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Sobo Swobodnik

Erben des Todes

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ana Gram / Fotolia.com
und © ullstein bild und © Zhax / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-5386-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

eins

Ich war’s nicht. Ich schwör’s. Ich bin unschuldig. Das müssen Sie mir glauben. Ich weiß, auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob nur ich es gewesen sein kann. Aber wissen Sie nicht besser als ich, dass der erste Blick allzu oft trügt? Der erste Blick zeigt nur die Oberfläche, bebildert vordergründige Logik. Das Leben ist komplizierter, viel komplizierter. Der Tod hingegen ganz einfach. Ihn nachzuweisen auch. Auf den ersten Blick scheint alles klar – wenn Sie genauer hinschauen, dann bleibt Ihnen aber gar nichts anderes übrig, als zu erkennen, dass es meistens auch anders hätte sein können. In meinem Fall ganz anders. Ich kann alles erklären. Ich werde alles erklären. Alles, was ich jetzt sage, trug sich genau so zu. Auch wenn andere anderes behaupten. Ich weiß, der Staatsanwalt, die Kläger und Zeugen, womöglich der Richter, die Schöffen und Beisitzer, die Zuschauer werden mir nicht glauben. Aber Sie, Sie müssen mir glauben. Wer, wenn nicht Sie?

zwei

Das Seniorenheim Marienstift kenne ich seit meiner Kindheit. Im Alter von sieben muss ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule daran vorbei. Die ersten Jahre besteht das Marienstift für mich nur aus einem hohen Bretterzaun, der mir die Sicht auf etwas nimmt, was offenbar nur im Verborgenen, im Geheimen einen Platz hat. Später bleibe ich oft vor dem Zaun stehen und blicke zwischen den Holzlatten hindurch. Ich sehe ein altes, um die Jahrhundertwende gebautes, riesiges Haus mit einem großen Garten davor. Der Rasen ist gepflegt. Schatten spendende Bäume, die ähnlich alt wie das Haus sein müssen, ragen hoch in den Himmel. Pappeln, Kastanien, Birken. Nahe am Bretterzaun wachsen hoch aufgeschossene Tannen. Auf der aus quadratischen Steinplatten bestehenden Terrasse stehen weiße Liegestühle aus Plastik, dazu passend vereinzelte Tische. Dazwischen Rollstühle. Darin Menschen. Anfänglich, als vielleicht Zehnjähriger, denke ich, es wären Puppen, so unbeweglich sitzen sie in ihren Stühlen. Ich erschrecke geradezu, als ich nach Tagen der Beobachtung eine erste Bewegung wahrnehme. Der Kopf einer Frau fällt zur Seite. Gleichzeitig rutscht das Bein einer anderen Person von der Fußstütze des Rollstuhls. Eine junge Frau in einem weißen Kittel kommt angerannt und richtet den zur Seite gefallenen Kopf wieder auf. Stellt den Fuß zurück auf die Stütze. Von da an weiß ich, es sind keine Puppen. Es sind Menschen. Alte Menschen, die meist völlig apathisch, in dicke Wolldecken eingehüllt vor sich hinstarren. Ab und an brabbelt eine Alte oder schreit laut auf, um sofort wieder zu verstummen. Manchmal lacht eine oder weint scheinbar grundlos vor sich hin. Ich stehe vor dem Bretterzaun und starre durch den Spalt, gleichzeitig angezogen und abgestoßen von so viel Leid, Krankheit und siechendem Verfall. Einmal ertappt mich eine der Schwestern am Zaun und wirft mit Steinen nach mir.

