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Wie mit wildem Pinsel eine Spur zu dramatisch hingeworfen und entschieden zu goldgetränkt setzte sich der Himmel von den Bergen ab, die durch die langsam einbrechende Dämmerung in ein sattes, an Lapislazuli erinnerndes monochromes Blau getaucht waren. Die Oberfläche des Lago Maggiore reflektierte dieses unwirkliche Spiel der Farben, nur hier und da von einzelnen silbernen Gischtstreifen durchzogen. Hätte man diese Landschaft auf einem Gemälde gesehen, man hätte dem Künstler Verklärung oder gar Kitsch vorgeworfen.
Aber dieser Anblick war zweifelsohne echt. Matteo lächelte in sich hinein. Auch nach all der Zeit, die er nun wieder am Lago Maggiore lebte, konnte er sich nicht sattsehen an dem See und der üppig bewachsenen Berglandschaft, die diesen umgab. In den höheren Lagen dominierten Buchen, Erlen und Kastanien das Bild, und entlang des Ufers verwandelten Kamelien, Rhododendren, Azaleen, Mimosen, Oleander, Palmen und Orangenbäume die Landschaft in einen südländischen Garten Eden.
Vielleicht, das allerdings musste Matteo eingestehen, war die Isola dei Pescatori, auf der Luigi heute Abend seinen Geburtstag feierte, noch ein wenig idyllischer als seine kleine Terrasse in Cannobio, wo er die meisten Tage ausklingen ließ. Die Isola war wie ein Miniatur-Wunderland, wo sich auf wenigen Metern beinahe alles fand, was der Romantiker oder die zahllosen Sehnsuchtsreisenden mit Bella Italia verbanden. Ein Dorf aus hellgetünchten Häusern mit grünen oder blauen Fensterläden, roten Ziegeldächern und länglichen Balkonen, die von dem spitzen Glockenturm von San Vittore überragt und von engen Gässchen durchschnitten wurden. Es gab den kleinen Hafen mit den Fischerbooten am Südufer der Insel, dessen Einfahrt von einer Statue der betenden Madonna beschützt wurde, und zu guter Letzt war da der malerische, schmale und von mächtigen Bäumen flankierte Landstreifen im Nordosten, wo die Fischer früher ihre Netze eingefärbt und zum Trocknen ausgelegt hatten.
Und dann diese einzigartige Lage inmitten des Borromäischen Golfs: Man wusste gar nicht, wohin man zuerst schauen sollte. Gegenüber lag das lombardische Ostufer des Sees, wo die Lichter Lavenos wie Glühwürmchen im Dunkel flackerten. Wendete Matteo den Blick nach rechts, sah er die altehrwürdige Uferpromenade Stresas mit ihren Grandhotels. Und wenn er jetzt die 300 Meter zum anderen Ende der Insel schlendern würde, hätte er die barocke Pracht der Isola Bella vor sich. Am liebsten aber, das war ihm eben klar geworden, war ihm der weite Blick bis nach Verbania mit seinen Ortsteilen Pallanza und Intra, das von hier aus fast großstädtisch anmutete.
Matteo atmete die laue Spätsommerluft ein, strich die Locken zurück, die der Wind ihm ins Gesicht geweht hatte, und wunderte sich darüber, wie opulent seine Gedanken waren und wie operettenhaft und fast heiter-beschwingt er sich fühlte. Und weil das so gar nicht zu ihm passte, kramte er in den Tiefen seiner Hosentasche nach der Futura-Packung und dem Zippo, um sich mit dem herben Rauch einer Zigarette umgehend zu erden.
»Glückwunsch, du verschrumpelte Peperoni, das scheinst du ja ausnahmsweise einigermaßen anständig hinbekommen zu haben!«
Matteo sackte durch die Heftigkeit des Schlags, der ihn an der Schulter getroffen hatte, in die Knie. Neben ihm stand, verschmitzt grinsend, der alte Luigi und begutachtete das Buffet, das Matteo neben der Geburtstagstafel aufgebaut hatte und an dem sich die Gäste schon reichlich bedient hatten.
Woher nahm ein alter Mann wie Luigi nur diese Kräfte? Unauffällig betastete Matteo seine Schulter. Natürlich, die kleine Autowerkstatt, die Luigi mit seinen Kompagnons Flavio und Beppo betrieb, mochte ihren Teil dazu beitragen, dass die drei Alten erstaunlich fit waren. Aber es wäre ein Irrtum zu behaupten, dass allein die Reparaturen, die sie ausnahmslos an Liebhaberstücken vornahmen, sie sonderlich auf Trab halten würden. Den Großteil ihrer Energie verwendeten sie darauf, sich in ihrer Garage in Cannobio in nicht enden wollenden Zänkereien und gegenseitigen Beschimpfungen zu ergehen, die in der Regel mehrmals täglich durch die benachbarten Gassen des Städtchens am Ufer des Lago Maggiore hallten.
