Cover

 

 

LOUISE BOURBON

 

 

Märchen des Versailler Hofes nach Charles Perrault

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Märchen des Versailler Hofes nach Charles Perrault

Widmung

Impressum

Über das Buch

Préface

Über Charles Perrault

Märchen in Prosa

Die Feen

Riquet mit dem Schopf

Der Däumling

Die Schöne, die im Walde schlief

Der gestiefelte Kater

Cendrillon

Eselshaut

Die albernen Wünsche

Finette oder Die geschickte Prinzessin

Griselidis

Märchen in Versen

Eselshaut

Postface

Danksagung

 

 

Comme toujours: Pour mon soutien, mon mainteneur, mon tout.

 

Impressum

 

Louise Bourbon

Märchen des Versailler Hofes nach Charles Perrault

 

ISBN eBooks:

978-3-946376-21-7 (ePub)

978-3-946376-22-4 (mobi)

Copyright © 2016 by Lysandra Books Verlag

 

Lysandra Books Verlag

Inh. Nadine Reuter

Overbeckstr. 39

01139 Dresden

www.lysandrabooks.de

 

Coverfoto: Louise Bourbon (privat)

Hintergrunddesign: © depositphotos_1279610

Coverdesign Takezo Graphic Dirk Schröck, www.takezo-design.de

Lektorat & Satz: Lysandra Books Verlag

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung - auch auszugsweise - durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

 

Über das Buch

»Es waren einmal ein König und eine Königin ...« Diese Worte entführen in eine magische Welt und laden zum Träumen ein.

Charles Perrault schuf Ende des 17. Jahrhunderts aus überlieferten Geschichten wundervolle Prosa. Dieser Band mit seinen Werken in einer neuen Übersetzung von Louise Bourbon stellt bekannte, aber auch nahezu unbekannte Märchen vor: Neben »Der gestiefelte Kater« und den französischen Versionen von Dornröschen, Aschenputtel und Allerleihrauh sind auch »Griselidis« und die Geschichte um »Finette, die geschickte Prinzessin« enthalten - und noch einige mehr.

Perraults Märchen wohnt dabei ein besonderer Kern inne: Sie enthalten zahlreiche Anspielungen auf damals aktuelle Geschehnisse und Personen am französischen Hof. Gespickt mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie hat er vieles zwischen die Zeilen seiner Märchen geschrieben - doch Louise Bourbon ist ihm auf der Spur gekommen und entschlüsselt für Sie die versteckten Botschaften.

 

Préface

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

ich habe Märchen schon immer geliebt. Als Kind, als Jugendliche, und jetzt als Erwachsene liebe ich sie noch immer. Ich habe das Glück, mit den Kulturen und Sprachen zweier Länder, nämlich Deutschland und Frankreich, aufgewachsen zu sein. So bestand meine Kindheit nicht nur aus dem Märchen der Gebrüder Grimm, sondern auch aus den wunderschönen Erzählungen von Charles Perrault. Natürlich sprangen mir diverse Ähnlichkeiten zwischen den Geschichten ins Auge.

Wussten Sie, dass die Gebrüder Grimm viele Märchen nicht selbst erfunden, sondern sie gesammelt und aufgezeichnet haben? Märchen, ebenso wie Sagen und Legenden, haben während vieler Jahrhunderte das heutige Fernsehen ersetzt. Auch Theaterbesuche waren nicht für jeden erschwinglich, und so hatten insbesondere in der Renaissance und im Barock frühe Formen des sogenannten Papiertheaters1 Konjunktur. Aus dem Mittelalter ist vielen noch der Begriff des Bänkelsängers geläufig. All dies diente der Unterhaltung, und Märchen wurden vielfach mündlich weitergegeben. Dabei erfuhren sie leichte Modifikationen, die durch mündliche Überlieferungen oder regionale Gegebenheiten entstanden sind. Die Gebrüder Grimm waren also zunächst Sammler. Interessant ist, dass die Grimms-Märchen eigentlich den Titel Kinder- und Hausmärchen tragen und insbesondere entsexualisierte Fassungen der Originale beinhalten, was der beginnenden Prüderie im 19. Jahrhundert Rechnung trägt. Aufschlussreich ist in meinen Augen allerdings auch, dass die Sexualität aus den Märchen verschwand oder nur sehr zart umschrieben wurde, die Gewalt allerdings weiterhin enthalten war. Hänsel und Gretel beispielsweise kann man sicherlich nicht gewaltfrei nennen.

Sie werden in den Märchen Perraults viele Parallelen zu manch einem Märchen der Gebrüder Grimm finden. Ich habe darauf verzichtet, darauf hinzuweisen, welche Passagen für welche Märchen Pate standen, um Ihnen, lieber Leser, einen eigenen Aha-Effekt zu ermöglichen.

Früh erfuhr ich durch meine Großmutter von den französischen Märchen Charles Perraults und las sie, lange bevor ich ahnte, auf welch einen Schatz ich da gestoßen war. 