Als ich dann älter werde, meine Stimme plötzlich brüchig ist und ein weicher Flaum auf meiner Oberlippe sprießt, interessiere ich mich immer weniger für die dahinvegetierenden Alten in ihren Rollstühlen. Meine Neugierde gehört von nun an den jungen, geschäftig agierenden Schwestern. Ich stehe nach wie vor am Bretterzaun, mit dem Gesicht nah am Holz, und beobachte durch den Spalt, wie sie in ihren weißen Kitteln, mit anmutigen Bewegungen durch den Garten tanzen. Ja, es ist eine Art Tanz, den sie vor meinen Augen vollführen: mein Schwanentanz. Sie schieben die Rollstühle vom Schatten in die Sonne, dann wieder in den Schatten, bringen Schnabeltassen, Kuchenteller, schwingen Wolldecken in der Luft, wischen Speichelfäden aus den Gesichtern, heben Beine hoch und richten zur Seite gefallene Köpfe wieder auf. Ich tanze mit. Ich schließe die Augen und lege meine Hände um ihre Hüften, schmiege meinen Kopf auf ihre weißen Kittel, drücke mein Gesicht zwischen ihre Brüste und höre ihr Herz schlagen. Ich umkreise sie, glaube ihren Geruch zu riechen – ein Duft aus Schweiß, Haarspray und billigem Parfüm – und werde ganz betört davon. Ich tauche ein in diese, mir bis dahin völlig fremde Welt, aus schüchterner Pennäler-Leidenschaft und naivem Begehren und der Gewissheit, dass noch Wunder geschehen. Meine Fantasie trägt mich auf den flatternden Kittelschürzen fort und katapultiert mich hoch über die Tannenwipfel hinaus und geradewegs in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das nur in meinen Vorstellungen so real wie der Bretterzaun ist. Dennoch bin ich nicht erregt, sexuell erregt, meine ich, so wie Jahre später vielleicht: Ich bin glücklich. Mit jedem Schlag der Schwester-Herzen werde ich weiter fortgetragen. Weg von mir, hin zu ihnen.

Später, als der Flaum auf meiner Oberlippe harten Stoppeln weichen muss und auch die Stimme wie die eines Mannes klingt, ist es nur noch eine Schwester, die meine Blicke anzieht. Sie heißt Annemarie, ist sicher 15 oder 20 Jahre älter als ich, nicht sonderlich hübsch und etwas dicklich. Sie trägt schwarze lange Haare, die zu einem Dutt geflochten sind. Ich weiß nicht, warum gerade sie meine Aufmerksamkeit erregt. Andere Schwestern sind durchaus hübscher, attraktiver, auch jünger als sie. Vielleicht ist es ihr voluminöser Brustumfang, der mir keine Wahl lässt. Ich weiß es nicht. Ein 17-jähriger Junge denkt in anderen Kategorien. Dem Hirn eines 17-Jährigen ist sechs Jahre später nicht mehr beizukommen. Was ich heute noch weiß, ist, dass ich damals in Annemarie verliebt war.

*

Ein Student verlässt, noch ehe die Leiche aufgedeckt ist, den Seziersaal und muss sich übergeben. Allein der Geruch verursacht bei ihm Übelkeit.

»Das ist normal«, sagt Professor Dr. Homberg, der die Irritation seiner Studenten sichtlich genießt.

»Gleich kommen noch welche dazu.«

Er grinst in die bleichen Antlitze der Umherstehenden.

»Beim zweiten Mal werden es dann weniger. Und beim dritten Mal essen Sie nebenbei eine Wurstsemmel. Wetten?!«

Niemand kann sich das in diesem Moment auch nur vorstellen.

»Wenn nicht, haben Sie hier nichts verloren.«

Homberg grinst wieder und blickt jedem Einzelnen von uns für einen kurzen Moment in die Augen. Seine Drohung wird dadurch noch bedeutungsvoller, auch unheimlicher.

»Wer hat von Ihnen schon einmal eine Leiche gesehen?«

Ich bin der Einzige, der schüchtern den Arm hebt.

»Dann ist das für Sie jetzt die zweite.«

Professor Homberg zieht mit einem Ruck das weiße Laken vom Seziertisch. Ich erschrecke. Nein, erschrecken ist nicht der richtige Ausdruck. Ich bin vielmehr überrascht. Es ist Silvia. Oder Marita. Oder Susan. Es ist auf jeden Fall eine von Ralfs Eroberungen, mit der er mich – ich auf meiner Luftmatratze im Flur, er in seinem Zimmer – um den Schlaf brachte. Mit dem Anblick der jungen, hübschen Frau ist sofort wieder ihre anschwellende, rhythmische Atmung, die den Flur entlang hallte, in meinem Kopf zurück. Ihre spitzen Schreie fallen mir ein. Ihr leidenschaftliches »Jaaaa!«. Ich merke, wie sich eine Erektion unter meinem weißen Kittel bemerkbar macht. Aber nicht nur ich betrachte mit wehmütigem Blick diese schöne Leiche.

So ein Mädchen hätte jeder männliche Student, der jetzt um den Seziertisch steht, gern – und nicht nur zum Essen – eingeladen. Auf ihrem Innenschenkel prangt eine geldscheingroße Tätowierung. Es ist ein Edelweiß. Ich denke an das Wettersteingebirge. An Mittenwald. An Opa. An Pfingsten. Ich muss grinsen.

