Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Übersetzung aus dem australischen Englisch von Ursula C. Sturm
ISBN 978-3-492-97612-1
April 2017
© Kayte Nunn 2016
Titel der australischen Originalausgabe:
»Rose’s Vintage«, Nero/Black Inc., Australien 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München (Himmel, Weinberglandschaft, Hühner, Vögel, Fenster innen oben, Fenster innen unten); Klaus Scholz/mauritius images (Haus); Les. Ladbury und Alamy/mauritius images (Fensterläden oben und unten); Jill Battaglia/ArcangelImages (Tür)
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Für Andy, der zu Hause die Stellung hält.
Rückschnitt
Beseitigung von Totholz, um die Wuchsfreudigkeit des Rebstocks zu fördern.
1
Wow, das wäre der perfekte Schauplatz für eine Zombie-Apokalypse, dachte Rose schaudernd. Der Wind, der durch das Shingle Valley fegte, schien geradewegs aus der Antarktis zu kommen. Unter dem verwaschenen blassgrauen Himmel erstreckten sich kahle Weinstöcke in parallelen Reihen, so weit das Auge reichte. Die Hügelkette, die sich schemenhaft in einiger Entfernung abzeichnete – die Shingle Hills, wie sie vermutete –, sah aus, als hätte ein Riese dort ein überdimensionales, zusammengeknülltes Taschentuch liegen lassen.
Der Wind blies Rose das Haar ins Gesicht. Sie stampfte ein paarmal mit den Füßen auf und rieb sich die Arme. Ihre Finger waren ganz steif und taub, nachdem sie stundenlang das Lenkrad des kleinen gelben Wagens umklammert hatte. Als sie das Auto vorige Woche in Sydney erstanden hatte, war sie leider nicht auf die Idee gekommen zu überprüfen, ob die Heizung funktionierte. Sie hatte allerdings auch keine Klamotten dabei, die ansatzweise für die hier herrschenden winterlichen Temperaturverhältnisse geeignet waren. Ihre Zehen froren in den Birkenstocksandalen, und ihre Jeans und das langärmelige T-Shirt boten nur dürftigen Schutz gegen den schneidenden, eisigen Wind. Die bittere Kälte traf sie völlig unvorbereitet, und sie wusste auch, wer daran schuld war: ihre Lieblingsserie Home and Away, die ihr jahrelang suggeriert hatte, dass in Australien immerzu die Sonne schien und man ganzjährig in Strand- und Surfbekleidung herumlaufen konnte.
Von wegen. Die von Bäumen gesäumte Schotterstraße, die zum Weingut hinaufführte, war infolge der anhaltenden Regenfälle von tückischen, mit Schlamm gefüllten Schlaglöchern übersät, sodass die Reifen ihres Wagens mehrmals durchgedreht hatten. Abgesehen davon – und von einigen unsanften Kollisionen mit dem niedrigen Autodach – war die lange Anfahrt ohne Komplikationen verlaufen, jedenfalls nachdem Rose die verstopften Straßen von Sydney hinter sich gelassen und die Harbour Bridge in Richtung Norden überquert hatte. Auch das Weingut selbst war nicht allzu schwer zu finden gewesen – am Ortsausgang von Eumeralla, der kleinen Stadt in der Mitte des Tals, stand ein nicht zu übersehendes Holzschild, auf dem in verschnörkelter schwarzer Aufschrift Kalkari Wines zu lesen war.
Als Kinder hatten Rose und ihr Bruder versucht, im Garten hinter dem Haus ihrer Eltern einen Tunnel bis nach Australien zu graben. Henry verlor schon bald das Interesse, aber sie grub noch eine halbe Ewigkeit weiter – so lange, bis sie aufrecht in der Grube stehen konnte. Ihre Mutter machte einen ziemlichen Aufstand, als sie sie schließlich dort unten entdeckte. Sie schimpfte, Rose hätte gut und gern bei lebendigem Leib begraben werden können, und außerdem hätte sie die Wurzeln ihrer geliebten Hortensie beschädigt. Die Standpauke hatte mit der Anweisung geendet, sie solle das Erdloch auf der Stelle wieder zuschütten. Rose war damals ziemlich entrüstet gewesen – sie hatte hart gearbeitet für dieses Loch. Jetzt kam es ihr so vor, als hätte sie all die Jahre weitergegraben und wäre am anderen Ende herausgekommen.
Allerdings entsprach das, was sie hier sah, kein bisschen ihren Erwartungen.
Entschlossen schüttelte sie ihre Kindheitserinnerungen ab, atmete die eiskalte Luft tief ein und ging auf ein niedriges Gebäude aus Stein und Holz zu, hinter dem eine Art Lagerhalle mit Wellblechdach emporragte. Rose drückte die Klinke hinunter, doch die Tür schwang nicht wie erwartet auf. Geöffnet 10 bis 16 Uhr stand auf dem Schild neben dem Eingang. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz nach elf. Durch die staubigen Scheiben war neben einigen Weinfässern ein Tresen zu erkennen, der sich über die gesamte Stirnseite des Raums erstreckte, aber keine Menschenseele weit und breit.
Zu ihrer Rechten gab eine einzelne Elster einen Klagelaut von sich. Kein gutes Zeichen. Rose sah in allem ein Omen, und eine einzelne Elster verhieß Unglück – und ein Unglück kam bekanntlich selten allein.
Sie versuchte, den schwarz-weißen Vogel, der sie mit zur Seite geneigtem Kopf neugierig beäugte, zu ignorieren, überquerte den Gästeparkplatz und steuerte auf die Privateinfahrt zu. Als sie um die Ecke bog und sich unvermittelt dem Gutshaus gegenübersah, schnappte sie nach Luft. Selbst an einem so düsteren Tag wie heute bot die in die hügelige Landschaft eingebettete Sandsteinvilla einen beeindruckenden Anblick. Die großen Fenster und das dunkle Satteldach, auf dessen beiden Seiten je ein Schornstein thronte, taten ein Übriges. Zwei elegante Sandsteinsäulen flankierten die wuchtige Eingangstür, und auf der quadratischen Veranda standen mehrere mächtige Lavendelbüsche in angelaufenen Kupfertöpfen. Es war zweifellos eines der schönsten und imposantesten Gebäude, die sie je gesehen hatte. Irgendwie kam es ihr sogar vage vertraut vor, gerade so, als hätte sie bereits davon geträumt oder als wäre sie in einem früheren Leben schon einmal hier gewesen …
Nun sei nicht albern!
Trotzdem beschleunigte sich ihr Herzschlag, während sie auf die beschlagene Holztür zuging. Zaghaft klopfte sie an die Tür.
Nichts geschah.
Sie klopfte erneut, etwas energischer diesmal. Da immer noch niemand öffnete, ging sie schließlich um das Haus herum. Auf der hinteren Veranda erspähte sie allerlei Kinderspielzeug, darunter einen rostigen Roller, ein Dreirad und einen halb fertigen Lego-Turm. Am Fuß der Treppe standen mehrere Paar Gummistiefel ordentlich der Größe nach aufgereiht. Hinter dem Haus stieß Rose auf die ersten Bewohner von Kalkari: ein paar rotbraune Hühner, die vor der Veranda in der Erde scharrten. Ihr Anblick erinnerte Rose an den alten Jazz-Song Ain’t nobody here but us chickens.
