HEINZ SCHILLING
1517
WELTGESCHICHTE
EINES JAHRES
C.H.BECK
«1517» ist das etwas andere Buch zur Reformation. Es schaut nicht nur auf den Bauchnabel Wittenberg, sondern auf die ganze Welt. Wie sah diese Welt zur Zeit Luthers eigentlich aus? Heinz Schilling, einer der großen Kenner der Epoche, nimmt uns mit auf eine faszinierende Zeitreise, die uns nach Italien und Spanien, zu den Osmanen und Moskowitern, an den chinesischen Kaiserhof und ins Reich der Azteken führt. Sein wunderbares Buch öffnet die Augen dafür, dass Anfang des 16. Jahrhunderts nicht allein das Christentum, sondern eine ganze Welt in Bewegung war.
In diesem Buch wird das Zeitalter der Reformation aus einem ungewohnten Blickwinkel betrachtet. Es nimmt die Ereignisse von 1517 als Ausgangspunkt für eine Erkundung der Welt, in der Luther und seine Zeitgenossen lebten. Fremde Länder und Kontinente rücken dabei ins Licht, Machtkonstellationen und Lebensverhältnisse werden besichtigt, wir lernen den Geld- und Warentransfer kennen, die Erfindungen der Gelehrten und die Entdeckungen der Abenteurer. Neben die religiösen Kämpfe tritt der nach wie vor lebendige Glaube an Magie, Hexen und Dämonen. Spannend, kurzweilig und höchst informativ präsentiert Heinz Schilling mit seinem fulminanten Buch einen der originellsten Beiträge zum Reformationsjahr.
Heinz Schilling ist em. Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2012 seine viel gerühmte Biographie «Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs», die mittlerweile in der vierten Auflage vorliegt und eine Gesamtauflage von 40.000 Exemplaren erreicht hat.
PROLOG
Bergamo, Dezember 1517 – eine Schlacht der Geisterheere
Yukatan Frühjahr 1517/Mexico Karfreitag 1523 – die grausame Wiederkehr der Götter
Perldelta (Zhu Jiang), August 1517 – folgenreiche Unkenntnis des Zeremoniells
Stotternheim 1505 und Wittenberg 1517 – vom drohenden zum gnädigen Gott
1517 – EIN NEUER BLICK AUF DAS EPOCHENJAHR
I. ZWEI WELTREICHE UND EIN DRITTES ROM KÜNDIGEN SICH AN, ABER AUCH EIN STURM GEGEN UNTERDRÜCKUNG UND WILLKÜR
1. Kastilischer Herbst – Herrscherwechsel in Spanien und die Vision habsburgischer Vormacht in der Christenheit
2. Der frühmoderne Fürstenstaat und das Murren der Untertanen gegen die neuen Zwänge
3. Osmanischer Frühling – Triumph am Nil, auf der Arabischen Halbinsel und an den Küsten Nordafrikas
4. Eine wagemutige Reise in das andere Europa – über Polen und Litauen an den Moskowiter Hof
II. UM FRIEDEN UND STABILITÄT DES GELDES
1. Der neuzeitlich bedrängte Frieden – Querela pacis/Klage des Friedens aus dem Kampfgetümmel der Mächte und Dynastien
2. Eine kopernikanische Geldwerttheorie aus dem «entlegensten Winkel der Welt»
III. EUROPA UND DIE WEITERE WELT
1. Alte und Neue Welten
2. Der portugiesische Estado da India und der Zugang zum Reich der Mitte
3. März 1517, die Spanier auf Yukatan – erste Begegnung mit einer amerikanischen Hochkultur
IV. DIE RENAISSANCE UND EIN NEUES WELTWISSEN
1. «Calikutisch leut» und das Rhinozeros Odysseus – Übersee in Europa
2. Kultureller Aufbruch im Zeichen der Antike
3. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und ein Ritter-Humanismus in Mitteleuropa
4. Renaissance-Frauen
V. KOLLEKTIVE ÄNGSTE UND SEHNSUCHT NACH SICHERHEIT
1. Wunder, Magie, Hexen und Dämonen
2. Juden und Muslime als Gefahr für die christliche «Reinheit»
VI. DER PAPST IN ROM – ITALIENISCHER SOUVERÄN UND UNIVERSELLER PONTIFEX
1. Urbi et orbi – Rom im Bann des Medici-Papstes
2. Um die Reform der Christenheit an Haupt und Gliedern
3. Ein europäischer Frieden zum Kampf gegen die anstürmenden Osmanen
4. Die Pracht der Renaissance und die Ruine von St. Peter
5. 1517 – ein Jahr des Medici-Papstes
VII. DER MÖNCH IN WITTENBERG – EX ORIENTE LUX ODER DIE MORGENRÖTE DES PROTESTANTISMUS AN DEN GRENZEN DER ZIVILISATION
1. Wittenberg 1517 – Aufbruch «an den Grenzen der Zivilisation»
2. Der Augustinermönch und die deutsche Angst um das ewige Seelenheil
3. Der 31. Oktober – 95 Ablassthesen zur «Ergründung der Wahrheit» an die Kirchenhierarchie verschickt
4. Evangelische Reformation statt frivoler Kirchenkritik ohne Folgen
EPILOG:
1517 – EIN WUNDERJAHR
ALS AUFTAKT DER NEUZEIT?
ANHANG
ANMERKUNGEN
PROLOG
1517 – EIN NEUER BLICK AUF DAS EPOCHENJAHR
I. ZWEI WELTREICHE UND EIN DRITTES ROM KÜNDIGEN SICH AN, ABER AUCH EIN STURM GEGEN UNTERDRÜCKUNG UND WILLKÜR
II. UM FRIEDEN UND STABILITÄT DES GELDES
III. EUROPA UND DIE WEITERE WELT
IV. DIE RENAISSANCE UND EIN NEUES WELTWISSEN
V. KOLLEKTIVE ÄNGSTE UND SEHNSUCHT NACH SICHERHEIT
VI. DER PAPST IN ROM – ITALIENISCHER SOUVERÄN UND UNIVERSELLER PONTIFEX
VII. DER MÖNCH IN WITTENBERG – EX ORIENTE LUX ODER DIE MORGENRÖTE DES PROTESTANTISMUS AN DEN GRENZEN DER ZIVILISATION
EPILOG: 1517 – EIN WUNDERJAHR ALS AUFTAKT DER NEUZEIT?
