Die offenen Adern Lateinamerikas
Aus dem Spanischen
von Angelica Ammar
Peter Hammer Verlag
Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Mitarbeit, die auf die eine oder andere Weise Sergio Bagú, Luis Carlos Benvenuto, Fernando Carmona, Adicea Castillo, Alberto Couriel, André Gunder Frank, Rogelio García Lupo, Miguel Labarca, Carlos Lessa, Samuel Lichtensztejn, Juan A. Oddone, Adolfo Perelman, Artur Poerner, Germán Rama, Darcy Ribeiro, Orlando Rojas, Julio Rossiello, Paulo Schilling, Karl-Heinz Stanzick, Vivian Trías und Daniel Vidart leisteten.
Ihnen und vielen anderen Freunden, die mich während der letzten Jahre bei meiner Aufgabe ermutigten, widme ich das Resultat, an dem sie natürlich unschuldig sind.
Montevideo, Ende 1970
»… Wir haben ein Schweigen bewahrt, das der Dummheit ziemlich nahekommt …«
Diese neue Übersetzung von Die offenen Adern Lateinamerikas berücksichtigt die Ergänzungen, die im Zuge der Neuauflagen eingefügt wurden, weicht abgesehen davon jedoch nicht von dem 1971 in Mexiko veröffentlichten Originaltext ab.
Der Autor bedauert, dass diese Seiten nicht an Aktualität verloren haben. Die Geschichte will sich nicht wiederholen, dem Morgen nur einen anderen Namen für das Heute geben, aber wir zwingen sie, zu einem unabänderlichen Schicksal zu werden, wenn wir uns weigern, die Lektionen zu lernen, die sie uns in ihrer großen Geduld Tag für Tag lehrt.
***
Laut denen, die das Sagen haben, müssen die Länder der südlichen Halbkugel an die Handelsfreiheit glauben (auch wenn es diese nicht gibt), ihren Schulden nachkommen (auch wenn diese unsittlich sind), Investitionen anziehen (auch wenn diese unwürdig sind) und Zugang zur Welt finden (und sei es durch die Hintertür).
Zugang zur Welt finden: Die Welt ist der Handel. Der weltweite Handel, bei dem ganze Länder gekauft werden. Nichts Neues. Lateinamerika wurde geboren, um ihm zu gehorchen, als der Welthandel noch nicht so hieß, und wir sehen uns wohl oder übel weiter an diese Gehorsamspflicht gebunden.
Diese Jahrhunderte alte, triste Routine begann mit Gold und Silber und setzte sich fort mit Zucker, Tabak, Vogeldünger, Salpeter, Kupfer, Zink, Kautschuk, Kakao, Kaffee, Erdöl und den Bananen … Was blieb von den glänzenden Zeiten? Sie hinterließen uns weder Glanz noch Glorie. Gärten, die zu Wüsten wurden, brachliegende Felder, ausgehöhlte Berge, faules Wasser, lange Karawanen von Unglücklichen, die zu einem frühen Tod verurteilt sind, und leere Paläste voller Gespenster.
Jetzt ist die Reihe am gentechnisch veränderten Soja, an den falschen Zellulosewäldern und dem neuen Speiseplan der Autos, die nicht mehr nur Erdöl oder Erdgas schlucken, sondern auch Mais und Zuckerrohr aus riesigen Anbauflächen. Autos zu nähren ist wichtiger als Menschen zu nähren. Und wieder leben wir in der flüchtigen Herrlichkeit, die uns mit Pauken und Trompeten lange Zeiten der Misere ankündigt.
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Wir weigern uns, auf die Stimmen zu hören, die uns davor warnen, dass die Träume des Weltmarkts die Albträume der Länder sind, die sich seinen Launen fügen. Weiterhin applaudieren wir der Plünderung der natürlichen Ressourcen, die uns Gott – oder der Teufel – gegeben hat, und so arbeiten wir unserem eigenen Untergang entgegen und tragen zur Auslöschung der wenigen Natur bei, die noch auf diesem Planeten bleibt.
Exportieren wir Produkte oder exportieren wir Boden und das, was er birgt? Unsere Schwimmweste ist aus Blei: Im Namen von Modernisierung und Fortschritt werden die natürlichen Wälder zugunsten der Industriewälder, Bergwerke und riesigen Plantagen abgeholzt, die den Boden vergiften, alles Wasser schlucken und kleine Pflanzungen und Gemüsegärten verdrängen. Diese allmächtigen, hoch mechanisierten Unternehmen versprechen Tausende von Arbeitsplätzen, beschäftigen tatsächlich aber nur wenige Arbeitskräfte. Vielleicht kommen sie den Werbeagenturen und Medien zugute, die ihre Lügen verbreiten, aber für die armen Bauern sind sie ein Fluch. Die von ihrem Land Vertriebenen schlagen sich in den Elendsvierteln der großen Städte durch und versuchen, sich zu beschaffen, was sie vorher produzierten. Die Landflucht ist die tatsächliche Agrarreform: eine Agrarreform unter umgekehrten Vorzeichen.
Böden, die die Grundbedürfnisse des Binnenmarktes abdecken könnten, werden für ein einziges Produkt im Dienst der ausländischen Nachfrage genutzt. Es ist eine Entwicklung nach außen, und das Innen interessiert nicht. Wenn der internationale Preis für dieses einzige Produkt, ob Nahrungsmittel oder Rohstoff, fällt, brechen mit seinem Preis auch alle Länder ein, die von diesem Produkt abhängen. Und wenn die Kurse bei einer dieser verrückten Schwankungen des Weltmarktes plötzlich in den Himmel schießen, kommt es zu einem tragischen Paradox. Das geschieht heutzutage, um nur ein Beispiel zu nennen, wenn der Anstieg der Nahrungsmittelpreise den Giganten des Agrarhandels die Taschen füllt, gleichzeitig aber den Hunger von Abertausenden verschlimmert, die ihr teuer gewordenes tägliches Brot nicht mehr bezahlen können.
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Ist die Vergangenheit stumm? Oder sind wir weiterhin taub?
Die offenen Adern Lateinamerikas entstand mit dem Ziel, Fakten zu verbreiten, die nicht allgemein bekannt waren. Das Buch umfasst viele Themen. Aber womöglich ist keines so aktuell wie diese hartnäckige Routine der Misere: die Monokultur ist ein Gefängnis. Die Diversifizierung dagegen macht frei. Die Unabhängigkeit beschränkt sich auf eine Nationalhymne und eine Flagge, solange ein Land nicht seine Nahrungsmittelversorgung in der Hand hat. Nur die Diversifizierung der Anbauprodukte kann uns gegen die tödlichen Schläge der internationalen Preisschwankungen verteidigen, die heute für Brot und morgen für Hunger sorgen. Die Eigenständigkeit fängt beim Mund an.