»Halloooo!«, rief sie. »Jemand zu Hause?«
Im selben Moment vernahm sie das Röhren eines Automotors und das Knirschen von Reifen auf Schotter und eilte wieder nach vorn. Ein verbeulter Geländewagen hielt so schwungvoll vor dem Haus, dass der Kies in alle Richtungen flog. Ein schlankes, hellblondes junges Mädchen in einem dicken Anorak, der den Skipisten von St. Moritz alle Ehre gemacht hätte, und einer modischen Wollmütze auf dem Kopf stieg aus dem Wagen.
»Hi«, sagte Rose, »ich … ich wollte nur nachsehen, ob jemand zu Hause ist …« Sie war inzwischen so durchgefroren, dass sie mit den Zähnen klapperte.
»Schon okay.« Die zierliche Blondine musterte sie mit einem abschätzigen Blick. »Du bist wohl unsere neue Mary Poppins.« Ihre makellose Pfirsichhaut schien von innen heraus zu leuchten, und an ihrer kecken Nase funkelte ein kleiner Glitzerstein. Viel älter als achtzehn konnte sie nicht sein.
»Genau«, sagte Rose, hatte jedoch das Gefühl, dass es nicht sonderlich überzeugend klang. Noch vor zwei Wochen hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie schon bald auf einem gottverlassenen Weingut am anderen Ende der Welt als Kindermädchen und Köchin anheuern würde. Sie war … nun ja, zwar nicht gerade glücklich gewesen, aber zumindest einigermaßen zufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte einen Job, ein Dach über dem Kopf und einen Freund gehabt. Nichts von alledem war ihr geblieben. Sie kam sich vor wie Treibgut.
Okay, nur nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Doch die Direktheit, mit der ihr Gegenüber sie musterte, machte Rose nervös.
»Gut. Die von der Agentur haben dich schon angekündigt. Komm am besten gleich mit rein«, sagte die junge Frau. »Seit sich Mrs Butters den Rücken verrenkt hat, geht es drunter und drüber, und der Chef ist ein richtiger alter Griesgram. Aber die Kinder sind recht brav, na ja, meistens jedenfalls.« Sie öffnete die Beifahrertür und machte sich am Kindersitz zu schaffen. Das kleine Mädchen mit dem dunklen Haarschopf und der apfelgrünen Fleecemütze, das darin thronte, war etwa zwei Jahre alt.
Ihr Bruder Henry hatte Rose in London gebrieft, daher wusste sie, wer mit »der Chef« gemeint war: Mark Cameron, der achtunddreißigjährige Gründer und Eigentümer von Kalkari Wines. Mark hatte nach seinem kometenhaften Aufstieg bei einem der größten Wein-Konglomerate Australiens seinem bisherigen Leben den Rücken gekehrt und beschlossen, sich ein eigenes Weingut im Shingle Valley zuzulegen – ohne Rücksicht auf die Folgen für seinen Ruf und seine Finanzen. Vor etwa zehn Jahren hatte er das damals sechs Hektar große und ziemlich heruntergekommene Anwesen samt dem imposanten Kalkari House gekauft. In der Zwischenzeit war es auf fast fünfundsechzig Hektar angewachsen. Und was man so hörte, machte das Gut mit seinen Weinen allmählich von sich reden. Der letzte Jahrgang wurde sowohl in Großbritannien als auch in Amerika und Australien von Kennern hochgelobt. Henry hatte ihr ein Foto von Mark und seiner glamourösen spanischen Ehefrau Isabella gezeigt. Die beiden gaben ein schönes Paar ab und hatten einen Sohn namens Leo. Das kleine Mädchen im Auto ließ allerdings darauf schließen, dass Henrys Informationen nicht ganz auf dem neuesten Stand waren.
»Ich bin übrigens die Astrid«, stellte sich die junge Frau vor, während sie ihrem Schützling aus dem Wagen half. »Und das ist Luisa. Luisa, sag Hallo zu … Entschuldige, wie heißt du überhaupt?«
»Rose. Hallo, du süße Maus! Schön, dich kennenzulernen.« Rose schenkte der Kleinen ein breites Lächeln. Sie hatte schon immer eine Schwäche für entzückende kleine Mädchen mit Grübchen in den Wangen gehabt. Wo Leo wohl sein mochte? Im Auto saß er jedenfalls nicht.
»Ah, du kommst aus England?«, stellte Astrid überrascht fest. »Das haben sie mir nicht gesagt.«
Und du scheinst ganz offensichtlich aus Deutschland zu kommen, dachte Rose und lächelte. Der Akzent ließ keinen Zweifel zu.
»Aber lass uns reingehen. Es ist eisig hier draußen.« Astrid nahm Luisa an der Hand und ging voran. In dem mit Steinfliesen ausgelegten Foyer befanden sich lediglich zwei Wandtische und ein uralter ausgefranster Teppich. Rose sah sich kurz um, ehe sie Astrid in einen großen quadratischen Raum folgte, die Küche, in deren Zentrum ein ramponierter Tisch und mehrere Stühle mit Rückenlehnen aus gedrechselten Holzstäben standen. Das übrige Mobiliar war zitronengelb und die Wand hinter der Küchenzeile mit glänzenden weißen Kacheln gefliest. Draußen hatte es inzwischen etwas aufgeklart, und durch die beiden großen holzgerahmten Fenster fielen einzelne Sonnenstrahlen auf die graue Arbeitsplatte aus Granit.
Auf dem Tisch stapelten sich die Reste des Frühstücks, und sowohl in der riesigen Spüle als auch auf dem Abtropfbrett türmte sich schmutziges Geschirr. Auf dem klebrigen Boden fanden sich einzelne Frühstücksflocken. Wenn hier eine Bombe explodiert, würde das vermutlich kein Mensch merken, dachte Rose.
»Wie gesagt, Mrs Butters war schon ewig nicht mehr da, und ich bin mit Luisa und Leo total ausgelastet«, erklärte Astrid mit einem Blick auf das Chaos. Sie knöpfte Luisas Jacke auf und schälte sich aus ihrem Anorak, dann nahm sie zwei Tassen vom Tisch, spülte sie flüchtig aus und stellte Teewasser auf. »Leo lernst du nachher kennen, der ist noch in der Schule.«
Luisa hatte sich hinter Astrids Beinen verschanzt und beäugte Rose neugierig.
»Magst du Bugs Bunny?«, fragte sie schüchtern.
»Na klar mag ich den«, erwiderte Rose ernst, worauf Luisa noch etwas wackelig aus der Küche tappte.
