Für Helen, weil du immer da bist
Die Kinder schliefen. Noch war die Sonne nicht über der Wiese mit den roten Baracken aufgegangen, die Jollen, die hochgezogen auf der Holzrampe lagen, glänzten vom Tau.
In jeder der Holzhütten gab es zwei Schlafsäle, in denen jeweils acht Kinder lagen. Acht Mädchen und Jungen, manche mit Pausbacken und schmalen Körpern, andere pubertär mit erstem Bartflaum und sich entwickelnden Brüsten.
Er hatte eine Weile hinter den Bäumen gewartet, jetzt zog er sich die Mütze tief in die Stirn und blickte sich um. Es wurde rasch hell, die Vögel zwitscherten schon lauter.
Er ging näher heran.
In der ersten Baracke stand das Fenster einen Spalt offen. Dahinter erkannte er schlafende Gestalten mit zerzausten Haaren und sonnenbraunen Gesichtern, die Stirn feucht von der Wärme. Arme hingen über Bettkanten herab.
Sorgfältig untersuchte er die Eingangstür. Sie schien nicht abgeschlossen zu sein, im Spalt zwischen Türblatt und Rahmen war kein Schließbolzen zu sehen.
Er drehte den Kopf und ließ dabei den Blick über das Camp wandern. Einige Hundert Meter entfernt wohnten die Betreuer, aber ihre Unterkünfte wurden vom Kiefernwald verdeckt. Sie waren lange auf gewesen, erst nach Mitternacht war das letzte Licht ausgegangen.
Leises Plätschern durchbrach die Stille. Eine Seeschwalbe stieß auf die spiegelblanke Wasseroberfläche herab. Ein paar kaum wahrnehmbare Spritzer, dann war wieder alles glatt.
Es würde eine Sache von Sekunden sein, er wusste genau, wie er vorgehen musste.
Donnerstag, 12. Juni 2014
»Mach nicht so ein Gesicht, Benjamin.« Åsa Dufva lächelte ihren Sohn aufmunternd an. »Andere Kinder wären froh, wenn sie ins Segelcamp dürften.«
Benjamin antwortete nicht. Er saß auf der Bettkante, mit gesenktem Kopf und dem Smartphone in der Hand, aus dem das leise Gedudel eines Spiels zu hören war.
Åsa faltete noch eine Jeans zusammen und legte sie in die Reisetasche, die in Benjamins Zimmer auf dem Fußboden stand. Sie hatte schon mehrere T-Shirts und einen Kapuzenpullover eingepackt, ebenso wie die Segelausrüstung und eine alte Schwimmweste, die sie von einer Bekannten bekommen hatte.
»Du findest bestimmt schnell neue Freunde. Vielleicht sind sogar Jungs von deiner Schule da?«
Benjamin sagte immer noch nichts. Sein Blick klebte auf dem iPhone, einem Geschenk seines Vaters.
Åsa biss die Zähne zusammen, als sie daran dachte, wie Christian vor gut einem halben Jahr mit Benjamins Geburtstagsgeschenk aufgekreuzt war. Benjamin war vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen und hatte sich nicht daran gestört, dass sein Papa kaum eine Stunde blieb. Aber Åsa hatte Christians gestressten Gesichtsausdruck gesehen, als er sich verabschiedete. Voller Ungeduld, nach Hause zu Ninna und dem Baby zu kommen.
Jetzt blickte Benjamin auf.
»Muss ich dahin?«
Er klang eher verzagt als trotzig. Benjamin würde sich nie gegen seinen Vater auflehnen.
Åsa öffnete den Mund, machte ihn aber gleich wieder zu.
Sie hätte Christian sagen sollen, dass das Segelcamp eine dumme Idee war. Nur weil er das Lagerleben liebte, hieß das noch lange nicht, dass es auch etwas für seinen Sohn war. Benjamin war nicht sportbegeistert wie sein Vater, auch nicht besonders gesellig oder aufgeschlossen. Er blieb am liebsten für sich, hockte auf dem Sofa und spielte Computerspiele.
Aber wie üblich hatte Christian seinen Willen durchgesetzt.
Als er erzählte, er habe Benjamin für das Camp angemeldet, war schon alles fix und fertig organisiert. Sieben Tage würde der Aufenthalt dauern, einen Tag vor Mittsommer sollte Åsa ihn wieder abholen. Morgen würden Christian und Benjamin die Fähre nach Sandhamn nehmen und von dort aus nach Lökholmen übersetzen, wo das Camp stattfand.
Åsa seufzte.
»Vergiss nicht, dir morgens und abends die Zähne zu putzen«, sagte sie ein bisschen zu hastig.
Sie legte einen letzten Pullover zusammen.
»Hast du gehört, was ich über das Zähneputzen gesagt habe?«
»Ich bin da bestimmt der Kleinste.« Benjamin blickte von seinem Handy auf. »Die meisten sind sicher schon in der Siebten oder Achten, und nicht mehr in der Mittelstufe.«
Da hatte er recht. Benjamin würde zu den Jüngsten gehören, und in seiner Klasse war er einer der Kleinsten. Auch darin unterschied er sich von seinem Vater, der groß und breitschultrig war.
Åsa setzte sich neben Benjamin aufs Bett.
Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte die Beine hochgezogen. Sein hellbrauner Pony hing ihm tief in die Stirn, aber Åsa wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihm die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Er würde nur ärgerlich werden, wenn sie es versuchte.
Ohne sie anzusehen, sagte er: »Ich kann nicht segeln.«
»Deshalb fährst du ja ins Camp. Um es zu lernen.«
Åsa versuchte, aufmunternd zu klingen, aber es fiel ihr schwer, einen neutralen Ton anzuschlagen.
Es war Christian, der seinen Sohn dazu zwang, nicht sie. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie und Benjamin ein paar Tage bei ihren Eltern in Småland verbracht, so wie sie es jedes Jahr in der Woche vor Mittsommer taten.
Aber es würde nicht dazu beitragen, dass Benjamin sich besser fühlte, wenn sie einen sarkastischen Kommentar darüber abgab, dass Christian meinte, er könne sich von allem freikaufen.
»Es ist doch nur eine Woche«, sagte sie. »Die geht schnell vorbei. Du weißt ja, wie sehr Papa möchte, dass du dorthin fährst.«
Sie konnte es nicht lassen, ihm durchs Haar zu wuscheln, aber er drehte sich sofort weg, wie immer.
