Das Buch
Alles begann mit dem Mord an Mr. Darsley. Oder vielleicht auch nicht. Wenn ich es mir recht überlege, begann es eigentlich ein paar Wochen zuvor. An dem Nachmittag, als wir durch die Sümpfe des Bayou paddelten, um ein paar Fische zu fangen. Was wir stattdessen fingen, war eine verbeulte Blechdose, in der drei Dollar lagen. Drei Dollar! Dafür würden wir uns etwas im Katalog bestellen. Noch ahnten wir nicht, dass wir mit dieser Bestellung das größte Abenteuer unseres Lebens auslösen würden …
Der Autor
Davide Morosinotto wurde 1980 in Norditalien geboren. Bereits mit 17 Jahren veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte, die auf der Auswahlliste des renommierten italienischen Literaturpreises »Premio Campiello« stand. Seitdem hat er über 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, für die er zahlreiche Preise erhalten hat. Davide Morosinotto lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Bologna.
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Alles begann mit dem Mord an Mr Darsley.
Oder auch nicht. Wenn ich es mir recht überlege, begann es eigentlich ein paar Wochen zuvor, an dem Nachmittag, an dem wir mit dem Bau des Einbaums fertig wurden.
Es war wirklich ein sehr schöner Einbaum. Monatelang hatten wir nach dem richtigen Baum gesucht, bis wir ihn gefunden hatten: Eine große und gerade Zypresse, die in tiefem Wasser wuchs. Wir hatten sie mit der Axt geschlagen. (Beziehungsweise hatte ich das getan und Julie auch ein bisschen, während Eddie nur herummoserte, ein Mädchen dürfe keine Bäume fällen, und Tit uns zusah, ohne ein Wort zu sagen. Aber Tit sagt sowieso nie was.)
Nachdem wir die Zypresse gefällt hatten, haben wir sie innen ausgehöhlt, aber vier bequeme Sitze für uns vier gelassen. Außen haben wir den Stamm gehobelt und ihn anschließend von vorne bis hinten mit Sand abgeschliffen. Wir haben gerieben und gerieben, bis unsere Hände bluteten.
Den Einbaum zu bauen, hatte Monate gedauert, auch weil wir beschlossen hatten, ihn bei unserer Hütte versteckt zu halten, die ziemlich weit weg von unseren Elternhäusern war. Ich konnte immer nur bei Sonnenuntergang hin oder wenn Mama mir erlaubte, spielen zu gehen. Also praktisch nie.
An dem einen Nachmittag aber hatte ich entschieden, heimlich hinzugehen. Mama hatte ich erzählt, dass ich zur Farm von Familie Fabron ging, um bei der Reparatur der Scheune zu helfen. Stattdessen aber war ich zu unserer Hütte gelaufen.
Die Hütte hatten ich und die anderen Mitglieder der Bande im vergangenen Sommer gebaut. Sie stand am Ufer des Bayou, eines Flussarms inmitten des riesigen Sumpfes, und war hinter einem Gewirr von Lianen und riesigen Mückenschwärmen versteckt.
Unsere Hütte war nichts Großartiges, nur ein Verschlag mit einem schiefen Dach und einem Lehmfußboden, aber außer uns wusste niemand, dass es diese Hütte gab, und das war das Tolle daran. Nach und nach hatten wir sie eingerichtet, mit lauter nützlichen Dingen. Man konnte sie mit einem Boot über das Wasser erreichen oder aber über die Wackelbrücke und eine total gefährliche Stelle mit Treibsand, in dem angeblich schon Dutzende von Menschen versunken sind.
Auch deshalb liebte ich diesen Ort. Allein schon ihn zu erreichen war ein richtiges Abenteuer. (Außerdem kannten wir natürlich die Stellen im Sumpf, an denen man nicht einsank.)
Jedenfalls kam ich kurz nach der Mittagessenszeit bei der Hütte an und fand dort Julie und Tit vor, die damit beschäftigt waren, unserem Einbaum sozusagen den letzten Schliff zu geben.
Julie und Tit waren Geschwister, aber man sah es ihnen nicht an. Julie war so alt wie ich und sehr schön. Das sage ich nicht, weil ich in sie verliebt war oder so, sondern es war etwas, das sofort jeder sah. Deshalb nannte man sie in unserer kleinen Stadt auch Jolie, denn das heißt ›Schöne‹. Jolie Julie. Joju. Sie hatte rote Haare und Sommersprossen, dunkle Augen und eine lustige Lücke zwischen den Schneidezähnen.
Tit dagegen war so braun wie Schokolade und hatte ganz lockiges Haar. Er war klein, aber nicht nur, weil er noch sehr jung war, sondern weil er tatsächlich nur ein kleiner Mickerling war, und deshalb nannten ihn alle Petit, »Kleiner«.
Julie war weiß und Tit war schwarz, und weil sie Geschwister waren, sagten die Leute in der Stadt, ihre Mutter sei eine unanständige Frau, ein Flittchen. So nannte sie auch mein Bruder Chuck und er behauptete, weil Tits Mutter ein Flittchen sei, hätte Tit einen Dachschaden.
Aber ich wusste, dass das alles Quatsch war: Tit war sehr schlau, schlauer als viele andere. Er redete nur nicht gerne. Er schaute zu, er hörte zu und war immer still. Vielleicht hatte er begriffen, dass es die Dummen sind, die immer zu viel reden.
Mein Bruder Chuck zum Beispiel konnte keine Sekunde lang die Klappe halten.
Tit saß auf einem Holzklotz und Julie bearbeitete den Bug des Einbaums mit einem Messer. Sie war fast fertig damit, dem Einbaum seinen Namen einzuritzen: Effrayant, »der Schreckliche«.
Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, sie zu begrüßen, sondern ging schnurstracks in die Hütte, in der es feucht und nach fauligem Schlamm roch. Joju hatte ihre Segeltuchtasche am Boden liegen lassen und ich wühlte darin herum, bis ich den Tabak fand. Ich stopfte mir ein Pfeifchen.
Dann setzte ich mich vor die Hütte und zündete mir zufrieden grinsend die Pfeife an. Da bemerkte mich Tit (ich habe ja schon gesagt, dass er sehr schlau ist) und zeigte mit dem Finger auf mich.
Julie hörte auf zu schnitzen und wischte sich mit dem Rocksaum den Schweiß aus dem Gesicht. Dadurch kamen kurz ihre blassen, muskulösen Beine zum Vorschein und bei dem Anblick wurde mir ganz komisch, als würde mich einer innen mit einem langen Kochlöffel umrühren. Joju hat manchmal diese Rührwirkung auf mich.
