Martina Tischlinger wurde 1962 in Nürnberg geboren, studierte BWL, Außenwirtschaft und Werbung. Doch ihre Leidenschaft gehört dem Schreiben. Zahlreiche Kurzgeschichten wurden veröffentlicht. Außer im Radio ist sie bei Lesungen zu hören.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Helmut Meyer zur Capellen
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-184-0
Franken Krimi
Originalausgabe
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Für Doris
Transportschwierigkeiten
»Obachd! Mensch, geb halt Obachd!« Mario verdrehte genervt die Augen. War doch klar gewesen, dass sie ihm keine große Hilfe sein würde. Frauen! Keinen Mumm in den Armen, aber angeben. So eine Schnapsidee von ihr, so eine Schnapsidee aber auch.
Er hatte die Arme von hinten um den Oberkörper der Leiche gelegt und die Hände auf deren Brust wie zum Gebet gefaltet. Seine Freundin hatte ihm unbedingt helfen wollen, die Beine beherzt an den Fesseln gepackt, aber schon nach drei Schritten wieder losgelassen.
»Mensch, Obachd!«
»Geb doch selber Obachd!« Sie blies sich eine blonde Locke aus der Stirn. Der hatte leicht lachen, Kraft wie ein Bär. »Do, schau! Etz hob ich mir an Fingernagel abgebrochen!« Zum Beweis hielt sie ihm ihre gespreizte Hand hin. »Außerdem spürt der Luggi eh nix mehr, tot isser ja schon.«
Mario verdrehte nochmals die Augen, biss die Zähne zusammen und zog den leblosen Mann über den Asphalt.
»Lass gut sein, Bambi, ich schaff den Luggi auch ohne dich«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Bevor seine Süße wieder beleidigt war und zickig wurde, gab er lieber klein bei. Dabei war er an sich kein Kerl, der sich von anderen auf der Nase herumtanzen ließ. Im Notfall setzte er auch gern mal seine Fäuste zur überzeugenderen Argumentation ein. Aber bei einer Frau?
Und Marina Bamberger, genannt Bambi, war eine Frau, und was für eine! Die blonde Zuckerschnecke sorgte für eine stattliche Höhe des Testosteronspiegels bei Mario und war zum Glück immer für a bisserla Spaß zu haben, der weit übers Kuscheln hinausging.
Und sie hatte so wunderbar große … Augen. Auch deshalb passte der Spitzname perfekt zu ihr.
»Hau ruck!« Schweißperlen liefen Mario übers Gesicht, aber gleich hatte er es geschafft. Freilich, die Aktion war bizarr, aber das hätte ihm schon vorher klar sein müssen. Doch wenn man den toten Luggi so anschaute, konnte man fast meinen, dass der ein glückliches Gesicht machte.
Bambi trippelte derweil in ihren hochhackigen Pumps eifrig hinter dem seltsamen Gespann her und gab Anweisungen, als würde Mario eine Limousine in einen Schuhkarton einparken. »Rechts, rechts, nu aweng rechtser … Stopp!«
Sie hatten halt keine besondere Erfahrung mit dem Transport von Leichen. Und dass ein Mann tot genauso schwer war wie zu seinen Lebzeiten, das hatten sie irgendwie nicht einkalkuliert. Sonst hätten sie den Lohmüller Ludwig vielleicht einfach an Ort und Stelle liegen lassen, anstatt ihn erst mit dem Auto durch die Gegend zu kutschieren und nun auch noch durch das nächtliche Kleinmichlgsees zu schleifen. Aber gefallen hätte das dem Luggi schon, er war immer gern an der frischen Luft gewesen und durch die Weltgeschichte gefahren. Von daher war es vielleicht ja doch die Mühe wert, dem käsbleichen Kumpel einen letzten Freundschaftsdienst zu erweisen.
Bambi und ihre Schnapsidee. Aber was machte ein Mann nicht alles, um sich nach getaner Arbeit an den weichen Busen seiner Liebsten drücken zu dürfen. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie den Luggi einfach in den Wald gekarrt. Aber die Bambi hatte gemeint: »Wär des ned cool, wenn mir den Luggi auf des Bänkla vor die Metzgerei hocken? Der hat die Brodwärschd und die Schweinshaxen doch immer so gern ghabd. Dann nimmt er auf dem Weg nach oben wenigstens noch a schöne Erinnerung an Klaamichlgsees mit.«
Eigentlich hat der Luggi ja mehr eine Vorliebe für dunkles Bier, Hochprozentiges, Schafkopf und die vollbusigen Schnecken gehabt, dachte Mario. Aber ja, doch, gleich dahinter kam Schweinernes, und zwar möglichst deftiges.
Vorsichtshalber schaute er sich um, ob sie vielleicht beobachtet wurden. Aber in diesem lausigen Kaff lagen sie längst alle in ihren Betten und schnarchten. In Kleinmichlgsees war sowieso nie was los, da lag der Hund verreckt.
Also hockten Mario und Bambi den Luggi auf die Bank vor der Metzgerei Popp. Sein Kopf sackte ihm immer wieder auf die Brust, es dauerte ein wenig, bis er aufrecht sitzen blieb. Andererseits war es ein Glück, dass er noch so beweglich war, denn hätte bereits die Totenstarre eingesetzt, hätten sie vielleicht noch mehr Geschiss mit ihm gehabt.
»Sag was«, sagte Bambi.
»Was denn?« In Marios Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit, er wusste sehr wohl, was sie von ihm wollte.
»Etwas Frommes halt. Kennst du keine Bibelsprüche?«
»Häh?« Sah er etwa aus, als ginge er in die Kirche? Obwohl eine Beichte bei ihm gewiss keinen Schaden angerichtet hätte, generell gesagt.
»Hast du noch nie gebetet? Auch ned als Kind? Du kannst den Luggi doch nicht einfach wie einen Sack Altkleider zurücklassen.«
Er zog die Nase hoch und straffte die Schultern. Dann faltete er die Hände. »Lieber Gott, der Luggi war kein guter Mensch, aber das weißt du ja am besten.«
Bambi gab ihm einen heftigen Stoß in die Rippen. »Doch ned so!«
Er knurrte leise. »Also, die Polizei würde das so sagen: Lieber Luggi, du warst sehr wohl ein guter Mensch. Und darum sag ich: Herrgott, nimm ihn bei dir da oben auf. Äh, amen. Na ja, langer Rede kurzer Sinn: Gute Fahrt, Luggi! Und wenn er dir gerade über den Weg läuft, schöne Grüße an Elvis von mir. Viva Las Vegas!«
Nun war es an Bambi, die Augen zu verdrehen. Männer! Aber okay, für den Luggi war die Rede schon in Ordnung gewesen. Sie persönlich hatte ihn ohnehin nie wirklich leiden können. Er war ein Schwafler gewesen, ein Schaumschläger halt.
Aber zum Sterben hätte er sich wirklich einen anderen Platz aussuchen können, nicht gerade das Haus, in dem Bambi und Mario arbeiteten. Ihr Boss verstand da keinen Spaß. In seinen Etablissements waren Leichen ein No-Go, absolut schädlich für das Geschäft. Das galt sowohl für seinen Puff in Nürnberg als auch für den Swingerclub, das »Paradies« vor den Toren von Kleinmichlgsees.
