Vorwort

Viele Jahre lang war ich gezwungen, mich intensiv mit dem Thema der Demenz auseinanderzusetzen, denn mein Mann Josi hatte diese Erkrankung, und er und ich mussten lernen, damit umzugehen und zu leben. Ich habe mich entschlossen, meine Erkenntnisse, die ich in den letzten Jahren gewonnen habe, unter dem Pseudonym Lotti Beitz zu veröffentlichen, um anderen Betroffenen die Chance zu geben, aus meinen Fehlern zu lernen. Ich habe, insbesondere zu Beginn der Erkrankung, viel falsch gemacht, aber auch vieles intuitiv richtig. Da ich weder eine Ärztin noch eine ausgebildete Pflegekraft war und bin, sondern einfach nur die Ehefrau eines an Demenz erkrankten Mannes war, ist meine Sicht der Dinge laienhaft und nicht wissenschaftlich korrekt. Die vielen Fragen, die es zu diesem Thema gibt, werde ich also nicht fundiert beantworten können, vielmehr möchte ich einfach nur erzählen, wie die Geschichte der Demenzerkrankung anfing, und den Betroffenen Ratschläge geben, wie diese mit einer solchen Erkrankung ihrer Angehörigen besser umgehen können. Vielleicht könnt ihr daraus schon etwas mitnehmen, was euch weiterhilft, das würde mich glücklich machen. Da ich einen sehr eigenwilligen, fast schon skurrilen Humor habe – übrigens meine Rettung in all den Jahren – wird hier zwangsläufig mehr gelacht als geweint. Mein Mann Josi war in seinem früheren Leben Mediziner, was in manchen Situationen unserer letzten gemeinsamen Jahre hilfreich war, und er verstarb 2015 mit 81 Jahren. Ich, die liebe Lotti, bin inzwischen Mitte 60 und war früher einmal Möbeldesignerin.

 

 

1. Ein erster Übungslauf

Josi fragt: „Wem gehört das alles hier?“

Im Sommer 1990 stürzte mein Mann in der Nacht auf dem Weg zur Toilette so unglücklich, dass er sich einen Schädelbasisbruch zuzog. Da wir getrennte Schlafzimmer hatten, bekam ich davon zunächst nichts mit. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, roch ich wie immer den von Josi täglich frisch aufgebrühten Kaffee, wunderte mich aber, dass ich weder den obligatorischen Weckruf, „Ich muss los, mein Schatz, bis heute Abend, ich liebe dich“, noch das Zufallen der Haustür gehört hatte. Ich lief nach unten in die Küche, um dort festzustellen, dass mich meine Sinne getäuscht hatten, denn es gab keinen frischen Kaffee. Erschrocken und beunruhigt rannte ich ins Schlafzimmer und fand dort einen blutüberströmten und bewusstlosen Josi, auf dem Bett liegend. Es war der Schock meines Lebens. Notarzt und Krankenwagen waren schnell zur Stelle und mein Mann landete auf der Intensivstation der Neurologie. Zehn Tage lang lag er im Koma und kämpfte um sein Leben. Als er endlich wieder aufwachte, konnte er keinen zusammenhängenden Satz mehr sprechen; wir fragten uns natürlich, ob er das Sprechen je wieder erlernen würde. Nach acht Wochen wurde er aus der Klinik entlassen, um sich kurze Zeit später zu einer Nachbehandlung an den Bodensee zu begeben. Tatsächlich sollte es jedoch sechs weitere Wochen dauern, bis endlich ein Platz frei wurde. Zwischenzeitlich gingen wir als Familie durch die Hölle und mussten uns daran gewöhnen, mit einem geliebten, aber sehr kranken Menschen geduldig umzugehen, vor allen Dingen aber lernen, aus seinen stammelnden Worten zu erraten, was er eigentlich sagen wollte. Im Laufe der Zeit eignete ich mir eine Methode an, ihn zu korrigieren, ohne dass er sich dabei belehrt oder verletzt fühlte. Seine Wortfindungsstörungen waren zwar nicht mehr zu leugnen, aber irgendwann konnte ich immer besser damit umgehen. Schlimmer waren andere Verhaltensauffälligkeiten. So starrte er ein Bild an und wiederholte Folgendes im Sekundentakt: „Das Bild hängt schief, das Bild hängt schief“ oder „Da ist eine Fliege an der Wand, da ist eine Fliege an der Wand.“ Natürlich rückte ich das Bild schnell wieder gerade und verscheuchte die Fliege; und damit war es dann gut. Er selbst war zu keiner Reaktion mehr fähig, sein Blick war dauerhaft leer und starr. Ich rief fast täglich in der Rehaklinik an, um mich nach dem neuesten Stand zu erkundigen. Am Ende drohte ich den zuständigen Leuten, dass sie demnächst zwei Betten reservieren müssten, weil ich langsam aber sicher auch verrückt würde. Endlich hatte man ein Einsehen und ich verfrachtete Josi mit Sack und Pack sowie seiner Golftasche ins Auto und düste zum Bodensee. Der Aufenthalt war für mehrere Wochen geplant und im Vorfeld organisierte ich, dass er jedes Wochenende Besuch bekommen würde. Ich selbst brauchte eine Pause, eine lange Pause. Ich mobilisierte deshalb die damals bereits erwachsenen Töchter von Josi, Veronika und Kathi, enge Freunde sowie bereitwillige Bekannte und es klappte wunderbar mit den regelmäßigen Ausflügen zum Bodensee. Die Feedbacks fielen dagegen sehr unterschiedlich aus. Die Kinder und Freunde waren begeistert über die Fortschritte, die ich natürlich beim abendlichen Telefonat täglich mitbekam und über die ich mich unendlich freute. Einige alte Weggefährten und Studienkollegen von Josi, ebenfalls Mediziner, nahmen dagegen kein Blatt vor den Mund und berichteten mir, dass mein Mann „bescheuert sei und sich so schräg benehme“, sodass ein zweiter Besuch nicht mehr zumutbar sei. Nach diesem „Wort zum Sonntag“ strich ich die ehemaligen Kumpels – für die Josi in der Vergangenheit sehr viel getan hatte – sofort aus unserer Freundesliste und wir haben auch nie wieder von ihnen gehört. Im Laufe der nächsten Monate und Jahre verabschiedeten sich immer mehr alte „Freunde“, denn Josis Wesen hatte sich schon sehr verändert und nicht jeder konnte damit umgehen. Aus „Bruder Lustig“ war ein Wahrheitsfanatiker geworden, der jedem seine Gedankengänge um die Ohren warf, und das kam nicht besonders gut an. Doch erst einmal wurde mein Mann nach sieben Wochen aus der Rehaklinik erlöst und unser fröhliches Wiedersehen ist mit Worten nicht zu beschreiben. Josi freute sich wie ein kleines Kind und ich lauschte verzückt seinen tadellos gesprochenen Sätzen, in denen es nur noch wenige Fehler gab. Die Ärzte und Logopäden hatten einen fantastischen Job gemacht. Auch zu Hause wurde er weiter von Logopäden und anderen Therapeuten betreut, sodass er eines Tages wieder so fit war, dass er tatsächlich als Arzt weiterarbeiten konnte. Es hatte mehr als ein halbes Jahr gedauert, bis wir unseren „alten“ Josi zurückhatten, der zu seinen Patienten und seiner Familie liebenswürdig und freundlich war. Leider war mein Mann durch den Unfall zum Epileptiker geworden. Er musste deshalb sein Leben lang Tabletten nehmen, aber er konnte damit die Krankheit in Schach halten und den Alltag gut bewältigen. Dass der Schädelbruch, bei dem auch Teile des Gehirns beschädigt wurden, und auch die Epilepsie für eine Demenz in der Folgezeit mitverantwortlich sein könnten, wussten wir glücklicherweise zum jenem Zeitpunkt noch nicht.