»Te Trois!«, rief sie. »Wer hat dir erlaubt, meinen Tabak zu nehmen?«
Te Trois, das bin ich. Ich sprang auf. »Hey!«, erwiderte ich. »Ich habe mir die Pfeife noch gar nicht angezündet. Und gib mir das Messer, sonst sind wir erst morgen früh fertig.«
Natürlich gab Joju das Messer nicht her, und nachdem ich eine Weile versucht hatte, es ihr abzujagen, blieb mir nichts anderes übrig, als an dem Paddel weiterzuhobeln.
Inzwischen war auch Eddie eingetroffen. »Eddie, die Grille« oder »Eddie Schiefauge«, mein bester Freund. Er war ein Jahr älter als ich und ziemlich groß, aber auch ziemlich dünn und deshalb besiegte ich ihn immer beim Ringen. Seine Haare waren blond, oder eigentlich mehr so graublond wie trockenes Zuckerrohr, und er trug eine lädierte Brille, deren Bügel hinten mit einem Stück Bindfaden verbunden waren. Im ganzen Bayou war Eddie der Einzige, der eine Brille besaß. Er war mit seinem Vater, der Arzt war, bis nach New Orleans gefahren, um sie zu besorgen.
»Mir geht es gerade nicht so gut«, jammerte Eddie und setzte sich neben Tit auf den Holzklotz. »Ich glaube, ich habe Fieber.«
Eddie hatte immer Fieber. Es ging ihm ständig schlecht und er erzählte immer, er könne im Fieber die Stimmen des Sumpfes hören und er verstünde auch die geheime Sprache der Tiere, was er sich offensichtlich nur zusammengesponnen hatte.
Tatsache aber war: Wenn er behauptete, Fieber zu haben, konnte man ihn einfach nicht dazu bringen zu arbeiten. Deshalb sahen Julie und ich uns nur an und machten den Einbaum allein fertig. Nach paar Stunden, kurz vor Sonnenuntergang, war es dann so weit. Er sah wunderschön aus mit seinem schlanken Rumpf und würde schneller sein als die dicken Dampfer. Vielleicht nicht viel, aber schneller auf jeden Fall.
Da ich den Einbaum gebaut hatte, war es mein gutes Recht, ihn zu Wasser zu lassen, doch Joju bestritt das und Eddie auch und Tit war aus irgendeinem, nur ihm allein bekannten Grund bereits an Bord gegangen und weigerte sich, wieder auszusteigen.
Schließlich einigten wir uns darauf, unser Boot gemeinsam einzuweihen, und schoben es ins Wasser. Es schwamm gut, ja es lag sogar höher im Wasser als vorgesehen und wir sprangen nacheinander hinein. Dann stand ich auf und begann, mit langsamen Schlägen zu paddeln, immer darauf bedacht, den kleinen Inseln auszuweichen, von denen es in unserem Teil des Bayou jede Menge gab, und auch den umgestürzten Baumstämmen, deren Äste wie Finger aus dem stehenden Wasser ragten.
An diesem Tag war es so heiß wie in einem Backofen und feucht noch dazu und die Sonne versteckte sich hinter dem Laub der Bäume und warf Schattenfetzen und Lichtflecken auf den Sumpf hinunter.
Ich paddelte, bis unsere Hütte irgendwo hinter uns verschwunden war. Als ich müde wurde, setzte ich mich und zündete die Pfeife an, die ich mir am Nachmittag gestopft hatte.
»Gib sie rüber«, sagte Joju. »Schließlich ist es mein Tabak.«
»Ich rauche heute nicht, weil ich Fieber habe«, verkündete Eddie.
Während Joju die Pfeife in Brand setzte, befestigte ich an der Angelrute meinen speziellen Köderfisch »Phantom«. Ich hatte ihn selbst gebastelt und er war schöner als der im Katalog.
»Vorsicht!«, warnte Eddie. »Dieser Teil des Bayou ist gefährlich, ich höre im Wasser ein seltsames Murmeln.«
»Ist nicht wahr«, widersprach Joju.
»Doch, es ist wahr«, erwiderte Eddie. »Ein Murmeln und Flüstern und Pfeifen. Ich nehme an, dass es Mokassinottern sind, die gibt es hier zu Hunderten.«
Wassermokassinottern sind sehr gefährliche Schlangen, man kann von ihrem Biss sterben. Aber ich glaubte nicht, dass es sie hier wirklich zu Hunderten gab, wie Eddie behauptete. Abgesehen davon war mein Köderfisch nichts, was Schlangen anlockte. Er sollte lieber Welse anlocken, vielleicht sogar ein paar schöne dicke.
Ich warf die Angel aus, machte es mir bequem und wartete darauf, dass etwas anbiss. Währenddessen unterhielt ich mich mit den anderen.
Eddie erzählte, dass Madame Boucher in der vergangenen Nacht Wehen bekommen und ein Mädchen zur Welt gebracht hatte. Aber leider war das kleine Mädchen mit sechs Fingern an der linken Hand geboren worden und das brachte Unglück. Ich kenne niemanden, der so viel Unsinn glaubt, wie Eddie, die Grille.
Joju berichtete, dass sie beinahe eine riesige Schnappschildkröte gefangen hätte, doch die hatte versucht, ihr einen Fuß abzubeißen. Wenn ein anderes Mädchen so etwas erzählt hätte, hätte ich es für Prahlerei gehalten, doch ich kannte Joju und wenn sie so etwas sagte, dann war es auch wirklich wahr.
Plötzlich zog etwas an der Angelschnur und beinahe wäre die Angel aus dem Einbaum gefallen. Ich erwischte sie gerade noch rechtzeitig.
»Ich habe etwas gefangen!«, rief ich. »Und so, wie es zieht, muss es das reinste Ungeheuer sein!«
Eddie wollte mir zu Hilfe kommen, doch ich befahl ihm, dort zu bleiben, wo er war. Es fehlte gerade noch, dass er das Boot zum Kippen brachte und wir alle ins Wasser fielen. Schließlich konnte es hier tatsächlich Wassermokassinottern geben.
Ich stellte mich breitbeinig hin, packte die Angelrute ganz fest und holte die Schnur ein. Ich machte mich auf einen langen Kampf gefasst, denn was so zog, konnte nur ein riesiger Wels sein, der größte Wels, der in diesem Teil des Bayou jemals gefangen worden war.
Doch da irrte ich mich. Gleich beim ersten Ruck kamen Köder und Angelhaken los und am Haken hing kein Fisch, sondern eine schlammige, durchlöcherte Dose.
»Bäh! Es ist nur eine Tomatensuppendose, schmeiß sie weg!«, meinte Eddie.
»Dummkopf, wir können die Dose gut gebrauchen. Wir machen eine Laterne daraus, für unsere Hütte«, widersprach Julie.
»Dann können wir auch nachts herkommen«, schlug ich vor.
»Aber nachts sind hier die Geister unterwegs«, quiekte Eddie ängstlich.
»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Joju.