Einige von Ihnen haben mich bereits auf meinen Recherche-Reisen begleitet, auf denen ich die Geschichte von Frankreichs vergessener Königin, Louise de La Vallière, aufgedeckt habe. Wenn man in dieser Weise recherchiert, ist man darauf angewiesen, nicht nur die klassischen Quellen zu interpretieren, sondern alles hinzuzuziehen, was Informationen liefern kann. In meinem Falle waren und sind das die zeitgenössischen Opern, die Literatur, und natürlich auch diese Märchen.

Allmählich rundete sich das Bild ab: Die Märchen Perraults weisen, wie die meisten Märchen, auch immer einen erzieherischen Charakter auf. Aber zwischen den Zeilen berichten sie Meilensteine aus der Geschichte des Königs Louis XIV und seiner vergessenen Königin Louise de La Vallière, die nicht, wie in der offiziellen Geschichte geschrieben, lediglich seine Geliebte, sondern tatsächlich seine zweite Frau und Königin war. Entsprechend habe ich die Märchen nicht nur übersetzt, sondern mit verschiedenen Anmerkungen versehen, die Bezug auf die wirklichen Ereignisse am französischen Hof nehmen.

Eine Zusammenfassung der tatsächlichen Geschehnisse am französischen Hof hätte den Rahmen dieser Märchensammlung gesprengt. Dem geneigten Leser lege ich aber meinen Roman „Die Sonnenkönigin – Frankreichs vergessene Königin“ ans Herz.

Aber auch ohne dieses Wissen sind die Märchen, will man sie denn lediglich als solche betrachten, ein Schatz französischer Erzählungen. 

 

Louise Bourbon, Chambord, August 2016

 

 


1 Es handelt sich hier um Miniaturbühnen aus Papier, die es als „Theater im Kleinen“ erlaubten, Stücke der großen Theater ohne den technischen und finanziellen Aufwand auf die Bühne zu bringen. So sollte das Theater nicht nur zur Erbauung der oberen Schichten dienen, zumal die gespielten Stücke auch immer bestimmte Moralitäten transportieren sollten.

Über Charles Perrault

 

Charles Perrault, am 12. Januar 1628 in Paris geboren, ist in Frankreich nicht nur für seine Märchen bekannt. So verfasste er auch religiöse Texte, aber besonders interessant ist seine Verwicklung in den sogenannten "Querelle des Anciens et des Modernes" – in den Streit zwischen den Vertretern des "Althergebrachten" und des Modernen. 

Sein Hauptwerk widmet sich der Sammlung, aber auch des Retranskripts der zuvor mündlich erzählten Märchen, die in Frankreich große Tradition haben. Einen großen Fürsprecher fand Perrault in Louis XIV1, der in seiner Kinderzeit selbst durch seinen Valet de Chambre, Pierre de La Porte2, Zugang zur Welt der Märchen erhalten und deren Faszination nie vergessen hatte. Worin bestand nun dieser Streit? Die Vertreter des Althergebrachten vertraten das große Theater auf Basis der antiken Stoffe, davon ausgehend, dass die antiken griechischen und römischen Autoren die ideale Form des Theaters hervorgebracht hatten, von einer Perfektion, die nicht zu übertreffen war. Die großen Tragiker des 17. Jahrhunderts, insbesondere Racine3 und Corneille4, bedienten sich häufig der antiken Stoffe. Dabei wurden grundsätzlich auch zeitgeschichtliche Geschehnisse verarbeitet, aber stets im Gewand des antiken Dramas.

Die "Modernen" - Perrault ist einer ihrer Vertreter – bestritten indes, dass das antike Theater in seiner Perfektion unübertroffen sei. Entsprechend setzten sie sich für eine zeitgenössische Form der Literatur ein, angepasst an ihre Epoche und die neuen Erzählformen, die mit den italienischen und spanischen Einflüssen am französischen Hof Einzug hielten. 

Doch wer ist der Schriftsteller Charles Perrault?

Perrault wird als siebtes Kind von Pierre Perrault geboren. Die Familie väterlicherseits stammt aus Tours, ebenso wie Louise de La Vallière5. Seine Familie kann man dem gehobenen Bürgertum zurechnen, sein Vater ist Anwalt am Parlament6 von Paris. Die Eltern bemühen sich, allen ihren Kindern eine gute Ausbildung zu geben, sein Bruder Claude beispielsweise ist Mitglied der neugegründeten Académie des Sciences7. Charles wird zunächst ebenso Anwalt wie sein Vater, interessiert sich aber bald mehr für das Finanzwesen und tritt 1663 in die Dienste von Colbert8. Es gelingt Perrault, das Vertrauen Colberts zu erlangen - nicht unwichtig, wenn man bedenkt, dass dieser nicht nur Vertrauter des Königs, sondern auch Louise de La Vallières ist. 