Es war schon fast neun Uhr, sie musste zusehen, dass sie fertig wurde, damit Benjamin ins Bett kam. Christian würde ihn schon morgen früh um halb acht abholen, und sie selbst war nach der langen Schicht im Krankenhaus auch müde. Wie üblich waren sie viel zu wenige Hebammen auf der Station.
Åsa stand auf und nahm einen Pyjama aus der obersten Kommodenschublade. Er war aus hellblauem Flanell, der Stoff war sanft und weich unter ihren Fingerspitzen.
Das unruhige Gefühl in ihrem Bauch wuchs.
Obwohl es Christian war, der darauf bestanden hatte, dass Benjamin ins Camp fuhr, war sie es, die ihren Sohn trösten musste. Christian machte sich keine Sorgen, dass Benjamin traurig sein oder Heimweh bekommen könnte.
»Du wirst sehen«, sagte sie und fragte sich, wen sie eigentlich beruhigen wollte. »Das wird eine tolle Zeit im Schärengarten.«
Nora Linde schlug den Ordner mit Verhörprotokollen zu und schob ihn weg. Am Montag sollte der Prozess beginnen. Der letzte vor ihrer Hochzeit.
Sie lächelte. Um fünfzehn Uhr am Tag vor Mittsommer würden Jonas und sie in der Kapelle auf Sandhamn getraut werden. Die kleine Julia sollte Blumen streuen, und Wilma, die Tochter von Jonas, war Brautjungfer. Adam und Simon waren beide Trauzeugen.
Nora hatte schon angefangen, die verschiedenen Wetterseiten im Netz zu beobachten. Jonas lachte über ihre eifrigen Versuche, sich zu versichern, dass am Hochzeitstag schönes Wetter sein würde. Jetzt schien die Sonne vor den Fenstern der Behörde zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, aber das Mittsommerwetter war bekannt für seine Unzuverlässigkeit.
Ihr Blick fiel auf den Monitor, und ihr Lächeln verschwand.
Am Morgen war eine weitere anonyme Mail zum Prozess eingetroffen. Der Inhalt war der gleiche wie bei den vorangegangenen: aggressive Anschuldigungen gegen ihren Hauptbelastungszeugen.
GLAUBEN SIE DEM SCHEISSKERL NICHT!
Die ganze Mail war böse und gehässig und der anonyme Absender nicht zu ermitteln.
Es klopfte an der halb offenen Tür. Als Nora aufblickte, stand Åke Sandelin auf der Schwelle, Chefankläger der Ersten Abteilung für Wirtschaftsdelikte.
»Störe ich?«, fragte er und nahm die schmale Hornbrille ab.
»Gar nicht. Kommen Sie rein.«
Nora zeigte auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Ihr Chef nahm auf dem grünen Polsterstuhl Platz und warf einen Blick auf das Aktenzeichen des Ordners, den sie gerade weggelegt hatte: B 1216-14, Der Staat gegen Niklas Winnerman und Bertil Svensson.
»Ich dachte mir schon, dass Sie den Prozess nächste Woche vorbereiten.«
Nora nickte.
Sie hatte während des Frühjahrs viel Zeit mit dem anstehenden Verfahren gegen Byggallians verbracht, eine Baufirma, deren Geschäftsführer das Unternehmen um so viel Geld betrogen hatte, dass es Insolvenz anmelden musste. Nora hatte Anklage wegen schwerer Untreue gegen ihn erhoben und eine langjährige Gefängnisstrafe gefordert.
»Was haben Sie für ein Gefühl?«
»Ach, ein ganz gutes eigentlich.«
Die Behörde zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, kurz EBM, hatte in den vergangenen Jahren einige aufsehenerregende Rückschläge hinnehmen müssen. Sie hatten mehrere große Verfahren vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht verloren, und die Medien hatten nicht gezögert, ihnen Erfolglosigkeit vorzuwerfen.
Nora wusste, dass der Generaldirektorin sehr daran gelegen war, die Statistik aufzubessern.
»Wir werden den Fall gewinnen«, fügte sie hinzu.
»Machen Sie sich keine Sorgen, dass der Geschäftsführer sich mit einem Meineid herauswindet?«
Åke hatte sich in den Fall eingelesen, wie immer.
Der Geschäftsführer, Niklas Winnerman, hatte die Vorwürfe von Anfang an bestritten, und es war abzusehen, welche Schiene die Verteidigung fahren würde: dass die EBM die ganze Sache missverstanden habe und versuche, einen Unschuldigen hinter Gitter zu bringen.
»Shit happens«, wie es sein Verteidiger in einer der frühen Anhörungen ausgedrückt hatte. »Ein schlechtes Geschäft zu machen, ist kein Verbrechen. Zumindest noch nicht.«
»Die Zeugenaussage des Verkaufsleiters wird entscheidend sein«, räumte Nora ein.
Sie deutete auf den hellbraunen Ordner.
»Ich habe mir gerade noch einmal alle Vernehmungsprotokolle durchgelesen. Christian Dufva schwört, dass Winnerman für das Geschäft, das zum Konkurs führte, die alleinige Verantwortung trägt. Winnerman hat dafür gesorgt, dass die Firma zehn Millionen Kronen für ein wertloses Bebauungsrecht bezahlte. Anschließend hat er es geschafft, das Geld im Ausland zu verstecken, bevor ihm jemand auf die Schliche kommt.«
»Nettes Sümmchen«, sagte Åke.
Nora konnte ihm nur zustimmen.
»Das war viel zu viel Geld für eine Firma dieser Größe«, sagte sie. »Als immer mehr Lieferantenrechnungen offenblieben, dauerte es nicht mehr lange, bis beantragt wurde, die Firma für zahlungsunfähig zu erklären.«
Auf dem Gang wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Es ging auf Feierabend zu, bald würden die meisten Büros verlassen sein.
»Wenn der Insolvenzverwalter nicht Verdacht geschöpft hätte, wäre Winnerman vermutlich ungeschoren davongekommen«, fügte sie hinzu.
»Ich meine mich zu erinnern, dass dieser Geschäftsführer ziemlich geschickt vorgegangen ist«, sagte Åke und schlug ein Bein übers andere.
Nora nickte.
Winnerman hatte sich hinter einer Scheinfirma versteckt und einen Strohmann eingesetzt, der für alles den Kopf hinhalten musste. Er hieß Bertil Svensson und war ein schwer alkoholkranker Mann, der seine Tage auf einer Bank im Hallunda Centrum in Norsborg verbrachte. Er war ebenfalls angeklagt, wegen Beihilfe.
Für zehntausend Kronen und ein paar Flaschen Schnaps hatte Svensson alle Verträge unterschrieben und das Geschäft nach außen vertreten, sodass Winnerman bei der ganzen Sache nicht in Erscheinung trat.