QUELLENVERZEICHNIS UND LITERATUR
BILDNACHWEIS
PERSONENREGISTER
ORTSREGISTER
Fünfhundert Jahre – fünfzig Jahre
Ulla Fischer und Gottfried Schramm,
den Sternen der Freiburger Zeit
In Verdello auf dem Gebiet der oberitalienischen Kommune Bergamo, so verkündeten Briefe und Flugschriften sogleich der Christenheit, war Mitte Dezember 1517 Beunruhigendes zu beobachten: Eine Woche lang formierten sich dort auf einem weiten, vor einem Waldstück gelegenen Feld vier Mal täglich unter wehenden Bannern und von ihrem jeweiligen König angeführt, zwei Armeen mit Bataillonen von Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Nachdem die beiden Heerführer im freien Raum zwischen den Schlachtreihen längere Zeit verhandelt hatten, «sah man» – so der ausführliche Bericht der bereits am 23. Dezember veröffentlichen Flugschrift – «den besonders martialisch und ungeduldig wirkenden König seinen eisernen Handschuh von der Hand ziehen und in die Luft schleudern; und sogleich schüttelte er mit einem beunruhigten Gesichtsausdruck sein Haupt und wandte sich direkt an seine in Schlachtordnung formierten Männer. Und sogleich war ein gewaltiger Lärm von Trompeten, Trommeln und Rasseln sowie Schlägen der Artillerie zu hören – ich schätze nach Art der Höllenschmiede; und in der Tat kann dieser Lärm nur von dort stammen. Und dann sieht man, wie die Schlachtlinien sich unter Bannern und Standarten in den Kampf stürzen – mit Ingrimm und gegenseitigen Beschimpfungen, und in einer äußerst grausamen Schlacht schlagen sie sich alle gegenseitig in Stücke. (…) Eine halbe Stunde später ist alles ruhig und nichts Auffälliges mehr zu sehen. Jeder, der den Mut hat, nahe an diesen Platz heranzutreten, sieht eine endlose Zahl von Schweinen, die kurz verharren und dann in dem erwähnten Wald verschwinden.»[1]
Als die spanischen Konquistadoren im Frühjahr 1517 auf der Halbinsel Yukatan den Majas und sechs Jahre später am Karfreitag in Tenochtitlán/Mexiko den Azteken gegenüber traten, war das für die Angehörigen dieser mittelamerikanischen Hochkulturen ein kosmisches Ereignis, ganz ähnlich wie die Geisterschlacht von Bergamo für die christlichen Europäer. Allerdings deutete man das Erscheinen der Spanier nicht als böses, sondern als gutes Vorzeichen. Denn diese wurden freudig als versöhnt zurückkehrende Götter begrüßt, nachdem zuvor unheimliche Vorzeichen den Zorn der Götter und deren Willen, sich von der Erde zurückzuziehen, bekundet hatten. Ein kurz nach der Ankunft der Spanier in Náhuatl, der Verkehrssprache der Azteken, verfasster Bericht hat das ausführlich beschrieben:[2]
«Das erste böse Omen: Zehn Jahre bevor die Spanier in dieses Land kamen, erschien nachts ein böses Vorzeichen am Himmel. Es war wie die Glut der Morgenröte, wie eine Feuerflamme, wie eine lodernde Feuergarbe. Die Flamme brannte breit und schoss spitz in die Höhe, mitten hinein in das Herz des Himmels, und blutiges Feuer fiel wie aus einer Wunde in Tropfen herab. Die Flamme zeigte sich im Osten und erhob sich zu voller Höhe um Mitternacht. Erst die Sonne besiegte sie mit der Morgenröte. Ein ganzes Jahr lang schien diese Flamme; im Jahr ‹Zwölf Haus› erschien sie uns Nacht für Nacht. Und als sie zuerst gesehen wurde, schrien die Leute vor Angst. Sie schlugen sich auf den Mund, waren bestürzt und verwirrt und fragten: ‹Was kann das bedeuten?›
Das zweite böse Omen: Der Tempel des Gottes Huitzilopochtli stand plötzlich in Flammen. Er brannte von selbst herab, niemand hatte ihn angezündet. Tlacateccan – Haus der Macht – hieß der heilige Platz, auf dem er gebaut war. Und nun steht er in Flammen, seine hölzernen Säulen brennen. Als das Feuer zuerst gesehen wurde, schrien die Leute: ‹Mexikaner, kommt, lauft, wir können es löschen! Bringt Wasserkrüge! Aber als sie Wasser in die lodernde Glut gossen, flammte das Feuer noch höher auf. Sie konnten es nicht ersticken, und der Tempel brannte nieder bis auf den Grund.
Das dritte böse Omen: Ein Blitzstrahl traf den Tempel Xiuhtecuhtlis, des Feuergottes. Nur ein feiner Regen fiel an jenem Tag, und kein Donner war zu hören. Darum nahmen wir den Blitzstrahl als ein böses Zeichen und sagten: ‹Die Sonne selbst hat den Tempel getroffen.›
Das vierte böse Omen: Feuer zog über den Himmel, als die Sonne noch schien. Es zog in drei Streifen dahin, von Westen nach Osten, und schüttete einen roten, heißen Funkenregen aus. Als die Leute den langen Schweif durch die Lüfte fegen sahen, schrien ihre angstvollen Stimmen, wie tausend rasselnde Schellen.
Das fünfte böse Omen: Der Wind peitschte das Wasser, bis es aufschäumte. Es kochte vor Zorn, es zerkochte sich selbst in Raserei. Es rollte von weit her heran, stieg hoch in die Luft und schmetterte gegen die Mauern der Häuser, riss sie weg in die Fluten. Das geschah an unserem See, in Mexiko.