1999 wurde Josi mit 65 Jahren von seiner Klinik in Pension geschickt, seine Zeit als aktiver Kardiologe war damit beendet. Jetzt hatte ich einen todunglücklichen Mann zu Hause sitzen, der mit sich und seiner neu gewonnenen Freizeit nur wenig anzufangen wusste. Er war mit Leib und Seele Arzt gewesen und auch sehr berühmte Menschen hatten in den vorangegangenen Jahren seine Dienste in Anspruch genommen, seine Kompetenz, seine Leidenschaft für seinen Beruf, sein weltweites Netzwerk, seine Geduld und Gründlichkeit geschätzt. Den Patienten konnte er stundenlang zuhören und ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wenn auch er schließlich mit seinem Latein am Ende war, kannte er Spezialisten, die weiterhelfen konnten.

Vor inzwischen mehr als zehn Jahren, genauer gesagt im Jahr 2005, kam ein Brief von der BMW-Hauptverwaltung aus München mit der Ankündigung, dass in der Folgewoche der neue 7er-BMW in Luxusausführung vor unserer Tür stünde. „Haha, wohl ein Witz, ebenso wie der Preis von um die 70.000 Euro“, dachte ich. Ich fragte meinen Mann, ob er etwas davon wüsste, aber er schüttelte nur empört den Kopf. „Nein, keine Ahnung“, sagte er. „Was sollen wir denn auch mit so einem großen Schlitten?“

Ich setzte mich ans Telefon und fand schnell heraus, dass er den Wagen ein halbes Jahr zuvor bestellt hatte, in Schwarz und mit hellen Ledersitzen. Er bestritt das heftig, gab aber immerhin zu, sich daran zu erinnern, ein paar Monate zuvor irgendeinen Wisch – „Das ganze klein geschriebene Zeug auf dem Papier konnte man ja gar nicht so schnell lesen“ – unterschrieben zu haben.

Durch die Vermittlung eines sehr guten Freundes schafften wir es am Ende, die Kuh bzw. die Luxuskiste, die keiner wollte, vom Eis zu bekommen und diese gegen ein kleineres Modell einzutauschen. Das war gerade noch einmal gut gegangen und ich speicherte das Ereignis unter „kann ja mal vorkommen“ in meinem Gehirn ab und vergaß es für den Moment wieder.

Josi war zeit seines Lebens immer ein sehr korrekter Mensch gewesen, der Verträge vor der Unterschrift lieber dreimal durchlas, ehe er sie unterschrieb. Andererseits war er aber auch bequem und verließ sich gerne auf die Ratschläge von Freunden oder Mitarbeitern, ohne großartig zu hinterfragen, ob nun alles seine Richtigkeit hatte, weil ihn ein bestimmtes Thema nicht interessierte oder langweilte. Bei dem Autokauf hatte er wahrscheinlich beizeiten seine Ohren auf Durchzug gestellt, weil ihn die Details, die ihm der BMW-Verkäufer aufzählte, nicht weiter kümmerten; und da er den guten Mann schon lange kannte, vertraute er ihm und setzte am Ende „seinen Wilhelm“ unter die Bestellung.

Ein paar Wochen nach diesem Vorfall klingelte es um die Mittagszeit an der Haustür. Als ich öffnete, sah ich mich einem gut aussehenden Mann ausländischer Herkunft gegenüber, der mir strahlend verkündete, dass er jetzt da sei und die Teppiche nach oben bringen könnte. „Ja gut, wer sich zu Hause langweilt, darf sich ruhig ein paar Leute einladen, warum nicht?“, dachte ich. „Und wenn die einem bei der Gelegenheit schöne Teppiche zeigen, ist das doch in Ordnung.“ Den hübschen jungen Mann konnte ich jedoch ziemlich problemlos abwimmeln und als ich die Worte „nicht zurechnungsfähig“ und „Polizei“ in meinen Redeschwall einfließen ließ, trat er eiligst und ohne zu murren den Rückweg an. Diese beiden relativ kurz aufeinander folgenden Ereignisse ließen bei mir absolut keine Alarmsirenen schrillen, denn Josi kümmerte sich weiterhin sehr gewissenhaft um alltägliche Dinge, um die er sich schon ewig gekümmert hatte. Er kontrollierte beispielsweise den Ölstand der Heizung und den Chlorgehalt des Schwimmbads, er holte Wasser und Wein aus dem Keller, sortierte seine Bankauszüge und seine Medikamente, machte Überweisungen, fuhr zu den Meetings der Rotarier, sammelte Belege für die Steuererklärung, las die Tageszeitung, blätterte Illustrierte durch oder goss die Pflanzen in unserem Garten. Wenn er all diese Dinge nicht tat, saß er in seinem Lieblingssessel am Fenster und schlief. Josi war nun bereits seit fünf Jahren pensioniert und sein Tagesablauf war nicht wirklich spannend.

