen, die Böller anzünden, und dann nichts wie weg. Das Ganze war Glens Idee gewesen. Seinem Vater, Ray Clemmons, gehörte der Laden oben an der Straße, wo die Leute aus The Point und der Gegend drum herum, die Touristen und die Besitzer der Sommerhäuser einkauften. Manchmal hatte Ray auch Sachen in seinem Lager, die nicht ganz legal waren. Aber der hiesige Sheriff war Parker Clemmons, Rays Bruder und Glens Onkel, und so landeten jeden Sommer ein paar Kisten mit Feuerwerkskörpern und Knallern in Rays Hinterzimmer. Das meiste davon war nach dem 4. Juli verschwunden, bis auf ein paar Kartons, die Ray für das große Grillfest am Ende des Sommers aufhob.
Und in diesem Jahr hatte Glen sich einen Karton mit Knallern unter den Nagel gerissen.
»Wie wär’s, wenn wir den Sommerhäusern einen nächtlichen Besuch abstatten«, hatte er gemeint, »und ihnen ein bisschen Feuer unterm Hintern machen?«
»Spinnst du?«, hatte Bud entgegnet. »Wenn wir erwischt werden, gibt’s eine Tracht Prügel. Warum sollen wir uns mit denen anlegen? Die sind die, und wir sind wir. Und das ist auch besser so.« Damit hatte er nicht unrecht, aber trotzdem marschierte er jetzt mit uns durch den Wald.
Der Pfad wand sich zwischen Bäumen hindurch, die so dicht standen, dass man selbst am Tag von unten den Himmel nicht sehen konnte. Ich bekam eine Gänsehaut bei der Vorstellung, ein Fischermarder könnte von einem Ast herunterspringen und seine Zähne und Krallen in meinen Kopf bohren. Ich hatte gehört, dass Fischermarder ihre Beute zerfleischten und dann die Knochen ausspuckten. Doch als plötzlich Gelächter zu uns herüberklang, zersprangen meine Ängste wie Glas. Zwischen den Bäumen schimmerten die Lichter eines Sommerhauses hindurch, und Bud schaltete die Taschenlampe aus.
Ich hatte nie verstanden, warum die Leute von Sommerhäusern sprachen. Es waren regelrechte Schlösser mit makellosen Rasenflächen, die bis hinunter ans Wasser reichten, mit eigenen Anlegern, eigenen Buchten und eigenen, rohrzuckerfarbenen Stränden. Manchmal sahen wir ein paar von den Leuten, denen diese Häuser gehörten, in Rays Laden. Sie redeten ganz anders als wir. Die Frauen trugen limonengrüne Röcke und Flechttaschen mit Walen drauf, die Männer alte, ausgeblichene Hemden und Hosen, die immer gebügelt aussahen. Ihre gebräunten, blaublütigen Füße steckten in weichen Mokassins. Den ganzen Sommer über kauften sie tonnenweise Hummer und andere Lebensmittel, was die Männer von The Point natürlich freute. Aber wie Bud schon gesagt hatte, die waren die, und wir waren wir, und wir lebten in verschiedenen Welten.
Doch jetzt, als wir uns in die Einfahrt dieses feudalen Schindelhauses hockten, dessen Turm sich in den Nachthimmel reckte, waren wir ganz kurz davor, gegen die Regeln zu verstoßen, die unsere Väter und deren Väter aufgestellt hatten. Das Haus war rundum von einer Veranda umgeben, von der Frauenstimmen herüberklangen, auf- und absteigend wie Möwen, die ein Fischerboot umschwärmen, während die der Männer verhalten grollten wie ferner Donner.