Dass diese Auseinandersetzungen eher eine Mischung aus Ritual und sportlichem Wettstreit waren, durchschaute man schnell. In Wirklichkeit liebten die Alten sich heiß und innig, auch wenn sie das niemals öffentlich zugeben würden. Matteo hatte die drei schrägen Vögel unmittelbar ins Herz geschlossen, nachdem er in seine alte Heimat zurückgekehrt war und die Macelleria seines verstorbenen Vaters übernommen hatte. Und das lag nicht nur daran, dass die drei sein geliebtes, aber leider äußerst prätentiöses und über dreißig Jahre altes Lancia Gamma Coupé schon einige Male wieder fahrtüchtig gemacht hatten. Natürlich nicht, ohne Matteo dafür zu verhöhnen, dass er mit so alberner Hingabe an einem dermaßen berguntauglichen Wagen hing. Aber Matteo ahnte, dass die drei seinen Lancia ebenfalls für ein Schmuckstück hielten, sonst würden sie sich dessen Macken nicht so leidenschaftlich zuwenden.
War es tatsächlich schon mehr als anderthalb Jahre her, dass er sein Mailänder Leben und seine Arbeit als Polizeipsychologe hinter sich gelassen hatte? Davor geflohen war, wäre wohl die korrektere Formulierung. Wer Seelen sezieren kann, der wird es auch mit ein paar Rinderhälften aufnehmen können, hatte er sich damals gesagt, und sich das Hinterzimmer der Macelleria mit dem Wenigen eingerichtet, das er aus seiner Mailänder Wohnung mitgebracht hatte. Matteo schüttelte den Kopf, um die unliebsamen Gedanken zu vertreiben. An die Vergangenheit wollte er heute Abend nicht denken.
»Gratulieren muss man heute vor allem dir, mein Lieber«, wandte Matteo sich an Luigi. »Wie alt bist du geworden? Siebzig? Fünfundsiebzig?«
Luigi schnaufte empört, ohne dass eindeutig festzustellen war, ob sich das Schnaufen auf die Frage nach seinem Alter bezog, oder ob Luigi doch etwas an Matteos Salsiccia-Ragout auszusetzen hatte, in dem er währenddessen ausgiebig mit einem Finger gerührt hatte, als könne er auf diese Weise nicht nur die Konsistenz des Gerichts, sondern seine Qualität insgesamt beurteilen. Nachdem er den Finger mit einer raschen Bewegung in den Mund gesteckt und wieder herausgezogen hatte, nickte er allerdings zufrieden. Hätte Matteo auch gewundert. Zwar war er alles andere als ein gelernter Fleischer, aber in den vergangenen Monaten hatte er seinen ganzen Ehrgeiz darauf verwendet, die alten Rezepturen seines Vaters wiederzubeleben und hier und da zu variieren.
Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Mit seinen Wurst- und Fleischspezialitäten hatte er sich mittlerweile einen Ruf erarbeitet, der seinen Vater sicherlich mit Stolz erfüllt hätte. Wahrscheinlich trug an diesem Abend nicht zuletzt die Kulisse des Lago und der Berglandschaft ihren Teil dazu bei, dass Luigis Geburtstagsmenü bei den Gästen auf so viel Begeisterung stieß. Matteo hatte sich, so war es verabredet gewesen, auf Gerichte aus der Region beschränkt.
Vom hinteren Ende der Tafel, an der die gut dreißig Gäste fröhlich aßen, tranken und plauderten, prosteten Beppo und Flavio Matteo und Luigi zu.
»Wirklich, nicht übel, Signor Basso!«, krähte Beppo hinüber. »Aber wo hast du Hornochse denn das Steinpilz-Risotto versteckt?«
Matteo zuckte mit den Schultern.
»Gestrichen. Es waren noch keine zu finden, leider.«
Ein brüllendes Lachen der beiden, in das Luigi sofort einstimmte, war die Antwort. Verdammt noch mal, ja. Matteo wusste selbst, dass September der ideale Monat war, um in den Bergen des Valle Cannobina oder im benachbarten Valle Vigezzo Steinpilze zu finden. Er hatte in den vergangenen Tagen viele Stunden vergeblich damit zugebracht, durch den Wald zu streifen und die Stellen zu suchen, zu denen ihn sein Vater als Kind mitgenommen hatte. Jedes Mal waren sie damals mit gefüllten Körben zurückgekommen. Seine Mutter hatte daraus die herrlichsten Gerichte zubereitet, und was an Pilzen übrig blieb, wurde zum Trocknen auf ein großes Drahtgeflecht gelegt.
