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Lila und Elena sind jung, und sie sind verzweifelt. Lila hat am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit den verhassten Camorristi. Arm geboren und durch die Ehe zu Geld und Ansehen gekommen, brechen für Lila leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich in einen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt. Halt finden die beiden Frauen einzig in ihrer Freundschaft, ihre Liebe füreinander wirkt grenzenlos. Wären sie nur beide nicht immer wieder von dem brennenden Verlangen getrieben, die andere auszustechen …

 
 
Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga besteht aus Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes. Diese Bücher erscheinen in 50 Ländern und haben sich millionenfach verkauft.

 
Karin Krieger übersetzt vorwiegend aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.

 
Die folgenden Bände der Neapolitanischen Saga erscheinen im Frühjahr und Herbst 2017:

Band 3: Die Geschichte der getrennten Wege

Band 4: Die Geschichte des verlorenen Kindes

 
#FerranteFever

www.elenaferrante.de

 

 

Elena Ferrante

Die Geschichte eines
neuen Namens

Jugendjahre

Band 2
der Neapolitanischen Saga

Roman

Aus dem Italienischen
von Karin Krieger

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Storia del nuovo cognome bei Edizioni e/o, Rom.

 

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds und der Stiftung Rosenbaum für die freundliche Unterstützung ihrer Arbeit.

 

Die Personen und die Handlung des vorliegenden Werkes
sowie alle darin enthaltenen Namen und Dialoge sind erfunden
und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin.
Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen
und Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Auch die Erwähnung real existierender Institutionen unterliegt
der rein fiktionalen Gestaltung des Werkes.

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017
© 2012 by Edizioni e/o

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie
der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagillustration: © Emiliano Ponzi ‌/ ‌2agenten

Umschlaggestaltung: Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin

eISBN 978-3-518-75797-0

www.suhrkamp.de

Die handelnden Personen und was in Band 1 geschah

 

Familie Cerullo
(die Familie des Schuhmachers)

 

Fernando Cerullo, Schuster, Lilas Vater. Er erlaubte seiner Tochter nach der Grundschule keinen weiteren Schulbesuch.

Nunzia Cerullo, Lilas Mutter. Sie steht ihrer Tochter zwar nahe, hat aber nicht genügend Autorität, um sich für Lila gegen ihren Mann durchzusetzen.

Ihre Kinder:

Raffaella Cerullo, genannt Lina oder Lila, ist im August 1944 geboren. Mit sechsundsechzig Jahren verschwindet sie spurlos aus Neapel. Sie ist eine hervorragende Schülerin und schreibt im Alter von zehn Jahren die Erzählung Die blaue Fee. Nach Abschluss der Grundschule erlernt sie das Schuhmacherhandwerk.

Rino Cerullo, Lilas großer Bruder, ebenfalls Schuhmacher. Auf Lilas Anregung und mit dem Geld von Stefano Carracci gründete er gemeinsam mit seinem Vater Fernando die Schuhmacherei Cerullo. Er ist mit Stefanos Schwester Pinuccia Carracci verlobt. Lilas erstes Kind wird seinen Namen, Rino, tragen.

Weitere Kinder

 

 

Familie Greco
(die Familie des Pförtners)

 

Elena Greco, genannt Lenuccia oder Lenù, ist im August 1944 geboren und ist die Autorin der langen Geschichte, die wir hier lesen. Elena begann sie zu schreiben, als sie erfuhr, dass Lina Cerullo, ihre Freundin seit Kindertagen, die nur von ihr Lila genannt wird, verschwunden ist. Nach der Grundschule geht Elena, mit wachsendem Erfolg, weiter zur Schule. Seit ihrer Kindheit ist sie heimlich in Nino Sarratore verliebt.

Peppe, Gianni und Elisa, Elenas jüngere Geschwister

Der Vater ist Pförtner in der Stadtverwaltung.

Die Mutter ist Hausfrau. Ihr Hinken ist für Elena sehr belastend.

 

 

Familie Carracci
(die Familie von Don Achille)

 

Don Achille Carracci, der Unhold aus den Märchen, Schwarzhändler und Halsabschneider. Er wurde ermordet.

Maria Carracci, seine Frau. Sie arbeitet in der familieneigenen Salumeria.

Ihre Kinder:

Stefano Carracci, Lilas Ehemann. Er verwaltet das von seinem Vater angehäufte Vermögen und betreibt zusammen mit seinen Geschwistern und seiner Mutter die rentable Salumeria.

Pinuccia Carracci. Auch Pina genannt. Sie arbeitet in der Salumeria und ist die Verlobte von Lilas Bruder Rino.

Alfonso Carracci, Elenas Banknachbar auf dem Gymnasium. Er ist mit Marisa Sarratore zusammen.

 

 

Familie Peluso
(die Familie des Tischlers)

 

Alfredo Peluso, Tischler. Kommunist. Des Mordes an Don Achille angeklagt und verurteilt. Er sitzt im Gefängnis.

Giuseppina Peluso, seine Frau. Arbeiterin in der Tabakfabrik

Ihre Kinder:

Pasquale Peluso, der älteste Sohn. Maurer, militanter Kommunist. Er ist der erste Junge, der Lilas Schönheit erkannte und ihr eine Liebeserklärung machte. Er verabscheut die Solaras und ist mit Ada Cappuccio verlobt.

Carmela Peluso, nennt sich auch Carmen. Verkäuferin in einem Kurzwarengeschäft. Sie wurde durch Lilas Vermittlung in Stefanos neuer Salumeria angestellt. Sie ist mit Enzo Scanno zusammen.

Weitere Kinder

 

 

Familie Cappuccio
(die Familie der verrückten Witwe)

 

Melina, Witwe, verwandt mit Nunzia Cerullo. Sie putzt die Treppen in den Wohnblocks des alten Rione und war die Geliebte von Donato Sarratore, Ninos Vater. Wegen dieser Liebschaft zogen die Sarratores aus dem Rione weg, und Melina verlor den Verstand.

Melinas Mann schleppte Kisten auf dem Obst- und Gemüsemarkt und starb unter ungeklärten Umständen.

Ihre Kinder:

Ada Cappuccio. Von klein auf musste sie ihrer Mutter beim Treppenputzen helfen. Mit Lilas Hilfe wird sie als Verkäuferin in der Salumeria im alten Rione angestellt. Sie ist mit Pasquale Peluso verlobt.

Antonio Cappuccio, Automechaniker. Er ist mit Elena liiert und extrem eifersüchtig auf Nino Sarratore.

Weitere Kinder

 

 

Familie Sarratore
(die Familie des dichtenden Eisenbahners)

 

Donato Sarratore, Zugschaffner, Dichter, Journalist. Ein Frauenheld, der ein Verhältnis mit Melina Cappuccio hatte. Als Elena auf Ischia Ferien macht und im selben Haus wie die Sarratores zu Gast ist, muss sie die Insel überstürzt verlassen, um sich Donatos sexuellen Belästigungen zu entziehen.