Glens schwarze Augen funkelten im Lichtschein. »Klasse. Sie sind alle hier. Der Platz unter der Veranda ist groß genug, um drunterzukriechen. Wir verteilen die Knaller, zünden sie an, verstecken uns wieder hier und sehen zu, wie das Chaos ausbricht, wenn die Dinger hochgehen.«
»Da sind zu viele Leute«, sagte Bud. »Wir werden bestimmt erwischt.«
»Die machen so viel Krach, die hören uns gar nicht«, sagte ich. »Außerdem klingen sie, als wären sie betrunken.«
»Stimmt genau«, sagte Glen. »Florine, wir beide schleichen uns von rechts an, Bud und Dottie von links. Wir treffen uns unter der Veranda. Steckt die Kerzen zwischen die Knaller, zündet sie an, und dann nichts wie weg.«
Die Scharniere der Hintertür quietschten.
»Da kommt jemand«, zischte Dottie. Wir duckten uns und spähten zwischen den Büschen hindurch.
Ein großer, dünner Mann mit Glatze stieg die Stufen hinunter und kam leicht schwankend auf uns zu.
Bud und ich kauerten vor Dottie und Glen. Als die beiden zurückwichen, um uns den Fluchtweg frei zu machen, knackte ein Zweig unter Dotties Fuß. »Mist«, fluchte sie leise.
Der Mann blieb stehen. »Wersda?«, rief er lallend. Bud und ich konnten nicht mehr entkommen, ohne dass er uns hörte, also machten wir uns so klein wie möglich. Die Schritte des Mannes knirschten über den Kies und hielten direkt vor uns an. »Kuckuck!«, rief er und kicherte wie ein Mädchen.
Ein paar Sekunden vergingen, bevor er zu singen begann. »You’d never know it, but I’m a kind of poet.« Das Ratschen eines Reißverschlusses. Dann traf mich ein warmer Strahl Pisse auf Kopf und Rücken. Die Angst, erwischt zu werden, war größer als der Ekel, also hielt ich still. Schließlich schwenkte er hinüber zu Bud. Bud ergriff meine Hand und drückte sie. Es dauerte ewig. Endlich hörte der Kerl auf und zog seinen Reißverschluss wieder zu.
»Hadley?«, rief eine Frau vom Haus herüber.
»Ist ja gut, du alte Schachtel, ich hau schon nicht ab«, brummelte er. Wieder knirschten seine Schritte über den Kies, dann quietschte die Hintertür und fiel mit einem Klicken ins Schloss.
Bud stand auf und zerrte sich die Sachen vom Körper, bis er nur noch in seiner weißen Unterhose dastand. »Oh Mann«, sagte er. »Verdammter Mist.« Er wrang sein Hemd und seine Shorts aus, und da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, zog er sie wieder an. Ich wand mich aus meiner Bluse, wischte mir mit der trockenen Vorderseite den Kopf ab, so gut es ging, und zog sie ebenfalls wieder über.
Glen und Dottie lachten, dass das ganze Gebüsch bebte.
»Haltet die Klappe«, sagte Bud. »Lasst uns nach Hause gehen.«
Wieder quietschte die Hintertür, und wir gingen in Deckung.
Ein blonder Junge schloss die Tür, sprang die Treppe hinunter und überquerte die Einfahrt. Vor unserem Versteck blieb er stehen und flüsterte: »Ich weiß, dass ihr da drin seid.«
»Na toll«, sagte Bud und stand auf. Nach kurzem Zögern folgten wir seinem Beispiel.
»Ich habe euch vom Turm aus gesehen«, sagte der Junge. »Was macht ihr hier? Spionieren?«
»Schauen, was hier zu holen ist«, erwiderte Glen.
»Meine Güte, Glen«, sagte Bud. »Nein, natürlich nicht.«
Ich musterte den Jungen. Er hatte ein hübsches Gesicht. Seine Augen waren trotz der blonden Haare dunkel. Seine Finger bewegten sich unruhig, und auch die langen, dünnen Beine hielten keinen Moment still.