»Klar sind die dann da«, erwiderte Eddie. »Sie schweben als blaue Flammen über dem Wasser.«
Die beiden waren dabei, in einen richtigen Streit zu geraten, da murmelte der kleine Tit etwas, streckte die Hand aus und ergriff die Dose. Die Dose klirrte.
»Hey, zeig mal her!«, sagte ich.
Ich nahm Tit die Dose ab und kippte ihren Inhalt auf den Boden des Einbaums. Es kamen Wasser und Schlamm heraus. Und drei Münzen. Drei Dollarmünzen, die in dem Sonnenfleck auf dem Boden des Einbaums blitzten und glänzten.
»Drei Dollar!«, flüsterte Eddie und beugte sich vor, um sie aufzuheben.
Ich schlug ihm so stark mit der Faust gegen die Schulter, dass er beinahe aus dem Einbaum gefallen wäre.
»Vergiss es!«, warnte ich ihn. »Ich habe sie geangelt, sie gehören mir.«
»Aber mir gehört die Angelrute.«
»Aber da hängt meine Schnur dran.«
»Und der Einbaum gehört uns allen«, schaltete Julie sich ein. »Und wenn Tit und ich nicht gewesen wären, hättet ihr inzwischen die Dose mitsamt den Dollars über Bord geworfen.«
Wir schwiegen alle und starrten die Münzen an. Sie glänzten so stark, dass uns die Augen wehtaten.
»Wir könnten sie unter uns aufteilen. Jeder bekommt einen …«, schlug Eddie vor.
»Aber es sind drei Dollar und wir sind zu viert«, widersprach ich. »Auch wenn Joju und Tit Geschwister sind.«
»Mit einem Dollar kann man schon etwas Schönes kaufen«, stellte Julie fest. »Aber drei Dollar sind ein Vermögen. Ich finde, wir sollten gemeinsam entscheiden, wie wir sie ausgeben wollen.«
»Ich wette, dass uns Monsieur Travert für drei Dollar seinen halben Drugstore verkauft«, meinte Eddie. »Dann könnte ich Toffees essen, bis ich platze!«
»Stattdessen könnten wir aber auch zu Monsieur Fabron gehen und ihm ein Ferkel abkaufen«, schlug ich vor. »Wir halten es bei unserer Hütte und bringen ihm Essensreste von zu Hause mit. Wenn es groß und dick ist, verkaufen wir es wieder und kaufen uns für das Geld drei oder vier Ferkel. Wir bauen uns eine Schweinemast auf und in fünf Jahren sind wir alle reich.«
»Aber fünf Jahre sind ganz schön lange«, rief Eddie aus. »Und wenn das Ferkel krank wird und stirbt?«
»Ich kann gut mit Tieren umgehen«, widersprach ich. »Deswegen helfe ich immer bei Fabron aus, wenn sie mich brauchen …«
»Aber das bedeutet doch nicht …«
Während wir uns stritten, betrachtete Julie schweigend die Dollarmünzen. Auf einmal lächelte sie, hob die Münzen auf und schloss die Finger zur Faust.
»Ich habe eine bessere Idee!«, verkündete sie.
»Was denn?«, wollte ich wissen.
»Der Katalog«, antwortete sie. »Wir könnten etwas aus dem Katalog kaufen.«
Wir alle wussten, welchen Katalog sie meinte: den berühmten Versandhauskatalog der Firma Walker & Dawn. »Die niedrigsten Preise! – Geben Sie Ihr Geld klug aus! – Bei Nichtgefallen Geld zurück!« In seiner Werbung behauptete das Versandhaus, sein Katalog sei nach der Bibel das in Amerika meistgelesene Buch. Ich glaube eher, dass der Katalog mehr Leser als die Bibel hatte, denn in unserer Gegend, zum Beispiel, konnten nicht viele Leute lesen und der Katalog hatte Bilder.
Tja, die Bilder! 2000 Seiten voller Artikel und für jeden gab es eine schöne, genaue Abbildung. Es war beinahe so, als hätte man die Ware vor sich.
In dem Katalog gab es Knöpfe, Medikamente, Hammer und Geräte für die Landwirtschaft. Kutschen. Sättel. Schmuck und Uhren, Hüte und Kleidung, Damenschuhe. Gewehre. Angelruten. Boxhandschuhe. Bausätze für ganze Häuser. Egal, was man brauchte, was man sich wünschte, woran man gerade dachte: Man konnte sicher sein, es im Katalog zu finden, zusammen mit einer schönen Zeichnung in Schwarz-Weiß, einer kurzen Beschreibung und natürlich dem Preis.
Monsieur Fabron behauptete, vor vielen Jahren hätte man im Katalog auch afrikanische Sklaven bestellen können, doch ich glaube, das war ein Witz. Monsieur Fabron war ein Scherzkeks. Ich hätte es jedenfalls nicht gut gefunden, wenn man sich Tit aus einem Katalog hätte bestellen können. Oder vielleicht doch, denn dann hätte ich ihn sofort gekauft und ihn Julie geschenkt, damit sie wieder zusammen sein konnten.
Für unsere Bande jedenfalls war der Katalog das Fantastischste, was wir uns vorstellen konnten. Er wurde allen Haushalten im Bayou ungefähr zum Jahresanfang zugestellt und wenn er kam, war das ein Fest, vielleicht ein besseres noch als Weihnachten.
Mama setzte sich abends nach dem Essen mit dem Katalog im Schoß in den Schaukelstuhl. Sie ließ ihren Zeigefinger über die Seiten wandern und wenn sie etwas Interessantes entdeckt hatte, fragte sie mich: »Te Trois, was steht hier geschrieben?«
Ich las es ihr vor.
Dann fragte sie mich immer: »Te Trois, was kostet es?«
Und ich las ihr den Preis vor. Sie lächelte dann, ohne etwas zu sagen, und ihr Finger bewegte sich weiter über die Seite, so als hätte er schon wieder alles vergessen.
Ein Mal, ein einziges Mal nur war ihr Finger an einer Stelle geblieben. Das war vor zwei Jahren gewesen, als unser alter Herd geplatzt war und die Glut auf den Fußboden gespuckt hatte, sodass unser Haus beinahe abgebrannt wäre.
Wir konnten den Herd nicht mehr benutzen und so war es im Haus eine ganze Weile lang kalt geblieben, aber schließlich war es nicht mehr auszuhalten gewesen und Te Cinq, mein jüngster Bruder, hatte sich erkältet und hohes Fieber bekommen und wäre beinahe daran gestorben. Also ein echtes Fieber, nicht so ein geschwindeltes Fieber wie bei Eddie.