Lidia Sarratore, seine Frau

Ihre Kinder:

Nino Sarratore, der älteste Sohn, hasst seinen Vater. Er ist ein ausgezeichneter Schüler am Gymnasium.

Marisa Sarratore, absolvierte ohne nennenswerte Erfolge eine Ausbildung zur Sekretärin. Sie ist mit Alfonso Carracci zusammen.

Pino, Clelia und Ciro Sarratore

 

 

Familie Scanno
(die Familie des Gemüsehändlers)

 

Nicola Scanno, Gemüsehändler

Assunta Scanno, seine Frau

Ihre Kinder:

Enzo Scanno, ebenfalls Gemüsehändler. Lina hat ihn seit ihrer Kindheit sehr gern. Ihre Freundschaft begann, als Enzo während eines Schulwettbewerbs unerwartet brillante Fähigkeiten in Mathematik unter Beweis stellte. Enzo ist mit Carmen Peluso zusammen.

Weitere Kinder

 

 

Familie Solara
(die Familie des Besitzers der gleichnamigen
Bar-Pasticceria)

 

Silvio Solara, Padrone der Solara-Bar, Monarchist und Faschist. Als Camorra-Mitglied ist er in illegale Geschäfte im Rione verwickelt. Er stellte sich gegen die Gründung der Schuhmacherei Cerullo.

Manuela Solara, seine Frau, Wucherin. Ihr rotes Buch ist im Rione sehr gefürchtet.

Ihre Kinder:

Marcello und Michele Solara. Obwohl sie großspurig und rücksichtslos auftreten, sind sie der Schwarm aller Mädchen des Rione, Lila natürlich ausgenommen. Marcello verliebt sich in Lila, aber sie weist ihn ab. Michele ist etwas jünger als Marcello, doch kaltblütiger, intelligenter und brutaler. Er ist mit Gigliola Spagnuolo, der Tochter des Konditors, verlobt.

 

 

Familie Spagnuolo
(die Familie des Konditors)

 

Signor Spagnuolo, Konditor in der Solara-Bar

Rosa Spagnuolo, seine Frau

Ihre Kinder:

Gigliola Spagnuolo, verlobt mit Michele Solara

Weitere Kinder

 

 

Familie Airota

 

Professor Airota, Professor für griechische Literatur

Adele Airota, seine Frau

Ihre Kinder:

Mariarosa Airota, die älteste Tochter, Dozentin für Kunstgeschichte in Mailand

Pietro Airota, Student

 

 

Die Lehrer

 

Maestro Ferraro, Grundschullehrer und Bibliothekar. Er verlieh Lila und Elena in der Grundschule einen Preis für eifriges Lesen.

Maestra Oliviero, Grundschullehrerin. Sie erkannte Lilas und Elenas Fähigkeiten als Erste. Elena, der Lilas Erzählung Die blaue Fee sehr gefallen hatte, gab sie Maestra Oliviero zur Lektüre. Verärgert darüber, dass Lilas Eltern sich geweigert hatten, ihre Tochter auf die Mittelschule zu schicken, äußerte sich die Lehrerin nie zu der Erzählung und hörte sogar auf, sich um Lila zu kümmern. Sie konzentrierte sich nur noch auf Elenas Erfolge.

Professor Gerace, Gymnasiallehrer in der Unterstufe

Professoressa Galiani, Gymnasiallehrerin in der Oberstufe, hochgebildet, Kommunistin. Sie ist sofort von Elenas Intelligenz beeindruckt, leiht ihr Bücher und nimmt sie bei einem Streit gegen den Religionslehrer in Schutz.

 

 

Weitere Personen

 

Gino, der Sohn des Apothekers. Er war Elenas erster Freund.

Nella Incardo, Maestra Olivieros Cousine. Sie wohnt in Barano auf Ischia und beherbergte Elena während eines Ferienaufenthaltes.

Armando Galiani, Medizinstudent, Sohn von Professoressa Galiani

Nadia Galiani, Studentin, Tochter von Professoressa Galiani

Bruno Soccavo, ein Freund Nino Sarratores und Sohn eines reichen Industriellen aus San Giovanni a Teduccio

Franco Mari, Student

JUGENDJAHRE

 

1

Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könnte sie lesen. Ich nahm die Schachtel kommentarlos an mich, abgesehen von einer ironischen Bemerkung über die Unmengen von Schnur, mit der sie sie umwickelt hatte. Zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so. Die seltenen Male, die wir uns trafen, zeigte sie keinerlei Verlegenheit, war herzlich zu mir und verlor nicht ein feindseliges Wort.

Als sie mich bat, zu schwören, dass ich die Schachtel unter keinen Umständen öffnen würde, schwor ich es. Aber kaum saß ich im Zug, löste ich die Schnur, nahm die Hefte heraus und begann zu lesen. Das waren keine Tagebücher, obwohl detaillierte Schilderungen von Ereignissen aus Lilas Leben seit dem Abschluss der Grundschule darin enthalten waren. Sie waren eher das Zeugnis einer hartnäckigen Selbstdisziplin im Schreiben. Es gab Beschreibungen im Überfluss: vom Ast eines Baumes, von den Teichen, von einem Stein, von einem Laubblatt mit weißer Äderung, von Kochtöpfen, von den verschiedenen Teilen eines Espressokännchens, von einem Kohlenbecken, von Kohle und Holzkohle, es gab eine punktgenaue Zeichnung unseres Hofes und die Beschreibung unserer Straße – des Stradone – sowie des rostigen Eisenskeletts hinter den Teichen, unseres kleinen Parks und der Kirche, des Abholzens der Bäume hinter der Eisenbahn, der Neubauten, der Wohnung ihrer Eltern, des Werkzeugs, mit dem ihr Vater und ihr Bruder Schuhe reparierten, ihrer Handgriffe bei der Arbeit und vor allem von Farben, der Farben sämtlicher Dinge zu verschiedenen Tageszeiten. Doch es gab nicht nur beschreibende Passagen. Auch einzelne Wörter im Dialekt und in der Hochsprache tauchten auf, manchmal eingekreist, ohne Kommentar. Und Übersetzungsübungen auf Latein und Griechisch. Und ganze Abschnitte auf Englisch über die Läden unseres Viertels – des Rione –, über die Waren, über den Karren voller Obst und Gemüse, mit dem Enzo Scanno täglich von Straße zu Straße zog, wobei er den Esel am Halfter führte. Und unzählige Gedanken zu den Büchern, die sie gelesen hatte, zu den Filmen, die sie im Gemeindekino gesehen hatte. Und viele Ansichten, die sie in den Diskussionen mit Pasquale und in den Gesprächen mit mir vertreten hatte. Zwar gab es keine kontinuierliche Abfolge, doch egal, was Lila schriftlich einfing, alles bekam Format, so dass sich selbst auf den Seiten, die sie mit elf oder zwölf Jahren geschrieben hatte, nicht eine kindisch klingende Zeile fand.