Das sechste böse Omen: Nacht für Nacht hörte man eine weinende Frau. Um Mitternacht irrte sie umher und weinte und schrie laut und klagend: ‹Meine lieben Kinder, wir müssen fliehen aus dieser Stadt, ins Elend!› Und manchmal schluchzte sie: ‹Meine Kinder, wohin soll ich euch bringen?›
Das siebte böse Omen: Ein seltsamer Vogel wurde in den Netzen gefangen. Er glich einem Kranich. Man brachte ihn zu Morecuhzoma (dem Kaiser der Inkas, H. Sch.) in das Schwarze Haus. Der Vogel trug einen Spiegel in der Federkrone seines Kopfes; und der Nachthimmel spiegelte sich darin wider. Es war erst Mittag, aber die Sterne und Mamalhuatzli, der Feuerbohrer, schienen doch in dem Spiegel. Als Morecuhzoma die Sternbilder sah, deutete er das als großes, unheilvolles Vorzeichen. Doch als er zum zweiten Male in den Spiegel blickte, sah er in der Ferne ein Schlachtfeld. Männer, in Reihen ausgerichtet wie Rohrschäfte, kamen eilig heran. Sie waren zum Kriege gerüstet und ritten auf den Rücken von Hirschen.
Morecuhzoma berief seine Zeichendeuter und Weisen und fragte: ‹Könnt Ihr erklären, was ich gesehen habe? Geschöpfe wie menschliche Wesen, sie liefen und fochten!› Aber als sie in den Spiegel sahen, um das Bild zu deuten, war alles verschwunden, und sie sahen nichts.
Das achte böse Omen: Missgestaltete Wesen erschienen auf den Straßen der Stadt, Menschen mit zwei Köpfen auf einem Leib. Man brachte sie in das Schwarze Haus zu Morecuhzoma. Doch als er sie ansah, verschwanden sie spurlos.»
Diese und «andere merkwürdige Zeichen kurz vor der Ankunft der Spanier» konnten die Azteken, so eine andere Stimme, nur so verstehen, «dass die Götter vom Himmel herabgestiegen wären, und Nachrichten flogen durch die Provinz bis in die kleinsten Dörfer. (…) und schließlich wurde die Ankunft eines seltsamen neuen Volkes berichtet und bestätigt, besonders in Mexiko, der Hauptstadt dieses Reiches».[3]
Der Sekretär der Provinzregierung des Kantons Gu Yingxiang legt Rechenschaft über die Begegnung mit einer portugiesischen Gesandtschaft ab: «Als ich im Jahre Chengte ting-ch’ou (= 1517) Sekretär der Provinzialregierung in Kanton war und stellvertretend die Angelegenheiten des Kommissars für den Seehandel verwaltete, waren da plötzlich zwei große Seeschiffe, die direkt ins Kanton hineinfuhren. Sie sagten, dass sie aus dem Lande Folangchi («Franken», Bezeichnung für alle Europäer) Tribut brächten. Ihr Schiffsherr hieß Chiapitan (Kapitän). Die Leute hatten alle hohe Nasen und tiefliegende Augen. Ihren Kopf hatten sie mit weißem Tuch umwickelt entsprechend der Kleidung der Mohammedaner. Ich erstattete sofort dem Generalgouverneur, der gerade in Kanton weilte, Bericht. Da diese Leute die Sitten nicht kannten, ordnete ich an, dass sie sich drei Tage lang im Quanghsiao-Szu (Moschee) in den Zeremonien üben und dann zur Audienz geführt werden sollten. Da es nicht in den Gesammelten Statuten des Mingh-Reiches steht, dass dieses Land Tribut bringt, legte ich einen vollständigen Bericht darüber dem Thron vor. Als der Hof seine Genehmigung erteilt hatte, schickten wir sie zum Ministerium. Da zu jener Zeit Kaiser Wu-Tzung auf einer Reise in den Süden war, blieben sie ein Jahr im Gästehaus für fremde Tributgesandtschaften. Nachdem der jetzige Kaiser den Thron bestiegen hatte, wurde in Anbetracht ihrer Respektlosigkeit der Dolmetscher zum Tode verurteilt, und sie kehrten unter Gewahrsam nach Kanton zurück.»[4]
Das Mönchsgelübde des Jurastudenten Martin Luther: «Am 2. Juli 1505» – so der Reformator rückblickend – «bei Stotternheim nahe Erfurt durch einen Blitz erschüttert (consternatus), geriet ich in Angst und Schrecken (in terrore) und rief aus: Hilff du, S. Anna, ich will ein monch werden!» – Ich bin «vom Himmel durch Schrecken gerufen, nicht etwa freiwillig oder aus eigenem Wunsch Mönch geworden. Noch viel weniger wurde ich es um des Bauches willen, sondern von Schrecken und Furcht vor einem plötzlichen Tod (terrore et agone mortis subitae) umwallt, legte ich ein gezwungenes und erdrungenes Gelübde ab.»[5]
Aus den 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 und deren «Erläuterungen» von 1518:
These 32: «Wer glaubt, durch Ablassbriefe seines Heils sicher zu sein, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden. (…) Denn wir haben keine andere Hoffnung auf das Heil als ganz allein Jesus Christus, und es ist ‹kein ander Name unter dem Himmel gegeben, darin wir sollen selig werden.› (Apg. 4,12; 15,11) Darum fort mit dem Vertrauen auf tote Buchstaben, auf Ablass und kirchliche Fürbitten!»
These 37: «Jeder wahre Christ, gleichviel ob lebendig oder tot, hat an allen Gütern Christi und der Kirche teil: Gott hat sie ihm auch ohne Ablassbrief gegeben.» – «Es ist unmöglich ein Christ zu sein und Christus nicht zu haben, hat man aber Christus, so hat man alles, was Christi ist. (…) Und darin besteht die christliche Zuversicht und die Frömmigkeit unsers Gewissens, dass unsere Sünden durch den Glauben nicht mehr unsere, sondern Christi Sünden sind, auf den Gott unser aller Sünden gelegt hat. Er trug unsere Sünden, er ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, und umgekehrt wird alle Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit. (…) Diese liebliche Gemeinschaft, dieser fröhliche Wandel vollzieht sich nur im Glauben, und den Glauben kann sich der Mensch nicht geben oder nehmen. Darum halte ich es für völlig klar, dass diese Gemeinschaft nicht durch die Kraft der Schlüssel (also durch den Papst, H. Sch.), noch durch Gewähren von Ablassbriefen erteilt werden kann, vielmehr wird sie vorher ohne sie durch Gott selbst erteilt.»