An sich hätte der Luggi noch gar nicht den Löffel abgeben müssen. Nicht mal sechzig war er geworden.
Bambi verdrückte ein Tränchen, weil die Situation schon irgendwie ergreifend war. Schade, dass die Kirchenglocken jetzt nicht schlugen.
Mario zuckte mit den Schultern. »Und nun?«
Schweigend gingen sie zum Wagen zurück. Mario ließ den Blick noch einmal umherwandern. Nichts. Absolute Stille. Eigentlich logisch, morgens um vier.
Als die Rücklichter des Wagens von Bambi und Mario im Dunkel verschwanden, schnappte ein Gasfeuerzeug auf, und die Flamme wurde an eine Zigarette gehalten. Der Raucher zog kräftig, blies den Rauch aus. Stutzte.
Bauchaortenaneurysma
Richard kochte Kaffee. Jeden Morgen. Auch wenn böse Zungen behaupteten, der Geschmack seines Muntermachers erinnere mitunter an das Aroma eines Affenstalls. Aber seine neue Chefin, der Preiß, hatte halt keine Ahnung, was ein richtig guter Kaffee war. Einer für Männer, einer, der die Oma wieder vom Sterbebett hob. Die gebürtige Berlinerin stand mehr auf Kaffee im Pappbecher aus dem Automaten, to go. Wahrscheinlich fand sie das schicker als seinen Filterkaffee. Sie stand auf alles, was modern war.
Wirklich neu war seine Vorgesetzte Paula Frischkes allerdings auch nicht mehr. Seit einem halben Jahr versuchte die Kriminaloberkommissarin nun schon, frischen Wind in die Kleinmichlgseeser Wache zu bringen. Und war, das mussten ihr selbst ihre Neider zugestehen, bei der Lösung der letzten Fälle mehr als erfolgreich aus dem Ring gestiegen. Weil es dabei sogar um Mord ging, hatten die Oberen vom Nürnberger Polizeipräsidium dem Kleinmichlgseeser Polizeiteam postwendend drei von der Kripo in die dörfliche Wache gesetzt. Im Nachhinein hatten die Frischkes, er und seine Kollegin Maria Heberle die Mordfälle ohne großes Zutun der Nürnberger Würstchen, wie sie sie hinter vorgehaltener Hand nannten, aufgeklärt. Den Ruhm hatten allerdings diese eingeheimst. Aber egal, das war Schnee von gestern. Seitdem war nichts mehr in Kleinmichlgsees passiert, was auch gut so war.
Richard zählte Löffel um Löffel mit Kaffeepulver, das er in den Filter schüttete. Dann lauschte er. Seit die Frischkes kurz nach ihm in der Wache erschienen und in ihrem Büro verschwunden war, war es dort verdächtig still. War die Kommissarin etwa eingeschlafen? Er schaltete die Kaffeemaschine ein, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und klappte einen Ordner auf, in dem sich der aktuelle Baumarkt-Prospekt befand. Doch seine Gedanken kehrten wieder zu der nicht mehr ganz so Neuen zurück.
Noch immer hatten Maria und er nicht herausfinden können, warum man die Kollegin nach Kleinmichlgsees, einen Ort, so spektakulär wie eine Eisscholle am Nordpol, versetzt hatte. Man munkelte, ihre übereifrige Art, ihr Drang zu eigenmächtigem Handeln, die mangelnde Teamfähigkeit und letztendlich ein verpatzter Einsatz, bei dem sie ohne Befehl eingegriffen hatte, hätten ihr den Karriereknick beschert.
Aber bitte schön, was hieß hier Karriereknick? In Kleinmichlgsees war sie schließlich Dienststellenleiterin.
Paula war von einem röchelnden Geräusch geweckt geworden. Sie rieb sich die Mundwinkel. War sie eingeschlafen? Hatte sie etwa geschnarcht? Sie reckte den Hals und blickte ins Büro zu ihrem Kollegen. Der konnte es nicht gewesen sein, es sei denn, er schlief mit offenen Augen. Was sie ihm durchaus zutraute. Polizeiobermeister Richard Staudinger hatte das Temperament einer Schlaftablette, war aber ansonsten ein feiner Mensch. Ehrlich, zuverlässig, nur eben manchmal etwas stur und weltfremd. Irgendwann schien seine Welt stehen geblieben zu sein. Und er, so kam es Paula vor, hatte nicht das geringste Bedürfnis danach, moderne Neuerungen und Veränderungen jeglicher Art in sein Leben zu integrieren. Ihm fehlte einfach der Pfiff, vielleicht auch nur eine Frau, die den stotternden Lebensmotor in Schwung brachte. Richard Staudinger war vierzig, hatte aber wahrscheinlich bereits mit fünfundzwanzig einen gemütlichen Videoabend auf dem Sofa mit Erdnussflips einem Technoclub mit Stroboskoplicht vorgezogen.
Paula gähnte. Warum passierte in dem Kaff denn nichts? In jeder Gemeinde gab es ein schwarzes Schaf. Warum nicht in Kleinmichlgsees? Und dann auch noch dieses Kabuff, das sie ihr Büro nannte und das ursprünglich eine Abstellkammer für Besen, Schrubber und allen möglichen Plunder gewesen war. Paula hatte sich darin eingerichtet, weil sie fand, als Dienststellenleiterin stünde ihr ein eigenes Büro zu. Sie versuchte mittlerweile, sich nicht mehr an dem muffigen Geruch alter Putzlappen zu stören, der noch immer in den Tapeten hing. Meist hielt sie sich allein in ihrem »Chefbüro« auf, was gut so war, denn mehr als zwei, maximal drei weitere Personen fasste das Stübchen nicht. Klaustrophobisch veranlagten Menschen war von einem Besuch abzuraten.
Paula stand auf und rammte prompt mit ihrem Knie den Heizkörper. Die Wache verfügte über keinerlei Luxus, aber die Abstellkammer konnte beheizt werden, widersinnig. Fluchend humpelte sie zu ihrem Kollegen hinüber.
Richard hob den Kopf und musterte seine Chefin ungeniert. »Wollen Sie Ihr Kleid nicht besser ausziehen?« Seine Augen waren glasig.
Auch Paula sah ihm ins Gesicht. Hatte er doch ein Nickerchen gehalten?
»Bitte?« Ihr Kollege wurde doch nicht anzüglich, bloß weil sie allein waren? Das passte gar nicht zu ihm.
»Na, vielleicht besser etwas Schwarzes.« Er formte mit seinen Händen erst Brüste, dann einen schwingenden Rock, wurde sich plötzlich dessen bewusst, was er tat, und zog blitzschnell die Hände wieder zurück. »Ich meine«, er hüstelte verlegen, »die vielen Blumen und das Rot passen nicht so gut auf eine Beerdigung.«
Bei Paula machte es klick. »Ach so, richtig, der Schniederbauer aus dem Nachbarort wird ja heute beerdigt, nicht wahr? Dem der Schweinehof gehörte. Woran ist er noch mal gestorben?«
»Bauchaortenaneurysma«, sagte Richard so flüssig, als handele es sich hierbei um ein Wort aus dem deutschen Grundwortschatz. Und weil seine Chefin nichts darauf erwiderte, erklärte er: »Das ist eine Aussackung der Hauptschlagader. Bei einer Ruptur, also wenn die Aorta reißt, kommt es zu starken Blutungen, die tödlich sein können. In früheren Zeiten waren sie das jedenfalls. Heute kann man Patienten noch retten, sofern sie schnell genug professionelle Behandlung erfahren. Gott sei Dank!« Er hatte genau recherchiert. Richard wusste über die meisten Krankheiten Bescheid, er war immerhin selbst in einem gefährlichen Alter: vierzig. Ab vierzig begann es mit den Zipperlein, die sich schnell zu Schlimmerem auswachsen konnten.