Beppo japste nach Luft. Reichlich theatralisch, wie Matteo fand. Während Flavio zwischen seinen kaum weniger ausgestellten Lachsalven hervorstieß:
»Die Wälder sind voll davon, du Blindfisch! Ist ja schlimmer als beim Angeln.« Einige Gäste mussten nun ebenfalls kichern, was Matteo, wie er erstaunt feststellte, tatsächlich traf. Vor allem deshalb, weil er es als Spott über sein Ritual empfand, das er allmorgendlich, bevor er den Rollladen der Macelleria hochzog, zelebrierte und das er eigentlich für sich hatte behalten wollen. Nicht etwa, weil es ihm peinlich war, nicht, weil »überschaubar« ein reiner Euphemismus war, wenn es um seine Fang-Quoten ging, nein, im Gegenteil. Es ging ihm, wenn er seine Angel auswarf, nicht um den Erfolg. Es ging ihm um die Ruhe und Einsamkeit, die er jeden Morgen aufs Neue finden konnte, wenn er die steinige Böschung ans Ufer hinabstieg. Andere mochten andere Gewohnheiten haben.
Dem See und seinen Bewohnern beim langsamen Erwachen zuzusehen, die sanften Wellen ans steinige Ufer schwappen zu hören und die klare Luft zu atmen, war seine Art, den Tag zu beginnen. Und dieser morgendliche Zeitvertreib bannte wie durch ein Wunder die Schatten und düsteren Gedanken, die ihn während der Nächte bisweilen heimsuchten. Der See war seine Rettung gewesen. In dieser Hinsicht hatte Matteos Humor Grenzen.
Dass er keine Pilze gefunden hatte, hatte mit seinen Fähigkeiten als Angler absolut nichts zu tun. Matteo goss sich ein großzügig bemessenes Glas Dolcetto ein. Der Geschmack des Weines, die saftige Fruchtigkeit, die seinen Gaumen umspülte, stimmte ihn wieder mild. Der Wind vermischte sich mit dem Geplapper der Gäste und dem Geklapper der Messer und Gabeln, mit deren Hilfe die verschiedenen Salsicce, die Saltimbocca-Spieße oder die Bistecche alla fiorentina in mundgerechte Stücke portioniert wurden. Dazu gab es Polenta, die in einem großen holzbefeuerten Kupferkessel zubereitet wurde, in dem ein Bruder von Luigi, den Matteo nie zuvor gesehen hatte, zufrieden und ohne Unterlass rührte. Und wer danach immer noch hungrig war, dem würde ein Becher mit Vanilleeis, Schlagsahne und gesüßtem Kastanienpüree den Rest geben.
Matteo klopfte Luigi auf den Rücken, sehr viel sanfter selbstverständlich, als der Alte es zuvor bei ihm getan hatte, schlenderte zum Anleger hinüber und ließ sich auf der Kaimauer nieder. Die angebrochene Flasche Dolcetto nahm er mit. Für seinen Geschmack hatte er heute Abend genug geplaudert. Nicht, dass er Luigis Gäste nicht gemocht hätte. Aber irgendwann überkam ihn in Gesellschaft stets das Bedürfnis nach Alleinsein. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass das jemals anders gewesen war. Wie gern würde er jetzt in seinem Zimmerchen sitzen und Musik hören, zurückgelehnt in dem alten Ledersessel, eines der Möbelstücke, die er aus Mailand mitgenommen hatte.
Aber es war, wie ihm ein Blick auf seine Courage zeigte, gerade einmal neun Uhr, und es machte nicht den Eindruck, als ob dieses Fest bald vorbei wäre. Ganz im Gegensatz zu der Veranstaltung, die heute auf der benachbarten Isola Bella stattgefunden, aber mit dem Einbruch der Dämmerung wohl ihr Ende gefunden hatte. Wahrscheinlich hatte man eines der Passagierschiffe, die für gewöhnlich zwischen den Inseln und Stresa verkehrten, gechartert, um wieder ans Festland zu kommen. Während der späten Nachmittagsstunden waren immer wieder angestrengt klingende Jazz-Fetzen zu ihnen herübergeweht worden. Sicher irgendein steifer Empfang mit Vertretern aus Wirtschaft oder Politik.