These 7: «Wir werden also durch den Glauben gerecht, durch den Glauben erlangen wir Frieden, nicht durch Werke, Bußübungen oder Beichten.»[6]
Vier Zeugnisse aus unterschiedlichen Ecken Europas und der Welt, die inhaltlich wenig gemein zu haben scheinen und doch im Rückblick als Manifestationen einer Epoche des Umbruchs und der Verunsicherung der Menschen gelesen werden können: Die Geisterschlacht von Bergamo galt den Zeitgenossen, Fürsten und Gelehrten ebenso wie Stadtbürgern und Bauern, als Vorzeichen einschneidender Ereignisse, konkret einer Fundamentalbedrohung der Christenheit durch die muslimischen Türken, die im Frühjahr 1517 mit der Eroberung Kairos das eben noch mächtige Reich der Mamluken niedergeworfen hatten und von Alexandria aus zum Sprung nach Süditalien anzusetzen schienen.
Zur selben Zeit lasen auch in Yukatan/Mexico die Inkas Himmels- und Naturerscheinungen als Vorzeichen einschneidender Veränderungen, die sie als drohenden Rückzug der Götter und – im Erscheinen der Spanier – als ihre versöhnliche Wiederkehr verstanden. Das erwies sich als eine Interpretation, die anders als die Türkendeutung der italienischen Geisterschlacht nicht den Verteidigungswillen schärfte, sondern in fataler Weise schwächte.
Ganz anders die Begegnung in Kanton: Die hochentwickelte chinesische Bürokratie machte den Portugiesen sogleich klar, dass sie im Reich der Mitte als Bittsteller galten und sich in jeder Hinsicht an dessen hoch ritualisierte Regeln zu halten hatten. Als sie das nicht beachteten, war das ein gravierender Verstoß gegen den zeremoniellen Erwartungshorizont des Kaiserreiches und wurde entsprechend gnadenlos geahndet.
Schließlich Stotternheim und Wittenberg, zwei Zeugnisse der individuellen Gotteserfahrung des späteren Reformators Martin Luther: 1505 war sie bestimmt durch die verbreitete Angst – man denke nur an die Schreckensbilder eines Hieronymus Bosch – vor dem richtenden Gott und das komplementäre Vertrauen auf den Schutz der Heiligen. In den Ablassthesen von 1517 aber kündigt sich sein neues, bald reformatorisch genanntes persönliches Gottesverhältnis an, das in ganz einfacher, evangelischer Weise die Heilsgewissheit allein in Jesus Christus und der Gnade Gottes findet.
Bei aller Verschiedenheit ist jedes der vier Zeugnisse Ausdruck eines religiös-kosmischen Weltbildes. Gott oder die Götter bestimmen nicht nur die Weltordnung, sie greifen auch unmittelbar in das Weltgeschehen ein und übermitteln den Menschen verschlüsselte Botschaften. So wie die Inkas Wetterblitze und Himmelszeichen als Willensbekundung der Götter lasen, so deutete die lateinische Christenheit die «Geisterschlacht» vor Bergamo als von Gott selbst gesandte Warnung. Und wie die Inkas in Mexico vor ihren unversöhnten Göttern erzitterten, so fürchtete der junge Martin Luther im Blitzschlag von Stotternheim den richtenden Gott, der ungerührt und unbarmherzig über das Seelenheil eines jeden Menschen entscheidet. Im chinesischen Kanton schließlich galten jahrhundertealte kosmologische Vorstellungen, denen zufolge die Erde wie der Himmel organisiert war. In der Mitte des Universums – im «Reich der Mitte» – saß der chinesische Kaiser. Er war der Pol, auf den hin sich die Völker zu orientieren hatten.[7] Als der portugiesische König in seinem Schreiben den Kaiser von Gleich zu Gleich anredete und auch seine Gesandtschaft nicht bereit war, diese eherne Ordnung der Welt anzuerkennen, konnte der chinesische Hof das nur als rücksichtslosen, ja frevelhaften Verstoß gegen die Ruhe und Balance des Universums begreifen, der mit aller Entschiedenheit zu ahnden war.
1517 war und ist für die protestantische Geschichtsdeutung das annus mirabilis, das von Gott gewiesene Wunderjahr, Beginn einer Zeitenwende. Noch nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges stand für Adolf von Harnack (1851–1930), den wohl bedeutendsten Theologen und Wissenschaftsorganisator seiner Zeit, unverrückbar fest: «Die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schloßkirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.»[1]
2017 indes, im Moment des 500jährigen Reformations-Gedächtnisses in Deutschland und Europa, erscheint das Jahr 1517 in einem anderen Licht. Nicht nur, weil der Mythos des hammerschwingend die Neuzeit eröffnenden Reformators zerbrochen ist. Die Grundlagen unseres Geschichtsbildes haben sich radikal verändert: Der Anfang des 20. Jahrhunderts noch prägende konfessionelle Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus ist in den Hintergrund getreten, ebenso die europazentrische Geschichts- und Epochenbetrachtung. Gewachsen ist dagegen das welt- oder globalgeschichtliche Bewusstsein, das nicht mehr dem «Imperialismus des Universellen»[2] verhaftet ist. An die Stelle des europäischen Neuzeit-Monopols tritt zunehmend die Erkenntnis, dass auch in anderen Teilen der Welt Impulse zum Aufstieg neuer, neuzeitlicher Lebensbedingungen gesetzt wurden.
Damit steht auch die These von der einmaligen universalgeschichtlichen Modernisierungswirkung der im Ablassprotest 1517 geborenen Reformation in Zweifel, die mit der Aufklärung in das allgemeine Geschichtsbild des «Westens» eingegangen ist. In diesem Buch soll das «Epochenjahr 1517» in einem weiten, «globalen» Verständnis von Weltgeschichte neu vermessen werden. Dabei ist die Lupe der Wittenberger Feldforschung zu ergänzen durch das Fernrohr, das die welthistorischen Entscheidungen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit auch anderwärts in Europa und der weiteren Welt erkennen lässt. Eine Globalgeschichte, wie sie für das 19. und 20. Jahrhundert, im Ansatz auch bereits für das Jahr 1688[3], erarbeitet wurde, wird aber nicht angestrebt – zu isoliert standen sich 1517 noch die Weltregionen, ihre Völker und Kulturen gegenüber. Mit dem Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzenden Ausgreifen Europas auf neu entdeckte wie altbekannte Kontinente entwickelte sich zwar ein den Globus überspannendes Netz der Kommunikation und des Austauschs. Der rasche Informationsaustausch späterer Jahrhunderte war aber noch ebenso unbekannt wie die uns heute selbstverständliche Eine-Welt-Vorstellung.
