Wow, wir sind digital! Nichts geht mehr ohne Digitalisierung, smartes Vorgehen und digitales Management überall. Wer will nochmal, wer hat noch nicht? Alle, und wirklich alle wissen jetzt, dass die Digitalisierung in ihrem Leben, in ihrem Unternehmen, in ihrem Maßnahmenpapier eine Rolle spielen wird. Im Ansatz ist das schon einmal gut. Buzzwords alleine aber machen keine intelligente Strategie. Und die Zweitverwertung der Automatisierung, deklariert als Digitalisierung, auch nicht. Gleichwohl ist es natürlich zu begrüßen, dass überall versucht wird, die Zukunft digital zu gestalten. Allein, es muss schon etwas mehr und etwas konsequenter sein.
Auch China hat Digitalisierung. Hier ein neues Tool, da eine neue Idee, und das ungefähr zehnmal so schnell und so umgreifend wie in Deutschland und Europa. Wie steuert man eine Gesellschaft und wie steuert man seine Ökonomie? Wie denkt man nicht in individuellen Produktreichweiten, sondern in übergreifenden digitalen Ökosystemen? Wenn Sie Anregungen brauchen, schauen Sie auf der Weltkarte nach rechts und danach erst nach links Richtung USA. In dieser Ausgabe bekommen Sie schon einen Vorgeschmack darauf.
Deutschland ist hierfür noch nicht ausreichend vorbereitet. Die Bundesregierung benötigt zügig eine effektive Koordinierung zwischen Ministerien und Ländern. Mit Klein-Klein konnten wir uns bis 2016 gerade so noch durchwurschteln. Ab 2017 werden wir springen müssen. Und wir sollten dabei nicht vergessen, dass wir nicht nur nach innen schauen dürfen. Ich erwarte von einer digitalen Koordinierung und einem Update der digitalen Agenda 2017–2021 auch den Blick über den Tellerrand. Deutschland als digitale Exportnation für Konzepte, Modelle, Geschäftsideen, Infrastruktur und Grundwerte. Es geht nicht nur um monetäre Aspekte oder um eine Fortschreibung der guten Außenhandelsbilanz. Es geht darum, die Digitalisierung mit Werten aufzuladen und diese zu exportieren. Um dies möglich zu machen, muss die Bundesregierung auch eine digitale Ideen- und Strategiefabrik werden und den Diskurs an sich reißen, ausgleichen zwischen allen gesellschaftlichen Mitspielern. Deutschland unterschätzt sich selbst und seine Rolle bislang.
Doch nicht nur der Staat, sondern alle Bürgerinnen und Bürger stehen in der Verantwortung sich zu äußern. Geht es um die Definition und Ausgestaltung von Werten im digitalen Bereich, so sitzen wir nahezu alle vor dem berühmten weißen Blatt Papier. Zu definieren, was wir wollen und was nicht, wo die Grenzen zwischen gesellschaftlich erwünscht und unerwünscht liegen, ist eine der Aufgaben unserer Generation. Es geht dabei auch um eine Weiterentwicklung unserer Wertmaßstäbe. Mit manchen altvertrauten Prinzipien werden wir brechen müssen, neue Parameter werden wir begründen. Spannender geht es nicht. Werden Sie also politisch und bringen Sie sich ein. Zu Hause am Küchentisch oder auf einer Bierkiste vor dem Brandenburger Tor. Was zählt, ist, dass Sie es tun.
Im Namen der Redaktion
Philipp Otto
Herausgeber
Foto: Bettina Volke
Philipp Otto ist Gründer des Think Tanks iRights.Lab und des Verlages iRights.Media. Er ist Herausgeber von iRights.info.Er entwickelt Strategien und Konzepte zur Bewältigung der Digitalisierung. Hierbei arbeitet er mit und für Regierungen, Parlamente, Unternehmen und Vertreter der Zivilgesellschaft.
Screenshot: facebook video
Ihre Freude über eine Spielzeug-Maske des Wookies Chewbacca aus der Filmreihe „Star Wars“ hielt Candace Payne in einem Video fest und teilte es auf Facebook. Wenige Tage später war die Maske überall ausverkauft und „Chewbacca Mom“ Gast in unzähligen Talkshows. Über 160 Millionen User haben sich die Aufnahme inzwischen angesehen und jeden hat ihr Lachen angesteckt.