Matteo war froh, dass dort nun Ruhe eingekehrt war. Nicht nur, weil er Jazz verabscheute und sein Herz den alten Opern gehörte. So ein Menschenauflauf von Wichtigtuern passte ganz einfach nicht zu den Inseln, fand er. Er für seinen Teil hätte auch auf die Touristen verzichten können, aber sie waren seit mehr als hundert Jahren Teil der Folklore, die sich hier täglich abspielte. Und sie garantierten den einfachen Menschen einen Wohlstand, für den man dankbar sein musste. Doch nur jetzt, wo keine Boote mehr verkehrten, entfalteten die kleinen Inseln und der Lago ihren wahren Zauber. Stille. Selbst die Bewohner und die Gäste der wenigen Hotels schienen ihre Stimmen gedämpft zu haben. Aber das konnte auch Einbildung sein.
Matteo fiel ein, dass er Luigi gar nicht gefragt hatte, warum er seinen Ehrentag ausgerechnet hier beging. Eine romantische Ader hatte Matteo bei ihm bisher nicht entdecken können. Oder wenn, dann nur, wenn Luigi in den Zeiten schwelgte, die er in linken Pariser Studentenkreisen verbracht hatte, was allerdings Jahrzehnte zurücklag. Vielleicht ein kleines amouröses Abenteuer in Jugendzeiten? Matteo holte erneut die Futura-Packung aus der Hosentasche.
Vermutlich steckte ein sehr viel profanerer Grund dahinter. Weil nachts keine Schiffe mehr zum Festland übersetzten, konnte Luigi sicher sein, dass keiner der Gäste frühzeitig die Feier verließ. Für jeden hatte er deshalb ein Zimmer im Belvedere reservieren lassen. So auch für ihn, und das schmeckte Matteo gar nicht. Oder sollte er einfach über seinen Schatten springen? Was war so schlimm daran, noch eine Weile der friedlichen Stimmung des Lago nachzuspüren und dann angenehm angetrunken in eines der Betten zu fallen?
Die zierliche, bronzene Madonna, die auf der äußersten Kante der Kaimauer thronte, schien, ähnlich wie er, versunken in den Anblick des Sees.
»Und du sorgst dafür, dass es friedlich bleibt, habe ich recht?«
Ein kurzer Schmerz durchfuhr Matteo. Natürlich hatte er heute Abend, wie an so vielen Abenden zuvor, an Gisella gedacht, die im vergangenen Frühjahr im Lago ermordet worden war. Die Polizei hatte ihren Tod zunächst für einen Badeunfall gehalten, und weil Matteo instinktiv gewusst hatte, dass das nicht stimmen konnte, war er unfreiwillig zum Ermittler geworden. Der Tod der guten Freundin und die tragischen Verwicklungen, die sich daraus entsponnen hatten, machten ihm noch immer zu schaffen.
Längeren Gesprächen mit Gisellas älterer Schwester Anna etwa, war er seither ausgewichen. Auch heute Abend hatte er sie gemieden. Vielleicht, weil er die Traurigkeit, die sich in ihr Gesicht eingegraben hatte, nicht ertragen konnte.
Als Psychologe, der sich über lange Zeit vor allem mit traumatisierten Polizeibeamten beschäftigt hatte, war er häufig mit Schmerz und Verlust konfrontiert gewesen. Doch die professionelle Distanz, die Anteilnahme zwar nicht ausschloss, aber vor allem darauf fokussiert war, den ihm anvertrauten Menschen zu helfen, hatte alles im Gleichgewicht gehalten. Natürlich war ihm manches nahegegangen, aber er hatte sich immer darauf verlassen können, dass die Rolle, die er bei den Behandlungen einnahm, ihn davor schützte, sich die Ängste und Erlebnisse der anderen zu eigen zu machen, sich davon überwältigen zu lassen. Aber sobald es sein eigenes Leben betraf, zappelte er hilflos wie ein Fisch am Haken.
Matteo seufzte, wobei er im letzten Moment versuchte, dem Seufzer noch einen grimmigen Beiklang zu verleihen. Er wollte jetzt nicht in Schwermut verfallen. Die gestattete er sich nur in der Einsamkeit seiner Macelleria. Oder an seinem Plätzchen unten am See. Rasch goss er sich ein weiteres Glas Dolcetto ein und stürzte es hinunter. Ihm war klar, dass er zu schnell trank, und dass der Rotwein es dennoch nicht schaffen würde, ihn in eine gelöste Stimmung hinübergleiten zu lassen. Aber vielleicht immerhin in eine gleichgültige.