Schließlich hatte sich Mama durchgerungen, einen neuen Herd zu kaufen. Viele Abende lang hatte ich ihr immer wieder die Katalogseiten mit den Herden vorlesen müssen, hatte auf ihre Bitte hin ständig die Preise und die Beschreibungen wiederholt und bei jedem hatte sie nur den Kopf geschüttelt, aber am folgenden Abend hatte ich wieder vorlesen müssen.
Der billigste Herd sollte 5 Dollar und 75 Cents kosten, aber mit Versand und allem Drum und Dran kam er insgesamt auf 7 Dollar. Mama ging mit Nina, unserer Stute, in die Stadt und als sie zurückkam, hatte sie die Stute nicht mehr dabei, dafür aber das Geld für den Herd.
Es hatte mir leidgetan, denn Nina war ein gutes Pferd gewesen, und von dem Tag an mussten Te Deux und ich den Wagen ziehen, aber es war eben nicht anders gegangen.
Im Winter hat man einen Herd einfach nötiger als ein Pferd.
Ich merke gerade, ich habe den Faden verloren. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass Joju eine großartige Idee gehabt hatte und dass der Katalog mit Sicherheit die Lösung für unser Problem war. Wenn wir unser Geld gemeinsam ausgaben, dann für etwas aus dem Katalog. Wir waren sofort alle einverstanden.
Also drehte ich mit dem Einbaum um und paddelte schnell zu unserer Hütte zurück. Ich zog das Boot an Land und Julie und Eddie halfen mir, es mit Zweigen abzudecken, damit es niemand sah und womöglich noch klaute.
In den Fußboden der Hütte gruben wir ein Loch, legten die drei Dollar hinein und machten das Loch wieder so zu, dass man es nicht mehr sah. Danach begaben wir uns auf den Heimweg. Ich ging voraus, weil ich die sicheren Stellen zwischen dem Treibsand am besten kannte, dann kamen Hand in Hand Tit und Joju, und schließlich Eddie als Letzter.
An der Kreuzung hinter der Wackelbrücke verabschiedete ich mich von den anderen. Eddie wohnte in der Stadt, wo sein Vater die Praxis hatte, während Joju und Tit hinter der Plantage von McCoy in einem Häuschen lebten, das um einiges hässlicher und schiefer war als unsere Hütte.
Und ich … na ja, ich wohnte eben zu Hause.
In unserem Haus lebten wir zu fünft: Mama, mein ältester Bruder Chuck, mein zweitältester Bruder Te Deux, ich und Te Cinq.
Mein Papa starb, als ich noch sehr klein war, deshalb kann ich mich kaum an ihn erinnern. Te Quatre kam ein Jahr nach mir zur Welt und verließ sie wieder, als ich noch Windeln trug, deshalb habe ich keinerlei Erinnerungen an ihn. Mama wollte seinen Namen nicht mehr nehmen, der »der Vierte« bedeutet, deshalb war Te Cinq von Anfang an »der Fünfte« und würde es auch immer bleiben.
Außer Mama waren wir also alle Jungs und sie nannte uns immer »meine kleine Armee«. Das machte mir nichts aus, mich störte nur, dass auch Chuck dazugehörte, der nie irgendetwas tat, außer dumm daherzureden und ständig Kopfnüsse auszuteilen.
Als ich bei unserer Farm ankam, sah ich Te Cinq, der draußen im Schlamm spielte, und Te Deux, der die Tiere fütterte und mir zurief, ich solle ihm dabei helfen.
Ich hatte überhaupt keine Lust dazu, doch Te Deux sagte: »Mach es, glaub mir, das ist besser für dich.«
Ich ging zu ihm hin, nahm ihm einen Eimer Schweinefutter ab und wollte wissen, wie er das meinte. Er antwortete nicht, sondern schenkte mir nur ein schiefes Grinsen.
»Wo warst du heute?«, fragte er.
»Bei Fabron«, erwiderte ich. »Ich habe beim Reparieren der Scheune geholfen.«
»Ach so«, meinte er. »Dann bist du ja sicher müde.«
»Ja, ganz ordentlich.«
»Das will ich glauben.«
Te Deux war 15 Jahre alt und inzwischen genauso groß und stark wie Chuck, aber im Gegensatz zu Chuck war er gutmütig und konnte nicht lügen, man sah es ihm schon an den Augen an.
»Ist etwas passiert?«, fragte ich, doch Te Deux seufzte nur, nahm mir den Eimer ab und kippte den Schweinen ihr Futter in den Trog.
Eine Weile sahen wir zu, wie sich die Schweine gegenseitig vom Trog wegzudrängen versuchten, so als ob wir ihnen irgendwelche tollen Leckereien hineingelegt hätten.
»Geh zu Mama«, seufzte Te Deux. »Sie wartet auf dich.«
Ich kannte meinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass ich nicht mehr aus ihm herausholen konnte. Also ließ ich ihn bei den Schweinen zurück und ging die Stufen zur Veranda hinauf. Im letzten Augenblick dachte ich daran, mir die schmutzigen Schuhe an der Matte abzuputzen.
Mama stand in der Küche und rührte in dem Topf mit dem Courtbouillon, einer Fischsuppe, die zufällig auch mein Leibgericht ist.
In der Küche war es unerträglich heiß. Ein schmieriger feuchter Belag bedeckte die Wände und über dem Esstisch kreiste ein Schwarm dicker schwarzer Fliegen.
Als sie mich eintreten sah, blies sich Mama eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie an jedem Tag, der seit Papas Tod vergangen ist, war sie ganz in Schwarz gekleidet. Sie hatte sich die Ärmel hochgekrempelt und so konnte ich ihre Muskeln sehen. Sie war so stark, dass sie wahrscheinlich sogar Monsieur Dubois, den stärksten Mann in unserer kleinen Stadt, beim Armdrücken besiegen könnte, wenn sie nur wollte.
»Da bist du ja«, sagte sie.
»Entschuldige, dass ich spät komme, aber wir haben länger gebraucht als gedacht …«
»Und wie geht es Michel?«
Michel Fabron war der jüngste Sohn von Monsieur Fabron. Er war so alt wie ich.
»Sehr gut«, antwortete ich. »Wir waren stundenlang auf dem Dach und es war unglaublich heiß.«
Meine Mutter sah mich an, nur einen kurzen Augenblick lang. Und genau in diesem Augenblick merkte ich, dass etwas nicht stimmte.
»Ach ja?«, meinte sie. »Das freut mich aber, dass Michel es schon heute wieder aufs Dach geschafft hat. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so schnell wieder erholt.«
Mittlerweile hatte ich die Gewissheit, dass etwas passiert war.
»Gegen drei kam Monsieur Fabron her«, fuhr Mama fort. »Michel ist auf einem Anlegesteg ausgerutscht und hat sich ein Bein gebrochen und Monsieur Fabron hat sich unsere Kutsche ausgeliehen, um ihn zu Doktor Brown zu bringen.«
Doktor Brown, das war Eddies Vater.