Ihre Sätze waren äußerst präzise, die Zeichensetzung akkurat und alles in der Schönschrift gehalten, die Maestra Oliviero uns gelehrt hatte. Nur manchmal schien Lila die Ordnung, die sie sich auferlegt hatte, nicht einhalten zu können, als hätte eine Droge ihre Adern überschwemmt. Dann wurde alles atemlos, ihre Sätze überschlugen sich, die Zeichensetzung verschwand. Meistens brauchte sie nicht lange, um zu einem entspannten, klaren Ton zurückzufinden. Aber manchmal brach sie jäh ab und füllte den Rest der Seite mit kleinen Zeichnungen krummer Bäume, buckliger, rauchender Berge und verzerrter Gesichter. Sowohl ihre Ordnung als auch ihre Unordnung beeindruckten mich, und je mehr ich las, umso mehr fühlte ich mich getäuscht. Wie viel Übung steckte hinter dem Brief, den sie mir Jahre zuvor nach Ischia geschickt hatte: Deshalb war er so gut geschrieben! Ich stopfte alles in die Blechschachtel zurück und nahm mir vor, nicht weiter herumzuschnüffeln.

Doch schon bald wurde ich wieder schwach, von diesen Heften ging eine verführerische Kraft aus, die Lila schon als kleines Mädchen ausgestrahlt hatte. Mit unerbittlicher Präzision hatte sie den Rione, ihre Familie, die Solaras, Stefano, jeden und alles beschrieben. Ganz zu schweigen davon, wie freizügig sie mit mir umgegangen war, mit dem, was ich sagte, mit dem, was ich dachte, mit den Menschen, die ich liebte, und selbst mit meinem Äußeren. Lila hatte die für sie entscheidenden Momente festgehalten, ohne sich um irgendwen oder irgendwas zu scheren. Da war in aller Deutlichkeit das Vergnügen, das sie empfunden hatte, als sie zehn Jahre zuvor die kurze Erzählung Die blaue Fee geschrieben hatte. Da war ebenso deutlich ihr Kummer darüber, dass unsere Lehrerin, Maestra Oliviero, sich nicht dazu herabgelassen hatte, auch nur ein Wort über diese Erzählung zu verlieren, und sie sogar ignoriert hatte. Da waren der Schmerz und die Wut darüber, dass ich zur Mittelschule gegangen war, ohne mich um sie zu kümmern, und ich sie alleingelassen hatte. Da war die Begeisterung, mit der sie das Schuhmacherhandwerk erlernt hatte, und der Wunsch nach einer Entschädigung, der sie veranlasst hatte, neue Schuhe zu entwerfen. Da war das Vergnügen, gemeinsam mit ihrem Bruder Rino ein erstes Paar anzufertigen. Und da war ihr Leid, als ihr Vater Fernando erklärt hatte, diese Schuhe seien schlecht gearbeitet. Alles stand dort, auf diesen Seiten, besonders aber ihr Hass auf die Solara-Brüder, die grimmige Entschiedenheit, mit der sie die Liebe Marcellos, des Älteren der beiden, zurückgewiesen hatte, und der Moment, in dem sie beschlossen hatte, sich stattdessen mit dem sanftmütigen Stefano Carracci zu verloben, dem Lebensmittelhändler aus der Salumeria, der aus Liebe zu ihr das erste von ihr gefertigte Paar Schuhe gekauft und geschworen hatte, es für immer in Ehren zu halten. Ach, und diese herrliche Zeit, als sie sich mit fünfzehn Jahren wie eine junge Dame gefühlt hatte, reich und elegant, am Arm ihres Verlobten, der nur aus Liebe zu ihr Unsummen in die Werkstatt ihres Vaters und ihres Bruders gesteckt hatte, in die Schuhmacherei Cerullo. Und wie zufrieden sie gewesen war: die von ihr ersonnenen Schuhe zum größten Teil fertig, eine Wohnung im neuen Viertel, ihre Hochzeit mit sechzehn Jahren. Und was für ein prunkvolles Fest es gegeben hatte, wie glücklich sie gewesen war. Dann war Marcello Solara zusammen mit seinem Bruder Michele in diese Feier geplatzt und hatte ebenjene Schuhe an den Füßen, von denen Lilas Ehemann behauptet hatte, sie würden ihm viel bedeuten. Ihr Ehemann. Was für einen Menschen hatte sie geheiratet? Würde er sich nach der Schaffung vollendeter Tatsachen die Maske herunterreißen und sein entsetzlich wahres Gesicht zeigen? Fragen und die ungeschönte Realität unseres Elends. Ich beschäftigte mich viel mit diesen Seiten, tagelang, wochenlang. Ich studierte sie und lernte am Ende die Stellen auswendig, die mir gefielen, die mich begeisterten, die mich faszinierten, die mich beschämten. Hinter ihrer Natürlichkeit steckte garantiert ein Trick, aber ich fand nicht heraus, welcher.

Schließlich ging ich eines Abends im November wütend aus dem Haus und nahm die Blechschachtel mit. Ich hielt es nicht mehr aus, Lila an und in mir zu spüren, auch jetzt noch, da ich großes Ansehen genoss, auch jetzt noch, da ich ein Leben außerhalb von Neapel hatte. Auf dem Ponte Solferino blieb ich stehen und betrachtete die vom eiskalten Dunst gefilterten Lichter. Ich stellte die Schachtel auf die Brüstung und schob sie langsam, Stück für Stück, von mir weg, bis sie in den Fluss fiel, als wäre sie Lila persönlich, die mit ihren Gedanken und mit ihren Worten hinunterstürzte; mit ihrer Bosheit, mit der sie jedem jeden Schlag heimzahlte; mit ihrer Art, sich meiner zu bemächtigen, wie sie es mit allen Menschen, Dingen, Ereignissen und Erkenntnissen tat; mit allem, was ihr begegnete: Bücher und Schuhe, Zärtlichkeit und Gewalt, Heirat und Hochzeitsnacht und ihre Rückkehr in unseren Rione in der neuen Rolle der Signora Raffaella Carracci.

2

Ich konnte nicht glauben, dass der so freundliche, so verliebte Stefano wirklich Marcello Solara diese Erinnerung an die kindliche Lila geschenkt hatte, dieses Zeugnis ihrer Mühe, die sie sich gemacht hatte, als sie die Schuhe entwarf.