Screenshot: twitter
Bei Microsoft beschäftigt man sich schon länger mit künstlicher Intelligenz. Um zu lernen, wie junge Menschen miteinander kommunizieren, entwickelte man den Chatbot Tay und ließ ihn auf Twitter los. Es begann ganz harmlos, doch innerhalb weniger Stunden hatte sich Tay zu einer rassistischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Gesprächspartnerin entwickelt. Nach 96.000 Tweets zog Microsoft den Stecker. Die Frage ist: War das Experiment nun erfolgreich oder nicht?
Screenshot: youtube.com
Im Mai wurde der Gorilla Harambe erschossen, nachdem ein Vierjähriger in sein Zoogehege fiel. Ein Video des Vorfalls wurde innerhalb weniger Stunden mehrere Millionen Mal geklickt. Unzählige Memes überschwemmten die sozialen Netzwerke und die Hashtags #JusticeforHarambe und #RIPHarambe machten die Runde. Der Comedian Brandon Wardell forderte schließlich „ Dicks Out For Harambe“. Diesem Aufruf schloss sich eine wachsende Zahl an Menschen an – und manche setzten ihn gar in die Tat um. Bei der Wahl zum US-Präsidentenamt im November konnte Harambe sogar 11.000 Stimmen für sich gewinnen.
Screenshot: National Geographic
National Geographic teilte bei Twitter eine herzzerreißende und äußerst dramatische Filmaufnahme. Sie zeigt ein Pinguinmännchen, das zu seinem Nest zurückkehrt und an der Seite seines Weibchens ein anderes Männchen erblickt. Der Pinguin greift den Eindringling an, verliert jedoch am Ende den blutigen Kampf. Das Weibchen entscheidet sich gegen ihn und die Internetgemeinde trauert (oder ist verstört wegen der blutigen Bilder).
Screenshot: schleckysilberstein.com
Bento veröffentlichte den Artikel „Die 15 seltsamsten Magazin-Cover des Frühjahrs“, Spiegel Online teilte ihn auf Facebook mit dem Hinweis „Bei Cover 5 mussten wir weinen!“ und Vice kommentierte „Doch bei Cover 2 passierte etwas Unerwartetes und dann mussten wir weinen“. Etwas Unerwartetes passierte in der Tat: Es fand ein großes Klassentreffen aller deutschen Social-Media-Redaktionen statt.
Foto: Laura DiMichele-Ross
Das Foto ist eigentlich schon etwas älter, feierte dieses Jahr aber sein Revival. Millionen Internet-User zerbrachen sich den Kopf, über wessen Besuch sich das Kind hier so gar nicht freute: War das nun Tom Hanks oder doch Bill Murray?
Screenshot: youtube.com
Die Zerstörungswut kannte in diesem Jahr keine Grenzen: Langsam, stetig und mit ungeheurer Kraft haben Hydraulikpressen in unzähligen Videos alles zerquetscht, was ihnen in den Weg gelegt wurde, von einer Bowlingkugel über einen Safe bis hin zum eigentlich als unzerstörbar geltenden Mobiltelefon Nokia 3310.
Fotos (3): Karen Zack
„Chihuahua oder Muffin?“ „Hundebaby oder Bagel?“ „Labradoodle oder Chicken Nuggets?“ Vor diese und noch weitere Fragen stellte uns die US-Amerikanerin Karen Zack in diesem Frühjahr. Teilweise gar nicht so leicht zu beantworten ...
von Lydia Heller
Smartphone-Anwendungen mit Gesundheitsbezug boomen. Etwa 100.000 dieser Apps gibt es mittlerweile – sie sollen beim Abnehmen helfen und Depressionen lindern, die fruchtbaren Tage berechnen oder Achtsamkeit trainieren. Gleichzeitig werden immer neue Sensoren entwickelt: Fitness-Armbänder und Smart Watches zählen Schritte und überwachen Schlaf, Puls und Herzfrequenz. Kameras, Fingerringe, Pflaster und implantierbare Sensoren messen Hautleitfähigkeit, Schweißentwicklung und Blutwerte. Google, Apple, Microsoft, Samsung – alle großen IT-Player drängen in den letzten Jahren mit Gesundheitsanwendungen für den Heimgebrauch auf den Markt.