»Danke, jetzt bin ich schlauer. Aber ich werde nicht an der Beerdigung teilnehmen, Herr Staudinger. Ich kenne die Leute doch kaum. Mich wundert es sowieso, dass Sie hingehen. Wo das Begräbnis doch in Ingreisch stattfindet.«
Zwischen Kleinmichlgsees und seinem Nachbarort Ingreisch herrschte eine genauso uralte wie leidenschaftliche Hassliebe, deren Ursprung nicht mehr zu ergründen war. Trotzdem ließ niemand ein gutes Haar an den Bewohnern des anderen Dorfes.
Richard zog die Nase hoch und machte ein Gesicht. Er war gefürchtet für seine Gesichter, die er passend sowie unpassend zu allen vorstellbaren Situationen ziehen konnte. Jenes soeben sollte wohl Verständnislosigkeit ausdrücken: Was sonst substanziell ist, spielt in diesem Fall keine Rolle. Auf dem Land geht man zu jeder Beerdigung – und vor allem zum Leichenschmaus, basta!
Noch dazu, wo es sich gar nicht um einen traditionellen Schmaus, sondern vielmehr um eine Leichenvesper oder einen Leichenbrunch handelte, wollte man sich denn einer neueren Ausdrucksweise bedienen. Die Witwe hatte die Beerdigung für zehn Uhr und den Leichenschmaus respektive -brunch eine halbe Stunde später anberaumt. Früher hätte es so etwas nicht gegeben. Früher begann der Leichenschmaus pünktlich zur Mittagszeit.
Während all der Überlegungen legte Richard sein gezogenes Gesicht nicht ab. Es war ein höchst beeindruckendes.
Leichenschmaus, -vesper oder -brunch, das war Paula egal, aber sie fürchtete, was dahinterstand. Schon allein das Wort »Leiche« …
Richard stach mit dem Zeigefinger in die Luft. »Es gibt keine bessere Gelegenheit, mehr über seine Mitbürger zu erfahren, als bei einem Leichenschmaus. Da tun sich gemeinhin Abgründe auf, Frau Frischkes. Und gerade als Polizist muss man doch ständig auf dem Laufenden sein.« Richard stand auf und rieb sich die Schuhspitzen an den Hosenbeinen blank. »Im Prinzip tue ich nur meine Pflicht als Ordnungshüter und höre mich um.«
Und vertilge dabei Gratisschweinsbraten mit Klößen, ergänzte Paula in Gedanken.
Richard lachte unverhofft. »Da gibt es eine lustige Geschichte wegen dem Namen von der Rosa, kennen Sie die schon?« Weil Paula mit den Schultern zuckte, konnte Richard ihr den Grund seiner plötzlichen Heiterkeit mitteilen: »Die Rosa ist eine geborene Bauer. Dann hat sie den Julius geheiratet und hat sich für einen Doppelnamen entschieden.« Richard schüttelte den Kopf. »Ich würde ja niemals einen Doppelnamen wählen, aber gut, die Frage stellt sich für mich derzeit nicht. Die Rosa hieß durch die Heirat nun«, Richard kicherte wieder, »Schniederbauer-Bauer. Und dann haben der Julius und die Rosa ja auch einen Bauernhof.« Richard konnte sich vor Lachen nicht mehr halten und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel.
Paula beendete für ihn den Satz: »Den Schniederbauer-Bauer-Bauernhof.« Wirklich absurd. Sie versuchte ein Grinsen. Und dachte, dass das so absurd nun auch wieder nicht war, wenn man sogar einen Ort nach den in Fett ausgebackenen Eingeweiden des Karpfens benannte: Ingreisch.
Sollte sie vielleicht doch auf die Beerdigung gehen? Der Anstand verlangte es zumindest von ihr. Womöglich war sie als Polizeichefin beider Orte sogar dazu verpflichtet?
»Jeder aus Kleinmichlgsees kommt«, fuhr Richard fort, wieder ganz der korrekte Beamte. Und wenn Sie Ihren Status als »zugroaster Preiß« endlich ändern wollen, dann sollten auch Sie dort erscheinen, ging es ihm durch den Kopf.
Noch immer konnte Richard es schwer wegstecken, dass man ihm beruflich eine Frau vor die Nase gesetzt hatte. Eine Frau, das war schon schlimm genug, aber dann auch noch eine aus Berlin. Die Personalentscheidung des Polizeipräsidiums war für ihn völlig unverständlich. Andererseits war er auch bloß ein Mann, und ein Hingucker war die Großstädterin allemal. Immer schick mit Rock oder Kleid, doch auch in Jeans konnte sie sich sehen lassen, aber hallo. Selbst wenn das Haar ihr manchmal wie frisch aufgestanden über die Schultern fiel. Der Dorffriseur lauerte schon längst mit Schere und Lockenstab hinter ihrem Rücken, um ihr ein wenig Pfiff in die lustlosen Wellen zu ondulieren, doch bisher vergeblich. Und wenn Richard es sich recht bedachte, gingen ihn auch weder die schlanken Beine der Frischkes noch ihre Haare etwas an, denn sie war schlichtweg sein Boss. Sie konnte einem sogar leidtun. Wo die Franken doch nicht gerade als redselig galten und durchaus mit einem Wort oder maximal zwei auskamen, während »a Preiß« in der gleichen Zeit das Telefonbuch von Berlin daherplapperte. Der Ausdruck »Hopperla!« zum Beispiel enthielt zugleich Erstaunen und Entschuldigung. Mehr brauchte man nicht zu sagen, wenn man sich versehentlich auf dem Dorfplatz anrempelte.
»Aber Sie gehen doch auch nicht in Schwarz, oder, Herr Staudinger?«
Was für eine Frage. Richard war Uniformträger und stolz darauf. Ohne fühlte er sich direkt nackig. Aber frische Socken trug er. In Schwarz.
Beichte
Gitta Fürbringer hatte hundsmiserabel geschlafen. Wüste Alpträume hatten sie geplagt – oder vielmehr die Frage hernach, wie man sich so dummes Zeug überhaupt zusammenspinnen konnte. Dafür musste man entweder ein ausgesprochen kreativer Mensch sein oder völlig plemplem. Dass sie sich im Bett hin und her gewälzt hatte, mochte vielleicht auch an ihrem Abendbrot gelegen haben. Eine Packung Fischstäbchen mit Kartoffelsalat und Remouladensoße war nicht gerade ein leichtes Mahl, wobei Gittas Magen Kalorienhaltiges und Fettreiches eigentlich gewohnt war.
Oder war ihr schlechtes Gewissen für die Träume verantwortlich? Aber was fragte sie sich das überhaupt? Sie wusste es doch eh.
Sogar ihr Frühstückskaffee schmeckte bitterer als sonst. Und war die Butter ranzig? Lustlos schob sie das Marmeladenbrötchen auf ihrem Teller von der Mitte an den Rand.