»Nein, im Ernst«, sagte er. »Was habt ihr vor?«
»Na los, erzählen wir’s ihm«, sagte ich. »Was anderes bleibt uns doch eh nicht übrig.«
»Es sei denn, wir schlagen dich zu Brei und lassen dich hier in der Einfahrt verbluten«, sagte Glen zu dem Jungen. »Und glaub ja nicht, dass wir das nicht könnten.«
Der Junge zuckte die Achseln. »Schon möglich, aber vorher würde ich schreien.«
Glen schnaubte. »Meinst du, die hören dich, bei dem Krach?«
»Ich weiß, wer du bist«, sagte der Junge zu Glen. »Du arbeitest in dem Laden unten an der Straße.« Er sah zu Bud. »Und du arbeitest auf einem Hummerboot.« Dann zu Dottie. »Dich hab ich auch schon gesehen.« Dann zu mir. »Ich bin Andy Barrington.«
»Und ich Florine Gilham«, sagte ich.
»Nett, dich kennenzulernen.«
»Na fein«, brummte Bud. »Nachdem wir das geklärt haben, können wir ja jetzt gehen.«
Glen sah ihn fragend an. »Du meinst, wir … machen nicht, was wir vorhatten?«
»Was hattet ihr denn vor?«, fragte Andy.
»Wir wollten unter der Veranda ein paar Knaller zünden«, sagte Glen.
»Echt?« Andys Augen begannen zu funkeln. »Das klingt doch prima.«
»Ich bin dabei«, sagte ich.
»Ich auch«, sagte Dottie. »Wo wir schon mal hier sind.«
Wir alle sahen Bud an. Er schüttelte den Kopf, dann sprintete er plötzlich ohne Vorwarnung über die Einfahrt und verschwand um die Hausecke. Andy und ich folgten ihm, und zu dritt krochen wir unter die Veranda. »Wenn ich mich noch mal auf eine von Glens Ideen einlasse, erschießt mich«, knurrte Bud. Er nahm eine Handvoll Knaller aus seiner Tasche, legte sie auf einen Haufen, steckte ein paar blaue Minikerzen hinein und murmelte: »Alles Gute zum Geburtstag!«
Glen und Dottie zwängten sich von der anderen Seite unter die Veranda. »So war das aber nicht geplant«, sagte Glen leise zu Bud.
»Sein Aufkreuzen war auch nicht geplant.« Bud wies mit dem Kopf auf Andy, der neben mir auf der Erde hockte. »Los, bringen wir’s hinter uns.«
Glen häufte seine Knaller auf, dann krochen er und Bud mit den restlichen Böllern weiter in die Mitte, bis schließlich vier stattliche Haufen bereitlagen. Über uns knarzte der Holzboden, und die Stimmen wurden immer lauter. Andy sagte: »Ich habe Streichhölzer. Braucht ihr welche?«
»Die haben wir selbst«, sagte Glen. »Florine, Dottie, Bud, bringt euch in Position.« Jeder von uns hockte sich vor einen der Haufen, dann sagte Glen: »Eins – zwei – drei«, und wir zündeten unsere Kerzen an. Dottie war als Erste fertig. Sie kroch hinaus und rannte davon, Bud und ich gleich hinterher. Wir liefen bis zum Waldrand und warteten auf Glen. Aber er kam nicht.
»Wo zum Teufel bleibt der Kerl?«, sagte Dottie.
Der erste Haufen explodierte. Der Lärm war sogar noch lauter, als ich gedacht hatte. Es krachte und knallte, und die Leute flüchteten kopflos von der Veranda. Dann der zweite Haufen.
Plötzlich schlug unter der Veranda eine Flamme hervor, und Glen, der sich die Hand hielt, kam auf uns zugerannt.
Von der Rasenfläche rief ein Mann: »Da ist er!«, und machte sich an die Verfolgung. Dottie sprang hektisch auf und stieß mich beiseite, sodass ich mitten in der Einfahrt landete. Bud packte mich und zerrte mich zurück in die Büsche. Glen stürmte an uns vorbei, dicht gefolgt von dem Mann.