»Jetzt holt sie ihr Lieblingsplüschtier«, erklärte Astrid, die gerade eine Ecke des Tischs freiräumte und Rose dann eine Tasse Tee hinstellte. »So, bitte. Milch? Zucker? Die Frau von der Agentur hat gesagt, es könnte schwierig werden, so kurzfristig jemanden zu finden, aber offenbar war es doch kein Problem. Gott sei Dank. Es war echt kein Spaß, den ganzen Laden hier alleine zu schmeißen. Bis Mrs Butters wieder einsatzbereit ist, wirst du kochen, putzen und einkaufen. Kochen kannst du eh, oder? Wir haben ausdrücklich jemanden verlangt, der kochen kann«, fuhr sie, praktisch ohne Luft zu holen, fort. »Und du wirst auf Luisa und Leo aufpassen, wenn ich freihabe.«
»Okay, das sollte zu schaffen sein. Und ja, ich kann kochen. Wo sind eigentlich Mr und Mrs Cameron? Mir wurde gesagt, dass zumindest einer der beiden hier sein würde, um mir alles zu zeigen.«
»Mark muss heute noch zu einer Konferenz und hat gesagt, ich soll mich um alles kümmern.« Astrid hob angriffslustig das Kinn.
»Oh.« Rose wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, dass sie sich hier von jemandem herumkommandieren lassen musste, der allem Anschein nach noch keine zwanzig Jahre alt war. Aber dann schluckte sie ihren Stolz hinunter, sie musste es ja nur ein paar Wochen hier aushalten. Sobald sie die Mission erfüllt hatte, mit der ihr Bruder sie beauftragt hatte, konnte sie verschwinden und vielleicht noch ein paar Tage am Strand verbringen. Irgendwo auf diesem Kontinent musste es ja schließlich warm sein!
Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie sich von ihrem Bruder hatte breitschlagen lassen, ohne in Ruhe über die ganze Angelegenheit nachzudenken. Sein Plan hatte mehr Schwachstellen als die von den Motten zerfressenen Pullover, die ihr Vater so gerne trug. Wäre sie bei klarem Verstand gewesen, hätte sie sich sicher nicht auf diese Idee eingelassen. Aber sie war völlig neben der Spur gewesen, nachdem ihr Freund Giles – Exfreund, korrigierte sie sich – urplötzlich mit ihr Schluss gemacht und erklärt hatte, er wolle nach Brüssel ziehen. Sie war heilfroh über die Gelegenheit gewesen, sich möglichst weit von diesem »feigen Aas« zu entfernen, wie Henry ihn bezeichnet hatte.
Henry war acht Jahre älter und hatte sie immer schon verteidigt. Vor allem gegen die älteren Mitschülerinnen, die sich ständig über ihre Größe oder ihre spindeldürren Beine lustig machten, genauso wie über ihre absolut uncoolen Klamotten und ihren breiten Mund – Anlass für unzählige Froschwitze. Ihr glühten heute noch die Wangen, wenn sie an diese Zeit dachte.
Auf seine eigene, verquere Weise hatte Henry ihr wohl auch dieses Mal zu helfen versucht. Allerdings hatte sie alles, was sie kannte, zurücklassen müssen. Okay, sie war todunglücklich und zudem arbeits- und obdachlos gewesen; es hatte also einiges dafür gesprochen, Henrys Vorschlag anzunehmen.
Giles hatte doch glatt ihre gemeinsame Wohnung – na ja, genau genommen war es seine – weitervermietet, nachdem er sie von seinen Brüssel-Plänen in Kenntnis gesetzt hatte. Wobei Rose es dort ohnehin nicht mehr ausgehalten hätte – ohne Giles war ihr die Wohnung genauso leer erschienen wie ihr Herz, und in jeder Ecke hatte die Melancholie gelauert, so hartnäckig wie der Geruch nach verbranntem Knoblauch.
Henry hatte ihr einen seiner Kumpel mit einem Lieferwagen vorbeigeschickt, und nachdem sie all ihre Habseligkeiten in seiner Garage verstaut hatte, quartierte er sie in seinem Gästezimmer ein. Dort hatte sich Rose ein paar Wochen lang in ihrem Selbstmitleid gesuhlt, bis Henry eines Morgens vor der Arbeit an ihre Tür geklopft hatte.
»Komm schon, Rose, du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit da drin verschanzen. Das tut dir nicht gut«, sagte er und scheuchte sie nach einem prüfenden Blick auf ihr verfilztes Haar und die verheulten Augen ins Bad. »Ab unter die Dusche mit dir. Um alles andere kümmere ich mich.«
»Aber ich wollte mir gerade den Tulip Auto Curler von Instyler kaufen!«, protestierte sie. »Da gibt es in den nächsten zehn Minuten zehn Pfund Rabatt!«
Rose war zu einem willigen Opfer des 24-Stunden-Shoppingkanals mutiert, dankbar für jede Art von Ablenkung. Doch Henry war unnachgiebig geblieben. Also hatte sie sich ihre Packung Taschentücher geschnappt, in dieser Zeit ein unverzichtbarer Begleiter, und war ins Bad geschlurft, nicht ohne etwas von wegen »nervige ältere Brüder, die einen andauernd herumkommandieren« vor sich hin zu brummen.
Henry hatte währenddessen die schmutzigen Kaffeetassen und die Teller mit den vertrockneten Erdnussbuttertoast-Krusten eingesammelt. Als sie aus dem Bad kam, drückte er ihr eine Tasse Tee in die Hand, in die er fast die halbe Zuckerdose gekippt hatte, und offenbarte ihr seine Pläne. Sie sah noch deutlich die besorgte Miene vor sich, mit der er sie gemustert hatte.
»Du bist deprimiert, Rose.«
»Was du nicht sagst, Sherlock. Ist doch wohl mein gutes Recht, findest du nicht?«
Er ignorierte die Frage. »Ich weiß genau, was du jetzt brauchst.«
»Ach ja? Du hältst dich wohl für einen dieser superschlauen Psychofritzen aus dem Fernsehen?«
Henry hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Also, wie ich das sehe, hält dich hier im Moment nichts.«
»Stimmt genau«, erwiderte Rose sarkastisch. »Willst du damit andeuten, dass mein Leben sinnlos ist?«
»Unsinn, Rosie, so war es nicht gemeint, und das weißt du auch. Ich wollte damit sagen, dass du frei und ungebunden bist. Dir steht die ganze Welt offen! Viele Menschen wären glücklich, in deiner Situation zu sein. Du solltest zu neuen Ufern aufbrechen, anstatt dich hier zu verkriechen.«
Schon erstaunlich, wie ihr Bruder es immer wieder schaffte, jeder noch so verfahrenen Situation etwas Gutes abzugewinnen.
»Also, in Anbetracht der Tatsache, dass ich pleite und praktisch obdachlos bin, sind meine Möglichkeiten gerade ein wenig eingeschränkt, würde ich sagen.«
Er winkte ab. »Ach was, das sind doch alles Peanuts, Rosie. Also, als dein stets besorgter Bruder, der sich zudem gern in deine Privatangelegenheiten einmischt« – er legte eine dramatische Kunstpause ein – »werde ich dir jetzt einen Vorschlag unterbreiten: Ich möchte, dass du dich eine Weile als Spion betätigst, und zwar auf einem Weingut, an dem ich interessiert bin. Es liegt in Australien, also nicht gerade hier um die Ecke, aber du würdest mir damit einen großen Gefallen tun. Wie es der Zufall will, ist dort kürzlich eine Stelle ausgeschrieben worden; das hat mir ein australischer Kollege erzählt, als ich erwähnte, dass du gerade eine Krise hast. Er meinte, sie bräuchten jemanden, der ein bisschen kochen kann, deshalb dachte ich, das wäre vielleicht etwas für dich.«
Rose warf ihm die Packung mit Papiertaschentüchern an den Kopf.