Ich vergaß Alfonso und Marisa, die sich mit glänzenden Augen an unserem Tisch unterhielten. Ich achtete nicht mehr auf das betrunkene Gelächter meiner Mutter. Die Musik und die Stimme des Sängers verblassten, die tanzenden Paare und auch Antonio hinter der Glastür, draußen auf der Terrasse, der von Eifersucht zerfressen auf die violette Stadt und das Meer starrte. Sogar das Bild Ninos verblasste, der den Festsaal soeben verlassen hatte wie ein Erzengel ohne Verkündigung. Ich sah nur noch Lila, die aufgeregt auf Stefano einredete. Sie kreidebleich im Hochzeitskleid, er ohne ein Lächeln, auf seinem erhitzten Gesicht ein weißer Fleck des Unbehagens, der sich wie eine Karnevalsmaske von der Stirn bis zu den Augen zog. Was ging da vor sich, was würde geschehen? Meine Freundin zerrte mit beiden Händen am Arm ihres Mannes. Sie wandte viel Kraft auf, und ich, die ich sie genau kannte, spürte, dass sie ihm den Arm abgerissen hätte, wenn sie es gekonnt hätte, dass sie ihn hoch über ihrem Kopf geschwungen hätte, während sie mit Blutstropfen auf der Schleppe den Saal durchquert hätte und ihn wie eine Keule oder wie einen Eselskinnbacken gebraucht hätte, um Marcello mit einem wohlgezielten Schlag das Gesicht zu zertrümmern. Oh ja, das hätte sie getan, und bei diesem Gedanken hämmerte mein Herz wie wild, und meine Kehle trocknete aus. Dann hätte sie den zwei Männern die Augen ausgekratzt, hätte ihnen das Fleisch von den Knochen ihres Gesichts gefetzt, hätte sie in Stücke zerrissen. Ja, ich spürte, dass ich mir das wünschte, ich wollte, dass das geschah. Schluss mit der Liebe und diesem unerträglichen Fest, nichts da mit Umarmungen in einem Bett in Amalfi! Unverzüglich alles im Rione zerschlagen, Menschen und Dinge, alles niedermetzeln, weglaufen, Lila und ich, weit fort, und mit fröhlicher Verschwendung gemeinsam alle Stufen der Verworfenheit nach unten steigen, wir beide allein, in fremden Städten. Das schien mir das richtige Ende für diesen Tag zu sein. Wenn nichts uns retten konnte, kein Geld, kein männlicher Körper und nicht einmal die Schule, dann konnte man auch gleich alles zunichtemachen. In mir wuchs ihre Wut, eine Kraft, die meine und auch nicht meine war und die mich mit dem Vergnügen erfüllte, mich zu verlieren. Ich wünschte mir, dass diese Kraft ausuferte. Doch ich merkte auch, dass sie mich erschreckte. Erst im Nachhinein habe ich begriffen, dass ich nur deshalb still leiden kann, weil ich zu heftigen Reaktionen nicht fähig bin, ich fürchte sie, ziehe es vor, mich nicht zu rühren und meinen Groll in mich hineinzufressen. Nicht so Lila. Als sie ihren Platz verließ, stand sie so entschieden auf, dass der Tisch mitsamt dem Besteck auf den schmutzigen Tellern wackelte und ein Glas umkippte. Während Stefano sich instinktiv beeilte, die Weinzunge aufzuhalten, die sich auf Signora Solaras Kleid zubewegte, fegte Lila durch eine Nebentür hinaus, wobei sie jedes Mal ihr Kleid wegriss, wenn es sich irgendwo verfing.

Ich erwog, ihr nachzulaufen, sie fest bei der Hand zu nehmen und ihr zuzuflüstern: ›Bloß weg, weg hier!‹ Doch ich rührte mich nicht. Dafür aber Stefano, der sich nach einem Augenblick der Unschlüssigkeit an den tanzenden Paaren vorbeischlängelte und Lila einholte.

Ich schaute in die Runde. Alle hatten mitbekommen, dass die Braut sich geärgert hatte. Doch Marcello unterhielt sich weiter komplizenhaft mit Rino, als wäre es das Normalste der Welt, dass er diese Schuhe trug. Auch die immer schlüpfriger werdenden Trinksprüche des Metallhändlers ertönten weiter. Und wer sich am unteren Ende in der Hierarchie der Tische und der Gäste wähnte, machte weiterhin krampfhaft gute Miene zu bösem Spiel. Kurz, kein Mensch außer mir schien bemerkt zu haben, dass die soeben geschlossene Ehe – die mit vielen Kindern und unzähligen Enkeln, mit Freuden und Schmerzen, mit Silberhochzeit und goldener Hochzeit wahrscheinlich bis ans Lebensende des Brautpaars dauern würde – für Lila bereits aus und vorbei war, egal welche Versuche ihr Mann auch unternehmen würde, um sich zu entschuldigen.

3

Die Ereignisse enttäuschten mich sofort. Ich saß neben Alfonso und Marisa, ohne auf ihr Gespräch zu achten. Ich wartete auf Zeichen des Aufruhrs, aber nichts geschah. Sich in Lilas Kopf hineinzuversetzen, war wie üblich schwierig. Ich hörte sie nicht schreien, hörte sie nicht drohen. Stefano tauchte eine halbe Stunde später sehr freundlich wieder auf. Er hatte sich umgezogen, der weiße Fleck an Stirn und Augen war verschwunden. Er schlenderte zwischen Verwandten und Freunden umher, während er auf seine Frau wartete, und als sie in den Saal zurückkehrte, nicht mehr im Brautkleid, sondern in einem pastellblauen Reisekostüm mit gleißend hellen Knöpfen und einem blauen Hut, ging er rasch zu ihr. Lila nahm mit einem Silberlöffel die Hochzeitsmandeln aus einem Kristallgefäß und reichte sie den Kindern, dann ging sie von Tisch zu Tisch und verteilte zunächst an ihre und dann an Stefanos Verwandte die Geschenke für die Gäste. Sie ignorierte die ganze Familie Solara und sogar ihren Bruder Rino, der sie mit einem besorgten Lächeln fragte: »Kannst du mich denn gar nicht mehr leiden?« Sie antwortete ihm nicht und überreichte nur Pinuccia ein Geschenkpäckchen. Ihr Blick war geistesabwesend, und ihre Wangenknochen stachen stärker als gewöhnlich hervor. Als ich an der Reihe war, gab sie mir zerstreut und ohne ein verschwörerisches Lächeln ein in weißen Tüll gehülltes Keramikkörbchen mit Hochzeitsmandeln.

