Hundert Jahre Einsamkeit

Inhaltsverzeichnis

Für Jomí García Ascot und María Luisa Elío

 

 

 

 

Viele vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen. Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern, aus Lehm und Pfahlrohr am Ufer eines Flusses gebaut, dessen glasklares Wasser dahinschoss in einem Bett glatt polierter Steine, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Die Welt war so neu, dass viele Dinge noch keinen Namen hatten, und wer von ihnen sprechen wollte, musste mit dem Finger auf sie zeigen. Jahr für Jahr im Monat März schlug eine zerlumpte Zigeunerfamilie ihr Zelt in Dorfnähe auf und kündigte unter großem Tamtam von Pfeifen und Trommeln die neuesten Erfindungen an. Zuerst brachten sie den Magneten mit. Ein stämmiger Zigeuner mit wildem Bart und den Krallen eines Sperlings stellte sich als Melquíades vor und schritt zur schauerlichen Vorführung dessen, was er als achtes Weltwunder der weisen Alchimisten aus Mazedonien anpries. Zwei Metallbarren hinter sich her schleifend, zog er von Haus zu Haus, und alle Welt verfiel in Angst und Schrecken, als Kessel, Bratpfannen, Zangen und Kohlebecken von ihrem Platz polterten, Nägel und Schrauben sich verzweifelt aus dem ächzenden Holz zu winden suchten, sogar Langvermisstes gerade dort auftauchte, wo man es am meisten gesucht hatte, und nun alles

Im März kamen die Zigeuner wieder. Diesmal hatten sie ein Fernrohr dabei und eine trommelgroße Lupe, die sie als letzte Entdeckung der Amsterdamer Juden präsentierten.

»Die Erde ist rund wie eine Orange.«

Úrsula verlor die Geduld. »Wenn du wahnsinnig werden musst, dann bitte allein«, schrie sie. »Und wehe du trichterst den Kindern deine Zigeunerideen ein.« José Arcadio Buendía blieb gleichmütig, ließ sich von der Verzweiflung seiner Frau, die in einem Wutausbruch das Astrolabium auf dem Boden zerschmetterte, nicht einschüchtern. Er baute sich ein neues, versammelte die Männer

Melquíades war bestürzend schnell gealtert. Bei seinen ersten Besuchen hatte er ebenso alt wie José Arcadio Buendía gewirkt. Während dieser jedoch sein ungeheuere Kraft bewahrte und immer noch ein Pferd an den Ohren packen und zu Boden werfen konnte, schien den Zigeuner ein hartnäckiges Leiden zu verzehren. In Wirklichkeit handelte es sich um Nachwirkungen vieler seltener Krankheiten, die er sich auf seinen unzähligen Reisen um die Welt zugezogen hatte. Wie er José Arcadio erzählte, während er half, das Labor aufzubauen, war ihm allerorten der Tod auf den Fersen, schnüffelte an seinen Hosen, entschloss sich aber nicht zum letzten Prankenschlag. Melquíades war schon jedweden Seuchen und Katastrophen entkommen, die das Menschengeschlecht heimgesucht hatten. Er überlebte die Pellagra in Persien, den Skorbut auf dem malaiischen Archipel, die Lepra in Alexandrien, Beriberi in Japan, den Schwarzen Tod in Madagaskar, das Erdbeben von Sizilien und einen Schiffbruch mit zahllosen Opfern in der Magellanstraße. Dieses Wunderwesen,

»Das ist der Geruch des Teufels«, sagte sie.

»Keineswegs«, korrigierte Melquíades. »Erwiesenermaßen

Belehrend wie immer, holte er zu einem tiefgründigen Vortrag über die teuflischen Eigenschaften des Zinnobers aus, aber Úrsula hörte nicht zu und führte die Kinder fort zum Beten. Dieser beißende Geruch sollte ihr für immer im Gedächtnis bleiben und verband sich mit der Erinnerung an Melquíades.