In den Sommermonaten saßen wir anfangs viel und lange draußen auf der Terrasse und unterhielten uns, im Winter lief das ähnliche Programm vor dem Kamin ab. Einzig sein Weinkonsum nahm stetig zu und der war einer unserer größeren Streitpunkte. Auf diesen, in meinen Augen übertriebenen und nie versiegenden Weingenuss schob ich alles, das endlos lange Schlafen bis in den späten Vormittag, die Schlaforgien während des Tages im Sessel ebenso wie seine ständige Fragerei. Egal, was ich sagte, ich musste es mindestens dreimal wiederholen. Spätestens beim dritten Nachfragen und Wiederholen flippte ich aus und brüllte den Satz, um den es eigentlich ging. Darauf reagierte Josi zwangsläufig ebenfalls aggressiv und beschimpfte mich als „bösartige Meckerziege, die nur den ganzen Tag herumschreit“. Solche Szenen gab es über die Jahre hinweg mindestens zweimal täglich und sie raubten mir den letzten Nerv.

Andererseits konnte ich, wann immer ich wollte, das Haus verlassen, ihn störte das nicht, solange er wusste, wo ich war und wann ich wiederkäme. Eine Zeit lang interessierte es ihn sehr, was ich während meiner Abwesenheit erlebt hatte, und ich musste ihm in epischer Breite darüber berichten. Wann es anfing, dass er sich mit „Es war nett“ begnügte und nicht mehr hinterfragte, was ich gegessen hatte oder ob ich gut oder schlecht Golf gespielt hatte, weiß ich nicht mehr.

Wie so vieles andere schlich sich eine gewisse Sprachlosigkeit in unsere Beziehung ein, auf jeden Fall geschah dieser Prozess jedoch so langsam, dass es mir ewig nicht auffiel. Vielleicht war ich auch die pausenlose Nachfragerei und die ständigen Wiederholungen eines Satzes oder einer Frage so sehr leid, dass ich selbst immer sprachloser wurde. Ich kann das im Nachhinein nicht mehr exakt zeitlich festlegen. Ich kompensierte die mangelnde und mir sehr fehlende Kommunikation in unserem Haus mit langen Telefonaten mit Freunden oder der Familie.

 

 

 

2. Ein Wechselbad der Gefühle

Josi sagt: „In meinem Kopf ist alles dunkel!“

Immer häufiger begann ich, darüber nachzudenken, ob ich nicht ein anderes Leben haben wollte. Wie sollte das mit Josi und mir weitergehen? Es traf mich hart, als ich im Sommer 2006 bemerkte, dass auch ich anfing, mich zu verändern, und zwar im negativen Sinne. Ich nahm an Gewicht zu, schwankte stimmungsmäßig zwischen Apathie, gekünstelter Euphorie und Aggression. Ich hatte keine Ziele und keine Träume mehr und eigentlich nur permanent den Wunsch, wegzurennen: raus aus dem Haus, raus der Stadt, raus aus meinem Leben, egal wohin, Hauptsache weg, bloß möglichst weit weg. Aber ich schob den endgültigen Bruch immer wieder hinaus.

Anfang 2007 war ich für mehrere Wochen bewegungsunfähig. Mein Mann war nun eigentlich für diese Zeit für die Beschaffung von Lebensmitteln zuständig, also theoretisch. Praktisch klappte es nur mäßig und ich hatte die Rechnung tatsächlich ohne den Wirt gemacht. Immerhin schaffte es Josi, mit großen Zetteln bewaffnet, ab und an beim Metzger Fleisch und etwas Aufschnitt zu besorgen. Ich war furchtbar wütend auf mich, weil ich es in der Vergangenheit versäumt hatte, ihn öfter zu kleinen Botengängen zu schicken, damit er sich daran gewöhnen konnte.

Ursprünglich wollte ich für den Zeitraum meiner Unpässlichkeit einen Koch engagieren, aber mein Mann hatte mir das ausgeredet und mich sehr glaubwürdig davon überzeugt, dass er durchaus dazu in der Lage sei, mich rund um die Uhr zu versorgen und zu verwöhnen. Wenigstens verlor ich in jener Zeit viel an Gewicht und meine Laune verbesserte sich. Anscheinend tat es meinem Körper und meiner Seele gut, untätig herumzuliegen und viel nachzudenken. Aus dem zaghaften Galgenhumor entwickelte sich plötzlich mein alter Humor zurück und fast übermütig geworden, meldete ich mich bei einer Kochsendung im Fernsehen an.

Für die Tage der Dreharbeiten – im Sommer 2007 – quartierte ich Josi in der Nähe von Münster in einem Golfhotel ein, damit er mir zu Hause nicht vor den Füßen herumlief. Ich könnte mich noch heute über meine Naivität ärgern und mich für das Nichterkennen seines Zustandes ohrfeigen. Noch immer bricht mir der kalte Schweiß aus, wenn ich nur daran denke. Ich schickte ihn einfach weg, ohne mir einen Kopf darüber zu machen, in welch gefährliche Situation ich ihn und auch andere damit hätte bringen können.

Er brauchte Stunden für die knapp 100 Kilometer und ist wohl verzweifelt im Kreis gefahren, bis er endlich das Hotel gefunden hat. Auch ist er wohl nur ein einziges Mal mit seiner Golfkarre losgezogen und dabei stundenlang im strömenden Regen herumgeirrt, weil er den Weg zurück nicht mehr fand. Details bekam ich erst im Laufe der Zeit aus ihm herausgequetscht, logischerweise wollte er mir die ganzen Dramen ersparen. Mir reichten die Infos auch so schon. Glücklicherweise landete er unbeschadet nach einigen Tagen wieder zu Hause, aber mir war erstmals bewusst, dass es ein zweites Experiment dieser Art nicht mehr gäbe.