»Den Gartenschlauch, los, holt den Gartenschlauch«, rief jemand. Ein paar Männer schnappten sich den Schlauch, der an der Seite des Hauses hing, und löschten das Feuer, das am Geländer emporzüngelte. Bläulicher Rauch lag in der Luft. Dann explodierte der dritte Haufen, und die Leute wichen erschrocken zurück.
Der Mann, der hinter Glen hergerannt war, kam wieder aus dem Wald. Ein anderer Mann ging ihm entgegen. »Ist er dir entwischt?«, fragte er. »Hast du ihn erkannt?«
»Ja, es war der Junge aus dem Laden. Aber ich glaube, er war nicht allein. Wahrscheinlich ein paar Fischerkinder. Ich rufe den Sheriff.« Er spuckte auf den Rasen. Sein Haar war blond, wie das von Andy. Die beiden gingen zum Haus zurück. Als der vierte Haufen explodierte, rannten Bud und ich, als wäre der Teufel hinter uns her. Im zuckenden Strahl der Taschenlampe liefen wir bis zum Waldrand bei den Cheeks, wo Dottie auf der Erde saß und ihren rechten Knöchel massierte. Glen lehnte mit schmerzverzerrtem Gesicht an einem Baum, die eine Hand unter die Achsel geklemmt, und stöhnte.
»Oh Mann«, ächzte er. »Ich hab mich übel verbrannt.«
»Lass mal sehen«, sagte ich. Bud hob die Taschenlampe, und Glen hielt seine Hand in den Lichtstrahl. An seinem Handgelenk hatten sich bereits Blasen gebildet. »Du brauchst Hilfe.«
»Ich brauche vor allem erst mal eine Ausrede«, sagte Glen.
»Die wissen sowieso, dass du das Feuer gelegt hast«, sagte ich.
»Aber das hab ich ja gar nicht!«, protestierte Glen. »Andy, dieser Blödmann, hat einen der Knaller mit der Kerze angezündet, und als das Ding anfing zu zischen, hat er die Kerze weggeworfen und ist davongerannt.«
»Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause«, sagte Bud. »Wir müssen vor Parker da sein.«
Aber wir kamen zu spät. Als wir über die Cheeks kletterten und den Pfad hinunterliefen, wartete der Sheriff bereits mit unseren Eltern im Garten hinter unserem Haus.
Parker verschwand mit Glen und Ray. Bud und Dottie wurden von ihren Eltern nach Hause geschleift. Ich blieb allein mit Daddy und Carlie zurück.
»Was zum Teufel habt ihr euch bloß dabei gedacht?«, sagte Daddy.
»Wie bist du denn so nass geworden?«, fragte Carlie und befühlte mein T-Shirt. Dann schnupperte sie an ihrer Hand. »Hast du dich in Pisse gewälzt?«, fragte sie. »Lee, riech mal an ihr.«
»Nicht nötig, sie stinkt bis hierher«, sagte Daddy. »Diesmal gibt’s wirklich Ärger, Florine.«
Nachdem Carlie die Pisse aus meinen Haaren gewaschen und meine Kleider weggeworfen hatte, setzten wir uns alle an den Küchentisch.
»Muss ich jetzt ins Gefängnis?«, fragte ich.
»Wär vielleicht das Beste«, meinte Daddy.
»Jag ihr keine Angst ein«, sagte Carlie. »Außerdem würde ich das niemals zulassen.«
Am nächsten Morgen bildeten wir eine Karawane und fuhren zu dem Sommerhaus, um uns zu entschuldigen: Sam und Ida Warner mit Bud, Bert und Madeline Butts mit Dottie, Ray Clemmons mit Glen (seine Mutter lebte in Long Reach und ließ sich nur selten blicken) und wir Gilhams. Unsere Väter hatten Regeln aufgestellt. Wir durften uns nicht ansehen. Wir mussten geradeaus blicken, den Mund halten und durften nur reden, wenn wir etwas gefragt wurden, abgesehen von der Entschuldigung, die jeder Einzelne von uns an Mr. Barrington, den Besitzer des Hauses, zu richten hatte. Und die sollte tunlichst überzeugend klingen.