Es geht zunächst um einen Bericht über das, was 1517 und in den vorangehenden oder folgenden Jahren, geschah; über die Akteure, ihr Denken und ihre Weltbilder; über die Beweggründe und Folgen ihres Handelns; über die Weichen, die sie für kurze oder langanhaltende Veränderungen stellten. Dabei werden wir mit Welten konfrontiert, die uns heute tief fremd sind. Selbst das uns scheinbar vertraute Europa wird von modernen Sozialhistorikern zu Recht als eine «world we have lost» charakterisiert.[4] Das Fremde beginnt bereits bei der Chronologie. Wer heute von 1517 spricht, geht umstandslos davon aus, dass dieses Jahr am 1. Januar begann und am 31. Dezember endete. Auch die Historiker verfahren in ihren Darstellungen so, müssen dabei aber nicht selten die Zeitangaben ihrer Quellen umrechnen. Denn in der historischen Realität war die Chronologie über die Jahrhunderte hin so bunt und verschiedenartig wie die Völker, Religionen und Kulturen.[5] Und so variieren auch der Anfang und das Ende des Jahres 1517 nicht unerheblich.
Dass über die Kontinente und Zivilisationen die Einteilung und Zählung der Jahre unterschiedlich waren, die Chinesen anders als die Europäer, Inder oder amerikanischen Hochkulturen, die Christen anders als Juden oder Muslime rechneten, wird niemanden überraschen. Ebenso wenig die teilweise bis heute abweichende eigene Chronologie der orientalischen Christen – bei den Kopten etwa war der 11. September Jahresbeginn – oder der orthodox-christlichen Länder, die ihre Jahreszählung aus Ostrom beziehungsweise Byzanz übernahmen und ein neues Jahr am 1. September beginnen ließ. Doch auch dort, wo der Papst Kirchenoberhaupt war, bedeutete das Jahr 1517 für die Zeitgenossen einen recht unterschiedlichen Zeitraum. Zwar hatten bereits die Römer ein gutes Jahrhundert vor Christi Geburt den Jahresbeginn vom bis dahin üblichen 1. März auf den 1. Januar verlegt, den Tag, an dem die Konsuln ihr Amt antraten. Für diese Angleichung der Jahreszählung an das Verfassungsleben hatten sie in Kauf genommen, dass die Zählung der Monatsnamen nicht mehr stimmte, zum Beispiel der September nicht mehr der siebte, sondern der neunte Monat war. Ganz verloren ging der altrömische Jahresbeginn im lateinischen Europa aber nicht. So begann in Venedig das Jahr 1517 am 1. März, was offensichtlich den ökonomischen Interessen der Handelsrepublik keinen Abbruch tat. Am 25. März, dem Fest Mariä Verkündigung, begann das Jahr in Florenz und Pisa, in Schottland und England, nach lokalen Traditionen dort aber auch bereits ein Vierteljahr früher am 25. Dezember, dem Weihnachtstag.
Zudem sollten mit der Thesenveröffentlichung Ende Oktober 1517 die Weichen für eine neue Differenzierung der Jahresberechnung im lateinischen Europa gestellt werden: Die gregorianische Kalenderreform des Jahres 1582, die wegen der Ungenauigkeit des bis dahin gültigen julianischen Kalenders 10 Tage übersprang (vom 4. auf den 15. Oktober), sollten die Protestanten ablehnen, weil sie «päpstlich» war. So wurde die Zeit konfessionell, und die protestantische Welt hinkte 10 Tage hinterher, in Deutschland bis 1700, in Schweden sogar bis 1753.
Wie die Zeit, so waren auch andere Grundbedingungen des menschlichen Lebens ganz anders geprägt als heute, in Europa wie auf anderen Kontinenten: Das Leben der Menschen, des Einzelnen wie der Gesellschaft, war in den engen wie strengen Rahmen der Natur eingespannt. Vom Wetter hingen Ernten und Lebensmittelpreise ab, dadurch gute oder schlechte Ernährung, Gesundheitsrisiken und Ab- oder Zunahme der Sterblichkeitsziffern und damit Bevölkerungsschwund oder Bevölkerungswachstum, was wiederum die Lebenschancen ganzer Generationen beeinflusste. Von diesen Naturzyklen bedingt, teils aber auch unabhängig davon, lauerte die Gefahr unbeherrschbarer, klein- oder großräumiger Epidemien, unter denen die großen transkontinentalen Pestzüge des 14. Jahrhunderts nur die verheerendsten waren, die über Generationen hinweg die Menschen in Europa traumatisierten. Da man die uns heute selbstverständlichen naturwissenschaftlichen Methoden nicht kannte, suchte man – und keineswegs nur die große Masse der Illiterati, der Ungebildeten – Grund oder Sinn solcher Gefahren in einer transnaturalen Interpretation der Welt.
Stellen wir uns das Naturgeschehen für das Jahr 1517 in Europa vor Augen: Das Wetter haben die Menschen seit eh und je sorgfältig beobachtet, und seit Beginn der Schriftlichkeit haben sie darüber Notizen hinterlassen. In Europa stieg dieser Registrierungseifer während des späten Mittelalters sprunghaft an, so dass für 1517 eine Vielzahl von Wetterbeobachtungen vorliegt – aus Klöstern, in systematisch geführten Wetterjournalen, in Kalendarien oder Messtabellen, vereinzelt auch von Privatleuten in Stadt und Land. Danach entsprach das Wetter im Süden Mitteleuropas dem in dieser Phase der europäischen Wettergeschichte Üblichen: Nach zwei milden Wintern 1515 und 1516 wurde der Winter nun streng, so dass es wieder einmal – wie bereits 1514, danach aber erst wieder 1551 – zum Seegfrörne kam, dem vollständigen und länger stabilen Zufrieren der großen oberdeutschen und Schweizer Seen, namentlich des Bodensees, das von den Zeitgenossen stets aufmerksam, ja ehrfurchtsvoll festgestellt und über die Lande hin als Neuigkeit verbreitet wurde. Da zudem viel Schnee fiel, die Böden somit Feuchtigkeit speichern konnten, in den meisten Regionen Mitteleuropas bereits Ende März der Frühling ausbrach und Anfang April ungewöhnlich sommerliche Temperaturen herrschten, waren die Bedingungen für das Aufwachsen der Saat sehr gut.