Am 27. Juli 2001 fragte der Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, seine Mitbürger:
»Können Sie sich ein Land vorstellen, das nicht in der Lage ist, genügend Nahrungsmittel für seine Bevölkerung zu produzieren? Dieses Land sähe sich internationalen Nötigungen ausgesetzt. Es wäre ein verletzliches Land. Deshalb handelt es sich, wenn wir über Landwirtschaft sprechen, um ein Thema der nationalen Sicherheit.«
Dieses eine Mal hat er nicht gelogen.
Eduardo Galeano
Montevideo, 2008
Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, dass sich einige Länder aufs Gewinnen, andere aufs Verlieren spezialisieren. Unsere Region, die wir heute Lateinamerika nennen, war darin besonders früh dran: Sie spezialisierte sich aufs Verlieren seit den fernen Zeiten, in denen die Europäer der Renaissance das Meer überquerten und ihr Zähne in den Hals schlugen. Und im Laufe der Jahrhunderte perfektionierte Lateinamerika seine Funktion. Es ist nicht mehr das Reich der Wunder, wo die Wirklichkeit phantastischer war als jedes Märchen und die Goldvorkommen und Silberberge alle Vorstellungen von den Tropen überstiegen. Aber der Subkontinent verharrt weiter in seiner dienenden Position. Er steht nach wie vor fremden Bedürfnissen zu Diensten, als Quelle und Reservelager von Erdöl und Eisen, Kupfer und Fleisch, Obst und Kaffee, Rohstoffen und Nahrungsmitteln für die reichen Länder, die mit dem Konsum dieser Produkte wesentlich mehr verdienen als Lateinamerika mit deren Produktion. Die auf der Käuferseite einbehaltenen Steuern sind um etliches höher als die den Verkäufern bezahlten Preise; aber wie Covey T. Oliver, Koordinator der Allianz für den Fortschritt, im Juli 1968 erklärte, »heute von gerechten Preisen sprechen zu wollen, hat etwas Mittelalterliches. Wir befinden uns mitten in der Epoche des freien Handels …«
Je mehr Freiheit dem Handel zugestanden wird, desto mehr Gefängnisse müssen für diejenigen errichtet werden, die diesem Handel zum Opfer fallen. Unsere Systeme aus Inquisitoren und Henkern funktionieren nicht nur im Hinblick auf den dominierenden äußeren Markt; sie verschaffen auch in den dominierten inneren Märkten üppige Gewinnquellen mittels Anleihen und ausländischen Investitionen. »Man hat von Konzessionen gehört, die Lateinamerika dem ausländischen Kapital einräumt, aber nicht von Konzessionen der Vereinigten Staaten gegenüber dem Kapital anderer Länder … Das liegt daran, dass wir keine Konzessionen einräumen«, erklärte der US-Präsident Woodrow Wilson bereits 1913. Für ihn gab es keinen Zweifel: »Ein Land«, sagte er, »wird von dem Kapital beherrscht, das in ihm investiert wird.« Und er hatte recht. Auf der Strecke ist sogar das Recht geblieben, uns Amerikaner zu nennen, obwohl die Haitianer und die Kubaner bereits ein Jahrhundert, bevor die Pilger der Mayflower sich an der Küste von Plymouth niederließen, als neues Volk in die Geschichte eingingen. Amerika ist für die Welt inzwischen mit den Vereinigten Staaten gleichgesetzt; wir bewohnen höchstens noch ein Subamerika, ein Amerika zweiter Klasse mit vager Identität.
Das ist Lateinamerika, die Region der offenen Adern. Von seiner Entdeckung bis in die heutige Zeit wurde alles stets in europäisches oder später in nordamerikanisches Kapital verwandelt, und als solches wurde und wird es in den fernen Zentren der Macht angehäuft. Alles: das Land, seine Früchte und seine Bodenschätze, die Menschen und ihre Arbeits- und Konsumkraft, die natürlichen und menschlichen Ressourcen. Produktionsform und Klassenstruktur jedes Ortes wurden durch seine Eingliederung in die universelle Maschinerie des Kapitalismus nach und nach von außen bestimmt. Jedem wurde eine Funktion zugewiesen, immer im Hinblick auf die Entwicklung der jeweiligen ausländischen Metropole, und es bildete sich eine endlose Kette sukzessiver Abhängigkeiten, die wesentlich mehr als zwei Glieder hat und innerhalb Lateinamerikas auch die Unterdrückung kleiner Länder durch ihre größeren Nachbarn beinhaltet, ebenso wie innerhalb der einzelnen Landesgrenzen die Ausbeutung der Nahrungsmittelquellen und Arbeitskräfte durch die großen Städte und ihre Häfen. (Vor vier Jahrhunderten existierten bereits 16 der 20 heute meistbevölkerten lateinamerikanischen Städte.)
Für den, der die Geschichte als einen Wettstreit versteht, sind der Rückstand und die Not Lateinamerikas nur das Resultat seiner Niederlage. Wir haben verloren, andere haben gewonnen. Aber Tatsache ist, dass die Gewinner dank unseres Verlierens gewannen: Die Geschichte der lateinamerikanischen Unterentwicklung ist, wie gesagt, auch die Entstehungsgeschichte des weltweiten Kapitalismus. Der fremde Sieg schloss stets unsere Niederlage ein; unser Reichtum hat schon immer unsere Armut hervorgebracht, um den Wohlstand anderer, nämlich der Imperien und ihrer einheimischen Aufseher zu nähren. In der kolonialen und neokolonialen Alchemie wird Gold zu Schrott, und Lebensmittel zu Gift. Potosí, Zacatecas und Ouro Preto erfuhren den jähen Fall vom Gipfel des Glanzes der Edelmetalle in das tiefe Loch der leeren Stollen, und ebensolchen Ruin erfuhren auch die chilenischen Salpetergruben und die Kautschukpflanzungen im Amazonasgebiet; die Zuckerplantagen im Nordosten Brasiliens, die argentinischen Quebracho-Baumwälder oder die Erdöldörfer um den Maracaibo-See haben schmerzliche Gründe dafür, an die Vergänglichkeit der Reichtümer zu glauben, die die Natur gibt und der Imperialismus für sich beansprucht. Der Regen, der die imperialistischen Machtzentren bewässert, ertränkt die weiten Außenbezirke des Systems. Im selben Maße ist der Wohlstand unserer herrschenden Klassen – nach innen herrschend, von außen beherrscht – der Fluch der Masse unseres Volkes, die zu einem Leben von Lasttieren verdammt ist.