1671 wird Perrault an die Académie Française9 berufen. Diese Berufung ist auch eine Aussage, denn bereits zu dieser Zeit führt das Verwirrspiel um die Marquise de Montespan10, die sich bemüht, glaubhaft die Maîtresse des Königs darzustellen, und Louise de La Vallière, die es tatsächlich ist, auch zu verschiedenen Lagern unter den Literaten. Der für seine Fabeln bekannte Jean de La Fontaine11, der den schweren Fehler begeht, in einem Gedicht die Vorzüge Louises etwas zu sehr zu besingen und so den Unmut des Königs auf sich zieht, versucht dessen Gunst zurückzuerlangen, indem er Elogen auf die Montespan ersinnt - nicht wissend, dass das den Unmut des Königs noch vertieft. Während sich die Montespan bemüht, ihrerseits Mäzenin für Künstler und Literaten zu spielen, ist Perrault Louise zugetan.

1683 stirbt Colbert. Louvois12, nicht nur Minister des Königs, sondern auch heimlicher Geliebter der Montespan, lässt Perrault aus den Listen der Akademien streichen. Perrault nutzt die so gewonnene freie Zeit, um etwas niederzuschreiben, das der König ihm einst erzählte: die Märchen, die La Porte dem König als Kind vortrug, um ihn auf die Eigenschaften der Tugend, aber auch auf zu vermeidende Laster aufmerksam zu machen. Perrault, der viele der Märchen aus mündlichen Überlieferungen kennt, beginnt sie mit den sogenannten Moralités13 für seine eigenen Kinder aufzuschreiben. 

Um die Entstehung der ersten gedruckten Ausgabe von 1697 ranken sich viele Legenden. Beispielsweise schreiben manche die Werke seinem Sohn Pierre Perrault zu. Andererseits wird heute noch darüber gerätselt, wem die Widmung À Mademoiselle zugeeignet ist. Manche glauben, sie sei an Elisabeth Charlotte d'Orléans14 gerichtet - die Dame findet sich in einigen Werken Perraults in wenig schmeichelhafter Weise gezeichnet wieder. Hat Perrault sich einen Scherz erlaubt? Oder steht vielleicht jemand ganz anderer hinter diesem Scherz?

Fakt ist, dass eine bearbeitete Auflage der Märchen ihren Einzug in Versailles hält: Der König erinnert sich seiner eigenen Kindheit und wünscht eine Bearbeitung für seine Enkel. Nun ist auch klar, woher Perrault seine ausgezeichneten Kenntnisse über diverse Vorgänge am Hof hat: vom König selbst, der an diversen Stellen seine und Louises Geschichte, verbrämt und sorgfältig verpackt, erzählen lässt.

Die Einleitung "Es war einmal" lässt den Leser träumen, verspricht aber in gewisser Weise auch immer einige Körnchen Wahrheit. Genau diese Wahrheit will der König ans Licht bringen. Und er tut es, indem er sich der Literatur und eines Dichters bedient: durch die Märchen von Charles Perrault. 

Der König weiß aber auch, dass er sich gewisser Formen bedienen muss, um die Märchen zugänglich zu machen. So spricht Perrault in seinem Vorwort über die Aufarbeitung diverser antiker Stoffe, nennt beispielsweise die Geschichte von Amour und Psyché15 als Grundlage für Eselshaut. 

Nichtsdestotrotz sind die Märchen ein wundervolles Zeitzeugnis und verraten für den, der hinsehen möchte, viel über die wahren Vorgänge am französischen Hof und die vergessene Königin Louise. 

 


1 Louis XIV (1638–1715) dit le Grand, seit 1643 Roy de France et de Navarre, König von Frankreich und Navarra

2 Pierre de La Porte (1603–1680), Kammerdiener des Königs

3 Jean Baptiste Racine (1639 – 1699), einer der bedeutendsten Tragiker des 17. Jahrhunderts

4 Pierre Corneille (1606 – 1684), gilt neben Racine als einer der größten Vertreter der französischen Klassik

5 Louise de La Vallière, fut. de Bourbon (1644–1714), zweite Ehefrau des Königs Louis XIV

6 Das sog. Parlement/Cour de Parlement (de Paris) hat in seiner Bedeutung nichts mit den heutigen Parlamenten zu tun, sondern war eine juristische Institution des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die Wortherkunft stammt vom französischen "parler" – "sprechen, eine Rede halten", und war Ort der Gerichtssitzungen des französischen Königs. Dort wurden auch seine Edikte und Dekrete registriert, um ihnen Rechtsgültigkeit zu verleihen. Eine der beliebtesten Drohungen des Parlements von Paris war es, das Registrieren eines königlichen Edikts zu verweigern. So kam es häufiger zu Machtkämpfen zwischen König und Parlament.

7 Die Académie des Sciences, 1666 von Louis XIV aufgrund des Einflusses von Louise de La Vallière und Jean Baptiste Colbert gegründet, sollte eine Einrichtung werden, die sich der Forschung und den Wissenschaften widmet. Insbesondere das Einwirken von Louise, die sich mit den Gedanken von Blaise Pascal auseinandersetzte und den Naturwissenschaften zugeneigt war, trug zur Schaffung dieser Akademie bei. Auf einem in Prag befindlichen Gemälde, das anlässlich dieser Gründung vom König in Auftrag gegeben worden war, ist sie noch zu sehen. Auf einigen anderen hat man sie leider verschwinden lassen.