Man konnte also eine reiche Ernte und somit stabile Nahrungsmittelpreise und eine gute Ernährungslage für die gesamte Bevölkerung erwarten. Indes, diese Prognosen erfüllten sich nicht durchgehend. Im weiteren Jahresverlauf schlug das Wetter wiederholt abrupt um. Zunächst blieb der Regen aus, so dass eines der trockensten Frühjahre des Jahrhunderts verzeichnet wurde und die Wasserknappheit die gut entwickelten jungen Pflanzen zu vernichten drohte. Als dann Ende des Monats noch harte Fröste aufzogen, waren die Wein- und Obstblüte weitgehend vernichtet, auf eine gute Ernte durfte man nicht mehr hoffen. Der Frühsommer war wieder außergewöhnlich trocken und heiß, so dass die Bäume das Wachstum einstellten. Da die Heuernte mager ausfiel, mussten viele Bauern aus Futtermangel einen Teil ihres Viehs an die Metzger verkaufen. Zudem war vorauszusehen, dass sie nur kleine Viehherden durch den kommenden Winter bringen könnten. Das Vieh auf den Weiden litt bereits, und es kam zur Verknappung von Milch und Milchprodukten. In der zweiten Julihälfte brachen lang anhaltende, sintflutartige Regenfälle mit schweren Stürmen aus und machten den Sommer zu einem besonders feuchten. Das Spätjahr von September bis in den November hinein wurde wieder besonders warm und trocken. So konnten mancherorts die Ernteverluste des Frühjahrs und des Sommers ein wenig ausgeglichen und die schwersten Hungersnöte abgewendet werden.[6]
Wetter und Versorgungslage scheinen in den verschiedenen Regionen Europas ähnlich gewesen zu sein. In den dendroklimatologischen Analysen, die das Wachstum der Jahresringe von Bäumen zugrundelegen, stellt sich das Jahr auch für England und Frankreich in Frühjahr und Sommer trocken und heiß, in der zweiten Hälfte aber übermäßig nass dar. Für den Südwesten, namentlich Kastilien, wird berichtet, dass die städtischen Unruhen, die 1520 in den gefährlichen Comuneros-Aufstand mündeten, sich bereits 1517 ankündigten und nicht unwesentlich durch schlechte Ernten und Schwierigkeiten in Handel und Versorgung veranlasst worden waren. Ähnlich in Ostmitteleuropa, wo Schlesien, Böhmen und Polen unter einem harten Winter mit Frosttoten und einem trockenen Frühjahr mit einer schlechten Weizenernte zu leiden hatten. Man klagte über Versorgungsengpässe beim Wein, der zudem von ganz schlechter Qualität sei. Im Herbst war dann die Ernte bei Roggen, Hafer und Gerste nicht schlecht, so dass in Böhmen und Polen die Kornpreise wieder sanken.[7]
Solche Wetterkapriolen, so sehr wir sie heute mit Sorge beobachten, weil wir in ihnen Vorboten einer Klimakatastrophe sehen, waren für die Menschen des 16. Jahrhunderts noch weit beunruhigender. Denn da der damaligen Landwirtschaft so gut wie keine Mittel zur Linderung der Folgen zur Verfügung standen, waren alle ganz unmittelbar betroffen: die Bauern durch erhebliche Einnahmeverluste und Wertminderungen ihrer Betriebe und die breiten Schichten in Stadt und Land durch empfindliche Teuerung der Grundnahrungsmittel Getreide und Milch.[8]
In den wohlorganisierten größeren Städten allerdings wussten die Magistrate bereits durch Kornbevorratung und Preiskontrolle bei Mehl und Brot gegenzusteuern. Ein einzelnes, moderat schlechtes Wetterjahr wie 1517 konnten die Menschen damals bewältigen, zumal wenn man wie die niederländischen und westdeutschen Städte über den Wasserweg an die Kornzufuhr aus dem Baltikum angeschlossen war. Die Nahrungsversorgung der breiten Schichten blieb dort in der Regel stabil. In der Reichsstadt Köln zum Beispiel, einer der größten und bestverwalteten Städte Mitteleuropas, zeigen die monatlichen Kornpreislisten für 1517 keine starken Ausschläge. Im Gegenteil, der Spätjahrespreis war geradezu moderat, nämlich 3,58 Mark nach der Kölnischen Rechnungseinheit gegenüber 5,21 Mark im Jahr zuvor oder gar 10 Mark in der wirklichen Krisenzeit zu Ende der 1520er Jahre.[9] Ganz anders sah es dagegen für die Bewohner der vielen Mittel- und Kleinstädte oder die in manchen Regionen bereits recht starken unterbäuerlichen Gruppen auf dem Lande aus. Für sie konnten bereits einzelne schlechte Erntejahre bedrohlich werden.
Neben Hungersnöten und dadurch bedingter Anfälligkeit der Bevölkerung hatten Epidemien eine physiologische wie seelische Wucht, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. In Europa zählte das Jahr 1517 zu den weniger belasteten Jahren, allemal wenn man es mit den schrecklichen Pestjahren zu Mitte des 14. Jahrhunderts vergleicht, die – wie etwa Dürers berühmte Apokalyptische Reiter belegen – noch tief im kollektiven Bewusstsein der Menschen eingegraben waren. Gleichwohl schlug diese Geißel auch in diesem Jahr zu und ängstigte die Menschen. Nicht in Form der Pest, sondern als Englischer Schweiß, benannt nach dem Ursprungsland, wo die Seuche 1486 erstmals ausgebrochen war, und den Symptomen – Ohnmacht, Herzjagen, Angstzustände, Magenkrämpfe, heftige Kopfschmerzen, begleitet von alle Kräfte erschöpfenden Schweißausbrüchen. Wieder war es die Insel, die heimgesucht wurde. Und da dort jedem noch die hohen Todeszahlen der ersten Welle vor Augen standen, wussten Herrschende wie Beherrschte sogleich, was auf sie zukam, als im Hochsommer, typischerweise bei feucht-nebliger Witterung, die ersten Berichte über Erkrankungen durch das Land liefen.