»Das ist nicht zum Lachen«, schreit Professor Homberg. Der Tod ist nicht zum Lachen. Im Angesicht des Todes wird vielmehr alles lächerlich.«

Das ist nicht von ihm, denke ich, der Satz ist nicht von Homberg, und überlege, wer das gesagt haben könnte. Ich komme nicht drauf.

»Ich wollte Ihnen, zumindest beim ersten Mal und wenigstens zu Beginn der Sektion, den angenehmsten Anblick präsentieren, der möglich scheint.«

Das ist ihm gelungen. Die Brüste der Leiche schimmern marmorn. Ihr Bauch wölbt sich wie ein Kuchenteller nach oben. Ihre Haut ist weiß-grünlich. Ihre Schambehaarung zu einem dünnen Strich rasiert. Wie aus Wachs gegossen wölbt sich ihre Vulva unseren Blicken entgegen. Bei manchen Studentinnen füllen sich die Augen mit Wasser. Bei manchen Studenten der Mund. Es ist eine schöne Leiche, eine begehrenswerte Tote. Nekrophilie ist plötzlich eine Option, eine normale Spielart der Sexualität. Homberg ist in meinen Augen sofort verdächtig. Die Blicke meiner Kommilitonen bestätigen meinen Verdacht. Ich schließe kurz die Augen und sehe ihn, bei heruntergelassener Hose, sich an der Leiche vergehen. Ich reiße die Augen wieder auf und denke: Ist Homberg ein Schwein oder bin ich es?

»Schade um dieses Geschöpf könnte man denken«, sagt der Professor und streicht zärtlich mit den Gummihandschuhen über die Haut der Toten. »Oder aber auch: selber schuld. Hier sehen Sie, was passiert, wenn Sie mehr wollen, als Sie vertragen können: Amphetamine, Derivate, Ecstasy, Atemnot, Herzstillstand, tot.«

Wieder sieht er jedem Einzelnen für einen kurzen Moment in die Augen. Homberg ist nicht nur Mediziner; offenbar fühlt er sich auch in der Rolle des Moralapostels sehr wohl. Der Professor wird mir immer unsympathischer. Die anfängliche Überlegung, dass Homberg uns bei unserer ersten Sektion mit dieser schönen Leiche schonen möchte, verwerfe ich sofort wieder. Ich weiß jetzt, das Gegenteil ist der Fall. Er will uns sogar über das übliche Maß hinaus quälen. Gerade deswegen weil diese Leiche so schön ist, so begehrenswert, wird jeder Schnitt in ihr Fleisch umso schmerzhafter für den Betrachter. Homberg ist ein Sadist. Homberg ist Zyniker. Homberg ist das Schwein! Vielleicht will er aber auch nur von Anfang an die Unfähigen, die Zu-zart-Besaiteten, die Sensiblen unter den Studenten herausfiltern. Dafür scheint ihm jede Methode, jedes Mittel recht zu sein. Als Professor Homberg ein unscheinbares Skalpell an der Kopfhaut der jungen Frau ansetzt und der erste Tropfen Blut über die Stirn der Leiche rinnt, merke ich, wie einige meiner Kommilitonen neben mir die Hände vor den Mund halten und mit unterdrückten Brech-Lauten den Seziersaal verlassen.

Ich kneife die Augen zu und denke an Opa.

*

Die Schulferien verbringe ich immer bei meinen Großeltern im Allgäu. Ich kann es nie erwarten, bis die Schule zu Ende ist und die Ferien endlich beginnen. Noch am selben Tag bringt mich Vater zum Bahnhof, setzt mich in den Zug, der mich zu Opa und Oma schafft. Ich fahre – es ist zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches – allein mit dem Zug von meiner Heimatstadt nach Mittenwald, wo meine Großeltern einen Bauernhof und eine Pension betreiben. Über drei Stunden dauert die Fahrt, während derer ich wie festgeklebt an meinem Fensterplatz sitze und der vorbeifahrenden Landschaft hinterhersehe. Dabei kommen mir die abwegigsten Gedanken in den Sinn, entstehen die absonderlichsten Vorstellungen. Wenn ich ein verlassenes Auto am Waldrand stehen sehe, stelle ich mir vor, es ist der Ort eines Verbrechens. Wenn ich die Augen schließe, höre ich Schreie, sehe Beine laufen und Blut spritzen. Ein abscheuliches Blutbad entsteht in meinem Kopf: 48 Messerstiche, eine zerstückelte Frauenleiche und ein flüchtiger Täter. Vor Angst reiße ich die Augen wieder auf. Das Auto ist verschwunden. Meine Hände sind schweißnass. Mein Blick flackert, die Augen suchen unruhig den Horizont ab. Sehe ich einen verlassenen Koffer auf einem Bahnsteig stehen, erwarte ich in der nächsten Sekunde eine Detonation. Mit jedem Wimpernschlag erahne ich in die Luft fliegende Körperteile. Hände, Arme, Beine, Köpfe verfolgen mich, bis der Zug längst wieder abgefahren und der Bahnhof nicht mehr zu sehen ist. Mein Großvater sagt: »Der Junge hat Fantasie.«