Denn um Lifestyle-, Fitness- und Gesundheitsdaten entwickelt sich seit einigen Jahren ein riesiger Markt. Sie sind das Puzzleteil, das bisher fehlte, um die großen Versprechungen einzulösen, die vor mehr als zehn Jahren unter der Überschrift „personalisierte Medizin“ gemacht wurden. Gerade war das menschliche Erbgut entschlüsselt worden. Auf der Basis der genetischen Codes sollte es künftig möglich sein, endlich wirksame Therapien für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs oder Alzheimer zu finden. Aber der Erfolg blieb aus. Direkte Kausalitäten zwischen Genen und Krankheiten ließen sich kaum finden. Unser Genom, so weiß man heute, funktioniert komplexer als angenommen.
Inzwischen aber sind nicht nur die Kosten für die Gen-Sequenzierung enorm gesunken und die Rechnerleistungen für die Daten-Auswertung gestiegen, sondern es liegen auch ungeheure Datenmengen in digitaler Form vor: aus Krankenakten, Studien und nicht zuletzt aus der Unmenge an Gesundheits-, Lifestyle- und Fitness-Apps. Und je mehr Daten jeder Einzelne über sich sammelt, je mehr Möglichkeiten es gibt, in diesen Daten Abhängigkeiten und Muster zu finden, desto präziser tritt jeder mit seinen individuellen biologischen Merkmalen hervor.
„Wie seinerzeit das Mikroskop Dinge sichtbar machte, die für das menschliche Auge viel zu klein sind“, schrieb schon vor einigen Jahren der amerikanische Ökonom Erik Brynjolfsson, „so macht die Analyse großer Datenmengen durch Algorithmen Zusammenhänge sichtbar, die für den menschlichen Verstand bisher viel zu groß und komplex waren.“ Zwar dürfen Lifestyle-Daten oder persönliche Daten mit Gesundheitsbezug, wie sie zahlreiche Fitness-Apps sammeln, nicht einfach weitergegeben und verknüpft werden. Jedenfalls nicht alle und: noch nicht. Denn Forscher weltweit arbeiten bereits an Programmen, die die komplexen Abhängigkeiten zwischen Körperfunktionen, Umwelt und Verhalten sichtbar machen, die simulieren, wie Patienten auf Therapien reagieren – und die daraus individualisierte Behandlungswege ableiten sollen.
An der Klinik für pädiatrische Onkologie in Homburg arbeitet Norbert Graf zusammen mit Mathematikern, Molekularbiologen und Bio-Informatikern an einem Computer-Modell des Wilms-Tumors. Bei diesen kindlichen Nierentumoren, erklärt der Professor, müssten Ärzte häufig entscheiden, ob sie das Kind sofort operieren oder den Tumor zunächst mit einer Chemotherapie behandeln sollen, so dass er schrumpft und später leichter operierbar ist. Aber nicht alle Kinder sprächen gleich gut auf eine Chemotherapie an.
Aus Daten zur bisherigen Tumor-Entwicklung, zu Medikamenten und ihren Wirkstoffen und möglichst umfangreichen klinischen Angaben über die Kinder versucht das Programm deshalb, eine Prognose zu erstellen: „Wir wollen wissen, wie der Tumor auf die Vorbehandlung reagieren wird. Letztlich soll das System sagen: ‚Der Tumor wird nicht kleiner, operiere sofort.’“ Je größer die Datenmenge, auf die das Modell zurückgreifen kann, und je häufiger seine Vorhersagen mit der Realität verglichen und an diese angepasst werden, desto präziser werden die Prognosen im Laufe der Zeit.