Auf dem Festland brannten nur noch einzelne Lichter. Selbst die Grandhotels, die die mondäne Uferstraße von Stresa säumten, hatten ihre Kronleuchter schon gedimmt. Das Einzige, was die Beschaulichkeit des Abends störte – wenn auch nur marginal –, war das Flackern eines roten Lichts in Höhe des Fähranlegers von Stresa. Wahrscheinlich ein Wackelkontakt, dachte Matteo, oder wurde der Anleger gar nicht von Signallampen flankiert? Mit den Lichtfeuern von Häfen kannte er sich ebenso wenig aus wie mit der Lichterführung von Schiffen. Rot war Backbord, grün war Steuerbord – aber sonst? Für ein paar Augenblicke beobachtete er das nervöse rote Flackern, dann verlor sich sein Blick im Schwarz, in das die Oberfläche des Lago mittlerweile gehüllt war. Gegen den Schlag, der ihn nun am Rücken traf, war der von Luigi eine Streicheleinheit gewesen.
»Na, Dottore! Sonnst du dich hier schön in deinem Ruhm?!«
Matteo musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer ihn da hinterrücks anranzte. Dino, der Wirt der Osteria aus der Via Umberto, bei dem er hin und wieder ein Glas Nebbiolo trank, hatte ihn schon den ganzen Abend böse angefunkelt. Das musste man nicht ernst nehmen. Dino wurde von allen nur »der General« genannt, weil er einen überaus robusten Umgang mit seinen Gästen pflegte. Was aber nur bei denjenigen, die zum ersten Mal die Osteria betraten, für Irritationen sorgte. Für alle anderen gehörte die raue Behandlung irgendwie dazu, so wie das Essen, das selbst an guten Tagen allenfalls mittelmäßig war. Trotzdem war die Osteria eine Institution. Der Frage nach dem Warum war Matteo noch nie nachgegangen. Vermutlich lag es einfach an den Gästen selbst. Sie sorgten für eine gute Atmosphäre, und der Rest war egal.
Dass Dino beleidigt war, weil Luigi nicht ihn, sondern Matteo mit dem Geburtstagsbuffet betraut hatte, war absehbar gewesen. Matteo überlegte kurz, ob er Dino darauf hinweisen sollte, dass es wirklich überflüssig war, ihn als »Dottore« anzusprechen. Er war jetzt Fleischer. Nicht mehr Psychologe. Aber auch den Hinweis, dass »sonnen« angesichts der Lichtverhältnisse nicht unbedingt die treffendste Formulierung war, verkniff Matteo sich. Stattdessen streckte er Dino wortlos die Futura-Packung entgegen. Schnaufend ließ sich der Wirt neben ihn plumpsen und nestelte umständlich nach einer Zigarette. Offensichtlich war er betrunken.
Schweigend saßen die beiden nebeneinander und Matteo hing seinen Gedanken nach, als Dino ihn plötzlich grob am Arm packte.
»Verdammter Mist, Dottore«, flüsterte er entsetzt. »Hast du das gesehen?«
Matteo grummelte unwillig, woraufhin Dino ihn noch kräftiger schüttelte.
»Die bringen den um. Dottore. Die bringen den um!«
Matteo setzte sich auf und blickte ihn verwundert von der Seite an.
Mit flattriger Hand und ausgestrecktem Finger deutete Dino in die Dunkelheit des Sees.
»Über Bord geschmissen. Die haben den einfach über Bord geschmissen.« Mit vor Schreck aufgerissenen Augen starrte der Wirt ihn an. »Der ersäuft. Der ersäuft doch.«
»Wovon sprichst du? Was denn? Wo denn?«
Dino sprang auf und versuchte, Matteo ebenfalls zum Aufstehen zu bewegen.
»Verdammt noch mal, Dottore!«, in seiner Stimme lag echtes Entsetzen. »Wir müssen was tun, wir müssen den rausholen.« Hektisch blickte er sich um. »Mach ein Boot klar!«
Die ersten Gäste wurden auf das Geschrei aufmerksam und wandten mehr oder weniger interessiert die Köpfe um. Dass Dino laut wurde, war nichts Besonderes.
»Was genau hast du denn gesehen?«
»Eins dieser, dieser«, Dino geriet ins Stottern, »na, dieser Touristen-Fährschiffe. Da haben sie jemanden über Bord geschmissen.«
Matteo erhob sich, kniff erneut die Augen zusammen und schaute angestrengt in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Den ganzen See, soweit er von hier aus einsehbar war, suchte er ab. Da war nichts. Absolut nichts. Tiefe Schwärze. Kein Boot, keine Lichter. Geschweige denn ein Mensch, der ins Wasser geschmissen worden war.