Josi liebte es früher, Auto zu fahren, und kein Ziel war ihm zu weit. Da er einen unglaublichen Orientierungssinn hatte, kamen wir immer sehr rasch und ohne Umwege von A nach B. Vor der Abfahrt schaute er sich die Straßenkarte an und schon wusste er Bescheid. Auch in späteren Jahren, als wir schon die Navigation im Wagen hatten, verließ er sich lieber auf sein eigenes Gefühl und stellte das Gerät nie an. Am Anfang unserer Ehe überließ er mir nur selten das Steuer, vor allen Dingen wohl auch, weil er sich sicherer fühlte, wenn er selbst fuhr. Als Beifahrer benahm er sich dagegen unmöglich und feuerte im Sekundentakt irgendwelche Kommandos ab. „Du fährst ja viel zu schnell, warum kriechst du denn so, Achtung, Vorsicht, Stopp, Halt, der Vordermann bremst gleich, achte auf die Ampel da vorne, hast du keine Augen im Kopf usw. usw.“ Er hörte nicht auf, mich zu verbessern. Als wir einmal auf der Rückfahrt von Rotterdam waren und ich am Steuer saß, habe ich auf dem Seitenstreifen der Autobahn angehalten und bin schreiend und schimpfend aus dem Auto gesprungen. Josi musste selbst weiterfahren und ich hockte beleidigt und schweigend neben ihm. Gelernt hat er allerdings nichts durch diese Szene.

 

 

 

3. Lotti nimmt Fahrt auf

 

 

 

Josi fragt: „Darf ich mit der Tablette auf die Toilette?“

Parallel zur Rückwärtsentwicklung meines Mannes nahm ich wieder Fahrt auf und erlangte meine ursprünglich positive und optimistische Lebenseinstellung zurück. Die Fernsehaufnahmen hatten mir neue Energie gegeben und mir gezeigt, dass es außerhalb unserer vier Wände auch für mich noch einiges zu erleben gab. Voller Elan machte ich mich daran, über mein Leben zu schreiben, denn im Jahr darauf, also 2008, würde ich 60 Jahre alt werden und die Zeit wurde knapper, noch etwas zu reißen oder etwas Verrücktes auf die Beine zu stellen. Plötzlich verschwand auch meine Wut auf Josi und seine Unzulänglichkeiten, weil ich zu ahnen begann, dass er die meisten Dinge nicht machte, um mich zu ärgern, sondern weil er einfach nicht anders konnte. Ich wurde wieder ruhiger und geduldiger und ganz automatisch gab es weniger Stress im Haus.

Als mein Mann begann, ab und an merkwürdige Dinge zu sagen oder auch schon einmal ewig nach dem richtigen Wort oder Ausdruck zu suchen, erinnerte ich mich wieder an die schreckliche Zeit nach dem Schädelbasisbruch, als er monatelang keinen richtigen Satz mehr zusammenbrachte. Allerdings begann ich so langsam zu ahnen, dass sich dieses Mal der Zustand nicht verbessern, sondern eher verschlechtern würde. Damals hatte er sich verbissen zurück in sein Leben gekämpft, sogar drei Arbeitsprozesse gewonnen und es zurück auf den Chefsessel geschafft. Er hatte sich durch nichts unterkriegen lassen und ist wahrhaftig der Herr im Hause geblieben, dem alle Respekt zollten.

Mit dem Schreiben des Buches hatte ich eine optimale Situation geschaffen: Ich saß am Esstisch und lebte in einer anderen Welt, war beschäftigt, ausgeglichen, fröhlich und glücklich. Keine drei Meter von mir entfernt, verbrachte mein Mann seine Tage in seinem geliebten Ohrensessel, blätterte in Illustrierten oder der Tageszeitung, er konnte mich sehen, mal ein Wort mit mir wechseln, aber niemand meckerte, keiner schrie oder kommandierte ihn herum und für uns beide war die Welt wieder in Ordnung. Nachmittags verschwand er meistens für zwei Stunden in seinem eigenen Zimmer und schaute sich Serien im Fernsehen an, ich nannte es die „KiKa-Stunden“, und ich war glücklich, dass er beschäftigt war. Davor oder danach gingen wir zusammen, aber manchmal auch er alleine, eine Runde um den Block. Glücklicherweise wohnten wir in einer Sackgasse mit wenig Autoverkehr, aber dafür umgeben von reiner Natur, die einen immer wieder zu kleinen Spaziergängen nach draußen lockte. Um Punkt 17.00 Uhr eilte er wie unter Zwang die eiserne Treppe hinab in unsere Garage, wo der Wein lagerte. Da ich das nicht verhindern konnte und obwohl sich mir beim ploppenden Geräusch des Entkorkens der Flasche schier der Magen umdrehte, fügte ich mich in mein Schicksal, klappte mein Laptop zu und zündete die Kerzen an. Dann saßen wir zwei Alten vor den brennenden Kerzen und plauderten belangloses Zeug, mir war alles egal, Hauptsache mein Mann war glücklich und ausgeglichen. Während er weiter in die Flammen schaute oder auch ab und an dabei einschlief, machte ich das Abendbrot.