Die Kluft wird größer. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts übertraf der Lebensstandard der reichen Länder der Welt den der armen Länder um 50 Prozent. Die Entwicklung entwickelt die Ungleichheit: Im April 1968 kündigte Richard Nixon in seiner Rede vor der Organisation Amerikanischer Staaten an, dass Ende des 20. Jahrhunderts das Pro-Kopf-Einkommen in den Vereinigten Staaten 15 Mal höher sein werde als in Lateinamerika. Die Stärke des gesamten imperialistischen Systems beruht auf der notwendigen Ungleichheit seiner einzelnen Bestandteile, und diese Ungleichheit nimmt immer dramatischere Ausmaße an. Die Unterdrückerländer werden durch die Dynamik der wachsenden Disparität immer reicher, sowohl in absoluter als auch in relativer Hinsicht. Der zentrale Kapitalismus kann sich den Luxus erlauben, seine eigenen Mythen der Überfülle zu schaffen und daran zu glauben, aber Mythen lassen sich nicht essen, wie die armen Länder, die den breiten peripheren Kapitalismus ausmachen, nur allzu gut wissen. Das durchschnittliche Einkommen eines nordamerikanischen Bürgers ist sieben Mal höher als das eines Lateinamerikaners und wächst zehnmal schneller. Und die Durchschnittswerte täuschen wegen der unauslotbaren Abgründe, die sich südlich des Río Bravo zwischen den zahllosen Armen und den wenigen Reichen der Region auftun. So verdienen laut den Vereinten Nationen sechs Millionen Lateinamerikaner an der Spitze der sozialen Pyramide so viel wie die 140 Millionen Menschen, die ihre Basis bilden. Das Vermögen von 60 Millionen Bauern beläuft sich auf 25 Cent pro Tag; am anderen Extrem häufen Komplizen des Unheils fünf Milliarden Dollar auf ihren Privatkonten in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten an, verschleudern in Prunksucht und sterilem Luxus – Affront und Provokation zugleich – und unproduktiven Investitionen, die nicht weniger als die Hälfte der Gesamtinvestitionen ausmachen, das Kapital, mit dem Lateinamerika Sanierung, Erweiterung und Schaffung von Produktions- und Arbeitsquellen finanzieren könnte. Unsere oberen Klassen, die seit jeher in die imperialistische Machtkonstellation integriert sind, haben nicht das geringste Interesse herauszufinden, ob Patriotismus womöglich rentabler sein könnte als Verrat, oder ob die Bettelhaltung die einzig mögliche Form internationaler Politik ist. Die Souveränität wird verpfändet, weil »es keinen anderen Weg gibt«; die Alibis der auf ihren eigenen Vorteil bedachten Oligarchie verwechseln die Ohmacht einer sozialen Klasse mit der vermeintlich fehlenden Zielrichtung der einzelnen Nationen.
Und Josué de Castro sagt: »Ich, der ich einen internationalen Friedenspreis bekommen habe, glaube, dass es für Lateinamerika unglücklicherweise keine andere Lösung gibt als die Gewalt.« 120 Millionen Kinder befinden sich im Zentrum dieses Sturms. Die lateinamerikanische Bevölkerung wächst wie keine andere; in einem halben Jahrhundert hat sie sich mehr als verdreifacht. Jede Minute stirbt ein Kind an Krankheit oder Unterernährung, trotzdem wird es im Jahr 2 000 650 Millionen Lateinamerikaner geben, die Hälfte von ihnen unter 15 Jahren – eine Zeitbombe. Von den 280 Millionen Lateinamerikanern sind Ende 1970 50 Millionen arbeitslos oder unterbeschäftigt, und fast 100 Millionen sind Analphabeten; die Hälfte der lateinamerikanischen Bevölkerung lebt zusammengepfercht in ungesunden Behausungen. Die drei größten Märkte Lateinamerikas – Argentinien, Brasilien und Mexiko – erreichen zusammen nicht die Konsumkraft von Frankreich oder Westdeutschland, obwohl die Gesamtbevölkerung unserer drei Großen bei weitem die jedes europäischen Landes übertrifft. Lateinamerika produziert heute, im Verhältnis zu seiner Bevölkerung, weniger Lebensmittel als vor dem Zweiten Weltkrieg, und seine Pro-Kopf-Exporte sanken, bei konstanten Preisen, seit der Wirtschaftskrise von 1929 um das Dreifache.
Das System ist absolut rational aus der Perspektive seiner ausländischen Herren und unseres Kommissionärbürgertums, das seine Seele dem Teufel zu einem Preis verkauft hat, der Faust beschämt hätte. Für alle anderen aber ist das System so irrational, dass sich seine Ungleichgewichte und Spannungen, seine brennenden Widersprüche verschärfen, je weiter es sich entwickelt. Sogar die abhängige und verspätete Industrialisierung, die bequem mit den Latifundien und Strukturen der Ungleichheit koexistiert, trägt zur Beschäftigungslosigkeit bei, anstatt zu helfen, ihr beizukommen; sie verbreitert die Armut und konzentriert den Wohlstand in Regionen, in denen sich riesige Legionen untätiger Arme unablässig vervielfachen. Neue Fabriken werden in den privilegierten Entwicklungspolen – São Paulo, Buenos Aires, Mexiko-Stadt – errichtet, aber Arbeitskräfte werden immer weniger gebraucht.
Das System hat ein kleines Ärgernis nicht vorgesehen: es gibt zu viele Menschen. Und die Menschen vermehren sich. Sie lieben sich freudig und ohne Vorkehrungen. Immer mehr Menschen werden an den Wegrand abgedrängt, finden keine Arbeit mehr auf dem Land, wo die Latifundien mit ihrem weiten Brachland herrschen, und auch nicht in der Stadt, wo die Maschinen herrschen – das System speit Menschen aus. Die amerikanischen Missionen sterilisieren Frauen zuhauf und verteilen Pille, Diaphragmen, Spiralen, Präservative und markierte Kalender und ernten dennoch Kinder; die lateinamerikanischen Kinder kommen hartnäckig weiter zur Welt, beharren auf ihrem natürlichen Recht, einen Platz auf diesem herrlichen Stück Erde zu haben, das allen bieten könnte, was es fast allen verweigert.
Anfang November 1968 erinnerte Richard Nixon daran, dass die Allianz für den Fortschritt nun sieben Jahre existierte, die Unterernährung und Lebensmittelknappheit in Lateinamerika sich jedoch trotzdem verschlimmert hätten. Wenige Monate zuvor, im April desselben Jahres, schrieb George W. Ball in Life: »Zumindest während der kommenden Jahrzehnte wird die Unzufriedenheit der armen Länder keine zerstörerische Bedrohung für die Welt bedeuten. So beschämend es sein mag, aber die Welt war über Generationen hinweg zu zwei Dritteln arm und zu einem Drittel reich. Und so ungerecht es auch sein mag, aber die Macht der armen Länder ist beschränkt.« Ball hatte der amerikanischen Delegation bei der Ersten Konferenz für Handel und Entwicklung in Genf vorgestanden und hatte gegen neun der zwölf grundlegenden Beschlüsse gestimmt, die bei der Konferenz mit dem Ziel verabschiedet wurden, die Benachteiligung der unterentwickelten Länder im internationalen Handel zu verringern.