»Das hast du alles so genau gesehen? Bei der Dunkelheit?«
»Verdammt noch mal«, fuhr Dino ihn an. »Das Schiff war da. Jetzt seh ich es auch nicht mehr. Keine Ahnung, wohin es verschwunden ist.«
»Vielleicht ein Geisterschiff?«, frotzelte Matteo und legte dem Wirt den Arm um die Schulter. »Kann es sein, dass dir der Wein und zu viele alte Geschichten im Hirn herumspuken?«
Unwirsch machte Dino sich von ihm los.
»Was für eine alte Geschichte, Dottore? Was redest du? Willst du sagen, ich spinne?«
»Ich will nicht sagen, dass du spinnst«, gab Matteo besänftigend zurück. »Ich glaube nur, dass in einer bestimmten Umgebung, einer bestimmten Stimmung, plötzlich Erinnerungen aufgerufen werden, die ganz real erscheinen, aber eben nur Bilder sind.«
Verdammt noch mal, ja, wer wusste das besser als Matteo selbst. Plötzlich fröstelte ihn, als eine unvermutet kräftige Böe vom See über den Kai wehte. Dino blickte ihn konsterniert an. Matteo beeilte sich, das Pathos, das er gerade fabriziert hatte, aufzulösen. Er grinste und stieß Dino in die Seite.
»Diese alte Erzählung, meine ich. Die kennst du doch sicher. Von dem Jungen, der im Palazzo auf der Isola Bella aufwächst und bei einem nächtlichen Spaziergang durch den Garten auf diesen Mönch trifft, der sich ›Vater des Todes‹ oder so ähnlich nennt.
Dieser Mönch erzählt dem Jungen, dass dessen Schwester, die in Spanien lebt, in dieser Sekunde gestorben sei. Und dass er gleich ihren Leichnam über dem Lago schweben sehen wird. Der Junge fährt sofort auf den See. Und tatsächlich schwebt da für ein paar Momente ein totes Mädchen über dem Wasser.«
Dino zog seine buschigen Augenbrauen hoch. Dann brach er in grimmiges Gelächter aus.
»Dottore, du willst mich wohl für dumm verkaufen?! Ich habe gesehen, was ich gesehen habe. Und wer verzapft so einen Unsinn? Dante? Oder Dario Fo? Überhaupt, hör mir doch auf mit deinem Kulturquatsch. Davon verstehst du genauso wenig wie vom Essen. Geh doch deine Opern hören und lass mich in Ruhe.«
Dino machte auf dem Absatz kehrt, gab sich alle Mühe, sein Straucheln zu überspielen, und strebte eilig in Richtung des Buffets, wo die Getränke aufgebaut waren.
Kopfschüttelnd sah Matteo ihm nach. Der Alkohol machte seltsame Dinge mit den Menschen.
»Jean Paul ist es gewesen«, rief er dem Wirt hinterher, aber der drehte sich nicht um.
Matteo hatte als Sechzehnjähriger begonnen, Jean Pauls fast tausendseitiges Mammutwerk »Titan« zu lesen, nachdem er aufgeschnappt hatte, dass der erste Teil auf der Isola Bella spielte. Ein paar Abende hatte er durchgehalten, ohne wirklich viel zu verstehen von dem über 200 Jahre alten Buch. Und vielleicht hatte es auch nur daran gelegen, dass in dem kleinen Bergdorf Orasso, in dem er mit seinen Eltern damals noch lebte, obwohl sein Vater die Macelleria schon unten an den See verlegt hatte, wegen der Herbstgewitter ständig das Licht ausfiel, dass er den Roman irgendwann zur Seite gelegt hatte. Viel mehr als die Episode mit dem Mönch, die ihn damals zum Schaudern gebracht hatte, war ihm nicht im Gedächtnis geblieben.
Noch einmal suchte er mit den Augen den See ab. Blödsinn. Es hätte ja nicht nur ein Mensch, sondern gleich ein ganzes Schiff verschwinden müssen. Davon hatte der Mönch nichts gesagt. Und Dino hatte einfach zu viel getrunken.
Das Stimmengewirr der Festgesellschaft wurde zusehends lauter und klirrte schrill in seinen Ohren. Matteo spielte gerade mit dem Gedanken, sich einen ruhigeren Platz zu suchen oder während eines Spaziergangs die kleine Insel einmal zu umrunden, als schon wieder jemand neben ihn trat.