»Und weißt du, was komisch ist? Monsieur Fabrons Scheune musste überhaupt nicht repariert werden. Und als wir in der Stadt waren – ich bin natürlich mitgefahren –, mussten wir erst einmal Doktor Brown suchen, denn der lief überall herum und suchte seinen Sohn. Und er hat mich gefragt, ob ihr, Eddie und du, nicht vielleicht heimlich in den Bayou gegangen seid, um mit irgendwelchem nutzlosen und gefährlichen Zeug die Zeit zu vergeuden …«
Ich seufzte so tief, dass ich es bis in die Zehenspitzen hinein spürte. »Entschuldige, Mama.«
Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Kannst du mir bitte erklären, was du den ganzen Tag lang gemacht hast, anstatt zu den Fabrons zu gehen?«
»Ich war mit Eddie unterwegs«, beichtete ich. »Wir waren angeln.«
»Und wo sind die Fische? Dann hätten wir wenigstens was für die Suppe.«
Ich hatte allerdings keinen noch so kleinen Fisch dabei, denn nachdem wir die drei Dollar geangelt hatten, waren wir zur Hütte zurückgekehrt und dann nach Hause gegangen.
Mama schüttelte den Kopf. »Te Trois, du bist jetzt wirklich kein Kind mehr …«
Ich wusste schon, wie es ab jetzt weitergehen würde, und hatte überhaupt keine Lust, mir die Predigt länger anzuhören, denn wenn Mama so traurig aussah, schnürte es mir immer das Herz zusammen.
So blieb ich mit gesenktem Kopf neben ihr stehen und sie hielt ihre übliche Rede. Sie schloss mit den Worten, dass ich jetzt wohl besser ohne Abendessen ins Bett gehen sollte, denn vermutlich hatte ich ja mit Eddie den ganzen Tag über Fische gegessen. Und dass es besser wäre, wenn ich mich von jetzt an so verhielt, dass ich sie nicht mehr anzulügen bräuchte.
Ich hatte einen derartigen Hunger, dass ich den ganzen Topf Courtbouillon allein hätte aufessen und den Topf danach noch gründlich mit Brot auswischen können, wenn noch Brot da gewesen wäre. Doch ich seufzte nur und ging auf mein Zimmer. Im Grunde hätte ich wirklich daran denken sollen, ein paar Fische mitzubringen.
Mein Zimmer war im ersten Stock und sehr klein und ich schlief darin zusammen mit Te Deux und Te Cinq. Weil Chuck der Älteste war, hatte er ein Zimmer ganz für sich allein. Zu dritt in dem kleinen Zimmer hatten wir kaum genügend Platz zum Schlafen und es kam nicht oft vor, dass ich es ganz für mich allein haben konnte. Ich schloss nicht nur die Tür, sondern band auch die Türklinke mit einem Bindfaden fest. Dann zog ich unter der Matratze meine Schatzkiste vor, eine Holzschatulle, die ich im vorigen Sommer selbst gebastelt hatte.
Drinnen waren alle meine Schätze, Dinge, die nicht in die Hände von Te Cinq oder Chuck geraten sollten, wie zum Beispiel eine indianische Pfeilspitze, die ich im Bayou gefunden hatte, eine Eichhörnchenpfote und eine Seeadlerfeder und dann noch ein Stück geschnitztes Holz.
Ich wühlte eine Weile in der Schatulle herum, dachte dabei aber die ganze Zeit an die drei Dollar und daran, was wir alles damit anfangen könnten.
Irgendwann läutete Mama unten die Glocke und meine Brüder kamen zum Essen ins Haus. Chucks Stimme übertönte die der anderen. Er fragte, wo ich stecke, und dann schimpfte er, ich sei ein Faulpelz und Tunichtgut.
Aber mir war es sowieso egal, wie Chuck über mich dachte.
Ich band die Klinke los, öffnete die Tür ganz behutsam, damit sie nicht knarzte, und schlich mich in das Zimmer von Mama, die immer noch in dem großen Doppelbett schlief wie früher, als Papa noch am Leben war.
Auf dem Nachttisch lag ihre Schlafhaube. Daneben waren eine Kerze und der Katalog.
Auf dem Umschlag des Katalogs war eine Weltkugel abgebildet und ein Zug, der mit Volldampf um die Welt fuhr. Der Katalog war schon ziemlich zerfleddert, denn wir blätterten jeden Abend darin herum, Mama am längsten von uns allen.
Blitzschnell griff ich nach dem Katalog und schlich mich in mein Zimmer zurück. Dort legte ich mich aufs Bett und blätterte Seite um Seite um. Ich sah Silberlöffel, über die sich Mama sicherlich sehr gefreut hätte, und Gegenstände, von denen ich gar nicht wusste, wozu sie gut waren, wie zum Beispiel ein »Rheostat«. Es gab Klaviere zu 50 Dollar und Geigen zu zwei Dollar. Es gab Unmengen von Büchern, mehr noch, als Eddie besaß. Es gab auch Schreibfedern, Tintenfässer und andere Sachen für die Schule (und es wäre mir nicht im Traum eingefallen, sie zu kaufen). Ein Fahrrad zu acht Dollar (das ich dagegen sehr gern gekauft hätte). Mehrere Seiten mit Klappmessern, eines schöner als das andere. Barbiersessel wie der von Monsieur Finch, unserem Friseur. Laternen. Bohrer. Hemdkragen.
Und …
Als ich ihn erblickte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Denn ich hatte genau das Richtige gefunden. Den perfekten Artikel. Und er kostete sogar weniger als die drei Dollar, die wir ausgeben konnten.
Nachts war der Bayou ein Ort, an dem Gespenster umgingen. Die Bäume wuchsen in der Dämmerung immer höher, bis sie zu Schatten wurden, die bis zum Himmel hinaufreichten. Die Lianen an ihren Ästen schaukelten sanft im Wind wie die Fäden riesiger Spinnennetze.
Wasser und Schlamm vereinigten sich zu einer Masse, die wie Glas glänzte und so gefährlich wie eine gespannte Bärenfalle war. Seltsame Geräusche erklangen, Tierlaute und Klänge wie aus Albträumen. Es stank nach Fäulnis, wie aus dem Maul eines Raubtiers.
Ich wusste natürlich, dass das alles Quatsch war und dass es in Wirklichkeit weder Ungeheuer noch Gespenster gab. Nur ein Verrückter wie Eddie glaubte an derartige Dinge. Dennoch fand auch ich den Bayou nachts beeindruckend, und wer das nicht nachvollziehen konnte, der war für mich noch dümmer als die Leute, die an Gespenster glauben.