Könnten medizinische Daten aus Krankenakten einfacher mit anderen persönlichen Daten verknüpft werden, außerdem mit Ergebnissen von Gentests und Studien zur Medikamentenwirksamkeit, dann – meint Norbert Graf und viele seiner Kollegen – wäre das für Ärzte enorm nützlich. „Damit könnten wir den Patienten von Anfang an die optimale Therapie geben und ihnen Nebenwirkungen ersparen.“ Seit 2011 arbeiten Kliniken in mehreren Ländern Europas bereits daran, ihre Datenbestände zu vernetzen und Angaben, unter anderem über krankheitsrelevante Gene und Biomarker aus Blut- und Gewebeproben von Patienten in der Biobanking und Biomolecular Resources Research Infrastructur (BBMRI) zu speichern.
In den USA stellte der scheidende US-Präsident Barack Obama dieses Jahr rund 215 Millionen Dollar für die erst Anfang des Jahres von ihm angestoßene Precision Medicine Initiative bereit, in deren Rahmen derzeit unter anderem Gen- und Gesundheitsdaten von einer Million Amerikanern erhoben und verknüpft werden. Auf ihrer Grundlage sollen Tests entwickelt werden, die Voraussagen über die Wirkung von Medikamenten ermöglichen. Die Analyse der Datenbestände soll künftig aber nicht nur Aussagen darüber liefern, wie eine Therapie aussehen muss, damit sie eine akute Krankheit heilt. Die Daten seien gerade in Verknüpfung mit Lifestyle-Daten für die Medizin auch deshalb „ein unheimlicher Schatz“, so Norbert Graf, weil ihre Auswertung Aussagen darüber liefern könnte, wie wahrscheinlich Rückfälle sind.
„Nach einer erfolgreichen Krebsbehandlung kommt immer der Wunsch, einen Rückfall zu verhindern. ‚Muss ich etwas Besonderes essen?‘, ist dann so eine typische Frage oder ‚Muss ich mehr Sport treiben?‘. Und hätte ich jetzt von solchen Gesundheitstrackern Daten zum Beispiel über sportliche Aktivität und die Ernährung der Patienten und langfristig auch Wissen darüber, wer von ihnen einen Rückfall bekommen hat oder nicht – dann könnte ich ihnen irgendwann sagen: ‚Wenn du das machst oder jenes isst, kannst du den Rückfall mehr oder weniger vermeiden.‘ Das geht heute allerdings noch nicht.“
Für Datenschützer ist diese Entwicklung ein Albtraum. Zum einen genügt die Qualität der von Wearables und Trackern erfassten Daten derzeit oft keineswegs medizinischen Standards. Nicht selten liefern sie – wie Studien gezeigt haben – sogar falsche Ergebnisse. Zum anderen fürchten Kritiker, dass die gespeicherten Gesundheitsdaten nicht so geschützt werden können, dass die Anonymität der Datenlieferanten gewährleistet ist. Dass diese diskriminiert oder bei Bewerbungen benachteiligt werden könnten, wenn das Wissen um Krankheiten oder die Veranlagung dafür in die Hände der Arbeitgeber gelangt. Und dass es künftig Pflicht sein könnte, per Tracker oder App Daten über seine Körperfunktionen zu sammeln und sie Ärzten oder Krankenkassen zur Verfügung zu stellen.
Schon jetzt schließlich locken Versicherer wie die AOK oder die Schweizer Generali Versicherung mit Prämien und Rabatten, wenn Mitglieder via App einen gesunden Lebensstil nachweisen. „Im Moment ist das alles freiwillig“, sagt Mediziner und E-Health-Experte Tobias Neisecke. „Noch wird derjenige, der sich um seine Werte kümmert, der etwas tut, belohnt. Aber dass sich das umkehrt, ist wahrscheinlich. Irgendwann ist der Faktor: Wie ist mein App-Score.“
Krankenkassen versichern, dass es keinen Malus geben werde für Mitglieder, die sich dem „Health Sensing“ verweigern. Und – auch wenn Zweifel daran angebracht sind – das größere Geschäft dürfte tatsächlich mit den Daten selbst zu machen sein. Sie sind der Rohstoff für Prognosemodelle, die Krankheitsrisiken berechnen, auf deren Basis nicht nur zielgruppengerechte Therapien, sondern auch präventive Interventionen entwickelt werden können.