8 Jean Baptiste Colbert (1619 – 1683) wird in der deutschen Literatur fälschlich als Finanzminister des Königs Louis XIV bezeichnet, war aber tatsächlich Intendant, da der König nach einem Vorfall mit Nicholas Fouquet, der ihn bestohlen hatte, keinen Finanzminister mehr nehmen wollte.

9 Die Académie Française, 1635 unter Louis XIII gegründet, hat vor allem die Pflege und die Vereinheitlichung der französischen Sprache zur Aufgabe. Mitglied dort zu sein, ist eine hohe Ehre.

10 Athénais de Rochechouart (1640–1707), Marquise de Montespan.

11 Jean de La Fontaine (1621 – 1695) ist heute in Deutschland vor allem für seine Fabeln bekannt. Tatsächlich schrieb er Gedichte und kleine Dramen im Auftrag Fouquets und widmete ihm sogar ein solches. Als Fouquet durch seine Diebstähle und sein Betragen gegenüber Louise de La Vallière beim König in Ungnade fiel, beging La Fontaine den Fehler, beim König für diesen vorzusprechen.

12 François Michel le Tellier Marquis de Louvois (1641–1691), Minister des Königs. Mitwisser und heimlicher Geliebter der Marquise de Montespan. Als sie endgültig den Hof verlassen sollte, musste auch er gehen. Sein plötzlicher Tod warf Fragen auf. Gerüchte einer Vergiftung wurden laut, eventuell durch die Marquise, aber auch ein Selbstmord durch Gift ist denkbar. Die Behauptung, er habe sich den Hass der Marquise de Maintenon zugezogen, weil er der Bekanntgabe der Eheschließung widersprach, ist unwahr, da die Marquise zu keiner Zeit mehr als die Erzieherin der Kinder des Königs und Louises gewesen war.

13 Moralités wurden genutzt, um am Ende des Märchens noch einmal die Kernbotschaft zusammen zu fassen.

14 Elisabeth Charlotte von der Pfalz, »Liselotte von der Pfalz«, Duchesse d’Orléans (1652–1722), zweite Frau des Duc d’Orléans. Sterblich verliebt in ihren Schwager. Als dieser ihre Zuneigung nicht erwiderte, verkehrten sich ihre Empfindungen in Hass, der auch vor Louise de La Vallière nicht haltmachte.

15 Der antike Stoff der Liebesgeschichte zwischen Amour, auch Cupido, dem Gott der Liebe, und Psyché, nimmt in der barocken Lyrik wieder großen Raum ein. Kurz zusammengefasst ist Psyché, jüngste Tochter eines Königs, so schön, dass Venus in Eifersucht entbrennt. Sie bittet Amour, dafür zu sorgen, dass Psyché sich in einen Mann mit schlechten Eigenschaften verliebe. Da das Orakel erfüllt werden muss, soll Psyché einen Dämon heiraten. Amour erliegt ihr aber selbst und nimmt sie mit sich. Des Nachts kommt er zu ihr, in der Dunkelheit, tagsüber aber ist sie allein. Aus ihrer Einsamkeit erwachsen zahlreiche Konflikte. In der gleichnamigen Oper von Lully finden sich zahlreiche Hinweise auf die Geschichte des Königs Louis XIV und seiner Königin Louise.

Teil 1

 

Märchen in Prosa

 

Die Feen

 

Il n'y a d'autre bien que ce qui est honnête.

Es gibt kein anderes Gut als die Aufrichtigkeit.
Marcus Tullius Cicero

 

Es war einmal eine Witwe, die zwei Töchter hatte: die älteste schien ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und war ihr auch hinsichtlich ihrer Launen so ähnlich, dass jeder, der diese sah, glaubte, die Mutter zu sehen. Beide waren sie von solch unangenehmer Art und so stolz, dass man nicht mit ihnen leben konnte. 

Die jüngere, die das genaue Abbild ihres Vaters war, ihm auch in ihrer Sanftheit und ihrer Aufrichtigkeit1 entsprechend, war eines der schönsten Mädchen, das man je gesehen hatte. Weil die Natur es so eingerichtet hat, dass man immer denjenigen liebt, der einem ähnlich ist, war die Mutter vernarrt in ihre älteste Tochter, besaß aber zur gleichen Zeit eine schreckliche Abneigung gegen ihre jüngere. Sie zwang sie dazu, in der Küche zu essen2 und ohne Unterlass Arbeiten zu verrichten. 

Unter anderem musste dieses arme Kind zweimal am Tag Wasser (aus einem Brunnen) schöpfen, der ungefähr eine halbe Meile von ihrem Zuhause entfernt war, und den vollen Krug zurückbringen.

Eines Tages, als sie sich an diesem Brunnen befand, trat zu ihr eine arme Frau, die das Mädchen darum bat, ihr zu trinken zu geben. 