Im Sommer 2007 gab es ein kleines Highlight, auf das ich mich schon Wochen vorher gefreut hatte. Es war mir gelungen, für Josi und mich zwei Karten in der Klitschko-Lounge zu ergattern; natürlich zu einem horrenden Preis. Das Rematch gegen Lamon Brewster fand am 7. Juni in der damaligen Kölnarena, der heutigen Lanxess Arena, statt. In der Vergangenheit liebte Josi Boxkämpfe und er schien freudig erregt, als es endlich losging. Wir konnten vor dem Kampf bereits in den VIP-Bereich und bekamen kostenlos Getränke und Kleinigkeiten zu essen. Hunderte von Stars und Sternchen und Möchtegern-Promis hüpften um uns herum und ich bemerkte, dass sich Josi immer mehr zurückzog. Mit einem Drink in der Hand saß er in einer Ecke und rührte sich nicht mehr vom Fleck, während ich ein wenig herumschlenderte, um mir die „Berühmtheiten“ aus nächster Nähe zu betrachten. Mein Mann wollte schließlich zur Toilette, doch wir mussten erst lange danach suchen und uns einen Weg durch die Menschenmassen bahnen. Josi klammerte sich an meine Hand. Nach dem Toilettengang machten wir uns gleich auf den Weg an den Ring und ich atmete auf, als wir endlich Platz genommen hatten. Nach dem relativ kurzen Schlagabtausch sollte es zurück in den VIP-Raum gehen, um eine Party zu feiern, schließlich hatte ich dafür sehr viel Geld bezahlt. Ich schaffte es allerdings nur, Josi bis zur Absperrung zu bringen, wo er plötzlich wie ein sturer Esel stehen blieb. Er weigerte sich, auch nur einen Fuß weiter zu bewegen, wollte keine Promis treffen, die er ohnehin nicht kannte, keine Klitschkos sehen, nichts essen und nicht einmal ein leckeres Gläschen Wein trinken, er wollte nur noch weg. Also zerrte ich ihn zähneknirschend zum nächsten Taxistand und fuhr mit ihm nach Hause. Mir war schlecht vor Wut und vor Hunger und wenn der nette Taxifahrer mir nicht sein „Bütterchen“ gegeben hätte, wäre ich kollabiert. Immerhin wusste ich jetzt, dass ich nie wieder mit Josi auf eine Großveranstaltung gehen konnte.

Während ich schon immer eine Scheu vor großen Menschenmassen hatte, blühte Josi regelrecht auf, wenn er sich ins Getümmel stürzen konnte. Rock- und Pop-Konzerte, Kirmes, Oktoberfest, Boxkämpfe, Open-Air-Veranstaltungen, Eishockeyturniere, das waren Dinge nach Josis Geschmack und er jubelte, lachte und feierte fröhlich mit. Sein Verhalten bei dem Klitschko-Kampf hatte mich daher völlig unvorbereitet getroffen. Ein Jahr darauf haben wir es dann doch noch einmal gewagt, mit ihm zu einem Konzert von David Garrett zu gehen, weil Josi ein großer Fan von ihm war. Ich hatte mir zur Unterstützung zwei der drei erwachsenen Kinder mitgenommen, trotzdem wurde auch dieser Konzertbesuch zu einem regelrechten Desaster. Es war ihm alles zu laut und zu hektisch. In der Pause wollte er nicht von seinem Stuhl aufstehen, er wurde richtig frech, als er aus Versehen von einem Besucher angeschubst wurde, und er fauchte mich wütend an, als ich zum Schlussapplaus aufsprang und klatschte. Schließlich waren wir mit unseren Nerven am Ende und strichen das Thema Großveranstaltung endgültig von unserer To-do-Liste.

 

 

 

4. Gratwanderungen

Josi fragt: „Wann reisen wir aus England ab?“

Im Frühjahr 2008 machten wir ein paar Tage Urlaub in Lugano. Ich hatte ein Zimmer mit Terrasse und Blick auf den See gebucht. Leider hatte Josi ständig Rückenbeschwerden und war nicht in der Lage, länger als zwei Minuten zu laufen. Am dritten Tag stand er erst gar nicht mehr auf, schlief nur noch und aß nichts mehr. Ich wollte ihn in ein Krankenhaus bringen, aber zum Glück gab es im Hotel einen intelligenten und mitdenkenden Concierge, der mir davon abriet und mir stattdessen die Adresse eines Neurologen gab.

Am nächsten Tag fuhren wir in die Praxis und ich erzählte dem Arzt die Krankengeschichte meines Mannes und nannte ihm die Medikamente, die Josi täglich nehmen musste. Nach einer gründlichen Untersuchung kam der Neurologe rasch zu einem Ergebnis: Mein Mann hatte sich eine Überdosis Tegretal verabreicht, die man bei Epilepsie nehmen muss. Hätte er auch nur noch eine einzige weitere Tablette geschluckt, wäre er gestorben. Ich hatte mich bislang immer darauf verlassen, dass Josi genau wusste, welche Pillen er wann und in welcher Dosierung nehmen musste, schließlich war er ja selbst Arzt. Jetzt war ich vorgewarnt und hinterfragte es ständig, wenn er Medikamente einnahm. Es war eine komplizierte Gratwanderung zwischen Kontrolle und Bevormundung, die ich ziemlich anstrengend fand. Den restlichen Urlaub verbrachte ich alleine auf der Terrasse und im Restaurant, während mein Mann seinen „Überhang“ ausschlief.

Ein paar Wochen später ging Josi bei uns zu Hause alleine ins Städtchen, um irgendetwas zu besorgen. Er war ewig unterwegs und ich machte mir, wie sich später herausstellen sollte, zu Recht große Sorgen. Als er endlich zurückkam, erzählte er mir, dass er sich in einer kleinen Nebengasse auf die Erde gesetzt habe. Ihm sei plötzlich schlecht geworden und er habe nicht mehr gewusst, wo er sich befinde. Geholfen hatte ihm natürlich niemand. Nach diesem Vorfall saß mir der Schreck noch tagelang in den Knochen und ich malte mir in epischer Breite aus, was noch alles hätte passieren können. Es bedeutete in der Konsequenz allerdings auch, dass er ein weiteres Stück Freiheit aufgeben musste, denn Ausflüge ohne Begleitung würde es künftig nicht mehr geben. Ich konnte ihm natürlich nicht verbieten, alleine irgendwo hinzugehen, aber wann immer er etwas alleine erledigen wollte, habe ich ihn einfach angestrahlt und gefragt: „Ach Liebes, ich habe in der Gegend auch etwas zu erledigen, nimmst du mich mit?“ So musste ich mich nicht sorgen und wir hatten ein Problem weniger.