Carolinas HealthCare System, ein Medizin-Netzwerk im US-Bundesstaat North Carolina, lässt seit 2014 Konsumentendaten mit Gesundheitsdaten auf Korrelationen prüfen, mit dem Ziel, Risikopatienten für Krankheiten zu identifizieren. In Deutschland arbeitet der Thinktank Elsevier Health Analytics an Algorithmen, die in anonymisierten Krankenkassendaten nach Mustern suchen und dann Gruppen von Kassenmitgliedern identifizieren, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eine Krankheit entwickeln werden. Ärzte sollen Patientendateien mit diesem Filter abgleichen und Risikopatienten gezielt und früh ansprechen.
Und auch die AOK entwickele einen „Herz-Kreislauf-Risiko-Schätzer“, sagt Kai Kolpatzik vom AOK Bundesverband in Berlin. Er soll vorhersagen, „wie mein Risiko innerhalb von zehn Jahren ist, einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden. Aufgrund meines Alters und Blutdrucks, ob ich rauche, wie meine Familien-Anamnese ist. Und das Spannende ist, dass auch gesagt werden kann: Was bringt es, wenn ich ein Medikament nehme? Was bringt Lebensstil-Änderung?“
Analysten rechnen auf dem Markt für personalisierte Medizin derzeit mit zweistelligen Wachstumsraten jährlich, bis 2023 erwarten sie einen Umsatz von fast 90 Milliarden Dollar weltweit. Geld, das eigentlich den Datenspendern gehören sollte, sagt Ernst Hafen von der ETH Zürich. Zusammen mit Kollegen initiierte er deshalb das MiData-Projekt: eine Kooperative, in der die Mitglieder – sowohl Patienten als auch gesunde Personen – seit diesem Jahr Erbgut- und andere medizinische Daten auf einen Server laden können, aber selbst entscheiden, wer sie für welche Zwecke verwerten darf. Firmen, die die Daten nutzen, müssen dafür bezahlen. Mit den Gewinnen sollen Forschungsprojekte finanziert werden, die für privatwirtschaftliche Unternehmen als unrentabel gelten.
Unabhängig aber davon, wer in Zukunft mit Gesundheitsdaten forscht und wer daran verdient – die vorausschauende Analyse dieser Daten verändert die Medizin: Statt eine akute Krankheit zu diagnostizieren, geht es mehr und mehr darum, die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, mit der sie ausbrechen wird. „Wir sind nicht mehr krank oder gesund“, gibt Medizinethiker Peter Dabrock zu bedenken, „sondern Träger eines bestimmten Risikoprofils. Und dann wird es ethisch und ökonomisch und rechtlich interessant, denn da stellt sich dann eine ganz neue Frage in Bezug auf die Konsequenzen, die das für Krankenversicherte hat. Heute sagen wir: Träger einer bestimmten Genmutation, zum Beispiel, haben Anspruch auf eine Behandlung, die zahlen wir. Bald könnte es heißen: 70 Prozent Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung zahlen wir. Aber was ist mit 65 Prozent? Auch noch?“
Foto: Privat
Lydia Heller ist freie Autorin, Reporterin und Moderatorin, vor allem für Deutschlandradio Kultur, Deutschlandfunk und die Deutsche Welle. Seit 2008 schreibt sie – nicht nur, aber am liebsten – Radiofeatures über Umwelt, Technik und Forschung.
von Jessica Binsch
Wer ein neues Haushaltsgerät sucht, denkt dabei wahrscheinlich selten über Hackerangriffe nach. Doch beim nächsten Kauf sollte man vielleicht Andrew McGills Toaster im Kopf behalten. McGill ist Programmierer und Journalist, er arbeitet bei dem US-Magazin The Atlantic und sein Toaster wurde kürzlich gehackt.
Glücklicherweise handelt es sich dabei nicht um McGills echten Toaster. Bedenklich ist der Fall trotzdem. McGill hat nämlich für ein Experiment einen Toaster simuliert – und zwar einen, der mit dem Internet verbunden ist. Er wollte herausfinden, wie schnell so ein Gerät zum Ziel von Hackern werden würde. „Ich habe fest damit gerechnet, dass ich Tage oder Wochen auf einen Hacking-Versuch warten müsste“, schreibt McGill später in seinem Bericht auf The Atlantic. Es dauerte weniger als eine Stunde. Innerhalb der ersten zwölf Stunden zählte er an die 300 weitere Hacking-Versuche.