Das rudimentäre Labor bestand – neben allerlei Tiegeln, Trichtern, Retorten, Filtern und Sieben – aus einem primitiven Ofen, dem Athanor, einer Phiole mit langem engen Hals, die dem Philosophischen Ei nachgebildet war, und einem Destillator, den die Zigeuner nach den modernen Beschreibungen des Dreihalskolbens von Maria der Jüdin selbst gebaut hatten. Außer diesen Gegenständen ließ Melquíades Proben der sieben Metalle zurück, die den sieben Planeten zugeordnet waren, dazu die Formeln von Moses und Zosimus für die Doppelung des Goldes sowie eine Reihe von Notizen und Zeichnungen über die Prozesse beim Großen Werk, die demjenigen, der sie zu deuten wüsste, einen Weg weisen würden, den Stein der Weisen herzustellen. Verführt von der Einfachheit der Formeln zur Golddoppelung, umgarnte José Arcadio Buendía Úrsula mehrere Wochen lang, sie möge ihm erlauben, ihre aus der Kolonialzeit stammenden Münzen auszugraben und sie so oft zu vermehren, wie das Quecksilber teilbar wäre. Úrsula gab, wie immer, der unbeugsamen Hartnäckigkeit ihres Mannes schließlich nach. So schüttete José Arcadio Buendía dann dreißig Dublonen in eine Kasserolle und schmolz sie mit Kupferspänen, Arsenblende, Schwefel und Blei ein. Er ließ alles über lebhaftem Feuer in einem Kessel Rizinusöl kochen, bis er einen zähen, übel riechenden Sirup erhielt, der eher nach

Als die Zigeuner zurückkehrten, hatte Úrsula den ganzen Ort gegen sie aufgebracht. Doch die Neugier war stärker als die Angst; während die Zigeuner unter ohrenbetäubendem Lärm von allerlei Musikinstrumenten durchs Dorf zogen, kündigte der Ausrufer die Vorführung eines sagenhaften Fundes aus Nazianz an. Also strömten alle zum Zelt und konnten für einen Centavo Eintritt einen jugendlichen Melquíades bewundern, erholt, faltenlos und mit einem neuen, strahlenden Gebiss. Wer sich an sein vom Skorbut zerfressenes Zahnfleisch, seine eingefallenen Wangen und welken Lippen erinnerte, dem schauderte angesichts dieses schlagenden Beweises für die übernatürlichen Kräfte des Zigeuners. Aus der Angst wurde Panik, als Melquíades die Zähne, makellos in Zahnfleisch eingepasst, herausnahm und sie kurz dem Publikum zeigte – ein flüchtiger Augenblick, in dem er wieder zum hinfälligen Greis der vergangenen Jahre wurde –, sie sich dann wieder einsetzte und erneut im vollen Glanz seiner wiederhergestellten Jugend lächelte. Sogar José Arcadio Buendía meinte, dass Melquíades’ Fähigkeiten bedenkliche Grenzen überschritten, erlebte aber eine freudige Überraschung, als der Zigeuner ihm unter vier Augen den Mechanismus seines künstlichen Gebisses erklärte. Der erschien ihm zugleich so einfach und

Anfangs war José Arcadio Buendía so etwas wie ein jugendlicher Patriarch gewesen, der Anweisungen für die Aussaat und Ratschläge für die Aufzucht von Kindern und Tieren gab und sich zum Wohl der Gemeinschaft überall einbrachte, auch bei der körperlichen Arbeit. Da sein Haus von Anfang an das beste im Dorf war, wurden die anderen nach diesem Vorbild geschaffen. Es hatte einen großen, lichtdurchfluteten Wohnraum, eine Terrasse mit farbenfrohen Blumen als Esszimmer, zwei Schlafzimmer, einen Hof mit einem riesigen Kastanienbaum, einen gut bestellten Gemüsegarten und ein Gehege, in dem Ziegen, Schweine und Hühner in friedlicher Gemeinschaft lebten. Verboten war nur die Haltung von Kampfhähnen, sowohl in seinem Haus wie in der ganzen Siedlung.