»Was macht denn so ein großer und schöner Mann ganz allein hier?«, raunte es. »Magst du nicht zu uns herüberkommen?« Eine üppige Mittvierzigerin in einem für diesen Anlass um einige Pailletten zu mondänen und für ihre Figur entschieden zu knappen Abendkleid hielt ihm ein Weinglas unter die Nase.
»Es ist noch genug zu trinken da«, säuselte sie. Matteos Blick blieb an ihrem kanariengelben Lidschatten hängen, den die vergangenen Stunden einigermaßen ramponiert hatten. Er merkte, wie sich alles in ihm verspannte. Hatte Luigi sie ihm nicht vorhin vorgestellt? Eine Nichte oder Großnichte? Aus Bergamo? Oder Turin? Auf jeden Fall war sie verspätet angekommen, weil sie noch einen Geschäftstermin gehabt hatte. Vermutlich erklärte das auch ihren Aufzug.
»Na, was ist nun?«, sie blinzelte zu ihm hinauf. Unverkennbar war das Glas, das sie schwungvoll vor ihm schwenkte, auch nicht das erste oder zweite, das sie sich an diesem Abend genehmigte. Warum auch. Hier wurde gefeiert. Aber wenn es nicht schon vorher klar gewesen war, dann wusste er nun endgültig, dass die Party für ihn vorüber war. Mit aller Kraft versuchte er, das Lachen Teresas aus seinem Kopf zu vertreiben, das diesem hier so ähnlich war. Sein Herz krampfte sich zusammen. So hatte sie immer gelacht, wenn es ihm auf einer Operngala oder einer Party zu viel geworden war. Es war ein liebevoll spöttisches und zugleich nachsichtiges Lachen gewesen. Matteo hatte sich so fest vorgenommen, nicht an Teresa zu denken. Nicht an Mailand. Nicht an die Vergangenheit.
Die Dame vor ihm strich ihm leicht über den Arm.
»Ich lass dich mal, hm?«
Matteo nickte dankbar. Gedankenverloren schaute er auf die Schaumkronen, die sich auf dem Wasser kräuselten. Ein Scharren riss ihn abrupt aus seiner Nachdenklichkeit. Er fuhr herum.
»Sagt mal, ihr Verbrecher. Das kann doch jetzt echt nicht wahr sein!«
Das Rumpeln hinter dem hölzernen Verschlag, in dem einige Fischer der Isola dei Pescatori ihre Gerätschaften lagerten, verriet Matteo, dass er sich nicht geirrt hatte.
»Na, kommt schon raus«, knurrte er.
Mit schlecht geschauspielerten schuldbewussten Mienen trottete Luigi mit Beppo und Flavio im Gefolge hinter der Längsseite des Verschlags hervor.
»Jungs, wie oft hab ich euch schon gesagt: Hört auf, mir nachzuspionieren.«
»Na ja«, Beppo senkte den Kopf und bohrte die Fußspitze in den Kies, konnte aber das Kichern in seiner Stimme kaum verbergen. »Sooo oft ja nun auch wieder nicht.«
Flavio reckte die Hände zum Himmel.
»Dio, Matteo, du bist jung. Wie alt bist du genau? Dreiundvierzig, vierundvierzig? Du brauchst eine Frau.«
Matteo schüttelte unwirsch den Kopf.
»Wo es doch letztes Jahr schon mit der Kommissarin nicht geklappt hat!« Luigi verdrehte versonnen die Augen. »So schön war die.«
Gegen seinen Willen musste Matteo schmunzeln. Ausnahmsweise hatte der Alte recht. Kommissarin Nina Zanetti hatte ihm wirklich gefallen. Sie war – gemeinsam mit ihrem abscheulichen Kollegen Buffon – mit den Ermittlungen zu Gisellas Tod betraut gewesen. Und obwohl er hin und wieder darüber nachgedacht hatte, sich bei ihr unter irgendeinem Vorwand zu melden, hatte er sie seit damals nicht mehr gesehen.
»Eure Motoren sind wohl zu heiß gelaufen, verschont mich mit diesem Blödsinn«, knurrte Matteo. Er wusste, dass er ihnen keine größere Freude bereiten konnte, als in ihre verbalen Gemetzel einzusteigen. »Eure Verkupplungsversuche sind noch plumper als eure knollennasigen Visagen. Ja, grinst nur. Ihr seid schlimmer als Kinder.« Vergnügt zogen die drei von dannen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Matteo, dass sich einer der jungen Männer, die Luigi für diesen Abend als Kellner engagiert hatte, an einem der Motorboote zu schaffen machte, die am Hafenbecken der Insel vertäut lagen. Er hatte angenommen, dass alle Anwesenden auf der Isola dei Pescatori übernachten würden. Nun sah er die Chance, dem Trubel hier zumindest für eine Weile zu entkommen. Niemand würde ihn vermissen. Und mit dem ersten Boot am Morgen wäre er wieder da, um aufzuräumen.