»Schluss etz!«, schimpfte Gitta und kippte den Kaffee in den Ausguss. Es half alles nichts. Wenn sie ihre Seele und ihr Gewissen erleichtern wollte, musste sie dem Dorfpfarrer einen Besuch abstatten.
Der sympathische Mann mit stets offenem Ohr für seine Schäfchen war unauffindbar. Gitta hatte bereits an seiner Wohnungstür geklingelt und im Gemeindehaus nach ihm Ausschau gehalten. Jetzt durchschritt sie die Kirche. Vielleicht genügte es ja schon, wenn sie mit dem Herrn am Kreuz ein Zwiegespräch führte? Doch just in dem Moment sah sie den Gottesmann im Beichtstuhl sitzen. Der dunkelrote Vorhang war zwar zugezogen, aber seine Beine schauten darunter hervor.
»Guten Morgen, Herr Pfarrer«, grüßte Gitta in Richtung Vorhang. Sie war fast ein wenig aufgeregt. »Hätten Sie a Momentla Zeit für miich? Iich mach’s aa ganz kurz.« Und schon saß sie in dem kleinen Teil des Beichtstuhls, der dem Gläubigen vorbehalten war, und schüttete ihr übervolles Herz aus. Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus ihr hervor.
Der Pfarrer hörte hinter der gitterartigen Trennwand zu. Dass er aber so beharrlich schwieg, verunsicherte Gitta bald. Erschütterten die Missetaten des Gemeindemitglieds Fürbringer ihn so sehr, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte? Nicht ein einziges »Hm, hm« oder »Soso« kam ihm über die Lippen. Wollte er ihr die Sünden nicht vergeben?
Und dann klingelte auch noch ihr Handy. Wie peinlich! »Also, des dout mir etzerdla fei wergli furchtbar leid, Herr Pfarrer. Hob ich doch des Handy vergessen«, murmelte sie und wühlte mit beiden Händen in ihrer Handtasche.
Sie kniff die Augen zusammen. Die Handynummer auf dem Display erkannte sie sofort, und wenn die Besitzerin derselben anrief, war es immer wichtig. Gitta hatte dem Herrn und dem Pfarrer ihre Sünden offenbart, das sollte für heute genügen. Hektisch raffte sie ihr Zeug zusammen und stürmte mit einem »Ade, Herr Pfarrer!« aus der Kirche.
Am Telefon war die Bäckerin Jutta Hübsch, die für gewöhnlich ein genauso offenes Ohr wie der Kirchenmann für Beichten hatte, aber weitaus gesprächiger war.
Ohne abzuwarten, wo der Bäckerin der Schuh drückte, sagte Gitta: »Unser Herr Pfarrer wärd aa immer komischer. Direkt gruselig wor des grad mit dem im Beichtstuhl. Ned muh und ned mäh hot der gmachd.«
»Isser vielleicht bei deiner Beichte eingeschlafen?«, spöttelte Jutta.
»Naa, des wor anders. So ganz merkwürdig still. Als wärer dod. Aber warum sollte der Pfarrer denn dod sei?«
Leichenschmaus
Kleinmichlgsees war wie leer gefegt. Ein Geisterdorf. Die Geschäfte waren zu. An den Ladentüren hingen Zettel: »Wegen Beerdigung geschlossen«. Paula fuhr ihren Computer herunter, schloss die Fenster und sperrte die Wache ab.
Die Kollegen Staudinger und Heberle waren schon zum Friedhof vorausgegangen. Paula flitzte über den Dorfplatz und in das Fachwerkhaus, in dem sie eine Mansarde mit Kochnische und Klo gemietet hatte. Sie entledigte sich des Blumenkleides, zog eilig einen schwarzen Hosenanzug an und schlüpfte in dunkle Strickjacke und Pumps. Dann verließ sie ihre Wohnung wieder, rannte an der Metzgerei Popp, der Bäckerei, dem Tante-Emma-Laden und an dem Frisiersalon Grüüber vorbei und hatte Ingreisch bereits erreicht, das ein noch viel kleineres und übleres Kaff als Kleinmichlgsees war. Gut, dass sie so sportlich war.
Die Beerdigung war bereits im Gange, als sie den kleinen Friedhof betrat. Die Witwe Schniederbauer-Bauer weinte still in ein Taschentuch hinein.
Nachdem alle Rosen und Nelken ins offene Grab geworfen worden waren, marschierte die Trauergemeinde zügigen Schrittes in den »Grünen Bock«, wo die Leberknödelsuppe bereits in Terrinen auf den gedeckten Tischen dampfte.
Paula ergatterte einen Platz zwischen zwei Kleinmichlgseeserinnen, die so fränkisch unaufgeschlossen nun auch wieder nicht waren, zumindest unter sich und über Paulas Kopf hinweg. Eine Weile versuchte die Kriminaloberkommissarin tapfer, dem Dialog zu folgen, aber bald zerfloss das Gespräch zu einem schwammigen, unverständlichen Brei. Sie resignierte. Nickte und lächelte nur noch hin und wieder. Dieser Dialekt machte sie so was von fertig.
Nach der wirklich köstlichen Leberknödelsuppe, die anlassunabhängig zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen serviert wurde, gab es heiße Bauernseufzer auf Sauerkraut. Paula glaubte, dem Kraut ansehen zu können, dass es vor der fetttriefenden Wurst fliehen wollte. Was auch sie am liebsten getan hätte.
»Die Bauernseufzer machen die Schniederbauer-Bauers selber. Däi sin a Genuss, däi mäin Sie unbedingt probieren, Frau Kommissarin!«, wollte man ihr die Delikatesse schmackhaft machen.
Und da nun alle Augenpaare auf Paulas Teller und Besteck gerichtet waren, schnitt sie tapfer ein Stück von der gekochten Schweinswurst ab und schob es sich in den Mund. Und kaute. Und kaute. Und kaute. »Mmmmh, lecker«, nuschelte sie, den Bissen noch immer in der Wangentasche. »Wirklich lecker!«
Endlich setzte das melodische Geschirr- und Besteckgeklapper wieder ein, und die Köpfe der Anwesenden senkten sich über den Leichenschmaus. Paula suchte nach einer Serviette und entsorgte darin rasch das Stück Brühwurst. Hatte auch keiner zugesehen? Da entdeckte sie zwei Tischreihen entfernt ihre Kollegin Maria Heberle. Maria war eine natürliche junge Frau, die sich weder aufbrezelte noch in den Vordergrund spielte. Die Polizeimeisterin winkte fröhlich herüber. Aus ihr würde eines Tages eine exzellente Kriminalerin werden, das zeichnete sich jetzt schon ab. Ihr fehlte halt die Übung. Dass in Kleinmichlgsees aber auch gar nichts passierte. Seit ewig langen Wochen nicht einmal eine Kärwa-Prügelei oder ein Ladendiebstahl, geschweige denn ein Mord.
Aber wie konnte Paula auch wissen, dass sie schon eine halbe Stunde mit einem Mörder am Tisch gesessen, Leberknödelsuppe gegessen und ihm sogar direkt in die Augen geblickt hatte?