Durch ihr weitgespanntes Korrespondenznetz erfuhren auf dem Kontinent zuerst die Humanisten vom Ausbruch der gefürchteten Krankheit, so Erasmus von Rotterdam bereits am 19. August durch den Brief seines Freundes Thomas Morus: «Wenn es je Beunruhigung gab, so sind Gefahr und Verzweiflung bei uns nun größer denn je. Überall gibt es viele Tote. In Oxford, Cambridge oder London werden die Menschen in kürzester Frist aufs Totenbett geworfen. Ich habe den Verlust vieler meiner besten Freunde zu beklagen, darunter – und das wird auch Dir Schmerz und Trauer bereiten – unser teurer Andrea Ammonio, der ein großer Verlust für die gelehrte Welt und alle rechtschaffenden Menschen ist. Angesichts seines maßvollen Lebens wähnte er sich bestens vor Ansteckung geschützt. Zudem hatte die Epidemie noch keinen seiner Leute getroffen, obgleich er selten jemanden traf, dessen Haushalt nicht gelitten hatte. Davon prahlte er zu mir und vielen anderen noch wenige Stunden, bevor er selbst davongetragen wurde. Denn die Schweißkrankheit ist nur den ersten Tag tödlich.»[10]
Die längerfristigen demographischen Folgen waren umso gravierender, als vornehmlich junge Menschen aus Adel, Groß- und Bildungsbürgertum dahingerafft wurden, während die Alten und Kinder eher verschont blieben.
Als sich im Laufe des Spätsommers die Nachricht über den Englischen Schweiß über die Gelehrtenzirkel hinaus in Europa verbreitete, fühlten sich auch die Menschen auf dem Kontinent betroffen, obgleich sie diese Epidemie erst Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre heimsuchen sollte. Die Erschütterung ergab sich nicht aus einer direkten gesundheitlichen Bedrohung. Vielmehr war es die Angst vor einem für den Englischen Schweiß charakteristischen plötzlichen Tod, der dem Menschen keine Zeit lässt, sich mit seinem Gott zu versöhnen und ihn somit in die ewige Verdammnis reißt. Auch darin kam die tiefe religiöse Krise des Zeitalters zum Ausdruck, die 1517 einen Höhepunkt erreichte.
Setzen wir unsere Betrachtung des Jahres von außen nach innen fort, beginnend mit den politischen Ereignissen im lateinisch-christlichen Europa und den im Osten und Südosten angrenzenden osteuropäisch-orthodoxen beziehungsweise vorderasiatisch-arabischen Zonen. Zu besichtigen ist hier die große politische Welt der konkurrierenden Dynastien, Herrschaften und frühmodernen Staaten einerseits und der aufziehenden Konfrontation zweier Weltreligionen und «Weltreiche» andererseits (Kap. I). Daran anschließend werden zwei prominente Antworten auf die vordringlichen Probleme der Zeit behandelt: Überlegungen zur Friedenssicherung, die durch das innereuropäische und das internationale Mächteringen immer schwieriger wurde, und zur Sicherung der Geldwertstabilität, die zwischen dem rasanten transkontinentalen Aufschwung des Handels und dem regionalen, teils sogar nur lokalen Zuschnitt der Münzpolitik zu zerbrechen drohte (Kap. II). Von dort schreiten wir voran zu den Begegnungen mit den fernen Zivilisationen Asiens und Amerikas (Kap. III). Die Perspektive zurück auf Europa selbst gewendet, geht es sodann um den Zusammenhang von neuem «Weltwissen», das in den Jahren um 1517 mit Macht nach Europa strömt, und den autochthonen kulturellen Aufbruch im Zeichen von Humanismus und Renaissance (Kap. IV). In einer tieferen Schicht sind die kollektiven Ängste der Menschen und die magisch-kosmische Deutung der Welt angesiedelt, einschließlich der Stigmatisierung des und der Fremden, im Europa des frühen 16. Jahrhunderts insbesondere der Juden und Moslems, genauer der von außen anstürmenden Türken und der arabischen Maurescos in Spanien (Kap. V). Die letzten Kapitel führen ins religiöse Innere der lateinisch-christlichen Zivilisation und zu den geistigen, politischen und sozialen Spannungen, die den Mythos des Jahres 1517 schufen. Zunächst geht es um den Widerspruch zwischen dem Renaissance-Glanz in Rom, dem päpstlichen Nabel der Welt, und dem ungestillten Verlangen der Christenheit nach spirituellen und institutionellen Reformen (Kap. VI). Dann führt der Szenenwechsel «an den Rand der Zivilisation», wo das fürs Erste noch ganz unspektakuläre Denken und Handeln eines Augustinermönchs binnen kurzem aus Wittenberg das Gegen-Rom werden ließ (Kap. VII).
I.
Wer spätes Mittelalter und beginnende Neuzeit ein Zeitalter der Religion nennt, muss hinzufügen, dass es auch und in manchem sogar vorrangig ein Zeitalter des Politischen war. Theoretisch, indem – wie das nächste Kapitel näher zeigen wird – Ordnungsentwürfe entstanden, die über die Jahrhunderte hin die Diskussion über die Grundprinzipien im Zusammenleben der Menschen bestimmen sollten. Und in der politischen Praxis hatte das Ringen um die Verteilung von Macht und Ansehen eingesetzt, zwischen den Fürsten ebenso wie im Innern ihrer Herrschaften. Innerhalb der einzelnen Gemeinwesen ging es um zwei einschneidende Neuregelungen – um die Durchsetzung staatlicher, meist fürstlicher Prärogativrechte gegenüber den traditionell an der Herrschaft beteiligten Ständen und um die Gewöhnung der Untertanen, Bürger wie Bauern, an regelmäßige Steuerzahlungen; es sei denn sie lebten wie die Griechen und bald Teile des Balkans unter osmanischer Herrschaft mit einer anderen Art der Staatsfinanzierung.