Bisweilen vergaß sie, dass ihr Bruder längst kein schlaksiger, pickeliger Teenager mehr war, sondern in gewissen Kreisen tatsächlich als Autorität galt. Er hatte seine Karriere als Weinhändler bei Berry Bros. & Rudd begonnen und zwischenzeitlich dank der Vermittlung durch einen alten Schulkameraden Anteile an etlichen Weinkellereien in Argentinien und Spanien erworben.
Schon als Kind war Henry äußerst ehrgeizig gewesen. In einem besonders heißen Sommer hatte er ihren Vater einmal dazu überredet, in der Arktis, einem Tiefkühl-Lebensmittelgroßmarkt ein paar Straßen weiter, große Mengen Eis am Stiel zu besorgen, das er dann mit einem bemerkenswerten Profit an seine Schulfreunde weiterverkaufte.
Henry hatte seit jeher ganz genau gewusst, was er wollte, und er nahm es sich, ohne viel Zeit zu verschwenden. Vor Kurzem hatte er auf einen diskreten Tipp hin einige spanische Kellereien aufgekauft, die in finanziellen Schwierigkeiten steckten und deshalb günstig zu haben waren. Er hatte das Management ausgetauscht und dafür gesorgt, dass das Geschäft wieder florierte, und dann ließ er den gesamten Lagerbestand nach Großbritannien verfrachten. Dem Vernehmen nach verdiente er sich mit derlei Geschäften eine goldene Nase.
Trotzdem war Roses erster Gedanke, dass ihr Bruder verrückt geworden war, als er ihr seinen Plan darlegte. Australien lag am anderen Ende der Welt, Tausende Kilometer weit weg, und vom Shingle Valley hatte sie überhaupt noch nie etwas gehört.
»Hier ist die Nummer der Agentur, die für die Vermittlung zuständig ist«, sagte Henry und drückte ihr einen Zettel in die Hand. »Ruf gleich an. Ich wette, sie sind begeistert von dir. Und du denkst wenigstens nicht mehr die ganze Zeit an diesen Idioten.«
»Nur fürs Protokoll: Ich halte das für einen totalen Schwachsinn«, erklärte Rose.
Aber Henry hatte sich nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen, und irgendwann hatte sie nachgegeben. Für lange Überlegungen war keine Zeit mehr gewesen. Schon ein paar Tage später hatte sie im Flugzeug gesessen.
Rose wurde jäh aus ihren Erinnerungen gerissen, als ein schmuddeliges, feuchtes Etwas auf ihrem Schoß landete, das vor langer, langer Zeit vermutlich einmal ein lilafarbener Plüschhase gewesen war.
»Igitt!«, rief sie angewidert.
»Bugs Bunny!«, krähte Luisa vergnügt.
Rose sah zu Astrid hinüber, die amüsiert grinste.
Gütiger Himmel. Wo war sie hier bloß gelandet?
2
Astrids Empfang war genauso frostig ausgefallen wie die hiesigen Temperaturen, doch Rose beschloss, es sich nicht zu Herzen zu nehmen. Der Tee war dafür umso wärmer. Sie legte die Hände um ihre Tasse und seufzte, als das Gefühl allmählich in ihre Fingerspitzen zurückkehrte.
»Wann soll ich denn anfangen?«
»Na, jetzt gleich natürlich«, erwiderte Astrid. »Wie bist du eigentlich hergekommen? Hast du ein Auto?«
»Ja, es steht vor der Weinstube. Ich wusste nicht genau, wo ich parken soll.«
»Kein Problem. Ich zeig dir, wo du deine Sachen hinbringen kannst. Du wohnst in der umgebauten Scheune.« Astrid trank den letzten Schluck ihres Tees, dann erhob sie sich und nahm ihre Jacke von der Rückenlehne des Stuhls. »Komm mit.«
Rose folgte Astrid, die Luisa und den dreckstarrenden Plüschhasen auf den Arm genommen hatte, durch den Hinterausgang in den Garten. Eine umgebaute Scheune, das klang vielversprechend. In ihrem Kopf formte sich ein Bild von offenen Räumen mit weiß getünchten Mauern, hohen Decken und Mobiliar im romantischem Landhausstil; üppig gepolsterten Sofas mit elfenbeinweißen Schonbezügen und da und dort eine Glasschale mit zartrosa Pfingstrosenblüten …
Okay, zu früh gefreut.
Wohnen ist ein dehnbarer Begriff, dachte Rose, als sie vor dem heruntergekommenen Gebäude angelangt waren. Das Dach war ein Flickwerk aus verrostetem Wellblech, und von den Mauern bröckelte der Verputz, wenn man ihn auch nur schief ansah. Offenbar hatte die Unterkunft eine ganze Weile leer gestanden. Auf den Fensterbänken und auf dem Fußboden – wie auch auf sämtlichen anderen horizontalen Flächen – lag eine dicke Staubschicht, und die Fenster waren total verdreckt und voller Spinnweben. Es gab eine geräumige Wohnzimmerecke mit zwei verschlissenen Sofas und dahinter zwei Schlafzimmer sowie ein kleines Bad, in der eine tiefe Löwenfußwanne mit Rostflecken stand. Rose spähte in eines der Schlafzimmer und erblickte ein ungemachtes Bett, eine durchgelegene Matratze, ein paar zerlesene Taschenbücher auf dem Nachttisch und eine uralte verstaubte Kommode. Nicht gerade geeignet für eine Fotoreportage in einem Wohndesign-Magazin, so viel stand fest.
»Wir gehen jetzt, damit du dich in Ruhe häuslich einrichten kannst«, sagte Astrid und eilte mit Luisa auf dem Arm zurück ins deutlich wärmere Haupthaus.
Rose sank fröstelnd auf das Bett, hin- und hergerissen zwischen dem Drang, in ihren Wagen zu steigen und schleunigst nach Sydney zurückzukehren, und dem Wunsch, sich unter einer Decke zusammenzurollen und lange und tief zu schlafen.
Schließlich tat sie weder das eine noch das andere, sondern stapfte los, um ihr Auto zu holen. Sie verfluchte ihren Bruder – und sich selbst gleich mit, weil sie so dämlich gewesen war, sich auf seinen Vorschlag einzulassen.
An der Rückseite des Haupthauses führte ein gewundener Feldweg zur Scheune. Dort angekommen, hievte sie ihren Tramperrucksack aus dem Kofferraum, deponierte ihn in ihrem »Wohnzimmer« und sah sich noch einmal prüfend um. Sie benötigte frische Bettwäsche, einen Besen und Putzmittel. Wenn sie hierblieb, und sei es nur für ein paar Wochen, dann wollte sie es in ihrer Behausung wenigstens einigermaßen gemütlich haben. Also machte sie sich erneut auf den Weg.