»Deshalb ist die Zeugenaussage des Verkaufsleiters so wichtig«, sagte sie. »Mit seiner Hilfe werde ich das Gericht davon überzeugen können, wie es sich wirklich zugetragen hat.«
Christian Dufvas Verbitterung war bei der Vernehmung nicht zu übersehen gewesen. Nora war überzeugt, dass er alles daransetzen würde, seinen ehemaligen Kompagnon hinter Gitter zu bringen. Zehn Jahre hätten sie die Firma gemeinsam aufgebaut, und das sei nun der Dank, hatte er frustriert gesagt.
»Das Geld wurde nie gefunden, oder?«, fragte Åke.
»Leider nicht.«
Das war ein Rückschlag gewesen. Das Geld war direkt auf ein anonymes Bankkonto im Ausland transferiert worden. In diesem Teil stützte sich die Beweisführung auf Indizien.
Es wurmte Nora, dass es ihnen nicht gelungen war, das Geld bei Winnerman zu finden. Sie wusste, dass die Verteidigung das im Prozess als Totschlagargument benutzen würde. Leila Kacim, die junge engagierte Kriminalkommissarin, die den Fall bearbeitete, hatte jeden Stein umgedreht, aber bisher ohne Erfolg.
»Haben Sie eine Theorie, wo es geblieben sein könnte?«, fragte Åke.
Nora schüttelte den Kopf.
Winnerman hatte keine Millionen auf dem Konto, das hatten sie genau überprüft. Er wohnte in einer hoch belasteten Dreizimmer-Eigentumswohnung in der Innenstadt und besaß zusammen mit seiner Schwester ein Ferienhaus auf Ingarö. Sonstiges Vermögen war nicht vorhanden.
Nora hatte viel über das verschwundene Geld nachgedacht, war aber zu keiner vernünftigen Theorie gekommen.
Ob sie etwas über die anonymen Mails sagen sollte?
Sie zögerte, bisher hatte sie ihnen keine größere Bedeutung beigemessen. Die meisten Ankläger erhielten ab und zu solche Post.
Bevor sie etwas sagen konnte, erhob sich Åke Sandelin.
»Ich glaube, Sie haben die Sache trotzdem ganz gut im Griff. Sehr schön.«
An der Tür blieb er stehen.
»Ach übrigens, Sie wissen sicher, dass Ende des Sommers der Posten des stellvertretenden Chefanklägers zu besetzen ist? Wenn das hier gut ausgeht …«
Er hob vielsagend die Augenbrauen, und Nora musste unwillkürlich lachen. Ihre Gedanken waren sofort auch in diese Richtung gegangen, als sie von der neu geschaffenen Stelle gehört hatte. Im Kopf hatte sie bereits begonnen, ihre Bewerbung zu formulieren.
»Die Generaldirektorin verfolgt den Fall sehr aufmerksam«, sagte Åke. »Enttäuschen Sie sie nicht.«
Es ging auf vier Uhr zu, und die Bäckerei würde bald schließen. Er hatte sich beeilen müssen, um noch Brot zu bekommen.
Als er mit der Brottüte in der Hand auf die Treppe hinaustrat, entdeckte er das kleine Mädchen.
Die Fliederhecke, die das Nachbarhaus von der Bäckerei trennte, blühte in voller Pracht, die Luft war satt vom Duft der violetten Blüten. Die gusseisernen weißen Stühle, auf denen die Kunden der Bäckerei sich niederlassen und Kaffee trinken konnten, standen in der Nachmittagssonne.
Heute war er der Einzige hier draußen. Die Saison hatte noch nicht richtig begonnen, obwohl es heiß war wie an einem Hochsommertag.
Das Mädchen trug ein hellblaues Baumwollkleid, das bis kurz oberhalb der Knie reichte. Ihre Füße steckten in Sandalen, die fast dieselbe Farbe hatten wie das Kleid. Die Schulterträger waren im Nacken zu einer Schleife gebunden.
Wie alt mochte sie sein? Elf vielleicht?
Das war genau das richtige Alter, sie war immer noch ein Kind. Die Nase hatte schon Sommersprossen von der Frühlingssonne, der Mai war ein ungewöhnlich schöner Monat gewesen. Er hatte viele Nachmittage auf den Parkbänken vor Schulen und Kindergärten verbracht. Niemandem fiel ein ganz durchschnittlicher Mann auf, der sich die Zeit nahm, die erste Frühlingssonne zu genießen.
Er ging ein paar Schritte näher.
Das braune Haar des Mädchens war zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Die Haare waren lockig, und auch das zog ihn an. Genauso mochte er es, er konnte die seidenweichen Strähnen fast zwischen den Fingern spüren. Die Brüste konnte man schon erahnen.
Die Kleine hatte keine Ahnung, dass er sie beobachtete. Ihr ganzes Interesse galt einem fetten Labrador, der an der Treppe zu Sandhamns Värdshuset saß. Die Leine war nachlässig um das Geländer geschlungen, und der Hund saß vor dem Restaurant und ließ die Zunge aus dem Maul hängen.
Sie ging zu ihm und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Das Tier stand auf und ließ sich wohlig das Fell kraulen. Es hob die Nase und beantwortete die Zuwendung mit eifrigem Schwanzwedeln.
Als das Mädchen vor dem Hund in die Knie ging, kamen ihre nackten Schultern und der schmale Hals zum Vorschein.
Sie neigte den Kopf, und die einladende Geste blieb ihm nicht verborgen. Die Sonne schien direkt auf die zarte Haut, die hier heller war als an Armen und Beinen, weich und samtig, da die Haare sie sonst vor der Sonne schützten.
Er konnte sich diese nackte, weiche Haut vorstellen. Wie der helle Flaum sich unter seinen Fingerspitzen anfühlen würde, dieses erregende Gefühl von jungem Körper.
Seine Hand schloss sich fester um die Brottüte. Er leckte sich die Lippen und reckte das Kinn, um besser sehen zu können.
»Entschuldigung?«
Eine dicke Frau in zu engen Jeans klopfte ihm auf die Schulter.
»Sie stehen im Weg.«
Er murmelte eine Entschuldigung, wich ihrem Blick instinktiv aus und tat so, als würde er an einer Fliedertraube riechen.
Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Das war ein Reflex, der ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.
Als die Frau sich vorbeigezwängt hatte und er wieder aufblickte, war das Mädchen weg. Nur der schwarze Hund saß noch an der Treppe.