Mit dem Auto war der Weg wesentlich weiter; wir mussten ein Stück über die Landstraße fahren und dann noch über einen holprigen Feldweg, bevor wir schließlich in der Einfahrt hielten, neben der wir uns am Abend zuvor versteckt hatten. Wir stiegen aus, und Ray klopfte an die Hintertür.
Eine Frau, deren Haut die Farbe von Grands Kirschholzkommode hatte, öffnete die Fliegengittertür. Sie trug ein Namensschild mit der Aufschrift »Louisa«. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit ihren schokoladenbraunen Lippen.
»Wir sind mit unseren Kindern gekommen, um uns bei Mr. Barrington zu entschuldigen«, sagte Daddy.
Louisa kam die Stufen herunter und musterte uns wie übrig gebliebenen Fisch vom Vortag. »Ihr wart das also?« Sie runzelte die Stirn. »Kommt mal mit.« Wir trotteten im Gänsemarsch um das Haus herum, bis wir vor dem Geländer standen, das Feuer gefangen hatte. Es war verkohlt, ebenso wie die Einfassung eines Fensters und ein Teil der Holzschindeln darüber.
Louisa deutete auf ein Gewirr aus verdorrten Blättern und Zweigen. »Seht euch an, was ihr mit Mrs. Barringtons Rosenstrauch gemacht habt. Er hatte wunderschöne, große, gelbe Blüten. Sie hat diesen Strauch geliebt. Und jetzt ist er hin. Wie wollt ihr das wiedergutmachen?«
»Wir würden gern mit Mr. Barrington sprechen«, sagte Daddy.
»Sagen Sie ihm einfach nur, dass wir hier sind«, fügte Ray hinzu.
»Keine Sorge, das werd ich tun«, brummte Louisa und verschwand im Haus.
»Jesses«, sagte Ray zu Glen. »Das wird ’ne Stange Geld kosten.«
Glen murmelte etwas.
»Ach, halt den Mund«, sagte Ray.
Mr. Barrington kam über die Veranda nach draußen, gefolgt von Andy. Er war groß gewachsen und hatte ebenso blondes Haar und dunkle Augen wie sein Sohn, aber obwohl er ein gut aussehender Mann war, wirkte sein Gesicht, als könne es blitzartig von Sonnenschein auf Gewitter wechseln. Andy hielt den Kopf gesenkt. Er spielte nervös mit den Fingern, während er neben seinem Vater stand.
»Guten Morgen«, sagte Mr. Barrington mit tiefer, ruhiger Stimme. Dann trat er einen Schritt zurück und musterte uns. Da ich die Erste in der Reihe war, stieß Daddy mich nach vorn.
»Hast du Mr. Barrington etwas zu sagen?«
Ich starrte auf einen Punkt auf Mr. Barringtons Brust und murmelte: »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«, fragte er. Überrascht hob ich den Blick und sah ihn an. Ich hatte nicht mit einer Frage gerechnet. Seine dunklen Augen waren jetzt wie zwei Dolche.
»Na ja, dass wir hergekommen sind oder so.«
»Oder so?«
»Es tut mir ehrlich leid, dass wir hergekommen sind.«
Carlie drückte meine Schulter und sagte mit Nachdruck: »Sie ist wirklich ein artiges Kind, meistens jedenfalls.«
Mr. Barrington lächelte spöttisch und wandte sich dem Nächsten zu. Carlies Griff um meine Schulter wurde fester.
Dottie sagte laut und vernehmlich, dass es ihr leidtat, und fügte noch ein »Sir« hinzu.
Bud nuschelte etwas, und Sam, sein Vater, forderte ihn auf, es zu wiederholen.
Zu Glen sagte Mr. Barrington: »Wie geht es deiner Hand?«
»Schon besser«, murmelte Glen. »Es tut mir leid.«
»Er hatte nichts Böses im Sinn«, sagte Ray. »Manchmal denkt er einfach nicht nach.«
»Vielleicht sollte er mal über die Reparaturkosten nachdenken«, sagte Mr. Barrington.