Inzwischen regten sich die Solaras über Lilas Unhöflichkeit auf, doch Stefano glättete die Wogen, indem er sie mit netter, friedlicher Miene einen nach dem anderen umarmte und leise sagte:

»Sie ist müde, kein Grund zur Aufregung.«

Er küsste auch Rino auf die Wangen, aber sein Schwager verzog unzufrieden das Gesicht, ich hörte ihn sagen:

»Das ist keine Müdigkeit, Ste', die ist schon verdreht auf die Welt gekommen, es tut mir leid für dich.«

Stefano antwortete ernst:

»Verdrehte Dinge biegt man zurecht.«

Dann sah ich ihn seiner Frau nachlaufen, die schon an der Tür war, während die Kapelle betrunkene Töne von sich gab und die Leute sich für die letzten Abschiedsgrüße zusammendrängten.

Also kein Bruch, wir würden nicht zusammen in die Welt hinaus fliehen. Ich stellte mir das Brautpaar vor, wie es schön und elegant ins Cabrio stieg. In kurzer Zeit würden die zwei an der Küste von Amalfi sein, in einem Luxushotel, und jede noch so grausame Kränkung würde sich in ein leicht wegzuwischendes Schmollen verwandelt haben. Kein Sinneswandel. Lila hatte sich endgültig von mir gelöst, und der Abstand – so kam es mir plötzlich vor – war größer als gedacht. Sie hatte nicht einfach nur geheiratet, sie würde sich nicht darauf beschränken, jede Nacht mit einem Mann zu schlafen, um ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Da war noch etwas anderes, was ich bisher nicht erkannt hatte, was mir in jenem Augenblick aber sonnenklar wurde. Lila, die sich damit abgefunden hatte, dass auf der Grundlage ihrer kindlichen Werkeleien irgendein Geschäft zwischen ihrem Ehemann und Marcello besiegelt worden war, Lila hatte akzeptiert, Stefano über jeden und alles zu stellen. Wenn sie jetzt schon aufgegeben hatte, wenn sie diesen Affront jetzt schon verwunden hatte, musste ihre Bindung zu ihm wirklich stark sein. Sie liebte ihn, liebte ihn auf die Art der Mädchen in den Fotoromanen. Ihr Leben lang würde sie ihm alle ihre guten Eigenschaften opfern, und er würde dieses Opfer nicht einmal bemerken, würde ihren Reichtum an Gefühl, Intelligenz und Phantasie um sich haben, ohne zu wissen, was er damit anfangen sollte, er würde ihn vergeuden. ›Ich könnte niemanden so lieben‹, dachte ich. ›Nicht mal Nino. Ich kann nur über Büchern hocken.‹ Und für den Bruchteil einer Sekunde kam ich mir vor wie der verbeulte Fressnapf, den meine Schwester Elisa für ein Kätzchen hingestellt hatte, bis es sich irgendwann nicht mehr blicken ließ und der Napf leer und verstaubt auf dem Treppenabsatz zurückblieb. Da gestand ich mir beklommen ein, dass ich mich zu weit vorgewagt hatte. ›Ich muss wieder zurück‹, sagte ich mir, ›muss es so machen wie Carmela, Ada, Gigliola und auch Lila. Muss den Rione akzeptieren, meine Überheblichkeit ablegen, meine Anmaßung zügeln und aufhören, die Menschen, die mich lieben, zu beschämen.‹ Als Alfonso und Marisa losgestürzt waren, um noch rechtzeitig zu ihrer Verabredung mit Nino zu kommen, machte ich einen großen Bogen um meine Mutter und ging zu meinem Verehrer auf die Terrasse.

Ich war zu leicht angezogen, die Sonne war untergegangen, es wurde langsam kühl. Als Antonio mich sah, zündete er sich eine Zigarette an und tat weiter so, als würde er aufs Meer schauen.

»Komm, lass uns gehen«, sagte ich.

»Geh ruhig mit dem Sohn von Sarratore!«

»Ich will aber mit dir gehen.«

»Das ist doch gelogen.«

»Wieso?«

»Weil du mich hier sang- und klanglos stehenlassen würdest, wenn der was für dich übrighätte.«

Das stimmte, aber es ärgerte mich, dass er es so direkt sagte, so ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich zischte ihn an:

»Sollte dir nicht klar sein, dass ich hier bin, obwohl meine Mutter jeden Augenblick herkommen und mich deinetwegen ohrfeigen könnte, hieße das doch, dass du ausschließlich an dich denkst und ich dir vollkommen egal bin.«

Er hörte kaum Dialekt in meiner Stimme, registrierte den langen Satz, die Konjunktive, und verlor die Geduld. Er warf die Zigarette weg, packte mein Handgelenk mit einer immer weniger beherrschten Kraft und stieß mit erstickter Stimme hervor, er sei nur meinetwegen hier, nur meinetwegen, und ich sei ja wohl diejenige gewesen, die ihn gebeten habe, die ganze Zeit in meiner Nähe zu bleiben, in der Kirche und auf dem Fest, ich, jawohl, und, keuchte er, du hast mich schwören lassen, schwöre – hast du gesagt –, dass du mich keinen Augenblick allein lässt, also habe ich mir diesen Anzug schneidern lassen und stehe jetzt bei Signora Solara tief in der Kreide, und dir zuliebe, um zu tun, was du mir gesagt hast, bin ich nicht eine Minute zu meiner Mutter und zu meinen Geschwistern gegangen, und was ist der Dank?, zum Dank hast du mich behandelt wie den letzten Dreck, hast die ganze Zeit mit dem Sohn des Dichters palavert und mich vor meinen Freunden blamiert, wie einen Scheißidioten hast du mich aussehen lassen, weil ich für dich eine Null bin, weil du ja so gebildet bist und ich nicht, weil ich nicht kapiere, worüber du sprichst, und es stimmt ja auch, na und ob, ich kapier's wirklich nicht, aber verdammt noch mal, Lenù, sieh mich an, sieh mir in die Augen: Du glaubst, du kannst mich nach deiner Pfeife tanzen lassen, du glaubst, ich kann nicht sagen Jetzt reicht's, aber da irrst du dich, du weißt alles, aber du weißt nicht, dass ich, wenn du jetzt mit mir durch diese Tür gehst, wenn ich jetzt Ist gut zu dir sage und wir zusammen weggehen, ich dann aber merke, dass du dich in der Schule oder sonst wo mit diesem Pisser von Nino Sarratore triffst, dass ich dich dann umbringe, Lenù, ich bringe dich um, und darum überleg's dir, verlass mich lieber gleich, stieß er verzweifelt hervor, verlass mich, das ist besser für dich, und dabei starrte er mich mit großen, geröteten Augen an und formte die Worte mit weit aufgerissenem Mund, er schrie sie, ohne zu schreien, mit geweiteten, pechschwarzen Nasenlöchern und einem so gewaltigen Schmerz im Gesicht, dass ich dachte, vielleicht verletzt er sich innerlich, weil die durch seine Brust und seine Kehle gepressten, doch nicht in der Luft explodierten Sätze ihm wie scharfkantige Eisenstücke Lunge und Rachen zerschneiden.