Die Massaker des Elends in Lateinamerika geschehen unbemerkt; jedes Jahr explodieren in aller Stille, ohne Aufsehen zu erregen, drei Atombomben über diesen Völkern, die es gewöhnt sind, ihr Los mit zusammengebissenen Zähnen zu ertragen. Diese systematische, zwar nicht sichtbare, aber reale Gewalt nimmt zu; ihre Verbrechen stehen nicht in den Polizeiberichten, sondern in den Statistiken der FAO. Laut George W. Ball ist sie bislang noch ungestraft, weil die Armen keinen Weltkrieg auslösen können, aber das Imperium zeigt sich besorgt; und da es nicht die Brote vermehren kann, tut es sein Möglichstes, um sich der Esser zu entledigen. »Bekämpf die Armut, töte einen Bettler!« hatte ein Meister des schwarzen Humors auf eine Mauer in La Paz geschrieben. Was anderes haben die Erben von Malthus vor, wenn nicht alle künftigen Bettler zu töten, bevor sie noch geboren werden? Robert McNamara, Präsident der Weltbank, ehemals Präsident von Ford und Verteidigungssekretär, bestätigt, dass die demographische Explosion das größte Hindernis für den Fortschritt von Lateinamerika darstellt, und kündigt an, die Weltbank werde bei ihrer Kreditvergabe jene Länder bevorzugt behandeln, in denen eine geplante Geburtenkontrolle durchgeführt werde. McNamara erklärt mit Bedauern, die Gehirne der Armen würden um 25 Prozent weniger denken, und die Technokraten der Weltbank (die bereits geboren sind) lassen die Computer rattern und bringen ein höchst kompliziertes Kauderwelsch über die Vorteile hervor, nicht geboren zu werden: »Wenn es einem Entwicklungsland mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 150 bis 200 Dollar gelingt, seine Fruchtbarkeit in einem Zeitraum von 25 Jahren um 50 Prozent zu senken, wird sein Pro-Kopf-Einkommen binnen 30 Jahren um mindestens 40 Prozent das Niveau übersteigen, das es andernfalls erreicht hätte, und es binnen 60 Jahren verdoppeln«, wird in einem der Dokumente der Organisation versichert. Und Lyndon B. Johnson äußerte den inzwischen berühmten Satz: »Fünf Dollar, die gegen das Bevölkerungswachstum investiert werden, sind effektiver als 100 Dollar, die in das Wirtschaftswachstum investiert werden.« Sollte sich die Menschheit weiter im selben Rhythmus vermehren, prophezeite Dwight Eisenhower, werde nicht nur die Revolutionsgefahr immer größer, sondern werde sich außerdem »eine Verschlechterung des Lebensstandards aller Völker, des unseren eingeschlossen«, einstellen.
Die Vereinigten Staaten haben innerhalb ihrer Grenzen kein Problem mit der Geburtenexplosion, aber sie haben es sich wie niemand sonst zur Aufgabe gemacht, in allen Himmelsrichtungen die Familienplanung zu verbreiten und aufzuzwingen. Nicht nur die Regierung, auch Rockefeller und die Ford Stiftung werden von Albträumen geplagt, in denen Millionen Kinder wie Heuschrecken aus allen Winkeln der Dritten Welt über sie herfallen. Platon und Aristoteles hatten sich bereits vor Malthus und McNamara mit dem Thema der Geburtenkontrolle beschäftigt; doch heutzutage erfüllt diese weltweite Offensive eine klar definierte Funktion: Die höchst ungleiche Einkommensverteilung zwischen den Ländern und sozialen Klassen soll gerechtfertigt und die Armen sollen überzeugt werden, dass ihre Armut das Ergebnis der nicht verhinderten Kinder ist, um so dem Voranschreiten der zornigen und rebellischen Volksmassen Einhalt zu gebieten. Die intrauterinen Vorkehrungen stehen im Wettstreit mit Bomben und Maschinengewehren, die in Südostasien das Bevölkerungswachstum Vietnams aufhalten sollen. In Lateinamerika erscheint es dagegen hygienischer und wirksamer, die Guerilleros im Mutterleib zu töten als in den Bergen oder auf den Straßen. Verschiedene amerikanische Missionen haben Tausende von Frauen im Amazonasgebiet sterilisiert, obwohl es sich hierbei um eine der am geringsten bevölkerten bewohnbaren Regionen der Welt handelt. In einem Großteil der lateinamerikanischen Länder gibt es nicht zu viele, sondern nicht genug Menschen. Brasilien hat 38 Mal weniger Einwohner pro Quadratkilometer als Belgien; Paraguay 49 Mal weniger als England; Peru 32 Mal weniger als Japan. Haiti und El Salvador, die menschlichen Ameisenhaufen Lateinamerikas, weisen eine geringere Bevölkerungsdichte als Italien auf. Die angeführten Vorwände sind eine Beleidigung für die Intelligenz; die wirklichen Absichten rufen Empörung hervor. Schließlich ist nicht weniger als die Hälfte des Territoriums von Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Paraguay und Venezuela unbewohnt. Keine lateinamerikanische Bevölkerung weist ein so niedriges Wachstum auf wie die Uruguays, ein überaltertes Land, und trotzdem wurde keine andere Nation in den letzten Jahren von einer vergleichbaren Krise bis scheinbar in die letzten Höllenkreise geworfen. Uruguay ist menschenleer, und seine fruchtbaren Landstriche könnten eine unendlich viel größere Bevölkerung ernähren als die, die heute auf seinem Boden so viele Entbehrungen erleidet.
Vor über einem Jahrhundert hatte ein Kanzler von Guatemala vorausgesagt: »Es wäre erstaunlich, wenn aus dem Schoß der Vereinigten Staaten, die uns so viel Schlechtes bringen, auch das Heilmittel käme«. Da die Allianz für den Fortschritt nun tot und begraben ist, schlägt das Imperium plötzlich eher panisch als großzügig vor, die Probleme Lateinamerikas zu lösen, indem die Lateinamerikaner im Keim ausgelöscht werden. In Washington hat man bereits Gründe für den Verdacht, dass die armen Völker gar nicht so unbedingt arm sein wollen. Aber ohne Weg kein Ziel – wer die Befreiung Lateinamerikas verweigert, verweigert auch unsere mögliche Wiederauferstehung und gibt im selben Zug den bestehenden Strukturen seinen Segen. Die jungen Leute werden immer mehr, erheben sich, horchen auf – was kann das System ihnen bieten? Und das System spricht eine surrealistische Sprache: es schlägt vor, die Geburtenzahl in diesen menschenleeren Gebieten zu senken; es ist der Meinung, dass es Ländern an Kapital ermangelt, in denen Kapital in Hülle und Fülle vorhanden ist, aber vergeudet wird; es gibt der deformierenden Orthopädie der Darlehen und dem Entzug von Reichtümern, den die ausländischen Investitionen verursachen, den Namen Hilfe; es ruft die Großgrundbesitzer auf, Agrarreformen umzusetzen, und die Oligarchie, soziale Gerechtigkeit einzuführen. Der Klassenkampf existiert nur in den Mündern der fremden Agenten, die ihn entfachen, aber die sozialen Klassen existieren dafür sehr wohl, und die Unterdrückung der einen durch die anderen nennt man westlichen Lebensstil. Die kriminellen Geschäfte der Marines haben zum Ziel, Frieden und Ordnung wiederherzustellen, und die Washington hörigen Diktaturen machen dem Rechtsstaat in den Gefängnissen ein Ende und verbieten Streiks und Gewerkschaften, um die freie Arbeit zu schützen.