Aber das machte nichts, schließlich würde er mehrere Tage auf Sandhamn bleiben. Und auch morgen wieder Brot kaufen.
Thomas Andreasson hatte kaum Zeit, die Eingangstür zur Wohnung auf Söder aufzuschließen, als Elin auch schon an ihm vorbei zur Toilette sauste. Dass er den Schlüssel zum Querriegelschloss benutzen musste, zeigte ihm, dass Pernilla immer noch in der Firma war.
Die SMS, in der sie ihn bat, Elin abzuholen, obwohl sie eigentlich an der Reihe gewesen wäre, hatte ihn zwar vorgewarnt. Aber es war diese Woche schon der dritte Abend, an dem sie Überstunden machte. Er hatte gehofft, dass sie wenigstens zur selben Zeit nach Hause kommen würden.
Thomas schloss die Tür hinter sich, hängte die abgeschabte Jeansjacke an die Garderobe und fuhr sich durchs blonde Haar.
»Was gibt’s zum Abendbrot?«
Elin war aus dem Bad gekommen und zog sich die rosa Schuhe mit Barbie obendrauf aus.
»Hast du dir die Hände gewaschen?«
Sie hielt beide Handflächen hoch.
»Kommt Mama bald?«
»Wir zwei werden wohl allein essen.«
»Ist Mama heute Abend schon wieder weg?«
Elins kleines Gesicht schrumpfte zusammen. Thomas hob sie hoch und warf sie ein paarmal in die Luft. Kitzelte sie am Hals, bis sie wieder lachte.
»Wir können auf dem Balkon essen, wenn du willst.«
Thomas drehte Elin herum, sodass sie aus dem Balkonfenster sehen konnte. Davor lag der alte Innenhof, in dem die Zeit seit dem Bau des Hauses Anfang des letzten Jahrhunderts stehen geblieben war.
»Wie wär’s mit Papas selbst gemachten Hamburgern? Die magst du doch immer gern.«
»Ich will, dass Mama mit uns Abendbrot isst.«
Elin verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.
Darauf wusste Thomas keine gute Antwort. Er strich seiner Tochter über den Kopf und setzte sie auf dem Boden ab. Dann ging er in die Küche, die um diese Tageszeit im Schatten lag. Hatten sie nicht noch ein halbes Pfund Hackfleisch im Gefrierschrank? Das sollte für zwei Leute reichen.
Pernilla ging ganz in ihrem neuen Job als Markenchefin des nordischen Telekomunternehmens auf. Sie arbeitete nur noch, da hatte Elin recht. Wenn sie nicht gerade im Büro war, telefonierte sie oder schrieb lange Mails auf ihrem Laptop. Ständig plingte das Handy, weil neue SMS eintrafen, und wenn sie morgens aufwachte, checkte sie als Erstes ihre Mails. Die meiste Zeit des Wochenendes ging dafür drauf, »die Woche vorzubereiten«.
Das Klingeln seines Handys unterbrach seine frustrierten Gedanken.
Margit Grankvists Name erschien auf dem Display. Es war erst ein paar Stunden her, seit sie sich auf der Polizeiwache in Nacka einen schönen Feierabend gewünscht hatten. Er hoffte wegen Elin, dass es kein Notfall war.
»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte Margit.
Wie immer kam seine Chefin sofort zur Sache.
»Worum geht’s?«
»Kannst du die Abteilungsbesprechung morgen früh übernehmen? Ich habe um acht einen Termin beim Zahnarzt. Mein Weisheitszahn macht Ärger.«
Margit hatte den ganzen Nachmittag schon so gequält ausgesehen.
»Klar. Kein Problem.«
»Danke. Ich denke, ich bin gegen zehn im Büro. Falls der Zahnarzt mich am Leben lässt.«
Der Scherz klang eher angestrengt als locker.
Thomas steckte das Handy in die Gesäßtasche.
Er hatte es zum großen Teil Margit zu verdanken, dass er hatte zurückkommen dürfen, obwohl er letzten Sommer aus dem Polizeidienst ausgestiegen war. Seit April war er wieder auf seiner alten Dienststelle, und er wusste, dass Margit an ganz schön vielen Fäden hatte ziehen müssen, um ihm die Rückkehr zu ermöglichen.
Er holte eine viel benutzte Bratpfanne hervor und stellte sie auf den Herd.
Als Pernilla vor zehn Monaten der neue Job angeboten worden war, hatte er sie ermuntert, ihn anzunehmen. Aber da hatte er nicht geahnt, wie überarbeitet sie sein würde. Dazu kamen die ganzen Reisen, immer hin und her zwischen den skandinavischen Hauptstädten. Langsam hatte er es wirklich satt, den Rollkoffer wartend in der Diele stehen zu sehen.
Sie waren in eine Routine hineingerutscht, bei der Elin entweder von Thomas abgeholt wurde oder von seiner Mutter, die zum Glück gerne einsprang.
Thomas war inzwischen gut darin, Abendessen für zwei zu machen, aber ohne Elins Oma wäre das alles nicht gegangen. Es war reines Glück, dass es seit seiner Rückkehr zur Polizei so ruhig geblieben war.
Im Gefrierschrank lagen noch ein paar Hamburgerbrötchen. Thomas nahm sie heraus, schnitt Zwiebeln und Tomaten in Scheiben und holte die Ketchupflasche aus der Vorratskammer.
Im Küchenfenster blickte ihm ein Mann von sechsundvierzig Jahren entgegen, mit düsterem Gesichtsausdruck und beginnenden Falten von der Nase zum Mund. Es dauerte einen Moment, bis Thomas aufging, dass es sein eigenes Spiegelbild war.
Ungefähr zur selben Zeit, als Pernilla das Jobangebot erhalten hatte, war er von Erik Blom kontaktiert worden, einem früheren Kollegen, der einige Jahre zuvor in die freie Wirtschaft gewechselt war. Erik hatte ihm ein gutes Angebot gemacht, mit einem deutlich höheren Gehalt, als er es bei der Polizei bekam.
Pernilla freute sich so darauf, den Job zu wechseln, dass er sich anstecken ließ. Vielleicht war es auch für ihn Zeit, sich nach etwas anderem umzusehen? Wer rastet, der rostet, hatte er sich eingeredet.
Aber während Pernilla ganz in ihrem neuen Leben als Chefin aufging, hatte Thomas sich hinter dem Schreibtisch eingesperrt gefühlt. Er hatte Sicherheitsberichte verfasst und in Besprechungen über Budgets und Angebote gesessen. Alles sollte möglichst wenig kosten, die Gewinnmargen mussten eingehalten werden.