Irgendwie brauchte ich diese Aggression. Die Umklammerung meines Handgelenks, die Angst, er könnte mich schlagen, sein schmerzerfüllter Redeschwall trösteten mich schließlich, wenigstens ihm schien viel an mir zu liegen.

»Du tust mir weh«, sagte ich leise.

Langsam lockerte er seinen Griff, starrte mich jedoch weiter mit aufgerissenem Mund an. Ihm Gewicht und Autorität verleihen, mich an ihn binden, die Haut an meinem Handgelenk verfärbte sich allmählich violett.

»Wie entscheidest du dich?«, fragte er.

»Ich möchte mit dir zusammen sein«, antwortete ich mürrisch.

Er schloss den Mund, Tränen traten ihm in die Augen, er schaute zum Meer, um sie unauffällig herunterzuschlucken.

Kurz danach standen wir auf der Straße. Wir warteten nicht auf Pasquale, Enzo, die Mädchen, verabschiedeten uns von niemandem. Das Wichtigste war, dass meine Mutter uns nicht sah, darum machten wir uns zu Fuß davon, inzwischen war es dunkel geworden. Eine Weile gingen wir nebeneinanderher, ohne uns zu berühren, dann legte Antonio mir zögernd einen Arm um die Schulter. Er wollte mir zu verstehen geben, dass er darauf wartete, dass ich ihm verzieh, als wäre er der Schuldige. Da er mich liebte, hatte er beschlossen, die Stunden, die ich vor seinen Augen verführerisch und verführt mit Nino verbracht hatte, als eine Zeit der Sinnestäuschung zu betrachten.

»Hab' ich dir einen blauen Fleck gemacht?«, fragte er und griff nach meinem Handgelenk.

Ich antwortete nicht. Seine breite Hand spannte sich um meine Schulter, ich machte eine unwillige Bewegung, was ihn sofort veranlasste, seinen Griff zu lockern. Er wartete, ich wartete. Als er erneut versuchte, mir auf diese Weise seine Kapitulation zu signalisieren, legte ich ihm meinen Arm um die Taille.

4

Wir küssten uns ständig, hinter einem Baum, in einem Hauseingang, auf dunklen Nebenstraßen. Dann nahmen wir einen Bus und noch einen und kamen zum Bahnhof. Wir gingen zu den Teichen und küssten uns weiter auf der einsamen Straße neben den Gleisen.

Ich glühte, obwohl mein Kleid dünn war und die Abendkälte mich zuweilen erschauern ließ. Von Zeit zu Zeit presste sich Antonio in der Dunkelheit an mich und umarmte mich so ungestüm, dass er mir wehtat. Seine Lippen brannten, sein heißer Mund entfachte meine Gedanken und meine Phantasie. Ich dachte: ›Vielleicht sind Lila und Stefano schon im Hotel. Vielleicht sitzen sie gerade beim Abendessen. Vielleicht haben sie sich für die Nacht zurechtgemacht. Ach, eng an einen Mann geschmiegt schlafen, nicht mehr frieren.‹ Antonios Zunge bewegte sich heftig in meinem Mund, und während er durch den Stoff meines Kleides meine Brüste knetete, streichelte ich mit meiner Hand in seiner Hosentasche seinen Schwanz.

Der schwarze Himmel war mit hellen Sternenschleiern gefleckt. Der Geruch nach Moos und fauliger Erde von den Teichen wich den süßlichen Düften des Frühlings. Das Gras war nass, das Wasser gab gelegentliche Gluckser von sich, wie von einer hineinfallenden Eichel, einem Stein, einem Frosch. Wir gingen einen Weg, den wir gut kannten, er führte zu einer Gruppe verdorrter Bäume mit dünnen Stämmen und traurig abgeknickten Ästen. Wenige Meter entfernt stand die alte Konservenfabrik, ein Bau mit eingestürztem Dach, ganz Eisenträger und Blechplatten. Ich spürte eine drängende Lust, etwas zog in meinem Innern wie ein stark gespanntes Samtband. Ich wollte eine drastische Befriedigung meines Verlangens, die diesen ganzen Tag kurz und klein schlagen konnte. Stärker als bei früheren Gelegenheiten spürte ich, wie es tief in meinem Bauch schmeichelte, streichelte und stachelte. Antonio sagte im Dialekt zärtliche Worte, sagte sie in meinen Mund, an meinem Hals, verlangend. Ich schwieg, bei unseren Treffen hatte ich stets geschwiegen, ich seufzte nur.

»Sag mir, dass du mich lieb hast«, flehte er.

»Ja.«

»Sag's mir!«

»Ja.«

Mehr sagte ich nicht. Ich umarmte ihn, presste mich mit all meiner Kraft an ihn. Ich wollte am ganzen Körper gestreichelt und geküsst werden, hatte das Bedürfnis, zermalmt und gebissen zu werden, wollte, dass mir die Luft wegblieb. Er schob mich ein wenig von sich und glitt mit seiner Hand in meinen BH, ohne seine Küsse zu unterbrechen. Doch das genügte mir nicht, an diesem Abend war das zu wenig. Unsere bisherigen Berührungen, die er mir vorsichtig aufgedrängt hatte und die ich mit der gleichen Vorsicht zugelassen hatte, erschienen mir nun alle dürftig, beschwerlich und zu schnell. Trotzdem konnte ich ihm nicht sagen, dass ich mehr wollte, mir fehlten die richtigen Worte. Bei unseren heimlichen Begegnungen folgten wir stets einem stummen Ritual, Schritt für Schritt. Er streichelte meine Brüste, schob meinen Rock hoch, berührte mich zwischen den Beinen, und wie um ihm ein Zeichen zu geben, presste ich mich gegen den Aufruhr aus zarter Haut, Knorpeln, Adern und Blut, der in seiner Hose zuckte. Doch diesmal zögerte ich damit, seinen Schwanz herauszuholen, ich wusste, dass er mich vergessen würde, sobald ich es tat, dass er aufhören würde, mich zu streicheln. Meine Brüste, meine Hüften, mein Hintern, meine Scham würden ihn nicht länger entzücken, er würde sich nur noch auf meine Hand konzentrieren, würde sie sogar rasch mit seiner umschließen, um mich zu ermuntern, sie im richtigen Rhythmus zu bewegen. Dann würde er sein Taschentuch nehmen und es für den Augenblick bereithalten, da ein leichtes Röcheln aus seinem Mund dringen würde und aus seinem Schwanz seine gefährliche Flüssigkeit. Dann würde er sich etwas benommen und vielleicht beschämt zurückziehen, und wir würden nach Hause gehen. Ein übliches Finale, das ich diesmal aber unbedingt ändern wollte. Mir war egal, ob ich schwanger wurde, ohne verheiratet zu sein, mir waren auch die Sünde egal und die göttlichen Wächter, die im Kosmos über uns saßen, der Heilige Geist oder sonst wer an seiner Stelle, und Antonio bemerkte es irritiert. Während er mich immer stürmischer küsste, versuchte er mehrmals, meine Hand nach unten zu ziehen, doch ich entwand mich und drückte meine Scham gegen seine Finger, stieß immer wieder mit langen Seufzern heftig dagegen. Da nahm er seine Hand weg, um sich die Hose aufzuknöpfen.