Sobald alle schliefen, hatte ich das Fenster geöffnet und war hinausgeklettert. Te Cinq wachte genau in dem Augenblick auf, als ich über das Fensterbrett stieg, doch er sagte nichts, weil er genau wusste, dass ich ihm eine Tracht Prügel verpassen würde, wenn er mich verriet. De Deux dagegen hätten nicht einmal Gewehrschüsse wach gekriegt.
Ich rannte durch die Finsternis, in der einen Hand eine Laterne, die ich jedoch nicht angezündet hatte, in der anderen Hand den Katalog. Zwei Tage lang hatte ich ihn ständig durchgeblättert und inzwischen kam es mir vor, als kenne ich ihn auswendig. Aber ich kehrte immer wieder zu dem Artikel zurück, der mich so beeindruckt hatte, an dem Abend, als Mama sich über meine Lüge mit der Scheune geärgert und mich ohne Abendessen ins Bett geschickt hatte.
An diesem Nachmittag war es Eddie gelungen, von zu Hause wegzukommen und bei unserer Farm vorbeizuschauen. Er hatte mir einen Zettel dagelassen, auf den er mit blauer Tinte ein einziges Wort geschrieben hatte: MITTERNACHT.
Der Bayou begann hinter der Wegkreuzung. Ab dort ging es durch Unkraut weiter, das mir bis zur Brust reichte, über Pfützen und zwischen Bäumen hindurch.
Ein Feigling hätte an diesem Punkt die Laterne angezündet, aber damit hätte ich mir ziemliche Probleme eingehandelt. Denn in dem blendenden Licht kann man feste Erde nicht mehr vom Treibsand unterscheiden. Früher oder später hätte ich den Boden unter den Füßen verloren, der Sumpf hätte mich verschlungen und das wäre es dann gewesen. Außerdem zieht Licht Tiere an und wenn es im Bayou auch keine Gespenster und Irrgeister gibt, so gibt es dort auf jeden Fall Schlangen.
Ohne dass es mir bewusst war, begann ich zu pfeifen, ließ es aber bald wieder sein. Denn obwohl ich im Dunkeln so gut sehe wie ein Luchs, könnte ich nicht gerade behaupten, dass ich mich nachts im Bayou richtig wohl und wie zu Hause fühle.
Plötzlich kam es mir vor, als hätte ich ein Geräusch gehört, so etwas wie einen erstickten Schrei, und zwischen den Bäumen blitzte etwas Weißes auf. Nun erklang ein unheimliches Rascheln.
Es war, als verwandelten sich meine Füße augenblicklich in Wurzeln. Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen. Das Weiße, Raschelnde erschien und verschwand abwechselnd und ich begriff, dass es sich näherte. Schlagartig lösten sich meine Füße vom Boden und taten ihre Pflicht, indem sie mich zur Wackelbrücke trugen, und zwar in einem Tempo, dass die Laterne in meiner einen Hand wild hin und her schaukelte und die 2000 Seiten des Katalogs nur so rauschten.
Ein Gespenst, ein Gespenst, ein Gespenst! Das Herz hämmerte in meiner Brust und ich hatte gerade die Brücke erreicht, als mich das grauenhafte Wesen ansprang und zu Boden warf. Ich versetzte ihm ein Fausthieb und das Wesen schrie: »Aua!«
Seine Stimme klang genau wie die von Eddie.
Dann verschob sich das Laken und ich sah, dass ich es tatsächlich mit Eddie zu tun hatte, dem die Brille schief auf der Nase saß. Ich bekam eine derartige Wut auf ihn, dass ich ihn noch einmal mit der Faust schlug, in den Bauch, und gleich danach gab es noch einen Tritt, damit er sich abgewöhnte, mir so idiotische Streiche zu spielen.
Er versuchte, mich zu kratzen, als wäre er ein Mädchen. Als er merkte, dass er mich dadurch nur noch wütender machte, fing er an zu jammern, wie er es immer macht, wenn er Schläge einstecken muss.
»Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Schwachsinn!«, knurrte ich. »Du wolltest, dass mir das Herz stehen bleibt!«
»Das stimmt nicht. Ich war nur gerade dabei, mit dem Sumpf Kontakt aufzunehmen, und der Geist des Bayou hatte mir befohlen, jeden Eindringling zu vertreiben …«
»Das ist Blödsinn, außerdem bin ich kein Eindringling.«
»Klar, weiß ich«, entgegnete Eddie. »Aber der Geist des Bayou weiß es eben nicht.«
Vielleicht hatte er ja recht, vielleicht auch nicht. Ich ärgerte mich darüber, ihm auf den Leim gegangen zu sein wie ein Anfänger, aber vielleicht konnten wir Joju denselben Streich spielen.
Eddie und ich versteckten uns eine Weile hinter einem Baum, aber wir hörten weder Joju noch Tit kommen. Irgendwann wurde uns die Warterei zu langweilig und wir gingen über die Brücke und die festen Stellen zwischen dem Treibsand zu unserer Hütte. Unter der Tür schien Licht durch: Joju war bereits da.
Tit lag in einer Ecke zusammengerollt wie ein Bärenbaby und schlief. Julie aber saß im Kerzenschein vornübergebeugt auf einer umgedrehten Kiste und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Schon beim Eintreten merkte ich, dass etwas nicht stimmte.
Zum einen, weil Joju uns nur schweigend ansah, anstatt uns zu begrüßen. Zum anderen, weil sie am Hals einen dicken blauen Fleck hatte – und zwar nicht die Art blauer Fleck, die man bekommt, wenn man von einem Baum runterfällt oder auf der Treppe stolpert.
Ich kannte Joju inzwischen schon ziemlich lange und hatte sie gern, und ich wusste, wenn sie diese Art von blauen Flecken hatte, dann war es besser, sie in Ruhe zu lassen.
Eddie dagegen war schon immer schwer von Begriff gewesen. Er rückte seine Brille zurecht und rief: »Wow, Julie, was ist denn mit dir passiert?«
Das war so ziemlich das Falscheste, was man überhaupt tun konnte, und ich befürchtete schon, Julie würde aufspringen und ihn verhauen.
Stattdessen warf sie ihm nur einen Blick zu und antwortete: »Nichts.«
»Wie, nichts? Du bist bedrückt und es sieht aus, als hätte dir jemand …«
Und dann sagte er nichts mehr, denn mein Freund Eddie ist vielleicht manchmal ein ziemlicher Idiot, aber im Grunde ist er ein guter Junge, der um nichts in der Welt anderen wehtun würde.
Ich hüstelte. Dann zog ich den Katalog unter meinem Hemd vor. Dabei sah ich, dass er bei der Rauferei mit Eddie eine gute Portion Schlamm abbekommen hatte, aber in dem Moment war mir das egal.
Ich sagte: »Kommt her, schaut mal, was ich gefunden habe.«
Eddie und ich setzten uns zu beiden Seiten von Jojus Kerze. Ich hob kurz den Blick und sah in ihr Gesicht und in ihre dunklen Augen, die in diesem Moment hart und kalt wie kleine schwarze Steine wirkten.