Ist uns alles verboten, außer hilflos die Arme zu verschränken? Die Armut steht nicht in den Sternen geschrieben; die Unterentwicklung ist nicht die Frucht eines dunklen, von Gott bestimmten Schicksals. Wir befinden uns in Zeiten der Revolution, der Befreiung. Die herrschenden Klassen bringen sich in Sicherheit und verkünden gleichzeitig die Hölle für alle. In gewisser Weise haben die Konservativen Recht, wenn sie sich mit Ruhe und Ordnung identifizieren – sie repräsentieren in der Tat eine Ordnung: die der täglichen Erniedrigung der Mehrheit des Volkes, aber schließlich und endlich eine Ordnung; und dazu die Ruhe, dass die Ungerechtigkeit ungerecht bleibt und der Hunger für Hunger sorgt. Wenn aber die Zukunft böse Überraschungen birgt, ruft der Konservative mit vollem Recht aus: »Man hat mich verraten!« Und die Ideologen der Machtlosigkeit, die Sklaven, die sich selbst mit den Augen ihrer Herren sehen, zögern nicht, ihre Proteste ertönen zu lassen. Der Bronzeadler, der der Explosion des amerikanischen Kriegsschiffes Maine im Jahre 1898 gedachte, wurde am Tag des Sieges der kubanischen Revolution niedergeschlagen und liegt heute mit zerbrochenen Flügeln in einem Hauseingang in der Altstadt Havannas. Und mit Kuba haben auch andere Länder auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Mitteln die Erfahrung eines Kurswechsels gemacht – das Aufrechterhalten der aktuellen Ordnung der Dinge kommt der Fortsetzung des Verbrechens gleich.
Die Gespenster aller im Verlauf der gepeinigten Geschichte Lateinamerikas erstickten oder verratenen Revolutionen schweben über den neuen Erfahrungen, so wie auch die Gegenwart von den Widersprüchen der Vergangenheit vorausgedeutet und hervorgebracht wurde. Die Geschichte ist eine Prophetin mit rückwärts gewandtem Blick; aus dem, was war, und gegen das, was war, kündet sie das Kommende. Deshalb tauchen sie in diesem Buch, das eine Geschichte der Plünderung geben und gleichzeitig erzählen will, wie die aktuellen Mechanismen der Ausbeutung funktionieren, alle auf: die Konquistadoren in ihren Karavellen und die Technokraten in ihren Jets, Hernán Cortés und die Marineinfanterie, die Justizbeamten des spanischen Königreiches und die Diplomatien des Internationalen Währungsfonds, die Dividenden der Sklavenhändler und die Gewinne von General Motors. Auch die besiegten Helden und Revolutionen unserer Zeit, die Infamien, die gestorbenen und neu belebten Hoffnungen. Die Opfer sind fruchtbar. Als Alexander von Humboldt die Bräuche der Ureinwohner des Hochplateaus von Bogotá erforschte, erfuhr er, dass die Indios die Opfer ihrer rituellen Zeremonien quihica nannten. Quihica bedeutet Tür: der Tod eines jedes Auserwählten eröffnete einen neuen Zyklus von 185 Monden.
Als Christoph Kolumbus sich aufmachte, das große Nichts westlich der bewohnten Welt zu durchqueren, war dies eine Kampfansage an die alten Legenden. Schreckliche Stürme würden mit seinen Schiffen spielen, als wären es Nussschalen, und sie Meeresungeheuern in den Rachen werfen; die riesige Seeschlange der finsteren Tiefen würde ihnen auflauern, hungrig nach Menschenfleisch. Es fehlten nur noch tausend Jahre, bis die reinigenden Flammen des Jüngsten Gerichts über die Welt hinwegfegen würden, wie man im 15. Jahrhundert glaubte, und die Welt war damals das Mittelmeer mit seinen nach Afrika und dem Orient ausgerichteten Küsten. Die portugiesischen Seefahrer beteuerten, der Westwind schwemme seltsame Leichname an und treibe bisweilen sonderbar geschnitzte Hölzer heran, doch niemand ahnte, dass die Welt schon bald erstaunlich viel größer werden sollte.
Amerika fehlte nicht nur der Name. Die Norweger wussten nicht, dass sie es längst entdeckt hatten, und Kolumbus selbst starb nach seinen Reisen in der Überzeugung, er habe Asiens Rückseite erreicht. Als sich 1492 zum ersten Mal ein spanischer Stiefel in den Sand der Bahamas bohrte, hielt der Admiral sie für Japan vorgelagerte Inseln. Kolumbus führte ein Exemplar von Marco Polos Reisebericht mit sich, das er mit zahllosen Randbemerkungen versehen hatte. Die Bewohner von Zipangu, schrieb Marco Polo, »besitzen Gold in reichem Maße, und die Minen, in denen sie es finden, erschöpfen sich nie […] Außerdem gibt es auf dieser Insel reinste Orientperlen in großer Zahl. Sie sind rosafarben, rund und sehr groß, und ihr Wert übertrifft den der weißen Perlen.« Der Reichtum Zipangus war zu Ohren des Großen Kublai Khan gelangt und hatte in ihm das Begehren geweckt, es zu erobern, doch er war gescheitert. Aus den schillernden Seiten Marco Polos stiegen alle Schätze der Schöpfung auf; beinahe 13 000 Inseln sollten im Indischen Meer liegen, mit Bergen von Gold und Perlen und zwölferlei Sorten Gewürzen in gigantischen Mengen, dazu weißem und schwarzem Pfeffer. Pfeffer, Ingwer, Gewürznelken, Muskatnuss und Zimt waren ebenso begehrt wie das Salz zum Pökeln des Fleisches im Winter, wodurch es aufbewahrt werden konnte, ohne zu faulen oder seinen Geschmack einzubüßen. Die Katholischen Könige beschlossen, die abenteuerliche Suche nach einem direkten Zugriff auf die Quellen zu finanzieren, um so die kostspielige Kette von Zwischenhändlern und Wiederverkäufern zu umgehen, die den Handel mit den aus geheimnisvollen Regionen des Orients kommenden Gewürzen und tropischen Pflanzen, dem Musselin und den blanken Waffen in der Hand hatten. Die Gier nach Edelmetallen, dem Zahlungsmittel im Handelsverkehr, war ein weiterer Antrieb für die Überquerung der verfluchten Meere. Ganz Europa brauchte Silber; die Minen in Böhmen, Sachsen und Tirol waren beinahe erschöpft.