Úrsula stand ihrem Mann an Arbeitseifer nicht nach. Klein, energisch, streng, schien diese Frau mit den eisernen Nerven, die man zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens hatte singen hören, von morgens früh bis spät in die Nacht überall zu sein, stets gefolgt vom leisen Rascheln ihrer Leinenröcke. Dank ihr waren die Böden aus fest gestampfter Erde, die ungekalkten Lehmwände und die selbst gefertigten rustikalen Möbel stets sauber, und die

José Arcadio Buendía – das Dorf sollte nie einen Mann mit größerem Unternehmungsgeist erleben – hatte die Häuser so angeordnet, dass man von allen leicht den Fluss erreichte und sich mit Wasser versorgen konnte, auch hatte er die Straßen so klug geführt, dass in der größten Hitze kein Haus mehr Sonne als die anderen abbekam. In wenigen Jahren war Macondo ein weit ordentlicheres und arbeitsameres Dorf als alle anderen, die seine dreihundert Einwohner bisher kennengelernt hatten. Es war ein wahrhaft glückliches Dorf, in dem keiner älter als dreißig und noch niemand gestorben war.

Schon in der Gründungszeit hatte José Arcadio Buendía Fallen und Käfige gebaut. Schnell füllte er nicht nur das eigene Haus, sondern auch alle anderen im Dorf mit Trupialen, Kanarienvögeln, Blauracken und Rotkehlchen. Das Konzert der vielen unterschiedlichen Vögel wurde schließlich so betäubend, dass Úrsula sich Bienenwachs in die Ohren stopfte, um nicht den Sinn für die Wirklichkeit zu verlieren. Als Melquíades mit seinem Clan zum ersten Mal kam und Glaskugeln gegen Kopfschmerzen verkaufte, waren alle erstaunt darüber, dass die Zigeuner dieses im schläfrigen Sumpfland verlorene Dorf überhaupt gefunden hatten, worauf diese bekannten, sie hätten sich vom Gesang der Vögel leiten lassen.

Der Geist des gemeinschaftlichen Aufbruchs wich binnen Kurzem dem Fieber der Magneten, den astronomischen Berechnungen, den Transmutationsträumen und dem Verlangen, die Wunder der Welt kennenzulernen. Der unternehmungsfreudige, propere José Arcadio Buendía verwandelte sich in einen Mann, der wie ein Tagedieb aussah, nachlässig gekleidet und mit einem wilden Bart, den

José Arcadio Buendía hatte keine Ahnung von der Geografie der Gegend. Er wusste nur, nach Osten hin lag die undurchdringliche Sierra und jenseits der Sierra die sehr alte Stadt Riohacha, wo in vergangenen Zeiten – wie ihm sein Großvater, der erste Aureliano Buendía, erzählt hatte – Sir Francis Drake einen Sport daraus machte, mit Kanonen auf Kaimane zu schießen, die er dann wieder zusammenflicken und mit Stroh ausstopfen ließ, um sie Königin Elizabeth mitzubringen. In seiner Jugend hatten José Arcadio Buendía und seine Männer mit Frauen und Kindern und Tieren und allem möglichen Hausgerät auf der Suche nach einem Zugang zum Meer die Berge überquert, nach sechsundzwanzig Monaten jedoch das Unternehmen abgebrochen und Macondo gegründet, um nicht den Rückweg antreten zu müssen. Also kam diese Route für ihn nicht infrage, konnte sie doch nur in die Vergangenheit führen. Im Süden lagen die Sümpfe, von einer ewigen Pflanzenhaut bedeckt, und das weite Universum der Ciénaga Grande, der großen Sumpflagune, die nach dem Zeugnis der Zigeuner grenzenlos war. Die Ciénaga verschwamm im Westen mit einer Wasserfläche ohne Horizont, wo zarthäutige Meeressäuger mit dem Kopf und dem Oberkörper einer Frau lebten und mit dem Zauber ihrer ungeheuren Brüste den Seefahrern zum Verhängnis wurden. Die Zigeuner befuhren sechs Monate