«Aber gewiss, gute Frau», sagte das schöne Mädchen, spülte3 alsbald den Krug aus, um Wasser von der besten Stelle des Brunnens zu schöpfen, und bot diesen der alten Frau, so dass sie daraus angenehm trinken konnte.

Die gute Frau, nachdem sie getrunken hatte, sagte zu ihr:

«Ihr seid so schön, so gut und so aufrichtig, dass ich Euch unbedingt ein Geschenk machen möchte.» Denn es war eine Fee, die die Gestalt einer armen Frau aus dem Dorf angenommen hatte, um zu prüfen, wie weit die Aufrichtigkeit des jungen Mädchens gehen könnte. «Ich mache Euch zum Geschenk», fuhr die Fee fort, «dass bei jedem Wort, das Ihr sprecht, eine Blume oder ein Edelstein Euren Mund verlassen wird.»

Als dieses schöne Mädchen bei ihrem Zuhause eintraf, schimpfte ihre Mutter sie aus, weil sie so spät vom Brunnen zurückgekehrt war.

«Ich bitte Euch um Vergebung, meine Mutter», sagte das arme Mädchen, «dafür, dass ich mich so sehr verspätet habe.» Während sie diese Worte sprach, entglitten ihrem Mund zwei Rosen, zwei Perlen und zwei große Diamanten.

«Was sehe ich da?», fragte ihre Mutter sehr erstaunt, «Ich glaube, ihrem Mund entsprangen Perlen und Diamanten. Woher kommt das, meine Tochter?» (Es war das erste Mal, dass sie sie ihre Tochter nannte.)4

Das arme Mädchen berichtete in aller Arglosigkeit all das, was ihr widerfahren war, nicht ohne dabei eine Unendlichkeit von Diamanten fallenzulassen.

«Wahrhaftig», sagte die Mutter, «es tut not, dass ich meine Tochter schicke. Schaut, Fanchon5, schaut, was aus dem Munde Eurer Schwester fällt, wenn sie spricht; wäre es Euch nicht angenehm, mir das gleiche Geschenk zu machen? Ihr müsst lediglich zum Brunnen hinausgehen und Wasser schöpfen, und wenn eine arme Frau Euch bittet, ihr zu trinken zu geben, so gebt es Ihr ganz aufrichtig.»

«Das steht mir wohl kaum gut zu Gesicht», erwiderte diese rüpelhaft, «zum Brunnen hinaus zu gehen!»

«Ich will, dass Ihr hingeht», entgegnete die Mutter, «und zwar sofort.»

Das Mädchen machte sich also auf den Weg, aber stetig vor sich hin schimpfend. Sie nahm das schönste Gefäß aus Silber mit sich, das sie im Haus finden konnte. Kaum am Brunnen angekommen, sah sie, wie sich aus dem Wald eine Dame näherte, mit schönsten Kleidern angetan, die sie bat, ihr zu trinken zu geben. Es war die gleiche Fee, die zuvor ihrer Schwester erschienen war, diesmal aber trug sie die Kleider und das Gebaren einer Prinzessin, um zu prüfen, wie weit die Unehrlichkeit des jungen Mädchens gehen könnte. 

«Bin ich etwa hierhergekommen», sagte das stolze Mädchen rüpelhaft, «um Euch zu trinken zu geben! Selbstverständlich habe ich mit voller Absicht ein Silbergefäß hierher gebracht, um Madame ein Getränk reichen zu können! Folgendes ist meine Meinung: Schöpft direkt (aus dem Brunnen), wenn Ihr trinken wollt.»

«Ihr seid nicht sehr anständig», entgegnete die Fee, ohne in Wut6 zu geraten. «Eh bien! Da Ihr so wenig gefällig seid, mache ich Euch zum Geschenk, dass bei jedem Wort, das Ihr sprecht, eine Schlange oder eine Kröte Euren Mund verlassen wird.»

Sobald die Mutter ihre Tochter erblickte, rief sie zu ihr: 

«Hé bien, meine Tochter!»

«Hé bien, meine Mutter!» antwortete das rüpelhafte Mädchen und spie zwei Schlangen und zwei Kröten aus.

«Oh Himmel», schrie ihre Mutter auf, «was sehe ich da? Es ist ihre Schwester, die Ursache dafür ist, sie wird es mir bezahlen.» Und alsbald lief sie los, um ihre jüngere Tochter dafür zu schlagen. 

Das arme Mädchen entfloh und ging, sich in den nächsten Wald zu retten. Der Königssohn, der von der Jagd zurückkehrte, traf sie dort an, und fragte sie, sie in ihrer Schönheit sehend, was sie ganz allein dort mache, und warum sie weine.

«Leider, Monsieur, ist es meine Mutter, die mich von zu Hause fortgeschickt hat.»

Der Königssohn, der ihrem Mund hatte fünf oder sechs Perlen und ebenso viele Diamanten entweichen sehen, fragte sie, woher diese Gabe stamme. Sie erzählte ihm das ganze Abenteuer. Der Königssohn entbrannte in Liebe zu ihr, und sich sagend, dass ein solches Geschenk mehr wert war als alles, was man als Mitgift einer anderen geben könnte, nahm sie mit zum Palast des Königs, seines Vaters, wo er sie zur Frau nahm.