Spanien befand sich in der Epoche der Reconquista. 1492 war nicht nur das Jahr, in dem Amerika entdeckt wurde, jene Neue Welt, die aus einem grandiosen Irrtum hervorgegangen war. Es war auch das Jahr der Rückeroberung von Granada. Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien, die durch ihre Eheschließung die Zersplitterung ihrer Gebiete verhindert hatten, schlugen Anfang 1492 das letzte muslimische Bollwerk auf spanischem Boden nieder. Es hatte beinahe acht Jahrhunderte gebraucht, um zurückzugewinnen, was man in sieben Jahren verloren hatte1, und der Rückeroberungskrieg hatte die königlichen Schatzkammern geleert. Doch es war ein Heiliger Krieg, der des Christentums gegen den Islam, und es ist kein Zufall, dass ebenfalls im Jahr 1492 150 000 bekennende Juden des Landes verwiesen wurden. Spanien machte sich zur Nation, indem es Schwerter schwenkte, deren Griffe das Zeichen des Kreuzes zeigten. Königin Isabella hielt ihre Hand über die Heilige Inquisition. Das Wagnis der Entdeckung Amerikas ließe sich nicht erklären ohne die militärische Tradition der Kreuzzüge, von denen das mittelalterliche Kastilien geprägt war, und die Kirche zögerte nicht, die Eroberung der unbekannten Gebiete auf der anderen Seite des Ozeans als heilige Tat anzuerkennen. Der aus Valencia gebürtige Papst Alexander VI. machte Königin Isabella zur Herrin der Neuen Welt. Die Expansion des kastilischen Reiches erweiterte das Reich Gottes auf Erden.
Drei Jahre nach seiner Entdeckung führte Christoph Kolumbus persönlich den Feldzug gegen die Eingeborenen Santo Domingos an. Eine Handvoll Junker, zweihundert Fußsoldaten und einige für den Kampf abgerichtete Hunde dezimierten die Indios. Über 500 wurden nach Spanien geschickt; sie wurden in Sevilla als Sklaven verkauft und gingen jämmerlich zugrunde.2 Auf den Protest einiger Theologen hin wurde die Versklavung der Indios zu Beginn des 16. Jahrhunderts offiziell verboten. Tatsächlich kam dieses Verbot in Wirklichkeit einem Plazet gleich: Vor jeder Kriegshandlung mussten die Befehlshaber des Eroberungsfeldzugs den Indios in Gegenwart eines Amtsschreibers einen langen und umständlich formulierten Aufruf vorlesen, der sie dazu aufforderte, sich zum heiligen katholischen Glauben zu bekehren: »Solltet ihr dem nicht Folge leisten oder es mutwillig verzögern, so versichere ich euch, dass ich mit Gottes Hilfe gewaltsam bei euch einziehen und euch an allen Orten und auf alle mir mögliche Arten bekriegen und euch unter das Joch und den Gehorsam der Kirche und Seiner Majestät zwingen werde, eure Frauen und Kinder zu Sklaven machen, sie als solche verkaufen und über sie verfügen werde, wie Seine Majestät es verfügt, und dass ich euch eures Hab und Guts entledigen und euch alles Übel und allen Schaden zufügen werde, dessen ich fähig bin …«3
Amerika war das Reich Satans, das kaum mit Erlösung rechnen konnte, doch die fanatische Mission, die Ketzerei der Eingeborenen zu bekämpfen, vermischte sich mit dem Fieber, das die funkelnden Schätze der Neuen Welt unter den Eroberungsarmeen auslöste. Bernal Díaz del Castillo, einer von Hernán Cortés’ Soldaten bei dessen Eroberung Mexikos, hielt in seinem Bericht fest, sie seien nach Amerika gekommen, »um Gott und Eurer Majestät zu dienen und auch, weil es dort Reichtümer gibt.«
Als Kolumbus zum Atoll von San Salvador gelangte, war er geblendet von der Farbenpracht der Karibik, der grünen Landschaft, der milden, kristallinen Luft, den herrlichen Vögeln und den »gut gewachsenen«, fügsamen jungen Menschen, die dort lebten. Er schenkte den Eingeborenen ein paar »rote Kappen und Halsketten aus Glas und noch andere Kleinigkeiten von geringem Wert, worüber sie sich ungemein erfreut zeigten. Sie wurden so gute Freunde, dass es eine helle Freude war.« Er zeigte ihnen Schwerter. Sie kannten nichts dergleichen, fassten sie an der Schneide an und schnitten sich. Unterdessen, schreibt der Admiral in seinem Bordbuch, »beachtete ich alles mit größter Aufmerksamkeit und trachtete herauszubekommen, ob in dieser Gegend Gold vorkomme. Dabei bemerkte ich, dass einige von diesen Männern die Nase durchlöchert und durch die Öffnung ein Stück Gold geschoben hatten. Mit Hilfe der Zeichensprache erfuhr ich, dass man gegen Süden fahren müsse, um zu einem König zu gelangen, der große, goldene Gefäße und viele Goldstücke besaß.« Denn »aus Gold werden Schätze, und wer solche besitzt, ist frei, auf der Welt zu tun, was er will, und öffnet seiner Seele selbst das Paradies.« Noch auf seiner dritten Reise dachte Kolumbus, das chinesische Meer zu befahren, als er sich der Küste Venezuelas näherte; was ihn nicht daran hinderte, zu berichten, von dort aus erstrecke sich ein endloses Gebiet, das bis zum Irdischen Paradies aufsteige. Auch Amerigo Vespucci, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Küstengebiete Brasiliens erkundete, sollte Lorenzo von Medici schildern: »Die Bäume sind von solcher Schönheit und Lieblichkeit, dass wir uns im Paradies auf Erden fühlten […]«4 Erbittert schrieb Kolumbus 1503 von Jamaika aus an die königlichen Majestäten: »Als ich Indien entdeckte, sagte ich, dass dies die reichsten Gebiete seien, die es auf der Welt gibt. Und ich sprach von Gold, Perlen, Edelsteinen, Gewürzen …«
Ein einziger Beutel Pfeffer war im Mittelalter mehr wert als ein Menschenleben, doch Gold und Silber waren die Schlüssel, mit denen sich die Renaissance die Pforten zum Paradies im Himmel und zum kapitalistischen Merkantilismus auf Erden öffnete. Die epischen Unternehmungen der Spanier und Portugiesen in Amerika verknüpften die Verbreitung des Christentums mit der Aneignung und Plünderung der einheimischen Reichtümer. Europas Macht dehnte sich aus, um die ganze Welt zu umschließen. Die noch unerforschten Regionen, voller Urwälder und Gefahren, entfachten die Habgier der Befehlshaber, Junker und zerlumpten Soldaten, die auf die Eroberung fantastischer Kriegsbeuten aus waren; ihr Credo waren Kühnheit und Ruhm, »die Sonne der Toten«. »Den Mutigen steht das Schicksal bei«, sagte Hernán Cortés. Cortés selbst hatte sein gesamtes Hab und Gut verpfändet, um die Expedition nach Mexiko auszurichten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie bei Kolumbus oder Magellan, wurden die Kosten für die Entdeckungsreisen nicht vom Staat getragen, sondern von den Konquistadoren selbst oder von Händlern und Bankiers, die sie finanzierten.5
Es entstand die Legende von Eldorado, des in Gold badenden Monarchen, den die Einheimischen erfanden, um die Eindringlinge weiterzuschicken: von Gonzalo Pizarro bis Walter Raleigh haben etliche vergeblich die Regenwälder und Flüsse des Amazonas und Orinoco danach abgesucht. Das Traumbild des »Berges, aus dem Silber fließt«, wurde 1545 mit der Entdeckung von Potosí Wirklichkeit, doch bis dahin hatten viele der Abenteurer, die vergeblich den Río Paraná hinaufgezogen waren, um diese Silberquelle ausfindig zu machen, den Tod gefunden, waren Hunger, Krankheiten oder den Pfeilen der Eingeborenen erlegen.