McGills Experiment ist nicht nur eine lustige Anekdote. Immer mehr Alltagsgegenstände sind mit dem Internet verbunden. Vom Babyfon bis zur Zahnbürste – alle erdenklichen Geräte werden „smart“. Marktforscher erwarten einen Milliardenmarkt für vernetzte Geräte. Kein Wunder, dass immer mehr Unternehmen ein Stück vom Kuchen abhaben wollen. Die Internetriesen Google und Amazon haben ihre eigenen Schaltzentralen für das vernetzte Zuhause auf den Markt gebracht. Googles Home und Amazons Echo reagieren auf gesprochene Anweisungen ihrer Benutzer, es sind Mikrofone mit angeschlossenen Software-Assistenten.
Selbst deutsche Mittelständler gehen davon aus, dass es schon in wenigen Jahren praktisch keine Haushaltsgeräte mehr geben wird, die nicht zumindest die Möglichkeit zur Vernetzung bieten. Das kann man sich ähnlich vorstellen wie bei Fernsehern: Es gibt kaum noch Geräte zu kaufen, die nicht smart sind.
Bei dem Run aufs Geschäft fällt die Sicherheit schon mal flach. Dass eine Gefahr von unsicheren vernetzten Geräten ausgeht, wird allerdings erst nach und nach deutlich. 2016 könnte ein Wendepunkt sein. In diesem Jahr wurde der erste massive Angriff auf das Internet öffentlich, in dem vernetzte Geräte eine wesentliche Rolle spielten.
An einem Freitag im Oktober hatten Internetnutzer in den USA mit massiven Netzausfällen zu kämpfen. Große Webdienste wie Netflix und Spotify waren nicht erreichbar, ebenso Seiten wie Reddit, die New York Times oder Wired.
Schuld daran waren unter anderem unsichere Webcams. Hacker hatten Millionen Geräte zu einem Botnetz zusammengeschlossen. Dieses Botnetz richteten sie gegen den DNS-Anbieter Dyn. Unternehmen wie Dyn sind dafür zuständig, die eingetippten Namen von Webseiten in deren IP-Adressen zu übersetzen. Nur so kann ein Browser die gewünschte Seite aufrufen. Dyn ist das Telefonbuch des Internet – und damit eine Schwachstelle in der weltweiten Infrastruktur.
Dieses Unternehmen wurde nun von einer massiven Welle sinnloser Anfragen überrollt. Eine klassische DDoS-Attacke, mit der Dienste durch Überlastung in die Knie gezwungen werden. Angreifer benutzen für solche Attacken Botnetze aus Geräten, die sie unter ihre Kontrolle gebracht haben. Nur waren das bisher in der Regel Computer und Laptops, nicht Videorekorder und Webcams.
Fachleute warnen schon seit einiger Zeit davor, dass vernetzte Geräte für Angriffe genutzt werden könnten. Der IT-Journalist Brian Krebs musste das sogar am eigenen Leib erfahren, als seine Webseite von einem Botnetz aus Überwachungskameras und digitalen Videorekordern angegriffen wurde. Die Software, die dafür genutzt wurde, war amateurhaft einfach, die Wirkung dagegen durchschlagend.
Die Warnungen werden nun drängender. „Wir müssen das Internet vor dem Internet der Dinge retten“ , fordert IT-Sicherheitsexperte Bruce Schneier im Technologie-Magazin Motherboard. Seine Forderung veröffentlichte Schneier nur wenige Wochen vor den massiven Angriffen Ende Oktober. Im Nachhinein wirkt sie fast prophetisch.
Das Problem dabei sind die vernetzten Geräte selbst. Oder besser gesagt: ihre Hersteller. Die Unternehmen machten sich oft wenig Gedanken über die Sicherheit und Wartung der Produkte, sagt Michelle Thorne. Thorne arbeitet bei der Mozilla Foundation, der Stiftung hinter dem Internetbrowser Firefox. Sie hat ein Buch über das Internet der Dinge verfasst: „Understanding the Connected Home“ heißt das Werk von Thorne und Peter Bihr.