Im Juni hatte ich für Josi und mich ein Ferienhaus mit Hotelanschluss auf Sylt gebucht. Wir hatten oft und gerne auf dieser Insel Urlaub gemacht und durch ein eigenes Häuschen erhoffte ich mir vor allen Dingen auch mehr persönliche Freiheiten, wie getrennte Schlafzimmer, einen eigenen Garten, in dem ich mich aufhalten konnte, wenn mein Mann keine Lust hatte, vor die Tür zu gehen, sowie eine eigene Küche, in der ich ab und an Kleinigkeiten für uns kochen konnte. Ich sage es gleich: Der Schuss ging komplett nach hinten los!

Das Wetter war schlecht. Mein Mann hatte immer noch Rückenprobleme und konnte oder wollte keinen Meter laufen. Einen Platz im Restaurant bekam man nur, wenn man einen oder mehrere Tage vorher buchte, und wenn es so weit war, hatte Josi keine Lust auszugehen oder keinen Appetit. Tagsüber saß er meistens in einem Sessel und schlief. Das Ende vom Lied: Ich machte die Spaziergänge alleine und ging oft alleine zum Essen ins benachbarte Hotel.

Ich hatte komplett unterschätzt, dass ihn die fremde Umgebung irritierte, obwohl er sie von früheren Aufenthalten theoretisch natürlich hätte kennen sollen; dem war aber leider nicht so.

Er verstand die Leute nicht, die ihn ansprachen, und er wusste nicht, was sie von ihm wollten. Kurz gesagt, war alles Stress für ihn, was ich aber zu jenem Zeitpunkt noch nicht begriff. Ich war ausschließlich wütend und zornig auf Josi, fühlte mich verraten, verkauft und schrecklich einsam. Ich haderte täglich mit meinem Schicksal und machte auch einen Haken hinter das Thema Urlaub. Dass ich mir mit diesem Urlaubsverbot ein Eigentor schoss, begriff ich leider erst, als es fast schon zu spät war.

Josi hatte nicht nur den Ruf als „Bruder Lustig“ weg, sondern wurde auch gerne der Reiseonkel genannt, denn neben seinem Beruf war das Reisen seine größte Leidenschaft. Schon als Schüler und später als Student radelte er von Frankfurt aus mit dem Fahrrad zum Comer See und sogar bis zum Matterhorn. Nach dem Studium fuhr er monatelang mit Freunden kreuz und quer durch Amerika und sogar bis nach Mexiko. Später bereiste er Chile, Argentinien und Peru, Kanada, Japan und natürlich jedes europäische Land. Er war extrem neugierig und für alles offen, was er nicht kannte. Mit ihm unterwegs zu sein, war sehr lustig und manchmal auch chaotisch oder sogar gefährlich, aber niemals langweilig. So ausgeprägt sein Orientierungssinn zu Lande war, verließ ihn dieser auf dem Wasser, und zwar komplett. In seiner Jugend hatte er irgendwann einmal den Segelschein gemacht und behauptete seit jener Zeit, dass er dazu in der Lage sei, jedes Boot zu führen. Diese grenzenlose Selbstüberschätzung brachte uns in der Karibik dieses eine Mal fast in Lebensgefahr: Josi mietete ein kleines Motorboot und wollte mit mir und unserem Sohn Moritz ein wenig um die Insel schippern. Ehe es losging, zeigte ihm der Schiffsvermieter auf einer Seekarte genau, wo wir hindurften und wohin nicht, denn es gab unzählige Riffs, auf die man hätte auflaufen können. Doch vor allen Dingen dürfe man keinesfalls nach links aus dem Hafen herausfahren, denn dann komme man aufs offene Meer und dort seien die Wellen für das kleine Schiffchen viel zu hoch. Wir bekamen die Karte in die Hand gedrückt und es ging los, natürlich brav nach rechts in flache Gefilde. Schon nach kurzer Zeit merkte ich, dass Josi, der ganz wichtig und mit stolzgeschwellter Brust hinter dem Steuer stand, immer nur geradeaus und nie auf die Seekarte schaute, von nichts eine Ahnung hatte. Mehr als einmal sind wir nur knapp an irgendwelchen unterirdischen Felsen vorbeigeschrammt und nach einer halben Stunde hatte ich die Nase voll und wollte zurück. Gesagt, getan, aber plötzlich fand mein Mann die kleine Hafeneinfahrt nicht mehr; ehe wir uns versahen, waren wir von meterhohen Wellen umgeben. Ich umklammerte unseren kleinen Sohn und fing an zu weinen und zu schreien: „Du musst zurück, du musst zurück!“ Und dann schaffte es mein Mann in letzter Sekunde, auf dem Kamm einer drei oder vier Meter hohen Welle zu drehen, und nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir unversehrt den schützenden Hafen. Leider habe ich meinen damaligen Schwur, mit Josi am Steuer nie wieder ein Schiff zu betreten, Jahre später doch noch einmal gebrochen und es gleich wieder bereut. Wir waren in Portofino und wollten die Schwarze Madonna, die eine Bucht weiter im Meer lag, besichtigen. Uns wurde vorher erklärt, dass man überall den Anker werfen dürfe, aber natürlich und logischerweise nicht auf oder direkt neben der Madonna. Doch wo landete unser Anker schließlich? Natürlich ausgerechnet exakt auf dem Kopf der Madonna. Damit war das Thema „Josi ist Kapitän“ ein für alle Male beendet.

 

 

 

5. Es wird brenzlig bei uns

 

 

Josi sagt: „Mach mich lebendig, bei mir ist alles kaputt!“

Im Dezember bekam ich einen interessanten Auftrag von meiner alten Firma, den ich gerne annahm. Sich mal wieder mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen, tat mir richtig gut. Zwangsläufig brachte die Arbeit an einem neuen Projekt auch Termine mit sich und ich musste auch abends öfter aus dem Haus, als mir lieb war. Josi tagsüber für einige Stunden alleine zu lassen, war zu jenem Zeitpunkt immer noch unproblematisch, aber sobald die Dämmerung hereinbrach, wurde es, im wahrsten Sinne des Wortes, brenzlig bei uns.