Wanderleiche
Richard ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. Was diese Gesundheitsapostel nur immer mit ihrem Verdauungsspaziergang hatten? Er konnte im Sitzen gut verdauen, während er sich mit vollem Magen nur sehr schlecht vorwärtsbewegte. Da bevorzugte er doch viel lieber ein Verdauungsschläfchen, das auf der Wache leider nicht immer möglich war. Auch sein Gehirn hatte auf Verdauungsmodus umgestellt, sodass er sich wieder seinem Baumarkt-Prospekt widmete. Richard hatte zwar nicht vor, irgendwelche Wände zu tapezieren oder Teppichböden zu verlegen, aber das alleinige Betrachten von Bandsägen und Schlagbohrmaschinen erfüllte ihn mit einer fast kindlichen Freude wie seinerzeit als kleiner Junge das Häuserbauen mit Legosteinen.
Eigentlich hätte er sich über seine knifflige Diebstahlserie hermachen müssen, aber seine Chefin hatte sich noch während des Leichenschmauses von ihm mit der Ausrede verabschiedet, kurz etwas Privates erledigen zu müssen. War sie auch eine Verfechterin des Verdauungsschläfchens? Und Maria hatte einen Arzttermin. Gut, dass die Damen Richard hatten, der selbst mit unterdessen heftigem Bauchgrimmen – vielleicht doch ein Bauernseufzer zu viel? – Dienst tat. Kurz überlegte er, sich doch um die Diebstähle zu kümmern, aber das Diebesgut war unterdessen so lange abgängig, dass es auf ein paar Minuten hin oder her auch nicht mehr ankam. Vor einigen Monaten waren nämlich auf unerklärliche Weise nach und nach die Gartenzwerge aus den Vorgärten von Kleinmichlgsees verschwunden. Richard vermutete eine organisierte Bande dahinter. Doch bislang gab es von den Dieben keine Spur – genauso wie von den Gartenzwergen.
Er war gerade auf Seite drei des Prospekts angelangt, als die Tür zur Wache aufgerissen wurde und ein Tornado hereinwirbelte, der lose auf den Schreibtischen liegende Papiere in die Luft riss und Richards Arm vor Schreck in die Höhe schnellen ließ.
»Herrschaftszeiten-Sackl-Zement«, entkam es Richard, der sonst nicht fluchte oder anderweitig ausfällig wurde, dafür hatte er ja seine Gesichter.
»Hopperla«, machte Rita Popp.
An sich hatte die Rita beim Richard einen hohen Stellenwert, weil sie die Frau des Metzgermeisters und vor allem zuständig für seine Leberkäsweggla war. Wenn man ihm allerdings so wie sie in diesem Moment auf den Keks ging, konnte man ganz schnell ein Gesicht von ihm kassieren.
Doch die Rita ignorierte Richards gerunzelte Stirn einfach. »Ich hob an Dodn gfunden!«
Richard legte den Kopf schräg.
»Host du ghört, Richard? An Dodn!«
Er seufzte gequält, richtete den Blick wieder geschäftig auf den Prospekt, den die Rita auf der anderen Seite des Besuchertresens nicht sehen konnte. Als sie aber begann, laut und aufdringlich zu schnaufen, konnte Richard nicht anders, als den Ordner geräuschvoll zuzuklappen.
Musste das unbedingt jetzt sein? Dass die Leute aber auch keinen Respekt mehr vor der Mittagspause hatten. Doch eine vage Hoffnung bestand noch. Vielleicht hatte er sich verhört. »Einen toten – was?«
»An Menschen, Richard, an dodn Menschen!«
Richard straffte die Schultern. »Und wo?«
»Aufm Friedhuuf.«
Richard gab einen undefinierbaren Laut von sich. Schüttelte verärgert den Kopf. »Also, weißt du … vergackeiern kann ich mich auch selbst.« Hätte er auch nur für einen Moment die Rita genau beobachtet, dann hätte er den Ernst der Lage erkannt.
Die Metzgerin war völlig von der Rolle. »Nix, vergackeiern. Ich wollt grod unsern Onkel Toni gießen, vielmehr dem sei Grab, do siech ich kanne zwanzig Schritte entfernt auf am Bänkla an Moo hocken.«
Na und?, dachte Richard. War es etwa verboten, sich auf dem Friedhof auszuruhen, vielleicht ein Verdauungsschläfchen zu halten? Da war es wenigstens still, nicht so wie hier.
»Ja, wos macht denn der do?, denk ich mir«, fuhr die Rita fort. »›Grüß Godd‹, sach ich, höflich, wäi ich bin, aber der gibt mir gor ka Gschnuuferi. Doldi, hob ich nu denkt und schau dann gscheid hin. Heiliger Bimbam! Wos glaubsd, wer do hockt?«
Richards Lippen umspielte ein Lächeln. Gschnuuferi. Er malte sich schon aus, wie er seine Chefin später mit diesem Wort konfrontieren würde. Daran hätte sie zu knabbern. Dann riss er sich zusammen und sagte barsch: »Was weiß denn ich, wer da auf dem Bänkla saß und dir keine Antwort gegeben hat. Der Nikolaus vielleicht?«
»Naa, ned der Nikolaus, der Luggi, Richard.«
»Der Ludwig Lohmüller? Der ist aber sonst ein recht gesprächiger Mensch, oder?«
Rita zappelte nervös herum. »Ja, scho, freilich. Aber er hot ja gor nimmer reden können. Der is dod, Richard!«
»Ach, der Luggi ist der Tote?«
»Des soch ich doch die ganze Zeit.«
Darauf wollte Richard lieber nicht eingehen. Von wegen, die ganze Zeit. Von ihrem Onkel, den sie gießen wollte, hatte die Rita geredet. Und vom heiligen Bimbam. Erst anschließend, nach zeitraubendem Palaver, war sie auf den Punkt gekommen. »Und wo da auf dem Friedhof?« Richard versuchte nun seinerseits, etwas Zeit herauszuschinden. Ihm wäre es ganz recht gewesen, wenn die Frischkes sich der Sache angenommen hätte. Die jammerte doch eh dauernd über Langeweile. Ihm war nie langweilig, für Richard gab es auf der Wache immer etwas zu tun. Und wenn es eben das Studieren der aktuellen Werbeprospekte der Super- und Baumärkte war.
»Zwischen dem Greitmeier Heinz und der Helmschneider Anni ihre Gräber is a Gängla mit am Bänkla, und do hockt er, der Luggi.« Sie drehte sich um und marschierte Richtung Tür. »Etz kumm, hopp, hopp!«
Warum denn die Hektik? Der tote Luggi würde ihnen wohl kaum davonlaufen. Aber wenn Frauen sich etwas einbildeten …
Richards Hemdkragen kratzte, als sie den Friedhof erreichten. Wahrscheinlich, weil er vor Aufregung ein bisschen schwitzte. Leichenfunde machten ihn nervös. Um den leicht galligen Geschmack in seinem Mund loszuwerden, lutschte er ein nimm2-Bonbon. Seine Augen wanderten umehr, noch war nicht zu sagen, ob der Luggi freiwillig aus dem Leben geschieden war, und von Mördern hieß es ja, dass es sie nach begangener Tat gern an den Tatort zurückzog. Wenn Rita nur nicht dauernd schnattern würde. Aber vielleicht war das ja ihre Art, die Beklommenheit zu verdrängen.