Kurz vor dem Haupthaus kam ihr eine große Gestalt entgegen, den Kopf gesenkt, die Hände in den Jeanstaschen vergraben. Rose ahnte, wen sie vor sich hatte: Mark Cameron. Allerdings schien er sie nicht zu bemerken. Sie überlegte, ob sie ihn ansprechen sollte, in Anbetracht seiner finsteren Miene zögerte sie jedoch. Als sie sich schon beinahe gegenüberstanden, hob er jäh den Kopf und blinzelte sie so konsterniert an, als wäre er in Gedanken gerade meilenweit weg gewesen.
»Hallo. Kann ich Ihnen helfen? Unsere Weinstube für die Verkostungen ist heute leider geschlossen.«
Der Klang seiner tiefen, rauen Stimme ließ Rose schaudern. Sie starrte in seine Augen, die wie dunkelgrünes Flaschenglas leuchteten und sich auf derselben Höhe wie die ihren befanden, was nicht allzu oft vorkam, da die meisten Männer kleiner waren als sie.
»Ich … ähm … ich bin nicht deswegen gekommen«, stotterte sie, eingeschüchtert von seinem grimmigen Blick.
»Tja, im Moment machen wir auch keine Führungen«, sagte er brüsk, dann schien ihm zu dämmern, wer sie war, denn seine Miene wurde etwas freundlicher. »Ach so, du bist bestimmt Rose. Tut mir leid, ich hatte vollkommen vergessen, dass du heute kommst. Hast du Astrid schon kennengelernt? Hat sie dich rumgeführt?«
Er streckte ihr die Hand hin, und als Rose sie schüttelte, war es, als würde er ihr einen leichten Stromstoß versetzen. Sein Griff war fest, seine Haut glatt und trocken, seine Fingernägel allerdings ungepflegt und dunkellila gefleckt.
»Beurteile einen Mann stets nach seinen Händen«, hatte ihre Nanna ihr eingebläut. »Nach den Händen und den Schuhen«, wobei sie bei dem Wort »Schuhe« wohl an namhafte britische Hersteller wie Loake oder Lobb gedacht hatte. Rose fragte sich flüchtig, was ihre Großmutter wohl zu Marks rauen Arbeiterhänden gesagt hätte, von seinen schlammverkrusteten Stiefeln ganz zu schweigen.
»Ja, danke, Mr Cameron. Ich habe gerade mein Quartier in der Scheune bezogen.«
Er schnitt eine Grimasse. »Nicht gerade ein brandneues Fünfsternehotel, aber zumindest ist es dort trocken.«
»Schon okay.« Rose wusste nicht recht, was sie noch sagen sollte. Sie wollte sich nicht wie eine verwöhnte Prinzessin aufführen und sich gleich an ihrem ersten Tag über ihre Unterbringung beschweren.
»Gut. Wenn du mich dann entschuldigen würdest, ich habe es eilig. Ich muss ein paar Tage auf eine Konferenz – verdammt lästig –, aber Astrid wird dir alles zeigen.«
Rose nickte, obwohl sie nicht beurteilen konnte, ob die Konferenz für ihn oder für sie lästig war.
»Ach übrigens, nenn mich Mark. Mr Cameron ist mein Vater«, sagte er und zwinkerte ihr zu, ehe er sich umdrehte und davonstapfte.
So schlimm ist er eigentlich gar nicht, dachte Rose, als sie wenig später mit Putzzeug, Gummihandschuhen und einer großen Flasche Desinfektionsmittel bewaffnet zur Scheune zurückkehrte, um ihr neues Zuhause bewohnbar zu machen.
Dabei musste sie zwar so einige Spinnennetze zerstören und etliche Weberknechte umquartieren, aber ansonsten begegneten ihr zum Glück keine der riesigen Arachniden, für die Australien berühmt ist. Als sie schließlich einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, war es bereits zwei. Kein Wunder, dass ihr schon seit einer Stunde der Magen knurrte. Sie strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah sich ein letztes Mal in ihrem sauberen, aufgeräumten Zimmer um. Alle Klamotten waren ordentlich verstaut, ihr Rucksack lag unter dem Bett. Sie überzeugte sich noch einmal davon, dass auch im Wohnzimmer, wo man wieder aus den Fenstern sehen konnte, alles zu ihrer Zufriedenheit war. Die Couchkissen waren aufgeschüttelt, und der Boden war so sauber, dass man davon hätte essen können. Apropos …
Rose begab sich erneut zum Haupthaus und stieß dort auf Astrid und Luisa, die in Jacken und Stiefeln steckten und auf dem Weg in den Garten waren.
»Wir gehen die Hühner füttern«, erklärte Astrid.
»Hühna«, wiederholte Luisa, die Augen vor Begeisterung weit aufgerissen, und kreischte dann: »Hühna! Hüüüüüühna!«
»Darf ich mitkommen?«, fragte Rose. Das Essen konnte auch noch ein paar Minuten warten. Je eher sie sich hier zurechtfand, desto besser, und dafür musste sie sich einen Überblick über das riesige Anwesen verschaffen.
»Wenn du willst. Luisa, zeig Rose, wo’s langgeht.«
Rose folgte den beiden wortlos in den Hinterhof.
Während Luisa über den struppigen Rasen zu dem hölzernen Hühnerverschlag tappte, griff Astrid nach einer Schachtel mit Körnerfutter. Einige der rostroten Hennen, die Rose bereits bei ihrer Ankunft gesehen hatte, kamen angelaufen. »Das ist Maggie«, sagte Astrid und deutete auf die größte Henne. »Die zwei da drüben heißen Stephanie und Nigella, und der da Nugget.« Damit war wohl der stattliche Hahn mit den bunten Schwanzfedern gemeint, der das Schlusslicht bildete. Rose kicherte in sich hinein. Nur Australier konnten auf die Idee kommen, einen Hahn »Nugget« zu nennen.
Nachdem Luisa die Hühner eine Weile kreischend durch den Garten gescheucht hatte in dem vergeblichen Versuch, eines von ihnen zu erwischen, bückte sich Astrid schließlich, hob Nigella hoch und übergab sie dem kleinen Mädchen. Zwei Grübchen zierten Luisas Pausbacken, als sie das Tier freudestrahlend entgegennahm.
»Hühna!«, rief sie aufgeregt.
»Schön vorsichtig, ja? Nicht zu fest drücken«, ermahnte Astrid Luisa und beugte sich dann in den Verschlag.
»Habt ihr viele Eier?«, erkundigte sich Rose.
»Ja, sie legen gut. Es gibt immer massenhaft«, erwiderte Astrid. »Hast du eigentlich schon gegessen?«
»Äh, nein. Ich wollte gerade in die Küche, aber dann seid ihr mir über den Weg gelaufen. Ich sterbe bald vor Hunger. Das Frühstück ist heute aus Zeitmangel nämlich auch ausgefallen.« Rose massierte sich den Bauch. »Wahrscheinlich denkt mein Magen schon, dass mir jemand die Kehle durchgeschnitten hat.«
Astrid musterte sie irritiert. Vermutlich war diese Redewendung aus England hier nicht geläufig.