Nach einem anstrengenden Termin in Köln kam ich gegen 21.00 Uhr ziemlich erschöpft nach Hause. Mein Mann schlief tief und fest in seinem Sessel. Das Kaminfeuer loderte freundlich vor sich hin und die vier Kerzen auf dem Adventskranz zauberten, ebenso wie die sieben anderen Kerzen auf dem Tisch, eine wirklich gemütliche Atmosphäre. Nun gut, ich wusste seine Bemühungen, mich überraschen zu wollen, zwar durchaus zu schätzen, aber leider zeigte ich mich nicht dankbar und freundlich, sondern sprang im Gegenteil wie eine geisteskranke Furie umher, schimpfte dabei laut und blies sämtliche Flammen aus. Ich schäme mich noch heute für mein Benehmen, aber damals hatte ich weder die Gelassenheit eines Buddhas erreicht, noch hatte ich gelernt, mit so einer Situation richtig umzugehen. Es sollten noch Jahre vergehen, bis ich in der Lage war, ständig gelassen, verständnisvoll und ruhig zu bleiben.

Nach dem flammenden Inferno räumte ich erst einmal sämtliche Streichhölzer und Feuerzeuge weg und wir gewöhnten uns daran, nur noch Teelichter anzuzünden, wenn wir beisammensaßen. Doch abends wegzugehen, machte mir immer weniger Spaß, und egal wo ich war, ich saß die ganze Zeit auf heißen Kohlen und spätestens nach zwei Stunden hatte ich nur noch das Bedürfnis, schnell nach Hause zu kommen. Die Kerzenorgie hat sich natürlich nicht wiederholen können, stattdessen waren wir wohl weltweit der einzige Haushalt, der seinen Tannenbaum bis Ostern auf der Terrasse stehen ließ. Dieser Tannenbaum mit seinen elektrischen Lichtern war der ultimative Hingucker für Josi, den ich jeden Abend, von Anfang Dezember bis Mitte März, in Sichtweite davor parkte, während ich andere wichtige Dinge erledigen konnte. Mein Mann saß in der warmen Essecke auf einem Stuhl und schaute auf das funkelnde Bäumchen. Manchmal schlief er dabei ein, aber meistens schaute er gebannt nach draußen und war glücklich und zufrieden.

Im März 2009 wurde Josi 75 Jahre alt und die Kinder und ich beschlossen, zu Hause eine kleine Party zu veranstalten und seine engsten Freunde einzuladen. Wir organisierten ein paar Stehtische, einen Caterer, der uns Fingerfood brachte, genügend Wein, Wasser und Champagner.

Eines der Kinder wurde dazu abgestellt, darauf zu achten, dass der Vater ausschließlich Weinschorle bekam, und das entsprechende Kind machte das so geschickt, dass tatsächlich keiner etwas davon mitbekam, vor allen Dingen er selbst nicht.

Die vielen Menschen um ihn herum, waren sicherlich zu viel für ihn, aber irgendwie wirkte er trotzdem sehr glücklich, genoss die Aufmerksamkeit, plauderte mit seinen Gästen und benahm sich formvollendet. Als jedoch der letzte Gast gegangen war, sagte er „na endlich“, zog sich seine Schuhe und sein Jackett aus und legte sich für die nächsten Stunden ins Bett.

Im Sommer fand ich Josi eines Morgens, wie schon öfter, leblos und nicht ansprechbar auf dem Boden liegend vor. Wie immer rief ich den Notarzt und ließ ihn in die neurologische Abteilung der Uniklinik bringen. Sie kannten ihn dort gut, er wurde untersucht und erholte sich in der Regel sehr schnell. Den eigentlichen Ursachen für diese Anfälle kam man jedoch nicht auf den Grund.

Ich würde Josi jetzt nicht unbedingt als Salonlöwen bezeichnen, aber so weit hergeholt war es nicht, denn er schmiss nicht nur gerne selbst Partys und Feste, sondern wurde auch gerne eingeladen; und dafür war ihm dann auch kein Weg zu weit. Wir fuhren zu einem Jubiläum in den hohen Norden, nach Bayern zu einem Geburtstag oder zu einer Hochzeit nach Florenz. Mein Mann war charmant, unterhaltsam, witzig und hatte nichts dagegen, im Mittelpunkt zu stehen. Auch sein Beruf und die Vielzahl seiner prominenten Patienten machten ihn zum umschwärmten Gast und Gastgeber. Allerdings ergriff er regelmäßig die Flucht, wenn einige Freunde glaubten, die Gunst der Stunde nutzen zu können, um ganz nebenbei noch ein paar medizinische Ratschläge zu bekommen. Runde Geburtstage wurde bei uns immer im großen Stil gefeiert. Dann kamen schon einmal schnell mehr als 100 Freunde zusammen und Josi genoss diese fröhlichen Runden gern bis in die frühen Morgenstunden.

 

 

 

6. Peinlich

Josi sagt: „Hol mich hier raus, ich habe ein Problem, ich muss nachdenken!“

Ende 2010 fuhren wir zur Masterfeier unseres 26-jährigen Sohnes Moritz nach Berlin und trafen dort viele Freunde mit ihren Eltern, die wir schon lange Jahre kannten. Ich war sehr stolz auf ihn und genoss die schöne Abschlussfeier. Bei dem anschließenden Abendessen schwitzte ich dagegen Blut und Wasser, weil Josi entweder völlig teilnahmslos zwischen uns saß oder unvermittelt irgendwelches dummes Zeug redete. Ich konnte ja schlecht vorher alle Leute warnen und sie bitten, nichts persönlich zu nehmen, so gut kannte ich sie auch wieder nicht. Die Tendenz, sich unberechenbar seinem Umfeld zu präsentieren, zeichnete sich schon seit ein paar Jahren ab, weshalb ich auf Einladungen natürlich immer weniger Lust hatte.