Richard betrachtete jenes »Bänkla«. Ging einmal im Kreis drum herum, schaute unter die Sitzfläche, zuckte mit den Schultern und sagte zur Rita: »Und?«
»Richard, ich ko mir des ned erklären. Ich bin doch ned bsuffn!« Rita war schier verzweifelt. Dort, wo Ludwig Lohmüller tot gesessen haben sollte, war nichts außer der leeren Bank. Ein paar Raben, von denen einer Richard misstrauisch beäugte, pickten im Gras. »Wo isnern der Luggi hin? Den mou anner gstulln hom!«
Richard schlenderte eine Grabreihe entlang. Groß war der Friedhof ja nicht, und ein Mann, wenn auch tot, musste doch auffallen, hockend wie liegend. Vielleicht hatte sich die Rita das alles nur eingebildet; abergläubisch, wie die war, sah sie bestimmt schon Geister. Der Luggi könnte nur ein Nickerchen gemacht haben, der Glückliche, oder er hatte, dem Alkohol nie abgeneigt, ein Räuschlein ausgeschlafen, war dann wieder wach geworden und hatte den Friedhof frisch und munter verlassen.
Richard schaute auf seine Armbanduhr. »Wann hast du den Luggi denn gesehen? Ich meine, in normalem Schritttempo vom Friedhof auf die Wache und mit mir wieder zurück sind es doch höchstens fünfzehn, zwanzig Minuten. In so einem relativ kurzen Zeitraum hat ihn bestimmt keiner geklaut.« Richard grinste schräg. Wer klaute schon einen Toten?
»Na ja, na ja …«, druckste die Rita herum.
Jenes Gesicht, das Richard jetzt machte, war absolut berechtigt. »Was soll das heißen: na ja, na ja?«
»Bevor ich zu dir bin, wor ich nu schnell beim Bäcker wecher die Bamberger Hörnla für mein Moo. Du waßt doch, wenn mer ned bis Mittag beim Bäcker is, koas sei, dass mer kanne Bamberger Hörnla mehr kräichd. Und heut früh hob ich des nimmer geschafft, da war die Zeit wecher dem Leichenschmaus aweng knapp.« Die Rita versuchte ein Lächeln. »Der Erwin isst jeden Dooch seine zwei Bamberger.«
Richards Augenbrauenspiel war beachtlich. »Was redest du denn für einen Käse daher? Du findest eine Leiche und machst dir dann Sorgen um die Bamberger Hörnla für deinen Mann?«
»No, wer denkt denn aa, dass a Leiche so plötzlich auf und davon is?«
Richard war angefressen. Da scheuchte ihn die Metzgerin aus der Wache, er stürzte los, wo er schnelle Bewegungen doch generell gern vermied, und dann – falscher Alarm! »Weißt du was, Rita? Der Luggi ist gar keine Leiche. Wahrscheinlich steht er gerade in der Bäckerei und frisst die restlichen Bamberger Hörnla auf.«
»Aber der Luggi war bleich wäi der Tod von Forchheim«, verteidigte Rita ihren abgängigen Fund.
»Jaja«, sagte Richard nur und schob die Metzgerin sanft zum Friedhofsausgang.
Als Richard auf die Wache zurückkehrte, war von seinen Kolleginnen noch immer nichts zu sehen. Okay, Maria war entschuldigt, sie war beim Arzt. Er hatte nicht nach dem Grund des Besuchs gebohrt, weil sie etwas von einer »Frauensache« gesagt hatte. Aber die Frischkes? Ein Schlendrian schlich sich da allmählich bei ihr ein …
Richard kam immer vor Dienstbeginn auf die Wache. Nicht dass er nicht gern schlief, aber seine Schwester Trudel sorgte dafür, dass er zeitig aus der Falle kam. Richard bewohnte im Haus seiner Schwester und seines Schwagers Dieter ein Zimmer. Was sehr praktisch war, weil sich die Trudel gleichzeitig um sein leibliches Wohl und um seine Bügelwäsche kümmerte. Wovon er keine Ahnung hatte, war, dass sich seine Schwester immer intensiver für ihn auf dem Heiratsmarkt umschaute. Ihr kleiner Bruder war vierzig. Zeit, dass sie ihn unter die Haube brachte und vor allem sein Zimmer wie schon ewig geplant zu einem Bügelzimmer umfunktionierte.
Jedenfalls polterte die Trudel jeden Werktag – und unnötigerweise sogar am Samstag – um sechs Uhr in sein Zimmer und riss die Vorhänge zur Seite und die Fenster auf. Was ja eigentlich gut war, denn so konnte er ausgiebig frühstücken, mit der Tageszeitung unterm Arm in Ruhe aufs Klo gehen und trotzdem noch pünktlich wie ein Uhrwerk um halb acht die Wache betreten und Kaffee kochen.
Wo seine Kolleginnen nur blieben?
Wenn die ihn nicht hätten, den einzigen Kerl auf der Wache, dann sähe es hier ganz anders aus.
Während er anfing, den Nachmittagskaffee zu kochen, gingen ihm tausend Dinge durch den Kopf. Einerseits glaubte er der Rita. Sie war keine durchgeknallte Tante, die sich wichtigmachen musste. Und als Frau des örtlichen Metzgermeisters hatte sie sicher Erfahrung darin, zu erkennen, ob etwas tot war oder nicht, das glaubte Richard jedenfalls. Aber wer hätte den Luggi entwenden sollen, wenn er denn wirklich tot gewesen war? Derjenige hätte ihn sich ja schlecht einfach unter den Arm klemmen und wegrennen können. Und wo war der Luggi jetzt? Nein, nein, am plausibelsten war immer noch seine Geschichte mit dem Nickerchen.
Als es schon fast auf zwei zuging, kündigte heiteres Gezwitscher seine Kolleginnen an. Fröhlich trudelten sie gemeinsam auf der Wache ein, als kehrten sie vom Shoppen zurück. Waren sie vielleicht shoppen gewesen und hatten ihn angeflunkert, eine Ausrede benutzt, einen Arzttermin vorgeschoben? Hatten sie ihn als Mann von ihren Aktivitäten ausgegrenzt, seine Gutmütigkeit ausgenutzt?
»Mahlzeit!«, riefen sie unisono.
Richard machte folglich ein Gesicht. »Wir hatten übrigens unterdessen eine Leiche.« Er warf einen Blick auf die große Uhr über der Eingangstür und auf die an seinem Handgelenk. Klopfte auf den Uhrendeckel, als müsste er sich davon überzeugen, dass sie nicht am gestrigen Nachmittag stehen geblieben und es tatsächlich schon so spät war. »Aber was die und meinen Kaffee betrifft, da kommt ihr zu spät. Leiche fort, Kaffee kalt.«
Hatte der Staudinger angefangen, heimlich zu trinken? Paula wunderte sich. Wenn sie an seine nicht so geheime Geheimschublade dachte, die unterste in seinem Schreibtisch, wo er neben allerlei Süßkram und seiner Klolektüre, einem Micky-Maus-Heft, auch eine Flasche Obstler versteckte, lag der Verdacht nicht allzu fern.
»Wer ist denn tot?«, fragte Maria und hängte ihre Uniformjacke an den Kleiderständer.
»Der Luggi.«
Paula ging in ihr Büro und stellte ihre Handtasche ab. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Kaffeepflänzchen und in Ermangelung eines Freundes der gerahmte George Clooney. Da Georgie-Boy nunmehr glücklich in festen Händen war, überlegte sie seit geraumer Zeit, sein Bild gegen das eines anderen Mannes auszutauschen. Sie hatte sogar schon jemanden im Auge … Aber sie waren ja kein Paar. Noch nicht.