»Warte«, sagte ich.

Ich zog ihn zur Ruine der alten Konservenfabrik. Dort war es dunkler, abgeschiedener, doch voller Ratten, ich hörte ihr vorsichtiges Rascheln, ihr Huschen. Mein Herz schlug zum Zerspringen, ich hatte Angst vor diesem Ort, Angst vor mir, Angst vor meinem dringenden Wunsch, das Gefühl der Fremdheit, die ich wenige Stunden zuvor an mir entdeckt hatte, aus meinem Verhalten und meiner Stimme zu verbannen. Ich wollte wieder tief in den Rione eintauchen, wieder sein, wie ich gewesen war. Ich wollte die Schule sausen lassen, die randvollen Übungshefte. Wozu sich auch abmühen. Was ich außerhalb von Lilas Schatten werden konnte, zählte nichts. Was war ich denn im Vergleich zu ihr im Brautkleid, zu ihr im Cabrio, mit ihrem blauen Hut und dem pastellfarbenen Kostüm? Was war ich denn hier mit Antonio, versteckt zwischen rostigem Schrott und dem Rascheln der Ratten, mit meinem bis über die Hüften hochgeschobenen Rock, dem heruntergelassenen Höschen, erregt und ängstlich und schuldig, während sie sich nackt hingab, mit schmachtender Distanz auf Leinentüchern in einem Hotel mit Meerblick, und zuließ, dass Stefano sie schändete, tief in sie eindrang, ihr seinen Samen gab und sie rechtmäßig und ohne Angst schwängerte? Was war ich, während Antonio an seinen Hosen herumnestelte und mir sein wuchtiges, männliches Fleisch zwischen die Beine schob, so dass es meine nackte Scham berührte, und er meinen Hintern knetete, während er sich keuchend an mir rieb, vor und zurück. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich in diesem Augenblick nicht das war, was ich sein wollte. Es genügte mir nicht, dass er sich an mir rieb. Ich wollte, dass er in mich eindrang, wollte Lila nach ihrer Rückkehr sagen: »Ich bin auch keine Jungfrau mehr, was du tust, tue ich auch, du kannst mich nicht abhängen.« Daher schlang ich meine Arme um Antonios Hals und küsste ihn, stellte mich auf die Zehenspitzen und suchte sein Geschlecht mit meinem, suchte es wortlos, tastend. Er bemerkte es und half sich mit der Hand, ich spürte, wie er ein wenig in mich eindrang, und zuckte auf vor Neugier und Angst. Aber ich bemerkte auch sein Bemühen, aufzuhören und sich daran zu hindern, mit all der Brutalität zuzustoßen, die sich den ganzen Nachmittag über in ihm angestaut hatte und die er garantiert noch immer in sich trug. ›Er will verzichten‹, dachte ich und klammerte mich an ihn, um ihn zum Weitermachen zu bewegen. Doch Antonio schob mich mit einem langen Seufzer von sich und sagte im Dialekt:

»Nein, Lenù, das will ich mit dir tun, wie man es mit seiner Ehefrau tut, nicht so.«

Er packte meine Rechte, führte sie mit einer Art unterdrücktem Schluchzer zu seinem Schwanz, und resigniert befriedigte ich ihn mit der Hand.

Später, auf dem Rückweg von den Teichen, sagte er befangen, er respektiere mich und wolle mich nicht zu etwas verleiten, was ich anschließend bereuen würde. Nicht an diesem Ort, nicht auf diese schmutzige, achtlose Weise. Er sagte es, als wäre er derjenige, der zu kühn gewesen war, und vielleicht glaubte er das wirklich. Ich sprach den ganzen Weg lang kein Wort, erleichtert verabschiedete ich mich von ihm. Als ich bei mir zu Hause an die Tür klopfte, öffnete meine Mutter, und trotz der Versuche meiner Geschwister, sie zurückzuhalten, ohrfeigte sie mich, ohne Gezeter und ohne einen Vorwurf zu äußern. Meine Brille flog auf den Boden, und sofort schrie ich meine Mutter mit einer harten Freude und ohne eine Spur von Dialekt an:

»Siehst du, was du angerichtet hast? Du hast meine Brille kaputtgemacht, deinetwegen kann ich jetzt nicht mehr lernen, ich geh' nicht mehr zur Schule!«

Meine Mutter erstarrte, sogar die Hand, mit der sie mich geschlagen hatte, blieb, wie die Schneide einer Streitaxt, reglos in der Luft hängen. Elisa, meine kleine Schwester, hob die Brille auf und sagte leise:

»Hier, Lenù, sie ist nicht kaputtgegangen.«

5

Mich erfasste eine Erschöpfung, die nicht wieder vergehen wollte, sosehr ich auch versuchte, mich auszuruhen. Zum ersten Mal schwänzte ich aus eigenem Antrieb die Schule. Ich glaube, ich ging zwei Wochen lang nicht hin und erzählte nicht einmal Antonio, dass ich nicht mehr konnte, dass ich mit dem Lernen aufhören wollte. Ich verließ das Haus zur gewohnten Zeit und bummelte den ganzen Vormittag durch die Stadt. Damals lernte ich viel von Neapel kennen. Ich stöberte in den alten Büchern an den Ständen von Port'Alba, prägte mir unwillkürlich Titel und Autorennamen ein und schlenderte in Richtung Toledo und zum Meer weiter. Oder ich stieg über die Via Salvator Rosa den Vomero hinauf, kam zur Certosa di San Martino und ging über den Petraio wieder hinunter. Oder ich erkundete Doganella, gelangte zum Friedhof, spazierte durch die stillen Alleen, las die Namen der Toten. Manchmal bedrängten mich junge Nichtstuer, alte Trottel und sogar seriöse Herren mittleren Alters mit unsittlichen Angeboten. Dann beschleunigte ich mit gesenktem Blick meinen Schritt und lief weg, da ich die Gefahr spürte, doch ich hörte nicht auf zu bummeln. Je mehr ich schwänzte, umso mehr lockerte sich an diesen langen Vormittagen der Herumtreiberei das Netz der schulischen Pflichten, das mich seit meinem siebten Lebensjahr eingeschnürt hatte. Wenn es Zeit war, kehrte ich nach Hause zurück, und kein Mensch argwöhnte, dass ich, ausgerechnet ich, nicht in der Schule gewesen war. Die Nachmittage verbrachte ich mit der Lektüre von Romanen, dann lief ich zu den Teichen, zu Antonio, der hocherfreut über meine freie Zeit war. Er hätte mich gern gefragt, ob ich mich mit dem Sohn von Sarratore getroffen hatte. Ich las diese Frage in seinen Augen, doch er traute sich nicht, sie zu stellen, befürchtete einen Streit, befürchtete, ich könnte mich aufregen und ihm die wenigen Minuten des Vergnügens verweigern. Er umarmte mich, um mich willfährig an seinem Körper zu spüren und jeden Zweifel zu vertreiben. In diesen Momenten hielt er es für ausgeschlossen, dass ich ihm die Schmach antun könnte, mich auch mit dem anderen zu treffen.