»Die vier haben für den Rest des Sommers Ausgangsverbot«, verkündete Sam.
Mr. Barrington nickte. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Wir sind immer gute Nachbarn gewesen. Ich werde Ihnen Bescheid geben, was die Versicherung meint, und dann finden wir schon eine Lösung.«
»Einverstanden«, sagte Daddy.
Andy sah zu mir herüber, und ich funkelte ihn verächtlich an. Er wandte den Blick zum Wald ab und kratzte sich am Kopf. Hoffentlich hatte er eine Zecke, die sich in seinen Schädel fraß.
»Wir können froh sein, dass er keine Anzeige erstattet«, sagte Daddy, während wir in unserem Pick-up über den Feldweg holperten.
Carlie schlang den Arm um mich. »Meine kleine Verbrecherin«, flüsterte sie.
Als Mr. Barrington die Rechnung schickte, zahlte Daddy seinen Anteil.
»Falls wir irgendwelches Geld für eine Reise übrig hatten, ist es jetzt endgültig weg«, sagte er zu Carlie.
»Das ist nur wieder eine von deinen faulen Ausreden«, erwiderte sie.
Am Donnerstag, dem 1. August, ging Carlie wieder in den Lobster Shack. »Ich hab heute eine Doppelschicht«, sagte sie zu mir. »Geh zum Mittagessen zu Grand.« Als sie weg war, blieb ich im Wohnzimmer sitzen, aß meine Cornflakes und sah mir The Match Game an.
Als Dottie vor dem Fenster auftauchte, schob ich das Fliegengitter hoch und half ihr beim Reinklettern. Mit einem breiten Grinsen ließ sie sich auf den Fußboden plumpsen.
Sie erzählte mir, dass ihre Mutter mit ihrer kleinen Schwester Evie in die Stadt gefahren war. »Ich kann nicht lange bleiben. Wenn sie mitkriegt, dass ich weg bin, gibt’s einen Riesenärger. Sie ist echt stinksauer. In der ersten Woche musste ich morgens das Haus putzen, und nachmittags hat sie mich auf mein Zimmer verbannt. Ich hab gedacht, ich verlier noch den letzten Rest Verstand, und davon hab ich eh nicht so viel.«
Sie berührte mich an der Schulter, und ich zuckte zusammen. »Wo hast du dir denn den Sonnenbrand eingefangen?«, fragte sie.
»Ich war neulich mit Carlie am Strand.«
»Das nenne ich mal ’ne harte Bestrafung«, sagte Dottie. Wir setzten uns aufs Sofa.
»Das Schlimmste ist, dass wir uns noch vier Wochen nicht sehen dürfen«, sagte ich.
»Stimmt.«
Ich erzählte Dottie von Schiefzahn-Mike.
»Sah er aus wie ’n Schleimer?«, fragte sie.
»Ja, er hatte so fettiges Zeug in den Haaren.«
»Hm, das ist komisch«, sagte Dottie. »Vielleicht war es nicht derselbe Typ, aber vor ein paar Wochen war jemand mit genauso ’nem Zahn bei uns und hat gefragt, wo Leeman wohnt. Wollte angeblich Hummer bei ihm kaufen. Mein Vater hat ihm dann stattdessen welche verkauft.«
»Hat Bert ihm gesagt, wo wir wohnen?«, fragte ich.
»Nein. Er hat nur gemeint, er würde Leeman sagen, dass ihm ein Geschäft durch die Lappen gegangen ist. Die beiden haben gelacht, Dad hat ihm ein paar Hummer geholt, und dann ist der Typ wieder gegangen. Sag mal, hast du was zu essen da?«
Als wir beide vor dem offenen Kühlschrank standen, schwang plötzlich mit lautem Quietschen die Fliegengittertür auf. Ich zuckte vor Schreck zusammen. »Jesses!«
»Sofern Jesus nicht in dem Kühlschrank ist, solltest du dich bei ihm entschuldigen«, sagte Grand.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Das sollte es auch. Schließlich ist er für deine Sünden gestorben.« Ihr Blick fiel auf Dottie. »Ich nehme mal an, ich habe dich hier nicht gesehen, Dorothea?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Dottie und verschwand wie ein geölter Blitz.