Nach kaum einem Monat hatte er schon keine Lust mehr gehabt, überhaupt zur Arbeit zu fahren.
Er vermisste den Polizeidienst mehr, als er gedacht hätte. Margits trockene Kommentare, den täglichen Plausch mit seinem Dienstpartner Aram Gorgis und den anderen Kollegen.
Das Gefühl, etwas zu bewirken.
Es hörte sich banal an, aber all das bedeutete ihm etwas, mehr als ihm bewusst gewesen war, als er den neuen Job annahm.
Schließlich hatte er zum Telefon gegriffen, Margit angerufen und gefragt, ob er zurückkommen dürfe. Er hatte gedacht, er würde sich nach etwas anderem sehnen, aber in der Privatwirtschaft hatte er die Antwort jedenfalls nicht gefunden.
Erik war überraschend enttäuscht darüber gewesen, sie hatten seitdem kaum miteinander geredet. Und Pernilla hatte gemeint, er habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, dass er wieder zurück auf die Polizeiwache in Nacka wolle.
Komm nachher nicht an und heul dich bei mir aus.
Vielleicht war das der Moment gewesen, wo eine Kluft zwischen ihnen entstanden war?
Thomas nahm das Hackfleisch aus dem Gefrierschrank und schlug die Tür mit einem Knall zu.
»Bist du böse, Papa?«
Elin stand in der Tür und sah ihn an.
»Aber nein, Spätzchen.« Er beugte sich hinunter und strich ihr über die Wange. »Alles gut. Papa hat nur die Tür ein bisschen fest zugeschlagen. Das hat gar nichts mit dir zu tun.«
Er warf einen Blick auf die Uhr. Halb sechs. Pernilla würde vermutlich nicht vor acht zu Hause sein, wenn überhaupt.
Er hatte es so satt.
»Hallo!«
Fast gleichzeitig mit dem Öffnen der Wohnungstür war Jonas’ Stimme in der Diele zu hören.
»Ich bin in der Küche«, rief Nora leise, um Julia nicht zu wecken.
Es war kurz vor halb zehn, und ihre vierjährige Tochter schlief schon. Simon war mit seinen Kumpels unterwegs, um den Beginn der Sommerferien zu feiern, und Adam war wie üblich bei seiner Freundin Freja.
Jonas kam zu Nora an den Küchentisch und drückte ihr einen leichten Kuss auf den Mund. Sein braunes Haar war feucht vom Nieselregen, der am Abend eingesetzt hatte; ein paar Tropfen saßen auch auf den Silberstreifen an seiner Pilotenuniform. Er lockerte den Schlips, sank auf den Stuhl gegenüber von Nora und deutete mit einem Kopfnicken auf die Papiere, die über den ganzen Küchentisch verteilt lagen.
»Bist du bei den Hochzeitsvorbereitungen?«
»Ich versuche, die Tischordnung festzulegen. Ist dir eigentlich klar, wie viele Kombinationen es für fünfundvierzig Gäste gibt?«
»Spielt es denn eine so große Rolle, wer bei wem sitzt? Das passt schon irgendwie.«
»Bitte.«
Sie schob ihm den Block hin.
»Von mir aus kannst du das gerne übernehmen. Entscheide du nur mal, wer neben deiner Schwester und ihrem Mann sitzen soll. Ganz zu schweigen von deiner Tante.«
»Immer mit der Ruhe.«
Jonas hielt Noras Hand fest und legte sie an seine Wange. Als er lächelte, wurde Nora wieder von Gefühlen übermannt. Genau wie immer.
Ich liebe dich so sehr.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich hatte nicht vor, herumzumeckern, kaum dass du zu Hause bist. Es ist einfach nur ein bisschen viel im Moment. Erst der Prozess nächste Woche und dann die Trauung gleich danach. Ich müsste mich zweiteilen, um alles zu schaffen.«
Die Art, wie Jonas die Schultern straffte, machte sie misstrauisch.
»Ist was?«, fragte sie und entzog ihm ihre Hand.
»Wieso, was soll sein?«
»Du siehst aus, als ob du mir was sagen musst.« Nora lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wartete.
Jonas war noch nie gut darin gewesen, sich zu verstellen. Flackerte sein Blick nicht ein bisschen?
Er zog die Uniformjacke aus und hängte sie über den Küchenstuhl. Jetzt wusste Nora, dass er versuchte, Zeit zu gewinnen.
»Sag schon, was los ist«, sagte sie. »Ich sehe doch, dass du was auf dem Herzen hast.«
»Meine Einsatzleitung hat angerufen.«
Jonas schwieg, aber Nora ahnte schon, was gleich kommen würde.
»Und?«
Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Stimme so scharf klang. Jonas legte seine Hand auf ihren Arm.
»Ich soll am Samstag einen Flug nach Bangkok übernehmen.«
Nora ließ den Stift fallen.
»Aber dann wärst du die ganze nächste Woche weg. Das geht nicht, das siehst du doch wohl ein? Ich bin von Montag bis Mittwoch bei Gericht, und danach müssen wir gleich nach Sandhamn, um die Hochzeit vorzubereiten.«
Jonas machte ein betretenes Gesicht, und Nora wurde klar, dass er bereits zugesagt hatte. Ohne auch nur mit ihr zu reden.
»Es ist ein Notfall«, sagte er. »Sie haben die Bereitschaftsliste schon durch, sonst hätten sie sich nicht bei mir gemeldet. Da es die Mittsommerwoche ist, sind viele verreist.«
»Aber wir heiraten!«
Ihre Stimme kippte und wurde schrill.
Sie stritten sich selten, eigentlich nie. Mit Henrik hatte es dauernd Streitereien und oft richtig Krach gegeben. Aber Jonas war anders. In den letzten fünf Jahren hatten die Kinder kaum laute Stimmen im Haus gehört.
Aber seine Verträglichkeit hatte einen Nachteil. Jonas fiel es schwer, Nein zu sagen. Wenn es etwas gab, was er hasste, dann waren es Konflikte.
»Alles halb so wild«, sagte er sanft.
Er stellte sich hinter Nora und begann, ihren Nacken und die Schultern zu massieren. Es war peinlich offensichtlich, dass er versuchte, ihre Laune wieder zu bessern.
»Ich fliege Samstagabend los und lande Sonntagmorgen in Bangkok. Dann habe ich achtundvierzig Stunden Pause und fliege am Dienstagabend zurück. Mittwochmorgen bin ich wieder in Stockholm, das ist früh genug.«
»Mittwochmorgen?«
Nora starrte Jonas an.