Er irrte sich. Eigentlich dachte ich, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ununterbrochen an Nino. Ich wollte ihn sehen, mit ihm sprechen, und fürchtete mich zugleich davor. Ich hatte Angst, er würde mich mit seiner Überlegenheit beschämen. Hatte Angst, er könnte auf die eine oder die andere Weise auf die Gründe dafür zurückkommen, weshalb der Artikel über meinen Streit mit dem Religionslehrer nicht gedruckt worden war. Hatte Angst, er könnte mir die grausamen Urteile der Redaktion mitteilen. Das hätte ich nicht ertragen. Wenn ich durch die Stadt streifte und auch abends im Bett, wenn der Schlaf nicht kam und ich meine Unzulänglichkeit besonders deutlich spürte, wollte ich lieber glauben, dass mein Text aus reinem Platzmangel im Papierkorb gelandet war. Herunterspielen, verblassen lassen. Doch das war schwer. Ich war Ninos Fähigkeiten nicht ebenbürtig gewesen, also konnte ich nicht an seiner Seite sein, mir kein Gehör verschaffen und ihm nicht von meinen Gedanken erzählen. Und was denn überhaupt für Gedanken, ich hatte keinen einzigen. Dann schon lieber mich selbst ausschließen, Schluss mit den Büchern, mit den Zensuren, mit den Belobigungen. Ich hoffte, nach und nach alles vergessen zu können: die Kenntnisse, die mir den Kopf verstopften, die lebenden und die toten Sprachen und selbst das Italienische, das mir mittlerweile sogar bei meinen Geschwistern wie von selbst über die Lippen kam. ›Es ist Lilas Schuld‹, dachte ich, ›dass ich diesen Weg eingeschlagen habe, ich muss auch sie vergessen. Lila wusste immer, was sie wollte, und hat es bekommen. Ich will nichts, und ich bestehe aus nichts.‹ Ich hoffte auf ein wunschloses Erwachen am Morgen. Wäre ich erst einmal leer – so mein Plan –, würden Antonios Zuneigung und meine Zuneigung zu ihm schon ausreichen.

Dann traf ich eines Tages auf dem Heimweg Stefanos Schwester Pinuccia. Von ihr erfuhr ich, dass Lila von ihrer Hochzeitsreise zurück war und ein großes Festessen anlässlich der Verlobung ihrer Schwägerin mit ihrem Bruder veranstaltet hatte.

»Ihr habt euch verlobt, du und Rino?«, fragte ich mit geheuchelter Überraschung.

»Ja«, sagte sie strahlend und zeigte mir den Ring, den er ihr geschenkt hatte.

Ich weiß noch, dass ich nur einen einzigen, missgünstigen Gedanken im Kopf hatte, während Pinuccia redete. ›Lila hat ein Fest in ihrer neuen Wohnung gefeiert und mich nicht eingeladen, na umso besser, das soll mir doch recht sein, ich habe mich lange genug mit ihr gemessen, ich will sie nie wiedersehen.‹ Erst als die Verlobung mit allen Details durchgekaut war, fragte ich vorsichtig nach meiner Freundin. Pinuccia verzog gehässig den Mund und antwortete mit einem dialektalen Ausdruck: Sie lernt dazu. Ich fragte nicht, was. Als ich wieder zu Hause war, schlief ich den ganzen Nachmittag.

Am folgenden Tag verließ ich wie üblich morgens um sieben das Haus, um zur Schule zu gehen, oder besser, um so zu tun, als ginge ich zur Schule. Ich hatte gerade den Stradone überquert, als ich sah, wie Lila aus dem Cabrio stieg und in unseren Hof einbog, ohne sich für einen Gruß zu Stefano umzudrehen, der am Steuer saß. Sie war sorgfältig zurechtgemacht und trug eine große Sonnenbrille, obwohl die Sonne nicht schien. Mich verblüffte ihr Kopftuch aus blauem Tüll, das sie so gebunden hatte, dass auch ihre Lippen verhüllt waren. Voller Groll dachte ich, dies sei mal wieder ein neuer Stil von ihr, nicht mehr à la Jacqueline Kennedy, sondern eher in der Art der geheimnisvollen Dame, die wir in unseren Kleinmädchenträumen hatten werden wollen. Ich setzte meinen Weg fort, ohne sie zu rufen.

Nach wenigen Schritten machte ich kehrt, allerdings ohne einen klaren Plan, nur weil ich nicht anders konnte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, meine Gefühle waren verworren. Vielleicht wollte ich sie bitten, mir ins Gesicht zu sagen, dass es mit unserer Freundschaft aus und vorbei war. Vielleicht wollte ich ihr entgegenschreien, dass ich beschlossen hatte, nicht mehr zur Schule zu gehen, sondern auch zu heiraten und bei Antonio zu wohnen, zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern, und wie die verrückte Melina Treppen zu putzen. Rasch überquerte ich den Hof und sah sie in dem Hauseingang verschwinden, in dem ihre Schwiegermutter wohnte. Ich ging die Treppe hinauf, dieselbe, die wir als kleine Mädchen gemeinsam hochgestiegen waren, um Don Achille zu bitten, uns unsere Puppen zurückzugeben. Ich rief Lila, sie drehte sich um.

»Du bist zurück«, sagte ich.

»Ja.«

»Und warum bist du nicht zu mir gekommen?«

»Ich wollte nicht, dass du mich siehst.«

»Die anderen dürfen dich sehen und ich nicht?«

»Die anderen sind mir egal, aber du nicht.«

Unsicher schaute ich sie an. Was durfte ich nicht sehen? Ich ging die Stufen hoch, die mich von ihr trennten, schob behutsam ihr Tuch beiseite und nahm ihr die Sonnenbrille ab.