Ich wusste nicht, ob an dem blauen Fleck Julies Mutter schuld war oder aber jemand anderer, vielleicht einer der vielen Männer, die Julies Mutter in der Hütte hinter der Plantage hin und wieder besuchten. Auf jeden Fall, dachte ich, ist es besser, keine Fragen zu stellen und den Mund zu halten. Denn es gibt Schläge, die sichtbare Spuren hinterlassen, und andere Schläge, die unsichtbare Spuren hinterlassen, und gewöhnlich sind es Letztere, die stärker wehtun.
Stattdessen schlug ich den Katalog auf, gleich auf der richtigen Seite, aber ich legte eine Hand so drauf, dass die anderen nicht sehen konnten, was ich gefunden hatte.
»Ich weiß, wie wir unsere drei Dollar ausgeben können.«
»Wie?«, fragte Eddie und versuchte, meine Hand wegzuziehen.
Aber ich wollte mir die Überraschung nicht verderben lassen. Mit einem breiten Grinsen sagte ich: ›Wir kaufen uns einen Polizei-Revolver.‹ Und endlich ließ ich die andern die Abbildung im Katalog sehen. ›Automatisch nachladender Revolver mit Double-Action-Abzug. Kaliber 38, geriffelter Lauf. Alles in allem eine sichere und vertrauenswürdige Waffe. In Einzelteile zerlegbar«, las ich vor.
Weil der Revolver weniger als zwei Dollar kostete, würde genügend Geld für die Munition und die Versandkosten übrig bleiben. Und vielleicht auch noch ein paar Cents für Toffees aus Monsieur Traverts Drugstore.
Im Geiste sah ich mich schon mit dem Revolver im Gürtel durch die Stadt gehen, wie ein richtiger Sheriff. Am Sonntag würde ich warten, bis Donnie Le Beau mit seinem affigen neuen Hut aus der Kirche kam, und dann: Bumm!, würde ich ihm das Hütchen vom Kopf schießen. Seine Freunde würden ihn auslachen und Becky, die bisher nur Augen für ihn gehabt hatte, würde endlich mich ansehen und …
»Was sollen wir mit einem Revolver?«, fragte Eddie.
»Wie, was?«, fragte ich zurück, denn eine so dämliche Frage hätte ich selbst von Eddie der Grille nicht erwartet.
»Ich meine, du hast doch schon ein Gewehr zu Hause. Mit einem Gewehr kann man viel weiter schießen …«
»Du denkst einfach nicht weit genug!«, erwiderte ich etwas beleidigt. »Weißt du überhaupt, wer Billy the Kid ist? Jesse James? Butch Cassidy?«
Eddies Augen hinter den Brillengläsern wurden immer größer.
»Das sind … Verbrecher«, stotterte er verwirrt.
»Das sind die größten Verbrecher der Welt«, widersprach ich. »Und schießen Verbrecher etwa mit Gewehren? Natürlich nicht. Jeder Farmer hat ein Gewehr. Sie dagegen schießen mit Revolvern!«
Nachdenklich kratzte sich Eddie am Ohr. »Ich weiß nicht, ob sie wirklich mit Revolvern schießen, aber wenn ich ein Ziel treffen will, ist ein Gewehr einfach besser. Joe der Indianer hat mit seinem Gewehr sogar schon mal einen Bären erschossen. Mit einem Revolver kann man das gar nicht.«
»Natürlich kann man das nicht«, entgegnete ich. »Und darum geht es ja auch: Gewehre nimmt man für die Jagd, während Verbrecher Revolver benutzen, weil das heldenhafter ist. Wenn wir also einen Revolver haben, können wir auch Helden sein.«
»Aber ich will doch kein Verbrecher werden«, protestierte Eddie.
Ich seufzte. »Deshalb kaufen wir uns ja einen Polizei-Revolver. So steht es doch auch im Katalog drin, oder?«
Eddie begann Einsicht zu zeigen. Deshalb bearbeitete ich ihn noch ein bisschen und erklärte ihm, dass sie uns vielleicht zu Sheriffs ernennen würden. Möglicherweise gaben sie sogar jedem von uns einen Stern, den wir uns ans Hemd stecken konnten. Sie würden alle Respekt vor uns haben und wir würden viele Abenteuer erleben, so wie die Helden in den Heftchen, die wir in den Kisten auf dem Speicher von Eddies Eltern gefunden hatten.
Joju hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Nun hob sie den Kopf und murmelte: »Ich bin dafür. Ich wüsste mit einem Revolver schon etwas anzufangen.«
In diesem Augenblick kam aus Tits Ecke ein Gähnen. Wir werteten es als ein »Ja«, und damit war der Beschluss gefasst.
Zumindest theoretisch, denn wenn wir uns wirklich den Revolver aus dem Katalog bestellen wollten, blieb noch viel zu tun.
Wir konnten natürlich nicht zu Monsieur Quenau, dem Briefträger, gehen und ihm den Brief mit der Bestellung anvertrauen. Es konnte gut sein, dass er schnurstracks zu unseren Eltern lief und uns verriet und dann steckten wir wirklich in Schwierigkeiten.
Noch schlimmer wäre, wenn Monsieur Quenau merkte, dass in dem Briefumschlag Geld für die Versandkosten war: Er könnte den Brief einfach öffnen und das Geld in die eigene Tasche stecken.
Wir mussten alles gründlich durchdenken, denn wir würden keine zweite Chance bekommen. So verbrachten wir den Rest der Nacht damit, verschiedene Ideen zu entwickeln, bis wir endlich einen guten Plan hatten.
Von uns allen konnte Eddie am besten schreiben und lesen und bei ihm zu Hause mangelte es auch nicht an Papier und Tinte. Deshalb übernahm er das Schreiben des Briefes und versprach, gut darauf zu achten, dass er die Bestellnummern für Revolver und Munition auch richtig abschrieb.
Joju steckte eine unserer drei Dollarmünzen ein und ging damit zum Drugstore, um Briefmarken zu kaufen. Sie war die Einzige von uns, die sich frei bewegen konnte, ohne dass die Leute sie schief anschauten. Vielleicht war es aber auch nur so, dass die Leute sie sowieso schief anschauten, egal, was sie tat, und sie deshalb machen konnte, was sie wollte. Außerdem würde sich niemand wundern, wenn sie mit einem ganzen Dollar in der Hand herumlief, weil ihr die Freunde ihrer Mutter ab und zu Geld gaben und sie oft für ihre Mutter und Tit und alle anderen einkaufen ging. Jedenfalls kam Joju mit drei Briefmarken zurück, die 40 Cents gekostet hatten. Auf der einen war ein Dampfer abgebildet, auf den beiden anderen ein Zug, der mit viel Dampf auf seinen Gleisen dahinfuhr. Die Abbildungen waren so schön, dass wir kurz überlegten, ob wir das mit der Pistole nicht sein lassen und uns für das Geld lieber Briefmarken kaufen sollten.