»Das ist nur zwei Tage vor der Trauung!«
»Wir wollten doch sowieso nicht vor Donnerstag nach Sandhamn fahren, oder sehe ich das falsch?«
»Und wenn was schiefgeht? Da ist überhaupt kein Zeitpuffer dazwischen.«
Wie konnte er so unvernünftig sein? Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber in allen Ehren, aber irgendwo gab es ja wohl Grenzen.
»Du wirst völlig geschafft sein, wenn du nach Hause kommst, mit Jetlag und allem.«
»Keine Sorge. Mein Körper kommt gar nicht dazu, sich umzustellen, dazu ist die Zeit viel zu kurz.«
Nora presste die Lippen aufeinander.
Auf dem Tisch lagen die Zettel mit den Namen der Hochzeitsgäste. Bis zur Hochzeit gab es noch so viel zu tun, all die Kleinigkeiten, die organisiert werden mussten. Sollte sie das jetzt alles allein machen?
»Manchmal geht es eben nicht anders. Das solltest du am besten wissen, dir ist dein Job ja schließlich auch wichtig.«
Die Spitze hatte gesessen, aber Nora ließ trotzdem nicht locker.
»Mein großer Prozess beginnt am Montag. Und was machen wir mit Julia, wenn du weg bist? Ich werde rund um die Uhr arbeiten müssen.«
Jonas nahm die Hände von ihren Schultern und rückte einige Zettel gerade, die schräg auf dem Tisch lagen. Dann holte er einen Lappen und wischte ein paar Flecken an Julias Platz weg.
»Kann Adam nicht einspringen? Oder Simon? Es sind doch nur ein paar Tage. Wenn Wilma früher nach Hause gekommen wäre, hätte ich sie gefragt, aber sie landet erst am Mittwochabend.«
Jonas’ Tochter war ein Jahr als Aupair in den USA gewesen und würde gerade rechtzeitig zur Hochzeit wieder zurück in Schweden sein.
Nora löste die Spange, die ihr Haar zusammenhielt, und befestigte sie neu.
Adam würde seinen Ferienjob bei Westerbergs, dem Supermarkt von Sandhamn, erst nach dem Mittsommerwochenende antreten. Simon war auch zu Hause. Die Jungs könnten sich natürlich darin abwechseln, ihre kleine Schwester vom Kindergarten abzuholen.
Aber Nora war immer noch erschüttert und unwillig, darüber nachzudenken.
Die Hochzeit erforderte so viel Vorbereitung. Die ganzen Einladungen, die Besprechungen mit Sands Hotel, wo die Feier stattfinden sollte. Sie war jetzt schon nervös, dass irgendetwas schiefgehen könnte.
Dass eine innere Stimme ihr sagte, ein großer Prozess in derselben Woche wie ihre Trauung sei nicht gerade optimal, machte die Sache auch nicht besser.
Jonas ging neben ihr in die Hocke und zog sie an sich.
»Lass uns nicht darüber streiten«, sagte er mit den Lippen an ihrer Schläfe. »Wo wir jetzt endlich heiraten, du und ich.«
Noras Zorn schmolz dahin wie ein Schneefleck im April.
Sie legte ihre Stirn an seine.
»Du musst mir versprechen, dass du Mittwochmorgen wieder zurück bist«, sagte sie. »Ich will keine Braut sein, die vor dem Altar stehen gelassen wird.«
Sie schenkte ihm ein blasses Lächeln.
»Versprich es mir.«
Es ging auf Mitternacht zu, die Lichter im Mietshaus gegenüber waren nach und nach erloschen. Aber Niklas Winnerman fand einfach keine Ruhe.
Es hatte keinen Sinn, ins Bett zu gehen. Gestern hatte er bis in die frühen Morgenstunden hellwach gelegen, während seine Gedanken sich im Kreis drehten. So wie schon seit vielen Monaten Nacht für Nacht.
Was auch passierte, er durfte auf keinen Fall im Gefängnis landen. Er machte sich keine Illusionen darüber, was ihm sonst blühte. Die Kreditgeber hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, welche Konsequenzen es haben würde, wenn er nicht rechtzeitig bezahlte. Sie hatten gute Kontakte im Knast.
Allein schon die Andeutungen, was ihn dort drinnen erwarten würde, brachten Niklas ins Schwitzen. Er hatte keine Ahnung, wie er in seinem solchen Milieu überleben sollte.
Mehrere Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, Schluss zu machen. Die Firma war weg, sein Lebenswerk zerstört. Jedes Mal, wenn er seine Söhne traf, Albert und Natan, drückte ihn das schlechte Gewissen. Sie waren viel zu jung für das, was er ihnen zumutete.
Aber er wusste, dass es eine andere Art von Mut erforderte, eine solche Tat zu begehen. Er war feige, und selbst dafür verachtete er sich.
Niklas betrachtete die schwarze Fassade, die ihn von gegenüber angähnte. Es war ein hässliches Sechzigerjahrehaus, ein Gebäude, das überhaupt nicht zu den übrigen Jahrhundertwendehäusern im Viertel passte.
Die Unruhe kribbelte in seinem Körper, als er aufstand und in die Küche ging, um sich ein Glas Mineralwasser zu holen. Er hatte schon seit Montag keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Er wusste, dass er einen klaren Kopf behalten musste, in den nächsten Tagen stand so viel auf dem Spiel.
Er füllte das Glas und trank so gierig, dass er die Hälfte verschüttete und ihm die Tropfen übers Kinn liefen. Aber Mineralwasser half nicht, er sehnte sich nach einem ordentlichen Drink.
Irgendwo in der Ferne jaulte die Sirene eines Rettungswagens.
Am Montag würde der Prozess beginnen, und dann würde Christians Zeugenaussage ihm das Genick brechen.
Niklas griff zu seinem Handy und starrte darauf. Er hatte Christian schon so oft angerufen, hatte gebettelt und gefleht, dass er seine Zeugenaussage zurückziehen solle.
Die Telefonnummer war in seine Netzhaut eingraviert.
Sollte er es noch mal versuchen? Christian antwortete nie, er drückte die Anrufe genauso ungerührt weg, wie man eine lästige Mücke totschlägt.
Niklas hielt sich an der Spüle fest, so krampfhaft, dass die Fingerknöchel in der dunklen Küche weiß schimmerten. Dann öffnete er den Gefrierschrank. Die Flasche Wodka lag im obersten Fach, eiskalt. Als ob sie auf ihn wartete.