Zwischen den Herrschern und ihren Ländern ging es um die Verteilung von Macht und Ehre in der sich herausbildenden europäischen Staatenordnung, ein Kampf, der militärisch, diplomatisch und nicht zuletzt ehepolitisch ausgetragen wurde. Denn die Politik wurde in dieser Epoche nicht von Staaten nach Art der institutionell formierten Staaten des 19. Jahrhunderts, von Nationalstaaten ganz zu schweigen, bestimmt, sondern von Fürsten und Dynastien. In Europa waren das in der Regel Könige und Königsdynastien, im Heiligen Römischen Reich auch Kurfürsten, Herzöge/Erzherzöge, teilweise selbst Grafen. Mit ihrem Machtringen ging eine rasch voranschreitende Modernisierung des Militärwesens, vor allem der Waffentechnik einher. Die im späten 14. Jahrhundert aufkommenden Schusswaffen – Handwaffen, bald auch Kanonen, zunächst für das Bombardement von Städten, seit dem Italienfeldzug Karls VII. von Frankreich ausgangs des 15. Jahrhunderts auch als bewegliche Feldgeschütze – hatten die Kriegführung der Europäer von Grund auf verändert. Das adlige Ritteraufgebot wurde Zug um Zug durch besoldete, größtenteils aus «Infanteristen» bestehende Söldnerheere ersetzt. Beides – Söldner wie Gewehre und Kanonen, deren Technik ständig aufwendiger wurde – kostete die Kriegführenden Geld, Geld und nochmals Geld: «Pecunia nervus rerum»/«Das Geld ist der Nerv aller Dinge» wurde zur Maxime, die jeder Fürst zu beachten hatte. Der Ausbau von Kriegswesen und Militärtechnik zog zwangsläufig den Aufbau des Steuer- und Fiskalstaates nach sich. Begehrt und teuer waren vor allem die Schweizer Söldner, so wie heute noch bei den Päpsten. In Italien übernahmen Condottieri die Führung der Söldnerheere, Kriegsunternehmer, die auf Vertragsbasis Truppen versammelten und in den Dienst der Fürsten oder Stadtstaaten stellten. Ähnlich die deutschen Landsknechtsführer wie Georg von Frundsberg (1473–1528), der berühmteste unter ihnen, Feldhauptmann der Römischen Kaiser Maximilian I. und Karl V.[1]
Als Reaktion auf die zunehmende Durchschlagskraft der Kanonen gingen mathematisch geschulte Ballistiker, Festungsingenieure und Renaissancebaumeister daran, Schussbahnen und Einschlagwinkel der Kugeln zu berechnen, um Wege zu finden, wie sich die Schäden an den Verteidigungsmauern begrenzen ließen. Das Ergebnis waren die komplexen Fortifikationsanlagen der Renaissance, die an die Stelle des einfachen, einlinigen Mauerrings mittelalterlicher Städte und Burgen traten. Wieder hing alles vom Geld ab. Denn die technisch und finanziell äußerst anspruchsvollen Renaissanceanlagen mit ihrem komplizierten System von Wällen, Gräben, Ravelins, Bastionen, Schanzen und weit ins Umland ausgreifendem Schussfeld und Vorwerken bedeuteten einen riesigen Aufwand an planender Intelligenz, Arbeitskraft und Material.
Die erste Blüte erlebte der neuzeitliche Festungsbau in Italien, wo sich im 15. Jahrhundert die mächtepolitische Konkurrenz der fünf Mittelstaaten herausgebildet hatte – von Mailand, Venedig, Florenz, Kirchenstaat und Neapel. Die trace italienne, wie die moderne Festungstechnik bald hieß, kündigte sich 1452 mit dem Traktat De Re Aedificatoria des Humanisten Leon Battista Alberti an. Dort wurde vorgeschlagen, statt des bislang üblichen Mauergürtels einen Sternenkranz um den zu verteidigenden Ort zu legen. Die Kanonenkugeln träfen so nicht mehr frontal und richteten geringere Schäden an. Eine Generation später erfand Giuliano da Sangallo bei der Planung der toskanischen Festung Poggio Imperiale die Bastionenkette – in regelmäßigem Abstand aus der inneren Befestigung weit vorspringende und mit Kanonen bestückte Plateaus, die den anstürmenden Feind ins Kreuzfeuer der Verteidiger zwingen. Die erste ausgereifte Renaissancefestung ließ in den 1520er Jahren die Republik Venedig durch Michele Sanmicheli in Verona errichten. Der Höhepunkt des italienischen Festungsbaus sollte dann gegen Ende des Jahrhunderts mit der neugegründeten Festungsstadt Palmanova erreicht werden, auch sie von Venedig errichtet, nun zum Schutz vor den akut drohenden Türkeneinfällen.
Die oberitalienische Festungsstadt Palmanova auf der Terra Ferma Venedigs galt schon in Braun/Hogenbergs Civitates orbis terrarum als Krone der Festungs- und Stadtbaukunst der Renaissance.
Dass das in Italien entstandene neuzeitliche Mächtesystem sich über den Kreis der europäischen Fürsten ausweiten würde, hatte sich bereits Ende des 15. Jahrhunderts angedeutet. Die (noch genauer darzulegenden) Ereignisse des Jahres 1517 sollten das dann endgültig und drastisch klar werden lassen. Die Ausweitung erfolgte in doppelter Richtung: Von Südosten her stießen die muslimischen Osmanen nach Europa vor und zwangen die christlichen Herrscher zu reagieren – sich zu einem gemeinsamen Abwehrkampf zusammenzufinden oder einzeln ihre Interessen wahrzunehmen, gegebenenfalls durch Absprachen oder gar Bündnisse mit der Hohen Pforte, wie die osmanische Regierung am Bosporus genannt wurde. Etwa gleichzeitig reklamierte im Nordosten der christlich-orthodoxe Moskowiter Großfürst Iwan III. das politische und kirchliche Erbe der byzantinischen Kaiser und erklärte Moskau zum neuen, dritten Rom und sich selbst zum Kaiser beziehungsweise Zaren. Das war ein Anspruch, der unmissverständlich die Teilnahme Moskaus am europäischen Mächtespiel ankündigte und im Westen Papst und Kaiser herausforderte.