»Das war also kein Scherz mit der Leiche, Herr Staudinger?«, fragte sie nach draußen, als sie Marias aufgeregte Stimme hörte.
»Das war es nicht, aber wir haben keine Ahnung, wo sie, also die Leiche vom Luggi, abgeblieben ist.«
Paula ging zu ihren Kollegen zurück, ihre leere Kaffeetasse einsatzbereit in der Hand. Vielleicht war Richard Staudingers Brühe ja noch lauwarm. »Wer ist wir?«
»Die Rita Popp und ich. Sie hat den Luggi auf dem Friedhof gefunden, angeblich tot, hat sie gesagt.«
»Sie sprechen vom Kleinmichlgseeser Friedhof, oder? Denn auf dem Ingreischer waren wir ja heute Morgen«, unterbrach sie ihn.
Richard nickte. »Die Rita ist in die Wache gestürzt, als wäre der Teufel hinter ihr her, kann ich euch sagen. Wir müssten sofort aufbrechen. Auf dem Friedhof sitze ein Toter! Ich mitten bei der Arbeit, also los im Stechschritt. Aber als wir ankommen, ist der Luggi fort.«
»Na, dann wird er eben doch nicht so tot gewesen sein.« Paula stutzte. »Bei dem Luggi handelt es sich aber schon um einen Menschen, oder?« Nicht dass ihr Kollege von einem Hund sprach.
»Natürlich ist der Luggi ein Mensch.« Richard zog die Nase hoch. Was sollte er denn sonst sein, etwa ein Hund? »Und vielleicht wäre er sogar noch da gewesen, hätte die Rita nicht nach ihrer Entdeckung noch Bamberger Hörnla für ihren Mann besorgen müssen. Der Ludwig, also der Luggi, ist in exakt diesem Zeitfenster verschwunden.«
Paula schaute ihren Kollegen ausdruckslos an, ging dann zur Kaffeemaschine, goss sich das kalte schwarze Lebenselixier in eine Tasse und trottete in ihr Büro. Über Staudingers Geblubber musste sie in aller Ruhe nachdenken. Sie nahm einen Schluck. Ein Schauder überkam sie. Kalt. Gallebitter. Und dann machte sie ein Gesicht.
Wanderniere
Ludwig Lohmüller ging nicht an sein Handy, und in seiner Wohnung schaltete sich nur der Anrufbeantworter ein. Vielleicht war ihm doch etwas zugestoßen? Da sie nun wirklich nicht in Arbeit erstickten und es Paulas Aufgabe war, in Kleinmichlgsees nach dem Rechten zu sehen, beschloss sie, dem rätselhaften Verschwinden von Luggi auf den Grund zu gehen.
»Suchen Sie mir doch bitte seine Privatadresse heraus, Herr Staudinger. Und wissen wir, wo Herr Lohmüller arbeitet?« Sie grinste breit. »Vielleicht ist der Luggi nach seiner Auferstehung ja postwendend zur Arbeit gegangen.«
»Der Luggi ist Frührentner«, erklärte Richard. Wäre er nicht so gern Polizist, hätte ihm diese Tagesbeschäftigung auch geschmeckt.
Luggi wohnte in einem Zweifamilienhaus am Ortsrand von Kleinmichlgsees. Weder er noch die Nachbarn öffneten Paula und Maria. Sie hinterließen ihm eine Nachricht im Briefkasten und wollten sich dann im Ort umhören. Richard war seinen Kolleginnen gefolgt, obwohl er eigentlich Wachdienst hatte schieben wollen. Er fühlte sich für den Luggi beziehungsweise für dessen Abhandenkommen schon ein bisschen verantwortlich. Wäre er nicht noch aufs Klo gegangen und hätte sich ein paar seiner geliebten nimm2-Bonbons für alle (Mord-)Fälle eingepackt, bevor die Metzgerin ihn auf den Friedhof gescheucht hatte, hätten sie den Luggi vielleicht noch erwischt. Aber offiziell waren natürlich die Rita und ihre Bamberger Hörnla schuld.
Die Haus-zu-Haus-Befragung führte sie auch in die Metzgerei. Richard gönnte sich ein Leberkäsweggla, und Maria nutzte die Gelegenheit und verlangte von Rita ein Pfund Schweinenieren.
Paula krauste die Stirn. »Seit wann haben Sie denn einen Hund, Maria?«
»Ich hab doch keinen Hund. Wie kommen Sie denn darauf, Frau Frischkes?«, sagte Maria und machte artig einen Knicks, als sie wie bei jedem Besuch seit fast dreißig Jahren eine Scheibe Gelbwurst von der Metzgerin erhielt.
Paula errötete fast ein bisschen. Und rein ins Fettnäpfchen. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine junge Frau, eigentlich überhaupt ein Mensch, freiwillig die Niere eines Tieres verzehrte. Lunge, Herz, Leber, pfui Teufel! Bei der Vorstellung von gekochten, gebratenen und geschnetzelten Innereien grauste es ihr. Sie war sowieso keine leidenschaftliche Fleischesserin, wobei sich ihr kulinarisches Weltbild, seit sie in Bayern lebte, schon gehörig gewandelt hatte.
Da machte es klick bei Maria. »Ach so, Sie dachten, ich koche mir saure Nierla? Ich doch nicht.«
Paula atmete erleichtert auf.
»Meine Mama macht mir die, weil es eine Mordsarbeit ist, die Nierla sauber zu machen. Außerdem ist das Aufschneiden und Rauszupfen der Harnstränge ziemlich igitt.« Maria strahlte. »Aber später sind die total lecker, mit einer Soße aus Majoran und Lorbeeren, in die man selbst gemachte Spätzle eintunken kann.«
Harnstränge! Spätzle in die Soße eines harnbildenden Organs eintunken! Paula kämpfte gegen einen Brechreiz an.
»Saure Nierla, die mag ich auch«, mischte sich Richard nun, noch immer an seinem Leberkäsweggla kauend, schmatzend ein. »Oder ein Beuscherl, hmmm.« Und weil seine Chefin immer größere Augen bekam, übersetzte er für sie: »Ein saures Lüngerl.«
»Beuscherl.« Paula formte das neue Wort ihres fränkischen Wortschatzes mit den Lippen.
»Möchten Sie aa a Leberkäsweggla, Frau Frischkäs?«, fragte Rita, und Paula krauste wieder die Stirn.
Frischkes wie kess, nicht wie Käse! Dass die Metzgerin sich das einfach nicht merken konnte – und nicht nur die. Rasch entspannte sie ihre Gesichtsmuskulatur wieder. Sie musste aufpassen, allmählich nahm sie Staudingers Schrullen an. »Nein danke. Aber sagen Sie mal, Frau Popp, wann haben Sie denn Herrn Lohmüller zuletzt gesehen? Lebend.«
»Den Luggi …« Sie grübelte intensiv nach und sah zum Schaufenster hinaus. Dann: »Ja, wos is denn do los?«
Richard wischte sich den Senf mit einer Serviette vom Mund und blickte ebenfalls auf die Straße. »Sieht nach einer Demonstration aus. Nach einem Massentumult. Oder brennt vielleicht die Kirche?«
Paula tat sich ebenfalls schwer damit, zu erkennen, warum sich immer mehr Menschen vor der Kirche versammelten. »Vielleicht gibt es Freibier«, scherzte sie, weil man in Kleinmichlgsees nie wissen konnte.