„Es kann sein, dass Leute das kaufen und dann müssen sie plötzlich ihren Kühlschrank aktualisieren“, sagt Thorne. „Die Tech-Firmen sind nicht bereit, das zu unterstützen und über langfristige Wartung nachzudenken.“
Oft sind Updates nicht einmal möglich. Standard-Passwörter können teilweise nicht geändert werden. Für den Angriff auf Dyn im Oktober benutzten Hacker massenhaft Überwachungskameras eines chinesischen Herstellers, die mit einem Standard-Passwort liefen. Und nicht alle Unternehmen kennen sich mit IT-Sicherheit ausreichend aus, um ihre neuerdings vernetzten Geräte ausreichend abzusichern. Niemand weiß, wie viele billige Überwachungskameras oder Videorekorder so unsicher mit dem Internet verbunden sind.
Somit könnte der Angriff auf die Netz-Infrastruktur zumindest eine positive Auswirkung haben. Die Probleme sind nun bekannt, die weitreichenden Auswirkungen der Sicherheitsmängel wurden gründlich demonstriert. Das hat unter anderem staatliche Aufsichtsbehörden auf den Plan gerufen. Die deutsche Behörde für IT-Sicherheit, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), mahnte die Hersteller bereits zur Besserung.
Die meisten mit dem Internet verbundenen Haushaltsgeräte „sind im Auslieferungszustand unzureichend gegen Cyber-Angriffe geschützt und können somit von Angreifern leicht übernommen und für Straftaten missbraucht werden“, warnte das BSI. „Wir fordern daher die Hersteller von Netzwerkgeräten auf, die Sicherheit ihrer Produkte zu verbessern und schon bei der Entwicklung neuer Produkte das Augenmerk nicht nur auf funktionale und preisliche Aspekte zu richten, sondern auch notwendige Sicherheitsaspekte einzubeziehen.“ Hersteller sollten die Kommunikation über das Netz verschlüsseln und Updates bereitstellen.
Experten brachten auch die Idee eines IT-Gütesiegels ins Gespräch. An einem solchen Siegel könnten Kunden erkennen, dass Produkte festgelegte Sicherheitsstandards erfüllen. Ob strengere Regeln eingeführt werden, ist noch offen. Und selbst wenn es sie geben sollte, dürfte es bis dahin noch einige Zeit dauern.
Es könnte aber durchaus sein, dass Sicherheit bei vernetzten Geräten zum Verkaufsargument wird. Das mag ein optimistisches Szenario sein, unmöglich ist es allerdings nicht. Eine ähnliche Entwicklung haben Messenger-Apps hingelegt. Noch vor wenigen Jahren war Sicherheit bei den Chatdiensten ein Nischenthema, dem sich nur einige kleine Anbieter widmeten. Mittlerweile verschlüsselt selbst der Riese Whatsapp die Nachrichten seiner Nutzer. Einen wesentlichen Anstoß dafür lieferten die Enthüllungen von Edward Snowden über die massenhafte Überwachung der digitalen Kommunikation.
Es könnte sein, dass derart große DDoS-Angriffe Verbraucher beim Kauf vorsichtiger machen. Hersteller würden so stärker unter Druck gesetzt, ihre vernetzten Produkte sicherer zu machen. Allerdings ist der Markt sehr vielfältig, nicht alle Unternehmen, die vernetzte Geräte anbieten, kennen sich zwangsläufig auch mit IT-Sicherheit aus. Wahrscheinlich wird der Vorfall vom Oktober also nicht die letzte Attacke sein, an der Haushaltsgeräte mit Internetverbindung beteiligt sind.
Foto: Privat
Jessica Binsch arbeitet als freie Journalistin in Berlin und berichtet über Digitalisierung und Gesellschaft. Sie interessiert sich besonders für Netzpolitik, Netzaktivismus und die gesellschaftlichen Auswirkungen technologischer Entwicklungen.