»Na ja, der Kühlschrank ist fast leer, aber in der Speisekammer ist noch Brot, ein bisschen Käse und ein Glas von Mrs Butters’ Chutney, wenn du magst.«
Während Astrid mit ihrem Schützling draußen Fangen spielte, ging Rose in die Küche, wo inzwischen zwar das Frühstücksgeschirr abgeräumt war, dafür aber jetzt die Überreste des Mittagessens auf dem Tisch standen. Sie stapelte alles neben der Spüle, in der sich nach wie vor Teller, Tassen und Schüsseln türmten. Aber darum konnte sie sich auch noch kümmern, wenn sie das Loch in ihrem Magen gestopft hatte. Sie machte sich ein fingerdick mit Käse und Essiggurken belegtes Sandwich und setzte sich damit an den Tisch. Während sie aß, blätterte sie in einer alten Zeitschrift. Beim Anblick der appetitlichen Leckereien, die darin abgebildet waren, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Nach dem Essen beschloss sie, in der Küche klar Schiff zu machen. Hinter einer der zitronengelben Hochglanzfronten verbarg sich – dem Himmel sei Dank! – eine Spülmaschine, die sie sofort befüllte, nachdem sie das herumstehende Geschirr von Speiseresten befreit hatte. Unter der Spüle entdeckte sie Reinigungsmittel, Bürsten, Schwämme und alle anderen Gerätschaften, die sie benötigte.
Während sich Rose ans Scheuern und Schrubben der klebrigen Arbeitsplatten und des gefliesten Bodens machte, fragte sie sich, wann wohl Mrs Cameron – Isabella – aufkreuzen würde.
Als sie frühmorgens in Sydney losgefahren war, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie den Großteil des Tages mit Putzen verbringen würde. Sie schüttelte den Kopf. Was hatte sie sich da bloß eingebrockt? Das bisschen Haushalt, hatte sie sich gedacht, als Henry ihr in London erläuterte, was zu tun sei. Doch seit ihr der tatsächliche Umfang ihrer Tätigkeit klar geworden war, fühlte sie sich desillusioniert. Von wegen Mary Poppins – der Ausdruck Putzfee traf es wohl eher.
Astrid und Luisa waren noch einmal weggefahren, und bis sie wiederkamen, hatte Rose die Küche einigermaßen auf Vordermann gebracht und gönnte sich eine Tasse Instantkaffee. Neben Luisas Gekicher und Astrids durchdringender Stimme war draußen noch eine weitere Person zu hören. Es handelte sich um einen etwa sechs- oder siebenjährigen Jungen mit dunklem Haar. Seine graue Schulhose war ihm gute zehn Zentimeter zu kurz, und auch sein roter Pulli sah aus, als wäre er beim Waschen eingegangen. Das war dann wohl Leo.
»Hi«, murmelte er.
»Hey, Leo, ich bin Rose«, sagte sie und schenkte ihm ihr breitestes Lächeln.
»Rose ist die neue Haushaltshilfe, weil Mrs Butters krank ist, Leo«, erläuterte Astrid. »Sie kommt aus England.«
So, wie sie das Wort »England« betonte, klang es wie eine ansteckende Krankheit. Jetzt sei nicht so empfindlich, schalt sich Rose und nahm sich vor, nachsichtig zu sein. Sie war schließlich nicht hier, um sich mit dem Kindermädchen anzulegen.
Leos Augen begannen zu leuchten. »Cool. Hast du schon mal die Tottenham Hotspurs gesehen? Harry Kane ist der Oberhammer! Ich will unbedingt mal zu einem seiner Spiele. Gehst du mit mir hin?«, sprudelte er aufgeregt hervor.
Seine Begeisterungsfähigkeit war Rose sympathisch. »Ich war tatsächlich schon im White Hart Lane Stadion – mehr als ein Mal sogar, Tottenham ist nämlich das Lieblingsteam meines Vaters. Und meines ebenfalls.«
Leo riss die Augen auf. »Wow! Das muss ich Joe erzählen.«
»Joe?«, fragte Rose.
»Sein bester Freund«, erklärte Astrid.
Luisa, die sich offenbar vernachlässigt fühlte, watschelte mit fordernd ausgestreckten Ärmchen auf Rose zu. Diese hob sie hoch und setzte sie sich auf die Knie.
Astrid stellte eine himmlisch duftende weiße Papiertüte auf den Tisch. »Ich war beim Bäcker.« Sie ließ den Blick durch die blitzsaubere Küche wandern und griff dann nach dem schweren Wasserkocher. »Du hast ja echt geschuftet. Hätt ich nicht gedacht, dass du heute schon so viel schaffst«, stellte sie widerstrebend fest und legte die süßen Leckereien auf einen großen Teller. Es gab Jam Tarts, Biskuit-Kokoskuchen und Karamell-Shortbread-Schnitten mit einer dicken Schicht dunkler Schokolade.
Rose nahm sich eine Karamellschnitte und zog am Hosenbund ihrer Jeans, der ihr schmerzhaft in den Bauch schnitt. Astrid hatte sie zwar nicht gerade mit offenen Armen willkommen geheißen, aber es tat gut, dass zumindest ihre Leistungen anerkannt wurden. Und die Leckereien aus der Bäckerei waren auch nicht zu verachten.
In den Tiefen der Kühltruhe hatte Rose unter einer dicken Eisschicht einige Packungen Fischstäbchen entdeckt, die die Kinder zum Abendessen verdrückten. Nach dem Essen machte sich Rose auf den Weg zur Scheune. Sie fühlte sich total verschwitzt und verdreckt und konnte es kaum erwarten, unter die Dusche zu springen. Hoffentlich gab es warmes Wasser.
Auf halbem Wege blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen, als sie im Halbdunkel eine unbewegliche Gestalt erblickte. Ein echtes Känguru! Sobald sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, entdeckte Rose ein zweites – und sogar ein drittes. Sie schnaubte belustigt. War das zu fassen? Obwohl sie am Eingang zum Shingle Valley an einem der gelben Warnschilder vorbeigefahren war, hatte sie nicht erwartet, tatsächlich Kängurus zu sehen. Das musste sie unbedingt Henry erzählen. Sie blieb kurz stehen, um die Tiere zu beobachten, die schon bald wieder in aller Seelenruhe weiterfraßen. Allzu lang hielt sie es jedoch nicht aus, denn es war eiskalt, Kängurus hin oder her.
Leider war es in der Scheune nicht viel wärmer. Aber zumindest gab es warmes Wasser. Sie duschte und trocknete sich hastig ab, dann zog sie alle vier T-Shirts, die sie mitgebracht hatte, übereinander an und dazu einen alten Pullover, den sie in einer Schublade der Kommode gefunden hatte. Die Wolle kratzte zwar, und die Farbe, Senfgelb, ließ sie reichlich blass aussehen, aber sie konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Der Pullover reichte ihr bis über den Po, und sie war froh über ihre dicken neuen Schafpelzstiefel, die ihre Füße schön warm hielten.
Drüben im Haupthaus war inzwischen Ruhe eingekehrt. Rose hörte Astrid reden und folgte dem Klang ihrer Stimme in das kleine Wohnzimmer neben der Küche, wo Luisa und Leo auf einem Sofa saßen, bei dem der ausgeblichene weinrote Samt an den Armlehnen bereits abgewetzt war. Astrid las Luisa vor, und Rose musste sich beherrschen, wegen ihrer Aussprache nicht laut loszulachen. Aber sie wollte Astrid auf keinen Fall beleidigen.