In den ersten Tagen stießen sie auf kein nennenswertes Hindernis. Sie wanderten flussabwärts das steinige Ufer entlang bis zu der Stelle, an der sie Jahre zuvor die Ritterrüstung gefunden hatten, und drangen dort auf einem Pfad zwischen wilden Orangenbäumen in den Urwald ein. Nach der ersten Woche erlegten sie einen Hirsch und brieten ihn, begnügten sich aber mit der Hälfte des Fleisches und salzten den Rest für die kommenden Tage ein. Mit dieser Vorkehrung wollten sie den Zeitpunkt hinausschieben, an dem sie wieder Guacamayas essen mussten – das blaue Papageienfleisch schmeckte streng nach Moschus. Dann sahen sie zehn Tage lang die Sonne nicht. Der Boden wurde feucht und weich wie Vulkanasche, immer heimtückischer die Vegetation, immer ferner klangen die Vogelschreie und das Kreischen der Affen, und die Welt wurde auf immer traurig. In diesem Paradies der Feuchtigkeit und Stille vor dem Sündenfall, wo die Stiefel in dampfenden Öllachen versanken und die Macheten blutige Lilien und goldene Salamander zerfetzten, wurden die Männer der Expedition von ihren ältesten Erinnerungen eingeholt. Eine Woche lang rückten sie, fast ohne zu sprechen, wie Schlafwandler durch ein Universum der Schwermut vor, beleuchtet nur vom schwachen

Der Fund der Galeone, ein Hinweis auf die Nähe des Meeres, brach José Arcadio Buendías Schwung. Er hielt es für einen Streich seines spitzbübischen Schicksals, dass er unter Opfern und unzähligen Mühen das Meer gesucht hatte, ohne es zu finden, und dieses ihm nun, da er

»Verdammte Scheiße!«, schrie er. »Macondo ist auf allen Seiten von Wasser umgeben.«

Die Vorstellung von einer Halbinsel Macondo hielt sich lange, inspiriert von der willkürlichen Landkarte, die José Arcadio Buendía nach der Rückkehr von seiner Expedition zeichnete. Er entwarf diese Karte voller Wut, übertrieb böswillig die schlechten Verbindungsmöglichkeiten, wie um sich selbst für sein völliges Versagen bei der Wahl des Ortes zu bestrafen. »Wir werden nie irgendwohin kommen«, jammerte er Úrsula vor. »Hier werden wir bei lebendigem Leib verfaulen, ohne die Wohltaten der Wissenschaft zu erfahren.« Diese Gewissheit, mehrere Monate im kleinen Laborzimmer wiedergekäut, brachte ihn auf die Idee, Macondo an einen günstigeren Ort zu verpflanzen. Doch diesmal kam Úrsula seinen fiebrigen Absichten zuvor. Still und heimlich, mit dem unerbittlichen Fleiß einer Ameise, brachte sie die Frauen gegen die Launen ihrer Männer auf, die sich schon

»Wir gehen nicht«, sagte sie. »Wir bleiben hier, weil wir hier einen Sohn bekommen haben.«

»Noch haben wir keinen Toten«, sagte er. »Man gehört nirgendwohin, solange man keinen Toten unter der Erde hat.«

Úrsula erwiderte mit sanfter Entschiedenheit: »Wenn es nötig ist, dass ich sterbe, damit ihr hierbleibt, dann sterbe ich.«

José Arcadio Buendía glaubte nicht an den unbeugsamen Willen seiner Frau. Er versuchte, sie mit dem Zauber seiner Fantasie zu verführen, mit der Verheißung einer wunderbaren Welt, wo man nur einige magische Flüssigkeiten

»Statt deinen neumodischen Hirngespinsten nachzuhängen, solltest du dich lieber um deine Kinder kümmern«, erwiderte sie. »Schau sie an, sie sind sich selbst und dem Schicksal überlassen wie die Esel.«

José Arcadio Buendía nahm die Aufforderung seiner Frau wörtlich. Er blickte durchs Fenster und sah die beiden barfüßigen Jungen im sonnigen Gemüsegarten, und es war ihm, als hätten sie erst in diesem Augenblick zu existieren begonnen, erschaffen durch Úrsulas Beschwörung. Und dann geschah etwas in seinem Inneren; etwas Geheimnisvolles und Endgültiges, das ihn aus seiner gegenwärtigen Zeit riss und ihn in eine unerforschte Region der Erinnerungen treiben ließ. Während Úrsula weiter das Haus fegte, nun sicher, dass sie es für den Rest ihres Lebens nicht verlassen würde, blickte er noch immer gedankenverloren auf die Kinder, bis ihm die Augen feucht wurden und er sie, einen tiefen Seufzer der Resignation ausstoßend, mit dem Handrücken abwischte.