Und dennoch gab es Gold und Silber in großen Mengen, angehäuft auf der mexikanischen Hochebene und im Hochland der Anden. Hernán Cortés enthüllte Spanien 1519 das sagenhafte Ausmaß des Aztekenschatzes von Moctezuma, und fünfzehn Jahre später kam in Sevilla die gigantische Auslöse an, eine Kammer voller Gold und zwei voller Silber, zu deren Zahlung Francisco Pizarro den Inkakönig Atahualpa genötigt hatte, ehe er ihn erdrosseln ließ. Jahre zuvor hatte die Krone mit dem auf den Antillen ergatterten Gold die Dienste der Seeleute bezahlt, die Kolumbus auf seiner ersten Reise begleitet hatten.6 Die Bevölkerung der Karibikinseln konnte schließlich keine Abgaben mehr entrichten, da sie zu existieren aufhörte; die Eingeborenen wurden entweder in den Goldwäschereien aufgerieben, bei der entsetzlichen Aufgabe, bis zur Taille im Wasser stehend den goldhaltigen Sand aufzurühren, oder beim erschöpfenden Roden der Felder, über die schweren, aus Europa eingeführten Ackergeräte gekrümmt. In Santo Domingo kamen viele Eingeborene diesem Schicksal zuvor, das ihnen die neuen weißen Unterdrücker auferlegten: Sie töteten ihre Kinder und begingen scharenweise Selbstmord. Der offizielle Chronist Fernández de Oviedo interpretierte Mitte des 16. Jahrhunderts die Auslöschung der karibischen Bevölkerung so: »Viele von ihnen vergifteten sich zum Zeitvertreib, um nicht zu arbeiten, andere erhängten sich von eigener Hand.«7
Auf seiner ersten Reise hatte Kolumbus in Teneriffa einem beeindruckenden Vulkanausbruch beigewohnt. Es war wie ein Vorzeichen dessen, was später in den unermesslichen, neuen Gebieten geschehen würde, die seine Westroute nach Asien unterbrechen würden. Dort war Amerika, anhand seiner endlosen Küsten erahnt; die Konquista, also die Eroberung Lateinamerikas durch die Spanier und Portugiesen, brach wie die Flutwellen eines stürmischen Meeres darüber hinein. Den Admiralen folgten die Adelantados, denen die Krone Inbesitznahme und Verwaltung der zu entdeckenden Gebiete angetragen hatte, und die Schiffsbesatzungen wurden zu Invasoren. Päpstliche Bullen hatten der portugiesischen Krone durch apostolische Gnade Afrika zugesprochen, und die kastilische Krone erhielt alle »durch die von Euch ausgesandten Männer und Kapitäne […] aufgefundenen oder aufzufindenden, alle entdeckten oder zu entdeckenden Inseln und Festländer […]«. Amerika war Königin Isabella zum Geschenk gemacht worden. 1508 übertrug eine erneute apostolische Bulle der spanischen Krone für alle Ewigkeit die in Amerika eingetriebenen Zehnten; außerdem beinhalteten die begehrten Patronatsrechte über die römisch-katholische Kirche in der Neuen Welt das Präsentationsrecht auf alle geistigen Ämter.8
Der 1494 unterschriebene Vertrag von Tordesillas erlaubte Portugal die Besetzung amerikanischer Gebiete jenseits der vom Papst festgelegten Grenzlinie, und 1530 gründete Martim Alfonso de Sousa die ersten portugiesischen Siedlungen in Brasilien und vertrieb die Franzosen. Die Spanier hatten zu diesem Zeitpunkt bereits höllische Urwälder und endlose Wüsten durchquert und trieben ihre Erforschung und Eroberung immer weiter voran. 1513 glitzerte der Pazifik vor Vasco Núñez de Balboa auf; im Herbst 1522 kehrten die Überlebenden der Expedition von Ferdinand Magellan nach Spanien zurück, nachdem sie den Schiffsweg zwischen den beiden Weltmeeren gefunden und bewiesen hatten, dass die Welt rund war, indem sie sie einmal umsegelt hatten. Drei Jahre zuvor waren die zehn Schiffe von Hernán Cortés von der Insel Kuba in Richtung Mexiko aufgebrochen, und 1523 machte sich Pedro de Alvarado an die Eroberung Zentralamerikas; 1533 zog Francisco Pizarro siegreich in Cuzco ein und eroberte so das Herz des Inkareiches; 1540 durchquerte Pedro de Valdivia die Wüste von Atacama und gründete Santiago de Chile. Die Konquistadoren drangen bis zum Chaco vor und erkundeten die Neue Welt von Peru bis zur Mündung des mächtigsten Stroms des Planeten.
Unter den Eingeborenen war so gut wie alles vertreten: Astronomen und Kannibalen, Ingenieure und Wilde aus der Steinzeit. Doch keine der einheimischen Kulturen kannte das Eisen oder den Pflug, Glas oder Schießpulver, keine verwendete das Rad. Dafür befand sich die Zivilisation, die vom jenseitigen Ufer des Ozeans in ihre Länder einfiel, mitten in der schöpferischen Blütezeit der Renaissance. Und Amerika mutete wie eine Erfindung mehr an, markierte gemeinsam mit dem Schießpulver, der Druckerpresse, mit Papier und Kompass den überschäumenden Beginn der Neuzeit. Der ungleiche Entwicklungsstand der beiden Welten erklärt zu einem großen Teil die relative Leichtigkeit, mit der die eingeborenen Zivilisationen bezwungen wurden. Hernán Cortés ging in Veracruz mit gerade 100 Seeleuten und 508 Soldaten an Land; er brachte 16 Pferde, 32 Armbrüste, 10 bronzene Kanonen und einige Luntengewehre, Musketen und Pistolen mit. Tenochtitlán, die Hauptstadt der Azteken, war damals fünf Mal so groß wie Madrid und zählte doppelt so viele Einwohner wie Sevilla, die größte spanische Stadt jener Zeit. Und auch Francisco Pizarro nahm Cajamarca mit nur 180 Soldaten und 37 Pferden ein.