Ihre Schwester hingegen wurde so unleidlich in ihrem Hass, dass selbst ihre eigene Mutter sie hinauswarf. Und da die Unglückliche auf ihren Wegen niemanden fand, der sie aufnehmen wollte, legte sie sich in einer Ecke des Waldes nieder und starb.

 

Moralité: 

Pistolen7 und der Diamant 
Wirken auf den Geist stets elegant. 
Doch viel mehr sind's die sanften Worte, leis',
haben Kraft und auch den größeren Preis. 

 

Zweite Moralité:

Aufrichtigkeit macht manchmal Müh,
Und verlangt auch stets Gefälligkeit,
Belohnung erfährt sie jedoch spät oder früh,
Aufwand bedenkt man nicht mehr mit der Zeit.


 

 


1 Aufrichtigkeit war eine der meist geschätzten Tugenden am Hof des Königs. Im Gegensatz dazu war die Lüge eines der schlimmsten Verbrechen. So sehr, dass man es vermied, eine Dame der Lüge zu überführen, denn dies hätte ihrem Ruf ernstlich schaden können. Die Aufrichtigkeit hingegen galt als einer der wertvollsten Charakterzüge.

 

2 Essen in der Küche: Was für uns heute normal ist, war im 17. Jahrhundert lediglich für die Bediensteten üblich. Die Familie aß im Speisezimmer. Dies galt im Regelfalle für alle Familienangehörigen. Die Verbannung der jüngeren Tochter in die Küche kommt damit einem Status als Bedienstete gleich.

3 Eines der vielen Vorurteile, die hinsichtlich verschiedener Manieren im 17. Jahrhundert entstanden sind, ist die Idee, man habe sich nicht gewaschen. Insbesondere die Märchen zeigen, dass es nicht so ist. Der Krug wird ausgespült, eine Tätigkeit, die wichtig genug ist, um sie hier zu erwähnen. Louis XIV war Hygiene auch im Schloss wichtig genug, um über fließendes Wasser und entsprechende Projekte nachzudenken. Von seiner Königin Louise ist ihre Freude am Baden selbst in der neueren Literatur überliefert.

4 Der Satz steht auch im Original in Klammern.

5 Fanchon ist eigentlich ein Kosewort des Namens Françoise. Fanchon ist hier keine besonders freundliche Person, was umso interessanter ist, zieht man die Tatsache hinzu, dass die Damen Maintenon und Montespan beide Françoise mit Vor- (und Rufnamen) hießen. Louise de La Vallière, die eigentlich Marie Françoise Louise heißt, nutzte den Vornamen nicht. Für den Hof war diese Anspielung hier deutlich genug.

6 In Wut zu geraten ist in der barocken Gesellschaft ein ebenso mangelhafter Charakterzug wie Unaufrichtigkeit. Vom König selbst ist ein Zitat überliefert: Wäre ich jetzt nicht König, würde ich in Wut geraten. – Was zeigt, wie sehr Selbstbeherrschung zum Bild eines Ritters, den auch ein König verkörpert, gehört. In Wut zu geraten ist aber auch etwas, wofür die Montespan bekannt war.

7 Die Pistole war ursprünglich eine spanische Goldmünze, entspricht einer spanischen Dublone, und wurde gegen 1640 auch in Frankreich eingeführt. Sie hatte den Wert von 10 Livres. Zum Vergleich: Ein Lakai verdiente ungefähr 100 Livres im Jahr. 1 Livre entsprachen 20 Sous, 750 g Brot kosteten 3 Sous.

Riquet mit dem Schopf


L’amour est aveugle.

Liebe ist blind.
Platon


Es war einmal eine Königin, die von einem Sohn entbunden wurde, der so hässlich und so unschön von Gestalt war, dass man lange Zeit zweifelte, er könne überhaupt menschlich sein. Eine Fee, die sich bei seiner Geburt einfand, versicherte, er könne durchaus für liebenswert gehalten werden, denn es mangelte ihm nicht an großem Geist: Sie fügte zudem hinzu, dass er, ausgestattet mit der Gabe, die sie ihm verleihe, den gleichen Geist der Person schenken könne, die er am meisten liebe.

All dies tröstete die arme Königin ein wenig, die sehr betroffen darüber war, einen solch hässlichen Knirps zur Welt gebracht zu haben. Es ist wahr, dass dieses Kind, sobald es zu sprechen begann, tausend hübsche Dinge sagte. Der Knabe zeigte in all seinen Handlungen etwas - ich weiß nicht genau was - etwas so Geistreiches, dass man ganz bezaubert war. Ich vergaß zu erwähnen, dass er mit einem kleinen Schopf auf dem Kopf auf die Welt kam, so dass man ihn Riquet mit dem Schopf nannte, denn Riquet1 war der Name der Familie.