»Gut also«, sagte er. »Ruf sie, sie sollen mir helfen, die Kisten auszupacken.«

José Arcadio, der ältere Sohn, war gerade vierzehn geworden. Wie sein Vater hatte er einen viereckigen Schädel, störrisches Haar und einen ausgeprägten Willen. Auch er zeigte die Anlage zu körperlicher Größe und Kraft, doch war schon damals ersichtlich, dass es ihm an Fantasie mangelte. Er war während der mühevollen Überquerung der Sierra gezeugt und geboren worden, noch vor der Gründung Macondos, und seine Eltern dankten

Doch seit dem Nachmittag, an dem er die Jungen gerufen hatte, ihm beim Auspacken der Laborsachen zu helfen, widmete er ihnen seine besten Stunden. In dem abgelegenen Zimmerchen, dessen Wände sich nach und nach mit märchenhaften Drucken und den unwahrscheinlichsten Landkarten füllten, brachte er ihnen Lesen,

Es waren neue Zigeuner. Junge Männer und Frauen, die nur ihre eigene Sprache kannten, wunderschöne Geschöpfe mit geölter Haut und klugen Händen, deren Musik und Tänze in den Straßen einen panischen Freudenwirbel entfesselten; sie kamen mit ihren farbenfrohen Papageien, die italienische Romanzen rezitierten, und dem Huhn, das zum Takt des Tamburins hundert goldene Eier legte, und dem abgerichteten Affen, der Gedanken lesen konnte, der vielseitigen Maschine, die gleichermaßen Knöpfe annähen und das Fieber senken konnte, dem Apparat, der schlechte Erinnerungen vergessen machte, dem Pflaster, das die Zeit auslöschte, und mit tausend anderen Erfindungen mehr, so unerhört und scharfsinnig,

Ein Kind an jeder Hand, damit er sie nicht im Trubel verlor, stieß José Arcadio Buendía auf Gaukler mit goldgepanzerten Zähnen, auf sechsarmige Jongleure, erstickte fast am undurchdringlichen Geruch nach Dung und Sandelholz, den die Menge ausdünstete, und suchte wie ein Getriebener nach Melquíades, auf dass der ihm die unendlichen Geheimnisse dieses märchenhaften Albtraums verrate. Er befragte mehrere Zigeuner, die seine Sprache nicht verstanden. Schließlich kam er an den Platz, wo Melquíades sein Zelt aufzuschlagen pflegte, und traf dort auf einen düsteren Armenier, der auf Spanisch einen unsichtbar machenden Sirup anpries. Er hatte ein Glas der bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf einen Zug geleert, als José Arcadio Buendía sich mit den Ellbogen einen Weg durch die gebannt dem Spektakel folgende Gruppe bahnte und gerade noch seine Frage stellen konnte. Der Zigeuner umhüllte ihn mit der vielsagenden Aura seines Blickes, bevor er zu einer Pfütze übel riechenden, dampfenden Teers zerfloss, über der das Echo seiner Antwort schwebte: »Melquíades ist gestorben.« Verstört von der Nachricht verharrte José Arcadio Buendía bewegungslos am Ort, versuchte seiner Bestürzung Herr zu werden, bis die Gruppe sich, von anderen Trickkünstlern angezogen, auflöste und die Pfütze des düsteren Armeniers vollends verdunstete. Später bestätigten ihm andere Zigeuner, dass Melquíades tatsächlich in den Dünen von Singapur dem Fieber erlegen sei und man seinen Körper an