Das Glas beschlug, als er sich einschenkte. Er kippte den ersten Schnaps, und endlich breitete sich Ruhe in ihm aus. Er goss erneut ein und nahm noch einen kräftigen Schluck.
Mit dem Wodka in der Hand ging er zurück ins Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel und spielte mit dem Handy, bis er schließlich mit dem Zeigefinger Christians Nummer eintippte.
Wie üblich klingelte es, und niemand nahm ab.
Niklas’ Blick fiel auf den Laptop, der zugeklappt auf dem Couchtisch stand.
Er musste dem Drang widerstehen. Aber es juckte in ihm, kribbelte und zog, so wie immer.
Die Zockerei war schuld, dass er in der Scheiße saß. Er musste es sein lassen, er konnte es sich nicht leisten, noch mehr Geld zu verlieren.
Der Laptop lebte vor seinen Augen, pulsierte vor Verheißung, zog ihn magisch an.
Alles ist möglich, lockten die Stimmen in dem schwarzen Gehäuse. Du kannst zurückgewinnen, was du verloren hast, genug, um deine Schulden zu bezahlen. Du kannst ganz neu anfangen.
Gönn es dir.
Er musste wirklich auf andere Gedanken kommen.
Niklas griff nach dem Laptop und klappte ihn auf. Erregung pulsierte durch seinen Körper. Nur kurz, dachte er. Höchstens eine halbe Stunde. Dann logge ich mich aus und gehe zu Bett.
»Ich entscheide immer noch selbst«, murmelte er und nahm einen großen Schluck aus dem Glas.
Freitag, 13. Juni
Christian Dufva wappnete sich innerlich, ehe er an der Tür klingelte. Es blieb ein paar Sekunden lang still, dann hörte er Schritte, die näher kamen. Kurz darauf öffnete Åsa die Tür.
Sie zeigte auf eine Reisetasche und einen zusammengerollten Schlafsack, die in der Diele bereitstanden.
»Da sind Benjamins Sachen«, sagte sie ohne ein Wort der Begrüßung.
Christian schloss für einen Moment die Augen.
Er hatte Åsas Bitterkeit so satt. Sie hatte alles bekommen, was sie wollte, wohnte noch in der großen Wohnung in Vasastan und war rundum versorgt. Er hatte geblutet und sich krummgelegt, um bei der Scheidung all ihre Ansprüche zu erfüllen.
Zum Dank dafür begegnete sie ihm mit Verachtung.
»Wie geht’s dir?«, versuchte er es trotzdem.
»Das geht dich nichts mehr an.«
Zu seiner Erleichterung kam Benjamin angelaufen.
»Hallo, mein Großer«, sagte Christian und umarmte ihn. »Ist das nicht ein toller Tag? Die Sonne scheint, und du fährst in dein allererstes Segelcamp.«
Benjamin nickte, und Christian griff nach der Tasche.
Er hatte nicht vor, sich den Tag von Åsa kaputt machen zu lassen, er hatte sich darauf gefreut, mit Benjamin raus in den Schärengarten zu fahren. Sie verbrachten viel zu wenig Zeit miteinander.
»Kannst du den Schlafsack nehmen, Benjamin? Wir müssen los.«
Christian ging voraus zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Im selben Moment klingelte sein Handy.
Als er den Namen auf dem Display sah, war seine gute Laune wie weggeblasen.
Warum konnte Niklas ihn nicht in Ruhe lassen?
»Pass auf hier.«
Papas Stimme war schuld, dass Benjamin mit dem Fuß falsch aufkam und hinfiel, als er den Schritt von Bord an Land machte. Zwei ältere Jungs, die schon abgesprungen waren, fingen an zu lachen. Benjamin merkte, wie er rot anlief.
Hoffentlich wollen die nicht auch ins Camp.
Die Fähre nach Lökholmen war voller Eltern und Kinder, die auf dem Weg ins Camp waren, das sah er an dem ganzen Gepäck. Die meisten schleppten Seesäcke und dicke Reisetaschen, viele trugen Schwimmwesten über dem Arm.
Fast alle Kinder hatten beide Eltern dabei.
»Jetzt komm, Benjamin. Trödel nicht.«
Papa klang ungeduldig, genau wie schon auf der Autofahrt nach Stavsnäs, wo sie an Bord der Waxholmfähre gegangen waren. Benjamin hatte sich so gefreut, als Papa ihn abgeholt hatte, aber dann hatte sein Handy geklingelt und alles kaputt gemacht. Das Handy hatte immer wieder geklingelt, ohne dass Papa rangegangen war, und mit jedem Mal war er ärgerlicher geworden.
Benjamin hatte sich tief in den Beifahrersitz gedrückt und mit seinem eigenen Handy gespielt, bis ihm schlecht wurde und er aufhören musste.
Papa war schon ein Stück auf dem schmalen Waldweg von der Anlegestelle Trollharan vorausgegangen. Benjamin griff eilig nach dem Schlafsack und lief ihm hinterher.
Sie gingen an einer Müllsammelstelle vorbei, und dann kam die Pontonbrücke nach Lökholmen. Der Gästehafen lag auf der rechten Seite, mit einem breiten Holzsteg entlang der Klippen, an dem ein paar Boote vertäut waren.
Als Benjamin den Kopf drehte, entdeckte er das Segelcamp auf der anderen Seite der Bucht.
Ein Dutzend kleine Segelboote lagen hochgezogen auf einer breiten Rampe. Dahinter wuchs hellgrünes Schilf, und ein Stück weiter standen rote Baracken. An einer hohen Fahnenstange in der Mitte eines sandigen Grasplatzes wehte die schwedische Flagge.
Durch die schmale Einfahrt zur Bucht kam eine große Motorjacht herein. Auf dem Vordeck sah Benjamin einen Jungen, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als er selbst. Wahrscheinlich wollte er auch ins Camp.
»Steh nicht da und träum, Benjamin. Komm und schau dir an, wie schön es hier ist.«
Benjamin beeilte sich, ihn einzuholen.
Papa ging über die große Wiese am Inselrestaurant, einem großen weißen Zelt vor einem Gebäude, das wie eine Berghütte aussah. Der Weg ging auf der anderen Seite weiter, und als Benjamin die Hügelkuppe erreichte, waren es nur noch fünfzig Meter bis zum Segelcamp.
Er blieb wieder stehen. Auf dem weiten Grasplatz wimmelte es von Kindern. Er hatte nicht erwartet, dass es so viele sein würden.
Papa war schon angekommen, er ging zu einer jungen Frau in Jeansshorts, um sich zu erkundigen, wo Benjamin untergebracht war.
Benjamin wartete im Hintergrund.