Die Einheimischen wurden zunächst von ihrer eigenen Überraschung bezwungen. Die erste Nachricht, die der Aztekenherrscher Moctezuma in seinem Palast erhielt, lautete, ein großer Hügel bewege sich über das Meer. Weitere Botenberichte folgten: »[…] großen Schrecken flößte ihm ein zu hören, wie die Kanone erschallt, wie dröhnend sie knallt, wie man ohnmächtig hinsinkt; die Ohren sind ganz betäubt. Und wenn der Schuss losgeht, fährt eine Art Steinkugel aus ihrem Inneren, es regnet Feuer […]« Die Fremden brachten »Großwild« mit, auf dem sie »hoch wie Dächer« getragen wurden. Ihre Körper waren völlig bedeckt, »nur ihre Gesichter sind zu sehen. Sie sind weiß, als wären sie aus Kalk. Ihr Haar ist gelb, bei manchen auch schwarz. Ihr Bart ist lang […]«9 Moctezuma dachte, der Gott Quetzalcoatl kehre zurück. Acht Vorzeichen hatten kurz zuvor seine Wiederkehr prophezeit. Die Jäger hatten ihm einen Vogel gebracht, der auf dem Kopf ein rundes Diadem mit einem Spiegel trug, in dem sich der Himmel mit der im Westen stehenden Sonne reflektierte. In diesem Spiegel sah Moctezuma die kriegerischen Truppen auf Mexiko zumarschieren. Der Gott Quetzalcoatl war von Osten gekommen und gen Osten war er fortgezogen; er war weiß und bärtig. Weiß und bärtig wie Viracocha, der zweigeschlechtige Gott der Inka. Und Osten war auch die Wiege der heldenhaften Vorfahren der Maya.10
Die Rachegötter, die nun zurückkehrten, um ihre Völker zur Rechenschaft zu ziehen, trugen Rüstungen und Kettenhemden und glänzende Schilder, an denen Pfeile und Steine abprallten; ihre Waffen feuerten tödliche Blitze ab und verdunkelten die Luft mit erstickendem Qualm. Darüber hinaus waren die Eroberer politisch gewandt, geübt in Verrat und Intrigen. So wussten sie zum Beispiel den Groll der vom Aztekenreich unterworfenen Völker für sich zu nutzen und sich der internen Differenzen zu bedienen, welche die Macht der Inka untergruben. Cortés machte sich die Tlaxcalteken zu Verbündeten, und Pizarro profitierte von der Fehde zwischen den beiden Erben des Inkareiches, den verfeindeten Brüdern Huáscar und Atahualpa. Die Konquistadoren suchten sich Verbündete in den herrschenden mittleren Kasten, den Priestern, Beamten und Militärs, waren die höchsten lokalen Befehlshaber erst einmal auf kriminelle Weise ausgeschaltet worden. Außerdem griffen sie aber auch noch auf andere Waffen zurück, oder vielmehr trugen andere, objektive Faktoren zum Sieg der Eindringlinge bei. Pferde und Bakterien zum Beispiel.
Die Pferde haben, wie die Kamele, ihren Ursprung in Amerika11, wo sie jedoch ausgestorben waren. Durch die arabischen Reitervölker in Europa eingeführt, waren sie der Alten Welt zu großem militärischen und wirtschaftlichen Nutzen geworden. Als sie mit der Konquista wieder in Amerika auftauchten, brachte nicht zuletzt ihr Anblick die entgeisterten Indios dazu, den Eindringlingen magische Kräfte zuzuschreiben. In einer historischen Quelle heißt es, der Inka Atahualpa sei rücklings zu Boden gefallen, als er die ersten spanischen Soldaten herankommen sah, auf den Rücken feuriger, mit Schellen und Federbüschen geschmückter Pferde, die mit donnernden Hufen den Staub aufwirbelten.12 Der Kazike Tecum, Anführer der Nachfahren der Maya, enthauptete mit seiner Lanze das Pferd von Pedro de Alvarado, in dem Glauben, der Eroberer sei mit ihm verwachsen; Alvarado stand auf und tötete ihn.13 Einige wenige Pferde in Kriegsgeschirr trieben die Indios scharenweise in die Flucht und säten Schrecken und Tod. Während des Kolonisationsprozesses »verbreiteten die Geistlichen und Missionare in der Vorstellung der Eingeborenen den Glauben, die Pferde seien heiligen Ursprungs, da Spaniens Schutzpatron Santiago einen weißen Schimmel ritt und auf ihm mit Hilfe der göttlichen Vorsehung bedeutende Siege gegen Mohammedaner und Juden errungen hatte«14.
Doch die wirksamsten Verbündeten der Spanier waren Viren und Bakterien. Wie biblische Plagen brachten die Europäer Pocken und den Wundstarrkrampf, verschiedene Lungen-, Darm- und Geschlechtskrankheiten, das Trachom, Typhus, Lepra, Gelbfieber und Zahnfäule mit. Die Pocken traten als erstes auf. Und war diese unbekannte, abstoßende Epidemie, die Fieber entfachte und das Fleisch zersetzte, etwa keine himmlische Strafe? »Sie sind schon in Tlaxcala eingedrungen. Sogleich verbreitete sich die Epidemie: Husten, glühende, brennende Pusteln«, heißt es in dem Zeugnis eines Indios, und an anderer Stelle ist zu lesen: »Vielen brachte die klebrige, klumpige, schwere Pustelkrankheit den Tod«15. Die Indios starben wie Fliegen; ihre Organismen hatten keine Abwehrkräfte gegen diese neuen Krankheiten. Und die Überlebenden blieben geschwächt und untauglich zurück. Der brasilianische Anthropologe Darcy Ribeiro schätzt, dass über die Hälfte der indigenen Population in Amerika, Australien und Ozeanien in Folge von Ansteckungen beim ersten Kontakt mit den Weißen starb.16
Mit angelegter Armbrust, Schwerthieben und der Pest im Banner schritt das kleine Häufchen der unerbittlichen Eroberer Amerikas voran. Die Stimmen der Besiegten erzählten davon. Nach dem Blutbad von Cholula schickte Moctezuma dem auf das Tal von Mexiko vorrückenden Hernán Cortés erneut Boten entgegen. Die Gesandten überreichten den Spaniern goldene Halsketten und Fahnen aus Quetzalfedern. Die Spanier »waren entzückt. Affen gleich hoben sie das Gold in die Höhe oder setzten sich überbeglückt, als würde ihr Herz neu belebt und erleuchtet. Ganz offensichtlich dürsten sie danach. Der Leib geht ihnen auf, mit Heißhunger gelüstet ihnen danach. Wie hungrige Schweine lechzen sie nach Gold«, besagt ein im Codex Florentinus erhaltener Nahuatl-Text. Als CortésAztekenGoldGold