»Das ist der größte Diamant der Welt.«

»Nein«, korrigierte der Zigeuner, »das ist Eis.«

José Arcadio Buendía begriff nicht, streckte die Hand nach der Eisscholle aus, doch der Riese schob ihn weg: »Anfassen kostet fünf Reales mehr.« José Arcadio Buendía zahlte, legte dann die Hand aufs Eis, ließ sie dort ein paar Minuten liegen, während ihm, in Berührung mit dem Mysterium, das Herz vor Angst und Jubel schwoll. Ohne zu wissen, was er sagen sollte, zahlte er weitere zehn Reales, auch seine Söhne sollten diese wundersame Erfahrung machen. Der kleine José Arcadio weigerte sich, das Eis zu berühren. Aureliano dagegen trat einen Schritt vor, legte die Hand darauf und zog sie schnell wieder zurück. »Das kocht ja«, rief er erschrocken. Doch sein Vater hörte nicht hin. Berauscht von dem offenkundigen Wunder vergaß er in diesem Augenblick das Scheitern seiner

»Das ist die wichtigste Erfindung unserer Zeit.«

Als Francis Drake im 16. Jahrhundert Riohacha überfiel, verlor die Urahnin von Úrsula Iguarán bei Sturmläuten und Kanonendonner vor Schreck die Nerven und setzte sich auf eine offene Feuerstelle. Die Brandwunden machten aus ihr eine zeitlebens untaugliche Ehefrau. Sie konnte nur noch halbseitig, auf Kissen gestützt, sitzen, und ihr Gang war wohl seltsam geworden, denn sie zeigte sich nie wieder zu Fuß in der Öffentlichkeit. Sie verzichtete auch auf jede Art von Geselligkeit, weil sie die wahnhafte Vorstellung hatte, dass ihr Körper Brandgeruch verströmte. Das Morgengrauen überraschte sie im Patio, wo sie nicht einzuschlafen wagte, weil sie des Öfteren träumte, dass die Engländer mit ihren scharfen Kampfhunden durch das Schlafzimmerfenster einfielen und sie mit glühenden Eisen schändlichen Martern unterwarfen. Ihr Mann, ein Kaufmann aus Aragón, von dem sie zwei Kinder hatte, verpfändete seinen halben Laden für Medikamente und Zeitvertreib im Bemühen, ihr Grauen zu lindern. Am Ende löste er das Geschäft auf, zog mit der Familie vom Meer fort in ein Hüttendorf friedlicher Indios an den Ausläufern der Sierra, wo er seiner Frau ein Schlafzimmer ohne Fenster baute, auf dass die Piraten aus ihren Albträumen nicht bei ihr eindringen konnten.

In der versteckten Siedlung lebte schon seit Langem ein

»Da siehst du, Úrsula, was die Leute sagen«, sagte er sehr ruhig zu seiner Frau.

»Lass sie reden«, sagte sie, »wir beide wissen, dass es nicht stimmt.«

Also blieb es weitere sechs Monate beim Gleichen, bis zu dem tragischen Sonntag, an dem José Arcadio Buendía bei einem Hahnenkampf Prudencio Aguilar besiegte. Wütend, vom Blut seines Tieres aufgereizt, trat der Verlierer

»Ich gratuliere«, schrie er. »Mal sehen, ob dieser Hahn es endlich deiner Frau besorgt.«

José Arcadio Buendía nahm in aller Ruhe seinen Hahn. »Ich komme gleich wieder«, sagte er an alle gewandt. Und dann zu Prudencio Aguilar: »Und du, geh nach Hause und bewaffne dich, denn ich werde dich töten.«

Zehn Minuten später kam er mit der bewährten Lanze seines Großvaters zurück. Am Eingang der Hahnenkampfarena, wo sich das halbe Dorf drängte, wartete Prudencio Aguilar auf ihn. Es blieb ihm keine Zeit, sich zu wehren. Die Lanze von José Arcadio Buendía, mit der Kraft eines Stiers geschleudert und mit ebender Treffsicherheit, mit der einst der erste Aureliano Buendía die Jaguare in der Region ausgerottet hatte, durchbohrte Prudencio Aguilars Hals. In jener Nacht, während in der Hahnenkampfarena die Totenwache gehalten wurde, kam José Arcadio Buendía ins Schlafzimmer, als seine Frau gerade die Keuschheitshose anzog. Er schwang die Lanze vor ihr und befahl: »Zieh das aus.« Úrsula zweifelte nicht an der Entschlossenheit ihres Mannes. »Du bist verantwortlich für die Folgen«, flüsterte sie. José Arcadio Buendía stieß die Lanze in den Erdboden.