Als alles andere erledigt war, kam ich an die Reihe und wie immer war mein Part der schwierigste. Ich nahm den Brief, den Umschlag, die Briefmarken und einen halben Dollar für die Versandkosten an mich und bereitete mich geistig auf die Übergabe vor.
Monsieur Quenau trug in unserer Gegend einmal in der Woche die Post aus. Früh am Morgen fuhr er mit seiner kleinen Kutsche los und machte die Runde von Farm zu Farm. Er lieferte die Briefe und Pakete ab und nahm alles mit, was über das Postamt in New Orleans abgeschickt werden sollte.
Gegen Mittag machte Monsieur Quenau in einem der Häuser auf seiner Route Pause. Gewöhnlich wurde er von Familie Fabron zum Mitessen eingeladen oder von den La Fontaines, den Besitzern der größten Baumwollplantage der Gegend. Wenn er abends in die Stadt zurückkehrte, genehmigte sich Monsieur Quenau gerne in der Bar ein Gläschen oder zwei, und es konnte gut sein, dass er hinterher auf die Idee kam, die Briefe durchzusehen, die ihm mitgegeben worden waren, bevor er sie bei dem Postkutscher ablieferte, der sie nach New Orleans brachte.
Es konnte viel schiefgehen, aber wenn wir den Revolver haben wollten, mussten wir es riskieren. An dem festgelegten Tag schlich ich mich heimlich aus dem Haus, rannte, so schnell ich konnte, zum Stadtrand und kletterte auf eine große Zypresse mit bequemen Kletterästen, die am Straßenrand wuchs. Ich sah, wie Monsieur Quenau an der Kreuzung links abbog, und begriff, dass er an diesem Tag die lange Runde fuhr und deshalb mit Sicherheit bei den La Fontaines vorbeikommen würde. Also ging ich dorthin und wartete in der Nähe der Plantage auf ihn.
Ich hatte gehofft, er würde bei den Fabrons essen, denn dort war ich oft und die Hunde kannten mich. Aber ich war mir sicher, dass ich es auch hier schaffen würde.
Ich lief zwischen den Hütten der schwarzen Plantagenarbeiter hindurch, unterhielt mich mit den Frauen und bekam ein Stück Wassermelone geschenkt. Als Quenau kam und in die Küche ging, kletterte ich heimlich auf seine Kutsche und steckte unseren Brief in die Posttasche zwischen die anderen.
Es war geschafft oder zumindest hoffte ich das. Ich kehrte nach Hause zurück, wo Mama mir eine Szene machte, weil ich, ohne Bescheid zu sagen, verschwunden war. Als wir uns an dem Abend in unserer Hütte trafen, konnte ich meinen Freunden sagen, dass alles in Ordnung war und dass uns jetzt nichts anderes zu tun blieb, als zu warten.
Und so warteten wir eben.
Ungefähr in diese Zeit fiel der Mord an Mr Darsley.
Edgar. . Darsley war ein Sträfling, also ein Verbrecher, der sich von der Polizei hatte schnappen lassen und deshalb ins Gefängnis gekommen war. Er musste etwas ziemlich Schlimmes angestellt haben, denn die Richter hatten ihm eine lebenslängliche Gefängnisstrafe aufgebrummt.
Eines Nachts gelang es Mr Darsley, aus dem Gefängnis auszubrechen, in dem er einige Jahre eingesperrt gewesen war. Es war eine Meisterleistung: Darsley hatte einen Wärter niedergeschlagen. Während dieser hilflos am Boden lag, nahm Darsley ihm die Schlüssel ab und schloss alle Türen auf, um in den Gefängnishof zu gelangen. Dort schlüpfte er in einen Gully und entkam wie eine Ratte durch die Kanalisation von Chicago.
Allerdings wurde sein Ausbruch sofort bemerkt, die Polizei verfolgte seine Spur und fand ihn in einer dunklen Gasse. Festnehmen konnte sie ihn allerdings nicht mehr, denn Darsley war mausetot: Jemand hatte ihn umgebracht.
Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Freunde und ich natürlich noch nie etwas von Darsley gehört und hatten auch keine Ahnung davon, was in Chicago passiert war. Doch in gewisser Weise war es genau jene Nacht, in der alles begann. Und wenn Mr Darsley einfach brav in seiner Zelle geblieben wäre, wäre überhaupt nichts passiert. Ich hätte einen schönen Sommer mit dem soeben fertiggestellten Einbaum verbringen können und das wäre alles gewesen.
Doch Mr Darsley brach aus, wurde mit drei Schüssen in die Brust ermordet und eine Kette von Ereignissen kam in Gang. Wie Reverend Thompson in der Sonntagsschule immer sagt, lässt sich die Vergangenheit nicht ändern. Deshalb muss man sich immer gut überlegen, was man macht, denn wenn eine Vase erst mal zerbrochen ist, ist und bleibt sie kaputt.
Ich, Eddie, Joju und Tit warteten und warteten. Wir wussten, dass es einige Zeit dauern würde, bis unsere Bestellung die Büros von Walker & Dawn erreichte. (Walker & Dawn ist die Firma, die den Katalog herausgibt.) Was wir nicht wussten war, dass es so lange dauern würde.
Als Monsieur Quenau in der folgenden Woche seine Postrunde machte, wären ihm Julie und ich am liebsten heimlich von Haus zu Haus gefolgt. Und als uns klar wurde, dass er nicht den Weg einschlug, der zu unserer Farm führte, war die Enttäuschung groß.
In der folgenden Woche war es noch schlimmer, denn Mama hatte mir eine grässliche Aufgabe zugewiesen: Ich sollte Te Deux und Chuck dabei helfen, ein neues Gehege für die Gänse zu bauen. Weil ich der Kleinste war, machten die beiden anderen all die interessanteren Sachen, schnitten die Bretter zu und nagelten sie zusammen, während ich nur der Laufbursche war und ihnen Axt, Hammer und Nägel hinterhertragen durfte. Monsieur Quenau kam zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt, noch vor dem Mittagessen, und sagte, er habe Post für uns. Ich lief zu ihm, um ihm das Päckchen abzunehmen, bevor jemand es merkte, doch Mama kam schon aus der Küche gelaufen und ich konnte überhaupt nichts tun. Zum Glück hatte Monsieur Quenau aber nicht unser Päckchen gebracht, sondern einen Brief von Tante Anne, die in Baton Rouge lebte, und ich musste ihn meiner Mutter vorlesen und dann einen langen und langweiligen Nachmittag damit verbringen, einen Antwortbrief zu schreiben.