Nachdem sieben oder acht Jahre vergangen waren, gebar die Königin eines Nachbarlandes zwei Mädchen. Die erste von beiden war schöner als der Tag, und die Königin war darüber so erfreut, dass man befürchtete, ihre übergroße Freude könnte ihr zum Nachteil gereichen. Die gleiche Fee, die bei der Geburt des Riquet mit dem Schopf anwesend gewesen war, war auch hier zu Gast, und sie verkündete der Königin, dass ihre kleine Tochter über so wenig Geist verfügen werde, dass sie ebenso dumm wie schön wäre. Dieses bekümmerte die Königin sehr, aber sie hatte einige Augenblicke später einen wesentlich größeren Kummer, denn die zweite Tochter war von großer Hässlichkeit.

«Kümmert Euch nicht darum, Madame2», sprach die Fee zu ihr, «Eure Tochter wird anderweitig belohnt werden. Sie wird so viel Geist erhalten, dass man sich kaum noch darüber bewusst sein wird, dass es ihr eigentlich an Schönheit fehlt.»

«So wolle es Gott», antwortete die Königin, «aber gibt es kein Mittel, der älteren, die doch so schön ist, ein wenig Geist zu geben?»

«Ich kann in dieser Hinsicht nichts für sie tun, Madame», sagte die Fee, «aber was ihre Schönheit angeht, habe ich alle Möglichkeiten; und weil ich nichts tun kann, um Euch vollständig zufrieden zu stellen, werde ich ihr folgendes Geschenk geben: Sie wird die Person schön machen können, die sie liebt.»

In der Weise, wie die beiden Prinzessinnen älter wurden, wuchsen ihre Gaben mit ihnen, und man sprach überall nur von der Schönheit der älteren und dem Geist der jüngeren. Es ist ebenfalls wahr, dass ihre Nachteile mit ihrem Alter wuchsen. Die jüngere wurde quasi unter dem eigenen Auge unansehnlich, und die ältere wurde von Tag zu Tag dümmer. Entweder antwortete sie nicht, wenn man sie etwas fragte, oder sie antwortete mit einer dummen Bemerkung. Darüber hinaus wurde sie so ungeschickt, dass sie nicht das Porzellan auf dem Vorsprung eines Kamins berühren konnte, ohne nicht mindestens ein Stück zu zerbrechen, und sie konnte nicht aus einem Glas3 Wasser trinken, ohne nicht mindestens die Hälfte über ihre Kleider zu vergießen. 

Obwohl doch die Schönheit ein großer Vorteil für eine junge Person ist, nahm dennoch die jüngere fast immer ihre ältere Schwester auf alle ihre Unternehmungen mit. Zuerst eilte man natürlich an die Seite der schönsten, um sie anzusehen und sie anzubeten, doch dann wandte man sich derjenigen zu, die über den größeren Geist verfügte, um zu hören, wie sie tausend angenehme Dinge sagte, und man war erstaunt, dass in weniger als einer Viertelstunde die ältere fast allein war und sich alle Welt um die jüngere scharte. Die ältere, obwohl dumm, bemerkte dies gut, und sie hätte ohne Bedauern all ihre Schönheit hingegeben, wenn sie nur die Hälfte des Geistes ihrer jüngeren Schwester gehabt hätte. Die Königin, trotz aller Weisheit, die sie besaß, konnte sich nicht zurückhalten, ihr mehrfach ihre Dummheit vorzuwerfen. Dieses schmerzte die arme Prinzessin so, dass sie am liebsten gestorben wäre.

Eines Tages, als sie sich in einen Wald zurückgezogen hatte, um ihr Unglück zu beklagen, merkte sie, wie sich ihr ein Mann näherte, hässlich und von unschöner Gestalt, aber in schöne Kleider gehüllt. Dies war der junge Prinz Riquet mit dem Schopf, der Portraits der Prinzessin, die in alle Welt hinausgingen, gesehen und sich in sie verliebt hatte. Deshalb hatte er das Königreich seines Vaters verlassen, um das Vergnügen zu haben, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Entzückt darüber, sie in dieser Einsamkeit vorzufinden, näherte er sich ihr mit allem Respekt und aller Höflichkeit, die man sich nur vorstellen kann. Nachdem er ihr alle erdenklichen Komplimente gemacht hatte, bemerkte er jedoch, dass sie traurig war, und er sprach zu ihr:

«Ich kann kaum verstehen, Madame, wie eine Person von Eurer Schönheit in dieser Weise traurig sein kann. Denn, obwohl ich mir damit schmeicheln kann, eine große Anzahl schöner Leute gesehen zu haben, kann ich sagen, dass mir noch niemand begegnet ist, dessen Schönheit nur annähernd der Euren gleicht.»

«Das ist schön gesagt», antwortete die Prinzessin, blieb aber traurig.

«Die Schönheit», nahm der Prinz das Gespräch wieder auf, «ist ein so großer Vorteil, dass sie alle anderen Vorteile überwiegt, und wenn man sie besitzt, sehe ich nichts, was man haben könnte, was einen sehr kümmere.» 