Als die Kinder im Bett lagen, gönnten sich die beiden jungen Frauen ein spätes Abendessen, und Rose witterte eine Gelegenheit, Astrid endlich über Mark und die noch immer nicht aufgetauchte Isabella auszufragen. Es waren nicht allzu viele Vorräte da, doch Rose hatte neben dem Haus einen verwilderten Kräutergarten entdeckt und dank Maggie, Stephanie und Nigella eine Frittata mit Kartoffeln und Petersilie zusammenschustern können. Sie war gerade mit dem Kochen fertig, als Astrid in die Küche kam.
»Der Hauswein.« Astrid schwenkte eine Flasche ohne Etikett und holte zwei Gläser.
»O ja«, sagte Rose. Die Putzexzesse, die frühmorgendliche Anfahrt aus Sydney und der Jetlag machten sich mittlerweile deutlich bemerkbar. »Der kommt wie gerufen.«
»Wow, du kannst ja echt kochen«, stellte Astrid mit vollem Mund fest.
»Hab ich doch gesagt«, entgegnete Rose, obwohl sie sich insgeheim über das Kompliment freute. »Ich habe im Cordon Bleu in London gelernt. Aber in der letzten Zeit habe ich in einem Café gearbeitet«, gab sie zu. »Und im Großen und Ganzen habe ich bisher deutlich mehr Burger als Haute Cuisine produziert.« Sie erzählte Astrid die Geschichte, auf die sie sich mit Henry geeinigt hatte: dass sie hierhergekommen war, weil sie eine kleine Auszeit brauchte und sich Australien ansehen wollte, und dass sie irgendwann noch ein bisschen herumreisen wollte.
»Ich auch.« Astrid nickte. »Ich bin jetzt ungefähr acht Monate in Australien. Erst war ich eine Weile Kinderbetreuerin in einem Hotel oben in Queensland, und im März hab ich dann die Stelle hier gefunden. Leo und Luisa sind manchmal arg bockig, aber das ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ihre Mutter einfach abgehauen ist.«
Rose sah überrascht auf. Isabella hatte sich aus dem Staub gemacht? Das hatte sie nicht erwartet, aber es erklärte die chaotischen Zustände im Haus und die Tatsache, dass Leo seinen Kleidern längst entwachsen war.
»Sie ist zu Beginn des Herbsts wieder nach Spanien zurückgekehrt«, fuhr Astrid fort. »Mit einem spanischen Winzer, der hier bei der Traubenlese ausgeholfen hat. Mark war komplett ahnungslos. Mrs Butters sagt, Isabella war der totale Albtraum. Sie nennt sie Señora Dictadora. Egal, ob es ums Putzen ging oder ums Kochen, nie war sie zufrieden. Ich glaub, das war mit ein Grund für Mrs Butters’ Rückenprobleme – Isabella hat sie schuften lassen wie ein Pferd. Luisa fragt noch hin und wieder nach ihrer Mama, aber Leo redet nicht über sie. Er ist überhaupt recht schweigsam. So aufgekratzt wie vorhin hab ich ihn bisher kaum erlebt.«
»Die armen Kinder.« Soweit Rose das jetzt schon beurteilen konnte, waren Leo und Luisa zwei äußerst liebe Kinder. »Und wie lange ist Mark fort?«
»Er kommt Ende der Woche zurück. Der kann auch ganz schön mies drauf sein. Es ist nicht immer leicht …« Astrid verstummte, und Rose hakte nicht nach. Sie musste Vorsicht walten lassen, um kein Misstrauen zu wecken. Bestimmt würde sie bald mehr herausfinden.
Dann unterhielten sie sich eine Weile über Astrid, die aus Österreich kam – also war Deutschland doch nicht ganz richtig gewesen –, und ehe sie sichs versahen, war die Flasche leer und der letzte Rest Frittata auf ihren Tellern kalt geworden. Als sie sich erhob, um den Tisch abzuräumen, stellte Rose zu ihrer Überraschung fest, dass sich ihr Körper steif anfühlte. Sie hatte vor ihrer Fahrt ins Shingle Valley ein paar Tage Sightseeing in Sydney gemacht, ohne dass ihre Muskeln auch nur ein einziges Mal aufgemuckt hätten, aber energisches Putzen war offenbar deutlich anstrengender. Sie stöhnte innerlich auf, als ihr bewusst wurde, dass morgen wohl noch mehr Herausforderungen dieser Art in der Küche auf sie warteten. Sie wünschte Astrid eine gute Nacht und rüstete sich für den Nachhauseweg.
Als sie die Hintertür öffnete, wehte ein eisiger Wind herein, der dafür sorgte, dass sie schlagartig wieder nüchtern wurde. »Puh, ist das kalt.«
»Ja. In Tirol ist es auch oft arg kalt. Deshalb bin ich eigentlich hier – ich hab gedacht, in Australien ist es immer warm. So kann man sich täuschen.« Astrid erschauderte theatralisch. »Wir stehen übrigens gegen sieben Uhr auf. Leo muss um halb neun in der Schule sein.«
»Alles klar. Ich bin dann kurz vor halb acht in der Küche und mache Frühstück«, versprach Rose. »Es ist schön, hier zu sein«, fügte sie hinzu. Sie wusste nicht genau, warum sie es sagte – es war ihr einfach herausgerutscht.
»Ich bin auch froh, dass du da bist«, erwiderte Astrid. Wie es aussah, hatte das gemeinsame Abendessen sie ein wenig entspannt.
»Also dann, gute Nacht«, sagte Rose.
In der Scheune war es so kalt, dass sich Atemwölkchen vor Roses Mund bildeten, und der Wind pfiff nicht nur unter der Tür durch, sondern auch durch die Ritzen in den Fensterrahmen. Rose war nicht auf die Idee gekommen, einen warmen Schlafanzug mitzunehmen, und sie wusste, dass sie in ihrem dünnen T-Shirt jämmerlich frieren würde. Sie schälte sich aus ihrer Jeans und zog die Leggings an, die sie in letzter Minute in ihren Rucksack gestopft hatte. Die Socken und die vier T-Shirts behielt sie an, und trotzdem schlotterte sie vor Kälte, als sie schließlich im Bett lag. Zum Glück hatte sie zwei schwere Decken im Schrank gefunden. Sie beschloss, gleich morgen einen Heizlüfter anzufordern. Oder zumindest eine Wärmflasche.
Einen kurzen Moment dachte sie an Giles. Sie hatte sich vorgenommen, streng mit sich zu sein, doch immer wieder schlich er sich in ihre Gedanken. Sie konnte nichts dagegen tun, auch wenn sie wusste, dass diese Rückschau nicht das Geringste brachte. Im Gegenteil – es war gerade so, als würde sie sich selbst Salz in die Wunde streuen. Der Tag, an dem ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt worden war, war ein Freitag gewesen. Freitag der Dreizehnte, natürlich, und obendrein war Merkur rückläufig. Sie hätte es eigentlich wissen müssen.