»Du musst mal mit rüberkommen«, sagte Grand. »Ich bin dabei, Brot für das Bohnenessen morgen Abend zu backen, und da brauche ich deine Hilfe.« Damit marschierte sie aus dem Haus, und ihr breiter Hintern schwang von Seite zu Seite, während ich hinter ihr hertrottete.
Ich nannte sie Grand, weil sie wirklich groß war, in jeder Hinsicht. Sie maß einen Meter fünfundsiebzig und hatte das, was die Leute »kräftige Knochen« nennen. Sie hatte mich auf ihren breiten Hüften herumgetragen, bis sie sicher war, dass ich laufen konnte, ohne mich umzubringen.
Ihr Haus war das älteste von The Point. Es stand einzeln auf einem Felsvorsprung schräg gegenüber unserer Einfahrt. Daddy hielt das Meer und das Wetter im Zaum, indem er das Haus fast jedes Jahr neu anstrich, die Wände weiß und die Fensterläden grün. Neben dem Haus war ein Garten mit Blumen, Obst und Gemüse. Zum Wasser hin neigte sich eine zwanzig Meter breite Rasenfläche bis zum Felsrand, und darunter ging es sechs oder sieben Meter steil hinunter zum Ufer. An der Seeseite war eine verglaste Veranda, von der aus man beobachten konnte, welche Boote rausfuhren und wieder reinkamen. Die große Küche ging nach Süden raus, und durch die beiden Fenster sah man zu unserem Haus hinüber. Im oberen Stock waren zwei Schlafzimmer und das Bad, und von der Diele kam man in ein gemütliches Wohnzimmer.
Am Ende der Diele stand eine Vitrine aus Mahagoni, in der Grand ihre Geschirrsammlung aus rubinrotem Glas aufbewahrte: eine Karaffe, Gläser, Tassen und Untertassen, kleine Schälchen für Gebäck oder Mixed Pickles und noch alles Mögliche andere. Viermal im Jahr nahmen Grand und ich jedes einzelne Teil heraus, wuschen es vorsichtig, trockneten es ab und stellten es zurück in die sorgfältig gewachste und polierte Vitrine. Mein Lieblingsstück war ein kleines rotes Glasherz, das genau in der Mitte lag. Mein Großvater Franklin hatte es Grand zur Hochzeit geschenkt. Grand hing sehr an diesem Herz. Als Daddy zehn Jahre alt gewesen war, hatte Franklin bei einem Abendessen mit Freunden einen Herzinfarkt gehabt und war tot umgefallen.
An Sommertagen saßen wir oft in den Schaukelstühlen auf der Veranda, ich trank eine Brause und las eine Geschichte aus einem der Hardy-Boys-Bücher meines Vaters. Die Bücher waren so alt, dass die Würmer sich an einigen Stellen quer hindurchgefressen hatten. Wenn ich die Bücher schräg hielt und schüttelte, rieselten vertrocknete Wurmreste heraus.
Doch an diesem Tag war keine Zeit zum Lesen. Grand musste Brot backen, und sie schien fest entschlossen zu sein, es mir ebenfalls beizubringen. Ich wickelte mir die Bänder einer Blümchenschürze zweimal um den Bauch und schnürte sie zu, dann stellte ich mich an den alten hölzernen Küchentisch, der so groß war, dass zehn Leute daran sitzen konnten. Der starke Hefegeruch, der aus der riesigen senfgelben Brotschüssel drang, ließ mich zurückweichen.
»Was soll ich tun?«, fragte ich und versuchte, nicht zu atmen.