»Wenn du Leguane gebären sollst, werden wir Leguane aufziehen«, sagte er. »Aber es wird deinetwegen keinen Toten mehr in diesem Dorf geben.«

Es war eine schöne, frische Juninacht, der Mond schien, und sie tobten im Bett herum, wach bis zum Morgengrauen, gleichgültig gegen den Wind, der, aufgeladen mit dem Wehklagen von Prudencio Aguilars Angehörigen, durchs Zimmer strich.

Das Vorgefallene wurde als Ehrenduell betrachtet, lastete

»Verschwinde!«, schrie José Arcadio Buendía. »Auch wenn du noch so oft zurückkehrst, ich töte dich wieder.«

Prudencio Aguilar verschwand nicht, und José Arcadio Buendía wagte auch nicht, die Lanze zu werfen. Von da an konnte er nicht mehr ruhig schlafen. Ihn quälte die ungeheure Trostlosigkeit, mit der ihn der Tote aus dem Regen angesehen hatte, diese tiefe Sehnsucht nach den Lebenden, die Unruhe, mit der er das Haus nach Wasser durchsuchte, um seinen Stopfen aus Espartogras anzufeuchten. »Er muss arg leiden«, sagte er zu Úrsula. »Er ist sehr allein, das sieht man.« Sie war so bewegt, dass sie, als sie den Toten das nächste Mal die Deckel von den Töpfen auf der Ofenplatte heben sah, begriff, was er suchte, und ihm von da an überall im Haus Wassernäpfe aufstellte. Eines Nachts, als José Arcadio Buendía ihn in seinem

»Schon gut, Prudencio«, sagte er. »Wir ziehen aus dem Dorf weg, so weit weg wie irgend möglich, und wir kehren nie zurück. Und nun geh in Frieden.«

So kam es, dass sie zur Überquerung der Sierra aufbrachen. Mehrere Freunde José Arcadio Buendías, jung wie er und abenteuerhungrig, räumten ihre Häuser und machten sich mit Frauen und Kindern auf in das Land, das ihnen keiner verheißen hatte. Vor dem Aufbruch vergrub José Arcadio Buendía die Lanze im Hof und köpfte, einen nach dem anderen, seine stolzen Kampfhähne, im Vertrauen darauf, dass er Prudencio Aguilar damit ein wenig Frieden verschaffte. Úrsula nahm nur die Truhe mit ihrer Aussteuer mit, ein wenig Haushaltsgerät und die Schatulle mit den Goldstücken, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie legten keine Reiseroute fest, versuchten nur, in die Riohacha entgegengesetzte Richtung zu ziehen, um keine Spur zu hinterlassen und nicht auf Bekannte zu stoßen. Es war eine absurde Reise. Nach vierzehn Monaten und mit einem von Affenfleisch und Schlangenbrühe angegriffenen Magen gebar Úrsula einen Sohn, der nur menschliche Körperteile aufwies. Die Hälfte des Weges hatte sie in einer von zwei Männern an einer Stange getragenen Hängematte zugebracht, da ihre Beine von Schwellungen entstellt waren und die Krampfadern wie Blasen platzten. Auch wenn die Kinder mit ihren aufgeblähten Bäuchen und den matten Augen ein Bild des Jammers abgaben, überstanden sie die Reise besser als ihre Eltern und hatten die meiste Zeit sogar Spaß dabei. Eines Morgens, nach fast zwei Jahren Gewaltmarsch, waren sie die ersten Sterblichen, die den Westhang der Sierra erblickten. Vom wolken-umhangenen