Es war ihr letzter Tag in dem Café gewesen, in dem sie die vergangenen fünf Jahre gearbeitet hatte. The Pine Box. Und obwohl sie gegen Ende ihrer Schicht auch diesmal reif für eine Kiefernholzkiste gewesen war, hatte die fristlose Kündigung sie tief getroffen. Mehr, als sie es sich anmerken ließ. Und alles nur wegen einer dämlichen Scheibe Fleisch!
Irgend so ein aufgedunsener, rotgesichtiger Kerl mit schräger Frisur hatte sich an dem bewussten Tag so lautstark über sein Steak beschwert, dass Arthur – der Koch, der es zubereitet hatte – hinaus ins Lokal marschierte, um der Sache auf den Grund zu gehen. »Das Ding schmeckt nach gar nichts. Dagegen ist ja sogar ein Axminster-Teppich die reinste Delikatesse!«, schimpfte der Gast. Als Rose das hörte, war sie wie der Blitz aus der Küche geschossen. Wenn etwas ihr Blut in Wallung brachte, dann waren das Leute, die sich anderen gegenüber für überlegen hielten. In der Schule war sie oft genug gemobbt worden und hatte sich geschworen, niemals tatenlos zuzusehen, wenn einem anderen dergleichen widerfuhr. Also kippte sie dem Mistkerl kurzerhand die Sauce in den Schoß und ruinierte ihm damit nicht nur die Hose, sondern verbrühte ihm auch seine Kronjuwelen. »So, damit bekommt es garantiert die nötige Würze, Sie unverschämter Rüpel«, fauchte sie.
Das war natürlich nicht ohne Folgen geblieben. Man hatte sie noch vor dem Ende ihrer Schicht gefeuert.
Rose war bereits Ende zwanzig, und ihr Leben hatte sich nicht nach ihren Erwartungen entwickelt, als sie sich im Alter von neunzehn Jahren mit ihrem druckfrischen Kochdiplom in der Tasche aufgemacht hatte, um die Welt zu erobern. Zwei ihrer Cordon-Bleu-Mitschüler hatten kürzlich ein Restaurant in London eröffnet, das sich großer Beliebtheit erfreute, eine weitere ehemalige Kollegin vertrieb ihre eigenen Feinkostprodukte bei keinem Geringeren als Fortnum & Mason, und ihre beste Freundin war stellvertretende Küchenchefin im Le Du, dem derzeit angesagtesten Restaurant in ganz Bangkok. Laut Facebook waren die meisten aus ihrer Schulclique mittlerweile verheiratet, zwei hatten kürzlich ein Baby bekommen, und Nancy, die sie schon seit der Grundschule kannte, hatte bereits drei Kinder, alle davon jünger als fünf Jahre. Rose dagegen konnte nebst ihren teuren Kochmessern nur zehn Jahre Erfahrung vorweisen – und zwar hauptsächlich im Bereich Frittieren.
Und am selben Abend hatte ihr zu allem Überfluss Giles eröffnet, dass er nach Brüssel ziehen wolle. Ohne sie. Dabei war sie davon ausgegangen, ihn früher oder später zu heiraten, sich einen militärgrünen Geländewagen und ein Traumhaus auf dem Land zuzulegen und mit ihm zwei oder vielleicht sogar drei pausbäckige Kinder in die Welt zu setzen.
Es war, als hätten sich sämtliche Planeten des Sonnensystems gegen sie verschworen.
Giles’ Ansicht nach hätte sie wissen müssen, dass das zwischen ihnen »nicht für die Ewigkeit« war, ungeachtet der Tatsache, dass sie schon fünf Jahre ein Paar waren und gemeinsam sogar ein eklig braunes Ledersofa – der Verkäufer hatte die Farbe als »karamell« bezeichnet – von Habitat erstanden hatten. Nachdem Giles die Bombe hatte platzen lassen, war er so schnell verschwunden, dass sie ihm einfach nur mit offenem Mund hinterherstarren konnte. In Anbetracht der Umstände hatte selbst die Aussicht auf eine Doppelfolge der Backshow The Great British Bake-Off und die Packung Fleur-de-sel-Karamell-Cookie-Dough-Eis im Gefrierfach Rose nicht aufzuheitern vermocht. Bei einer derartigen Katastrophe konnte nicht einmal sie ans Essen denken.
Rose kuschelte sich tiefer unter die Decken, um der kalten Luft möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, und fragte sich erneut, warum sie sich eigentlich auf dieses Unterfangen eingelassen hatte. Giles hatte keine Ahnung, wo sie steckte, denn in einem Augenblick ungeahnter Stärke hatte sie ihm die Facebook-Freundschaft gekündigt und seine Nummer aus ihrem Handy gelöscht. Was, wenn er in Brüssel auf die Nase fiel und erkannte, dass er einen großen Fehler gemacht hatte? Was, wenn er nach London zurückkehrte, nur um festzustellen, dass sie fort war? Plötzlich fühlte sie sich sehr weit weg und sehr allein.
3
Rose schlug die Augen auf und streckte vorsichtig den Kopf unter der Decke hervor. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war, doch dann kehrten die Erinnerungen an die Ereignisse des Vortags wieder zurück. Richtig, sie befand sich im Shingle Valley, am absoluten A… der Welt. Als sie mit einem Blick auf die Uhr feststellte, dass es schon fast sieben war, kostete es sie all ihre Überwindung, die Decken zurückzuschlagen. Bei den hier herrschenden Temperaturen war an eine Dusche ohnehin nicht zu denken, also begnügte sie sich mit einer kurzen Katzenwäsche und band sich die Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen. Auf dem Weg zur Tür fiel ihr auf, dass Eisblumen die Innenseiten der Fenster zierten. Draußen war alles weiß überzuckert – glitzernde Frostkristalle hatten die Umgebung über Nacht in eine Winterwunderlandschaft verwandelt.
Das ist ja total irre. Ich hole mir hier noch den Tod.
In der Küche bereitete sie als Erstes Rühreier für die Kinder zu, dann stellte sie Teewasser auf und deckte den Tisch. Der Ölofen tat seine Wirkung, und nach einer Weile spürte Rose, wie ihre Finger und Zehen wieder auftauten.
Leo kam als Erster in die Küche. Er sah nur kurz zu ihr hinüber, dann setzte er sich an den Tisch und schlug ein Buch auf. Von seiner fröhlichen Laune des gestrigen Abends war nichts mehr übrig. Gleich darauf tauchten auch sein Schwesterchen und Astrid auf. Das Kindermädchen jagte mit einer Bürste hinter Luisa her, doch die Kleine wollte sich die wilden Locken partout nicht bändigen lassen und verschanzte sich hinter Rose.
»Komm her, du kleines Biest«, lockte Astrid sie.
»Wosie?«
»Ja, Schätzchen?« Rose war total vernarrt in Luisas Wangengrübchen.
»Ich mag die Bürste nicht.« Das Kind schob sich den Daumen in den Mund und musterte sie mit großen Augen.
»Aber wenn du dir die Haare bürsten lässt, werden sie so lang und seidig wie bei einer Meerjungfrau«, versuchte Rose, sie umzustimmen.
»Was ist eine Meerjungfrau?«