»Komm mit«, sagte Papa, als er zurückkam. »Du wohnst in einem Haus, das ›Stern‹ heißt. Klingt doch super!«
Er führte ihn zu einem der roten Häuser und stieß eine weiße Tür auf, die nur angelehnt war.
»Hier muss es sein.«
An jeder Seite einer kleinen Diele lagen zwei große weiß gestrichene Schlafräume mit Etagenbetten an den Längswänden. Die meisten Betten waren bereits belegt, Taschen und Schwimmwesten häuften sich wild durcheinander auf den Matratzen.
Aber vorn am Fenster war noch ein Platz frei.
Papa legte Benjamins Sachen auf das Bett.
»Hier, was hältst du davon?« Er blickte aus dem Fenster. »Du kannst sogar ein Stück vom Meer sehen. Nicht schlecht. Der beste Platz im ganzen Zimmer.«
Benjamin entdeckte sandige Fußspuren auf dem graublauen Kunststoffbelag und einen zusammengedrückten Colabecher unter seinem Bett.
Das hier musste der schlechteste Platz sein, wenn ihn kein anderer wollte.
»Was sagst du dazu?«
»Ist okay«, sagte Benjamin schnell.
Papa klang so gestresst.
»Hier kannst du deine Sachen verstauen.«
Papa zeigte auf eins der Regale und blickte wieder auf sein Handy. Das war schon das vierte Mal, seit sie angekommen waren, Benjamin hatte mitgezählt.
An der Innenseite der Tür hing ein weißes Blatt Papier, eine maschinengeschriebene Liste mit Namen. Es waren acht, genauso viele wie Schlafplätze in diesem Raum.
»Kennst du jemanden davon?«, fragte Papa.
Benjamin trat zu ihm und las:
Linus Andersson
Markus Grönvall
Lukas af Helsing
Sebastian Grandin
Samuel Karlberg
Oscar Hagander
Martin von Post
Benjamin Dufva
Benjamin schüttelte den Kopf. Warum stand sein Name an letzter Stelle? Hatte das etwas zu bedeuten?
»Das macht nichts«, sagte Papa. »Ihr freundet euch sicher schnell an. Das ist immer so in einem Camp. Besonders in deinem Alter.«
Sein Blick wurde weicher. Die Falten auf der Stirn glätteten sich, er sah nicht mehr so müde aus.
»Ich war erst zehn, als ich zum ersten Mal hierherdurfte«, sagte er. »Das war wohl der beste Sommer meines Lebens, ich habe viele neue Freunde gefunden.«
Er lächelte, und Benjamin erkannte kurz seinen alten Papa wieder, wie er vor der Scheidung gewesen war.
Es gab ein Leben davor und danach. Einen Davor-Papa und einen Danach-Papa.
Benjamin blickte wieder auf die Liste und las:
Gruppenbetreuer: William Sjölund und Isak Andrén
Die Namen der Betreuer kannte er auch nicht, und er fragte sich, ob sie nett waren.
Papas Handy klingelte. Das Geräusch hallte durch den Raum. Sofort verschloss sich sein Gesicht wieder, und seine Lippen wurden schmal, als er das Handy aus der Tasche zog.
Für einen Moment glaubte Benjamin, er würde den Anruf wieder wegdrücken, so wie er es schon den ganzen Morgen getan hatte. Aber diesmal nahm er ihn an.
Benjamin bekam nur ein paar Wortfetzen mit, und dass Papa im Moment nicht reden könne.
»Hörst du mir nicht zu?«
Papa brüllte plötzlich so laut, dass Benjamin zusammenzuckte.
»Ruf mich nicht mehr an! Lass mich in Ruhe!«
Er steckte das Handy mit einer heftigen Bewegung zurück in die Gesäßtasche, ganz weiß im Gesicht.
Ohne Vorwarnung schlug er die rechte Faust in die linke Handfläche. Es klatschte wie bei einer kräftigen Ohrfeige.
Benjamin starrte seinen Vater an. Er hatte ihn noch nie so wütend gesehen und er wagte nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben, geschweige denn, ihn zu fragen, was passiert war. Stattdessen wurden ihm plötzlich die Geräusche bewusst, die von draußen hereindrangen, der Lärm von Hunderten Stimmen im Sonnenschein.
Alle schienen fröhlich zu sein.
Benjamin stand ganz still und konzentrierte sich auf einen Punkt an der Wand, wo ein Rest Spinnwebe hing.
»Jetzt ist sicher Zählappell«, sagte Papa schließlich.
Ohne jede weitere Erklärung ging er aus dem Zimmer, und Benjamin folgte ihm.
Das helle Sonnenlicht blendete ihn nach dem Halbdunkel im Haus, und es dauerte eine Weile, bis die Augen sich daran gewöhnt hatten. Aber dann suchte er nach einem bekannten Gesicht unter all denen, die auf dem Hof standen und schwatzten.
Benjamin scharrte mit dem Fuß im Sand. Mama hatte gesagt, es würden Leute hier sein, die er kannte, aber er sah keinen Einzigen. Im Gegenteil, die meisten schienen älter zu sein, genau wie er befürchtet hatte.
Ein Stück weiter weg standen ein paar Mädchen im Schatten unter einer hohen Kiefer und kicherten. Machten sie sich über ihn lustig?
»Komm hier rüber, Benjamin«, sagte Papa und ging auf einen Tisch zu, auf dem ein großer Korb stand.
Ein Typ mit einem bunten Bandana um den Kopf stellte sich oben auf eine Treppe und begann, durch ein graues Megafon zu sprechen.
»Auf Wiedersehen in einer Woche. Macht euch keine Sorgen, eure Kinder sind bei uns gut aufgehoben.«
Benjamin gehörte zur Gruppe Blau, das waren die, die schon ein bisschen segeln konnten. Er wusste, dass er hier falsch war, Papa hatte ihn nur ein paarmal zum Segeln mitgenommen. Aber Papa fand, es war die richtige Gruppe, und hatte sich nicht um Benjamins Einwände gekümmert.
Er bückte sich und klopfte Benjamin auf den Rücken.
Papas Bartstoppeln waren ganz grau geworden, das war ihm noch nie so aufgefallen wie jetzt. Sein Haar war auch grau, von der braunen Farbe war kaum noch etwas zu sehen.
»Ich muss, Junge«, sagte er in weicherem Ton. »Ich wünsche dir, dass du richtig viel Spaß in dieser Woche hast.«
»Also, bis bald«, sagte er und drehte sich um, ehe Benjamin Tschüss sagen konnte.