»Dann sollten wir wohl mal nachschauen«, sagte Richard erfreut und nickte Rita zur Verabschiedung zu.
Maria, in der Hand den Beutel mit dem Pfund Nierla, ging ihm nach.
Paula wartete noch einen Moment. Erst als sie sicher war, keine Scheibe Gelbwurst zu bekommen, wie zu erwarten gewesen war, folgte sie ihren Kollegen. Von Nahem wirkte die Szene noch absurder.
Fredl Gruber trippelte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend. Der schwule Dorffriseur quälte seine Füße wieder einmal mit High Heels, in denen sogar Paula ihre Schwierigkeiten gehabt hätte. Dazu trug er eine knallenge Lederhose, ein rosafarbenes Rüschenhemd und – Paula hätte schwören können – einen ausgestopften BH. Als er die Kommissarin erblickte, warf er theatralisch die Arme in die Luft und rief: »Im Beichtstuhl hockt a Toter! Frau Kommissarin, schnell, da drin is a Leiche!« Wenn Fredl aufgeregt war, verfiel er immer wieder ungewollt in den Dialekt.
Paula beschleunigte ihren Schritt. Aber nicht wegen des Toten, der würde ihr schon nicht weglaufen, sondern wegen Fredl, der nun mit wehendem Hemd Richtung Kirche flatterte.
Auch Richard und Maria bahnten sich eine Schneise durch die Menschenmenge und schnappten dabei die nicht unwichtigen Informationen auf, dass die Leiche blass, kalt und tot sei.
Paula drängelte sich durch die Gaffer. Unglaublich, wie schnell sich der Leichenfund im Ort herumgesprochen hatte. »Weitergehen, Herrschaften, hier gibt es nichts zu sehen«, rief sie und dachte dann: Was für ein ausgemachter Quatsch! Natürlich gab es was zu sehen. Als sie Fredl eingeholt hatte, redete der nur wirres Zeug, das unter anderem die Worte »Apokalypse« und »Zorn des Herrn« beinhaltete. »Jetzt beruhigen Sie sich doch, Fredl. Was ist denn passiert?«
»Im Beichtstuhl hockt a Toter, aber der Herr Pfarrer ist es nicht, des hab ich auf den ersten Blick gesehen. Weil für den Pfarrer hat der Tote zu viel Haare. Mich hat’s so gegraust, Frau Kommissarin, da wollt ich nicht noch länger hinschauen. Ich hab einfach den Vorhang wieder zugezogen – und tschüss!« Er schüttelte sich.
Fredl, ein weiterer Exot im Dorf, und Paula hatten in ihrer doch relativ kurzen Dienstzeit in Kleinmichlgsees schon einiges miteinander erlebt. Fredl war zu Unrecht als Mörder verhaftet worden, Paula entführt. Zudem hatte der Friseur ihr versehentlich die Haare kurz geschnitten, doch hauptsächlich profitierten sie voneinander. Denn Fredl Grubers Frisiersalon Grüüber – wie Glööckler – war der Kleinmichlgseeser Hauptumschlagplatz für den Dorfklatsch, den der Friseur brühwarm an die Beamten weitertrug. Und der oft mehr nützliche Informationen enthielt, als sie bei den polizeilichen Vernehmungen oder Haus-zu-Haus-Befragungen zutage förderten. Denn in jedem Dorfklatsch steckte immer noch ein Körnchen Wahrheit. Fredl hingegen freute sich über jeden neuen Kriminalfall, jedes schauderhafte Detail. Und eines stand fest: Seit die Berlinerin im Dorf ihren Dienst tat, passierten eindeutig mehr Morde.
Gemeinsam betraten die Dienststellenleiterin und der Friseur die Kirche, doch Fredl weigerte sich, weiter als bis zum Weihwasserbecken zu gehen.
»Schon gut, Fredl. Erholen Sie sich erst mal von Ihrem Schock.« Paula ahnte bereits, um wen es sich bei dem Toten handeln konnte.
Da tauchte der Staudinger neben ihr auf. »Wir haben ihn wieder, den Luggi. Doch tot.«
Maria hatte alle Hände voll damit zu tun, die Schaulustigen, die sich, wenn auch in gebührlichem Abstand, um den Beichtstuhl scharten, zu verscheuchen.
»So, Leute, jetzt macht mal Platz für die Polizei, draußen gibt es Freibier«, kam ihr Richard zu Hilfe.
Murmelnd trollte sich die Menge. Und so manche stadtbekannte Feiernase besonders schnell, man konnte ja nie wissen.
Erst als sie allein waren, zog Maria den Vorhang zurück, hinter dem sich der Tote befand.
»Ich hob nix angefasst, Frau Kommissarin, gell. Wecher die Fingerabdrücke und so.« Fredl stand plötzlich doch wieder neben Paula und machte einen langen Hals.
»Sie haben berufsbedingt einen sehr guten Einblick in das Dorfleben, Fredl. Was meinen Sie, könnte dem Herrn Lohmüller jemand nach dem Leben getrachtet haben?«
»Ein alter Stänkerer war er«, meinte der Fredl wie aus der Pistole geschossen.
»Wem gegenüber? Seiner Frau, der Familie, Freunden?«
»Der Luggi war immer am Stänkern und setzte gern Gerüchte in die Welt. Übers Wetter hat er sich aufgeregt, über den Klimawandel, an dem die Menschen und die Industrie mit ihrem Energieverbrauch schuld seien. Auch über die Autofahrer. Und über die Knallköpfe mit ihren Handys. Und das Fernsehprogramm. Und über die Politiker sowieso. Genauso wie über die Bierpreise bei der Resi …«
In einer Luftholpause winkte Paula dankend ab.
»Das sagt der Richtige. Der Fredl, dieses alte Waschweib«, stichelte Richard leise. »Und seine Klamotten wieder, ja sind wir denn auf dem Fasching?« Noch dazu war der Friseur ihnen die interessante Antwort auf die Frage, was er denn zu beichten gehabt habe, schuldig geblieben.
Paula machte »Pssst!«, weil Fredl die Ohren aufgestellt hatte, und Richard verstummte. Dann endlich lernte sie den Luggi persönlich kennen, leider war der Anlass kein besonders schöner. Er war weiß wie Quark, hockte auf der Holzbank und lehnte den Kopf an die Seitenwand.
Pfarrer Hattinger, der als schweigender Zuschauer danebengestanden hatte, war genauso blass. Unter seinem Talar war eindeutig ein Wohlstandsbauch zu erkennen, seinen Kopf zierte nur noch ein grauer Haarkranz. »Vielleicht suchte der Herr Lohmüller ein Gespräch mit dem Herrn, als ihn plötzlich der Tod ereilte.«
Paula ließ ihn in dem Glauben. Sie würde davon absehen, Geschichten über wandernde Leichen in die Welt zu setzen. »Wir brauchen einen Arzt.«
»Habe ich bereits erledigt«, sagte Richard. »Dr. Wendler schließt seine Praxis und kommt rüber. Ich habe ihn zur Eile angetrieben, unter Umständen handelt es sich schließlich um Mord.«
Der Pfarrer bekreuzigte sich.