»He«, rief er in Richtung des jungen Mannes. »Stresa?«
Der schüttelte den Kopf.
»Nicht ganz. Piazzale Lido. Du weißt schon, die Anlegestelle an der Seilbahnstation zum Monte Mottarone.«
Umso besser. An diesem kaum frequentierten Bootsanleger kurz vor Stresa hatte Matteo seinen Lancia geparkt.
»Ich würde mitkommen, wenn du nichts dagegen hast.«
»Momento, Matteo, was soll das denn?«
Luigi stand plötzlich neben ihm und war wirklich empört.
»Sei mir nicht böse, mein Lieber. Es war herrlich. Aber jetzt brauche ich ein bisschen Ruhe.«
Luigi murmelte beleidigt vor sich hin.
Der Motor des Bootes tuckerte schon leise. Der junge Kellner machte eine fragende Geste. Gleich, gleich, bedeutete Matteo ihm.
»Du hast doch viel zu viel getrunken. Wie willst du es denn bis nach Cannobio schaffen?«, versuchte der Alte, ihn umzustimmen.
»Keine Sorge. Ich mach ein kleines Nickerchen im Wagen, und morgen früh bin ich wieder da.«
Luigi winkte ab. Dann ging er langsam zu der Festgemeinschaft zurück, nicht ohne dabei nach Kräften zu schimpfen.
»Diese Rübe«, hörte Matteo noch, als er das Motorboot bestieg. »Genauso eine Diva wie sein albernes Auto.«
Als das Boot Fahrt aufnahm, nickte Matteo dem Mann am Steuer zu.
»Danke fürs Mitnehmen.«
»Da niente. Gern. Auch nicht so ein großer Partyfreund?«
Matteo grinste schief.
»Geht so.«
»Du hast das Buffet gemacht, oder? Sei froh, dass du nicht auf der Party da drüben gewesen bist.« Der Mann deutete zur Isola Bella hinüber. »Die Schnösel hätten kräftig die Nase gerümpft über so viel Hausmannskost.« Er grinste. »Aber mir hat es geschmeckt.«
»Was war das für eine Veranstaltung?«
»Keine Ahnung. Ich bin ja hier die ganze Zeit eingespannt gewesen. Aber wenn da etwas stattfindet, sind das meistens irgendwelche steifen Empfänge. Geschäftsleute aus Mailand oder Turin oder was weiß ich. Hab ein paarmal dort gekellnert. Aber ich frag nicht groß nach, wenn ich irgendwo Geld verdiene. Die Party von dem schrägen alten Vogel hat eindeutig mehr Spaß gemacht.«
»Was machst du sonst?«
Der junge Mann streckte Matteo die Hand entgegen.
»Roberto. Ich betreibe den kleinen Kiosk auf dem Parkplatz der großen Anlegestelle von Stresa. Abends bessere ich meine Einnahmen durch solche Kellnerjobs hin und wieder ein bisschen auf.«
»Matteo«, erwiderte Matteo. Da Roberto wusste, dass er für das Buffet zuständig gewesen war, war ihm sicher ohnehin klar, wen er da in seinem Boot mitnahm.
Es war nur ein vager Impuls, der Matteo zu seiner folgenden Frage bewog.
»Weißt du zufällig, ob hier nach Einbruch der Dunkelheit noch Schiffe verkehren?«
»Natürlich, wir fahren doch auch. Von einem Nachtfahrverbot habe ich noch nichts gehört.«
»Ich meine keine privaten Motorboote, sondern die Fährschiffe, die zu den Inseln und hinüber zum Ostufer des Lago fahren.«
»Nicht, dass ich wüsste. Die letzten Schiffe legen gegen 19.00 Uhr von den Inseln ab, dann sind sie gegen 19.15 Uhr in Stresa. Danach ist der Laden dicht.«
Matteo nickte nachdenklich. Sein Blick wanderte über die dunklen Wellen, die gegen das Boot schwappten. Die Anlegestelle war nicht mehr weit entfernt.
»Und wurde schon mal eins gestohlen oder entwendet?«
»Gestohlen? Die alten Kähne? Wozu das denn?«
Roberto fuhr eine so scharfe Kurve, dass Matteo unsanft gegen die Bordwand prallte, dann hatten sie den Anleger von Piazzale Lido erreicht.