»Der Teig ist schon zweimal gegangen«, sagte sie. »Drück die Luft raus, streu etwas Mehl auf den Tisch und knete ihn kräftig durch. Dann klopf ihn flach, roll ihn wieder zusammen und knete ihn zu einem Laib. Leg ihn in eine von den Formen und stell das Ganze auf die Fensterbank.«
Bei der Vorstellung, diesen aufgeblähten, fettigen Teigkloß anfassen zu müssen, drehte sich mir der Magen um, aber ich tat, was sie mir gesagt hatte, und pikste mit dem Finger in die bleiche Kugel. Die Hefegase zischten heraus wie ein leiser Furz.
»Heiliger Strohsack«, sagte Grand. »Das ist bloß Teig, Florine. Stell dich nicht so an. Du musst kräftig zupacken. Pass auf, ich zeig’s dir.«
Sie stieß ihre kräftige Faust in den Teig, drückte und zog, schlug und knetete, formte ihn und ließ den Laib in eine Form gleiten. Dann breitete sie ein Geschirrtuch darüber und stellte die Form auf die sonnige Fensterbank, wo bereits vier weitere standen.
»Die Sonne gibt ihnen Kraft«, sagte sie. »Und jetzt beeil dich. Sie sollen ja gemeinsam gehen.«
Beim nächsten Teig gab ich alles, schlug und knetete, so fest ich konnte. Als ich meine zweite Form auf die Fensterbank stellte, packte sie mir schon den dritten Teigkloß auf den Tisch.
Wir schwitzten wie verrückt. Bevor Carlie zur Arbeit gegangen war, hatte sie mir die Haare zu zwei straffen Zöpfen gebunden, die nicht mal ein Sturm zerzaust hätte, aber Grands feine weiße Strähnen, die sie hochgesteckt hatte, hatten sich beinahe gelöst. Wenn ich sie ansah, wurde mir noch heißer.
»Kannst du mir sagen, warum ich mich bereit erklärt habe, das hier zu machen, Florine?«
Ich wusste, warum. Stella Drowns hatte uns in Rays Laden gesehen und festgenagelt. Stella wohnte in einem kleinen Apartment über dem Laden. Sie machte die Kasse, löste Krabbenfleisch aus und erledigte alle möglichen anderen Dinge, für die Ray keine Zeit hatte.
Sie war schmal und blass, mit einem Kissen aus schwarzem Haar, das glänzte wie eine nasse Miesmuschelschale. Sie trug roten Lippenstift und Wimperntusche und lackierte sich die Nägel an ihren langen Fingern. Ihre hellgrauen Augen waren schwarz umrandet. Eigentlich war sie hübsch, bis auf eine lange Narbe, die quer über ihre Wange lief und bis unters Kinn reichte.
Ich hasste sie, weil sie gemein zu Carlie war. Vor Carlie hatte Daddy sich jahrelang immer wieder mal mit Stella getroffen. Angeblich war Stella der Geduldsfaden gerissen, weil er ihr keinen Heiratsantrag machte, und sie hatte The Point verlassen, um zu sehen, ob er ihr nachlaufen würde. Das hatte er nicht getan, Carlie war aufgetaucht, und als Stella sich zur Rückkehr entschloss, waren die beiden schon verheiratet gewesen.
Einmal, ich war damals sieben, waren Carlie, Madeline, Dottie und ich zusammen von Rays Laden nach Hause gegangen. Während Dottie und ich an einem Riegel Turkish Taffy herumkauten, unterhielten sich Carlie und Madeline, die mit den Einkaufstüten auf dem Arm hinter uns hergingen. Carlie sagte zu Madeline: »Ich schwöre dir, diese Frau würde mich am liebsten in Stücke reißen und in alle Winde verstreuen.«
»Was? Wer?«, fragte Madeline.
»Stella«, sagte Carlie. »Wenn sie mich nur ansieht, kriege ich eine Gänsehaut.«
»Ach, nimm dir das nicht so zu Herzen«, sagte Madeline. »Seit dem Unfall ist sie ein bisschen seltsam.«