Auf einer Beerdigung sagte er beispielsweise einmal zu einem langjährigen Bekannten, den er ewig nicht gesehen hatte: „Mensch, bist du alt geworden!“ Das passierte direkt am Grab, sodass es jeder hören konnte, und ich wäre vor Scham am liebsten gleich mit in die Grube gesunken. Josi hatte natürlich recht gehabt, der Bekannte sah tatsächlich sehr, sehr alt aus und ich konnte die Peinlichkeit nur insofern entschärfen, indem ich schließlich sagte: „Aber Liebes, wir sind alle älter geworden, was meinst du, wie Klaus erschrocken ist, als er uns gesehen hat!“

Bei einer anderen Gelegenheit saßen wir in einem vornehmen Restaurant mit guten Freunden zusammen, die uns zum Abschiedsessen eingeladen hatten, weil sie kurze Zeit darauf nach Hamburg ziehen wollten. Ich hatte es leider am Morgen versäumt, Josi ein neues Hemd hinzulegen, und ich stellte am Nachmittag mit Bestürzung fest, dass er ein Hemd mit durchgescheuertem Kragen angezogen hatte. Ich bat ihn vor dem Weggehen, sich umzuziehen, aber er weigerte sich mit den Worten: „Ich kann die Leute sowieso nicht leiden und ich bin froh, wenn sie endlich weg sind. Für die bin ich fein genug.“ Na ja, dachte ich, was soll’s. Große Lust hatte ich auch nicht und so zog auch ich mich eher leger an. Unsere Freunde hatten sich hingegen derart aufgestylt, als wären sie bei der Königin von England eingeladen. Ich fühlte mich neben ihnen schäbig und unwohl. Zudem schämte ich mich mal wieder für meinen Mann und sein altes Hemd, das ich übrigens noch am selben Abend entsorgte.

Unser Freund bestellte etwas zu trinken, ohne uns zu fragen, was wir eigentlich wollten, er fing an zu essen, noch ehe unsere Teller auf dem Tisch standen, aber meine Freundin hing mit seligem Gesichtsausdruck an den Lippen ihres Liebsten, als wäre er Einstein, aus dessen Mund nur geniale und druckreife Worte kämen. Mein Mann hatte das falsche Essen bestellt. Er mochte es nicht und schielte dauernd auf meinen Teller. Wir tauschten stillschweigend, weil mir ohnehin ein Stein im Magen lag. Nach dem Essen stand Josi auf und sagte: „Ich muss zur Toilette.“ Er blieb sehr lange weg und schließlich suchte ich ihn. Das Restaurant hatte mehrere kleine Stuben und mein Mann stand in einer davon und bewunderte in aller Ruhe die hübschen Schnitzarbeiten.

„Was machst du so lange?“, fragte ich ihn, „du musst zurückkommen, wir warten auf dich.“ „Mir ist langweilig“, erwiderte er, kam aber mit mir. Doch keine fünf Minuten später sagte er sehr laut wie ein unerzogenes Kind: „Können wir jetzt endlich gehen?“

Die Situation war extrem peinlich, aber ich hatte den Eindruck, dass auch unsere Freunde ganz froh waren, uns loszuwerden, und so wurde rasch bezahlt und wir brachen auf. Josi hatte eigentlich wieder recht gehabt und nur das laut ausgesprochen, was ich insgeheim gedacht hatte. Die Freunde konnten nicht verbergen, dass sie mit uns ein Pflichtprogramm abspulten. Vor ihrem Wegzug hatten sie alle Bekannten noch einmal einzeln eingeladen, wir waren die letzten gewesen, und es war nicht zu übersehen, dass sie auf diesen Marathon gar keine Lust mehr hatten. „Nur weg hier“ war deutlich auf ihrer Stirn zu lesen und mein Mann hatte das gespürt. Den Freund haben wir übrigens nie wiedergesehen, eine knappe Woche nach dem Abschiedsessen ist er auf der Straße zusammengebrochen und noch vor Ort gestorben. Seine Frau hat den Tod ihrer großen Liebe nie überwunden und verstarb ein gutes Jahr später.

In Berlin endete die Feier damit, dass ich meinen Mann ins Hotel brachte und danach mit allen anderen noch in eine angesagte Disco ging, schließlich hatten wir allen Grund, noch ein wenig zu feiern. Wir Eltern saßen natürlich zusammen und ich kam mit einem der Väter, den ich immer sehr bewunderte hatte, näher ins Gespräch. Er redete wie ein Wasserfall und lobte seinen Sohn dermaßen über den grünen Klee, dass mir ganz übel wurde. Das Gespräch hatte mich enorm aufgeregt, aber auch ein klein wenig getröstet, weil mir klar wurde, dass mein Mann zwar auch dummes Zeug redete, aber zum Glück mittlerweile eher selten.

Josi war immer sehr stolz auf seine beiden Töchter Veronika und Kathi aus erster Ehe und unseren gemeinsamen Sohn Moritz gewesen, und er liebte sie über alles. Er freute sich mit ihnen über jeden Erfolg, jede gute Note, jede bestandene Prüfung und jedes geschaffte Examen. Er förderte alle Hobbys und ließ ihnen alle Freiheiten. Er hörte ihnen zu, ermunterte und tröstete sie, wenn es notwendig war. Wenn es mal aus Faulheit schlechte Noten hagelte, ließ er sich schlimmstenfalls dazu hinreißen, zu sagen „Wenn ihr so weitermacht, landet ihr noch an der Kasse eines Supermarktes.“ Er war eher der große Kümmerer, als der strenge Vater. Panik im Haus gab es nur, wenn eine Spritze fällig war, denn dann rannten die Kinder schreiend weg und der liebe Papi jagte hinterher. Ein völlig absurdes Bild, über das wir heute noch lachen müssen. Am glücklichsten war er, wenn seine ganze Brut um ihn versammelt war, dann strahlte er wie ein Honigkuchenpferd. Besonders in den letzten Jahren zeigte es sich, dass sein großzügiger und liebevoller Erziehungsstil richtig gewesen war, denn er bekam alle Liebe und Fürsorge zurück.

 

 

 

7. Um Kopf und Kragen

 

 

 

Josi sagt: „Ich bin nicht da!“