«Ich wäre lieber», entgegnete die Prinzessin, «ebenso hässlich wie Ihr, dafür aber geistreich, als schön, wie ich es jetzt bin, aber ebenso dumm.»

«Nichts, Madame, verrät mehr den Besitz von Geist, als zu glauben, keinen zu haben. So liegt es doch in der Natur des Geistes, daran zu zweifeln, obwohl man doch reichlich davon hat, und anzunehmen, man besäße ihn reichlich, obwohl man doch keinen hat.»

«Darüber weiß ich nichts», sagte die Prinzessin, «aber ich weiß, dass ich strohdumm bin, und daher stammt der Kummer, der mich umbringt.»

«Wenn es nur das ist, Madame, was Euch bekümmert, dann kann ich Eurem Schmerz ein Ende bereiten.»

«Und wie wollt Ihr dies tun?», fragte die Prinzessin.

«Ich habe die Macht, Madame», sagte Riquet mit dem Schopf, «der Person, die ich am meisten liebe, so viel Geist zu verleihen, wie man nur haben kann. Und weil Ihr, Madame, diese Person seid, so liegt es nur an Euch, ob Ihr so viel Geist besitzen wollt, wie es möglich ist, unter der Bedingung, dass Ihr einwilligen wollt, mich zum Mann zu nehmen.»

Die Prinzessin verharrte sehr verblüfft, und sie antwortete nichts.

«Ich sehe», nahm der Prinz Riquet die Rede wieder auf, «dass dieser Vorschlag Euch Kummer bereitet, und ich erstaune mich darüber nicht, aber ich gebe Euch ein ganzes Jahr, um Eure Entscheidung zu treffen.»

Die Prinzessin besaß so wenig Geist und zur gleichen Zeit eine solche Lust, einen solchen zu besitzen, dass sie glaubte, dass Ende dieses Jahres würde nie kommen, so dass sie den Vorschlag des Prinzen akzeptierte. Kaum hatte sie Riquet mit dem Schopf versprochen, dass sie ihn am gleichen Tag in einem Jahr zum Gatten nehmen würde, dass sie begann, sich wie eine andere Person zu fühlen, und nicht mehr wie die, die sie zuvor gewesen war: Plötzlich fand sie es einfach, alles zu sagen, was ihr gefiel, und sie sagte es in natürlicher, angenehmer und gefälliger Weise. In diesem Augenblick begann sie eine galante und anregende Unterhaltung mit Riquet mit dem Schopf, und sie glänzte darin in der Art, dass der Prinz befürchtete, ihr so viel Geist gegeben zu haben, dass für ihn selbst nicht mehr genug übrig war.

Als sie zum Palast zurückgekehrt war, wusste der ganze Hof nicht, was er von dieser außergewöhnlichen und plötzlichen Veränderung zu halten hatte, denn in der gleichen Menge, wie man sie vorher Dummheiten hatte sagen hören, hörte man sie nun wohlüberlegte und geistreiche Dinge sagen. Der ganze Hof brach in eine Freude aus, die man sich nicht vorstellen konnte, lediglich die Jüngere war nicht sehr angetan, denn jetzt, wo sie nicht mehr den Vorteil des Geistes gegenüber ihrer Schwester hatte, erschien sie in ihrer Gegenwart wie ein hässliches Affenweibchen.

Selbst der König folgte der Meinung der klugen Prinzessin und hin und wieder geschah es sogar, dass er seinen Rat in ihren Gemächern abhielt4. Kaum war das Gerücht dieser Veränderung verbreitet, kamen alle Prinzen der Nachbarländer, um ihr den Hof zu machen, und fast alle baten um ihre Hand. Aber sie fand keinen unter ihnen, der genügend Geist gehabt hätte, und sie hörte sie alle an, ohne einen von ihnen vorzuziehen.

Unterdessen erschien am Hof ein Prinz, der war so mächtig, so reich, so voller Geist und so wohl gestaltet, dass sie sich nicht daran hindern konnte, sich von ihm angezogen5 zu fühlen. Ihr Vater, der dessen gewahr wurde, sagte ihr, dass er ihr die Entscheidung über die Wahl ihres Ehemannes überlassen würde, und sie sich nur zu erklären bräuchte.

Nun ist es leider so: Je mehr Geist man hat, desto mehr Mühe hat man, sich in einer solchen Angelegenheit zu einem Entschluss durchzuringen, und sie erbat von ihrem Vater, nachdem sie ihm gedankt hatte, mehr Zeit, um sich zu bedenken.

Durch Zufall ging die Prinzessin genau in dem Wald spazieren, in dem sie den Prinzen Riquet mit dem Schopf getroffen hatte. Sie ging dorthin, um etwas leichter über das nachdenken zu können, was sie nun tun sollte. Als sie nun dort schritt, tief versunken in ihre Gedanken, drangen einige dumpfe Geräusche an ihr Ohr, die von der Erde heraufdrangen, als würden mehrere Personen dort unten kommen und gehen und viele Dinge6 tun.