Meine Großmutter wischt mit der Hand vor ihrem Gesicht, was nur »Der spinnt!« bedeuten kann. Ob sie den Großvater oder mich meint, ist unklar. Heute weiß ich, es war nicht Fantasie, es war Aktenzeichen XY. Die Sendung ist dafür verantwortlich, dass ein Auto am Waldrand zum Ort des Verbrechens wird, dass ein Koffer zum terroristischen Anschlag mutiert, dass ein Blick eine Waffe ist, ein Wort töten kann. Damals sehen meine Eltern die Sendung regelmäßig und vergewissern sich am Bösen der Welt. Oft stehe ich im Schlafanzug zitternd hinter der angelehnten Wohnzimmertür und sehe durch den Spalt auf den Bildschirm, wo Eduard Zimmermann um Mithilfe bittet. Ich sehe die nachgestellten Kriminalfälle und höre die Stimme des Sprechers, wie er als Voice-over den Tathergang schildert. Allein der Klang dieser Stimme bereitet mir Albträume. Ich schwöre mir, später im Bett liegend, nie wieder dieser Stimme zu lauschen. Die ganze Nacht liege ich wach, starre zum Fenster und erwarte splitterndes Glas. Und doch ist die Neugierde und Faszination für das unaufgeklärte Verbrechen größer als die Angst, selbst Opfer zu werden; am nächsten Freitag stehe ich wieder am Türspalt.

Überall begegnen mir Gesichter, die auf großen Fahndungsplakaten hinter Eduard Zimmermann hängen. Auf dem Weg zur Schule kommen sie mir entgegen. Im Freibad liegen sie auf der Wiese und blicken jungen Frauen hinterher. Am Kiosk kaufen sie Bier und Schnaps in kleinen Fläschchen. Im Park sitzen sie auf Bänken, trinken das Bier, den Schnaps und rauchen filterlose Zigaretten.

Einmal sitzt mir im Zug eine Frau gegenüber, von der ich schwören kann, dass sie bei Eduard Zimmermann Dauergast ist. Ihr Gesicht kommt mir so bekannt und vertraut vor, als gehöre sie zu unserer Verwandtschaft. In Gedanken bringe ich sie in Zusammenhang mit allen unaufgeklärten Mordfällen der letzten fünf Sendungen. Sie sagt kein Wort, sieht mich nur an. Ich traue mich nicht zurückzuschauen. Es ist mir unheimlich. Ich werde rot. Schließe die Augen und wage mich nicht zu bewegen. Ich stelle mich schlafend und überlege, was zu tun ist. Mir fällt nichts ein. Ich könnte vielleicht aufstehen, das Abteil verlassen und den Schaffner um Hilfe bitten. Er würde mir über den Kopf streicheln, schmunzeln und sagen, ich bräuchte keine Angst zu haben, wir wären gleich da. Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Ich merke, wie ich zittere. Bemerkt sie es auch? Weiß sie, dass ich weiß, wer sie ist? Wenn ja, was wird sie tun? Alle Tötungsdelikte und Tötungsmethoden der gesehenen Sendungen machen es sich in mir bequem. Messerstiche, Schusswunden und Axthiebe fallen über mich her. Ich möchte schreien. Traue mich aber nicht. Presse die Lippen aufeinander, bis es schmerzt. Ich zwinkere ein ganz klein wenig und sehe, wie die Frau böse grinst. Es ist aus, denke ich, jetzt erwürgt sie mich, erschießt oder ersticht mich. Vielleicht schlägt sie mir auch mit ihrem Stöckelschuh den Schädel ein. Aber ich bin doch noch ein Kind, ein unschuldiges Kind, will ich sagen – bringe aber kein Wort über meine zusammengepressten Lippen. Höre, anstelle meiner Worte, einen lauten, dumpfen Schlag. Ich öffne die Augen. Die Schiebetüre des Abteils ist zugefallen. Die Frau ist verschwunden.

*

Schon kurz nach dem Abitur beginne ich im Wintersemester Medizin in München zu studieren und entziehe mich so vorerst dem Zivildienst. Eigentlich will ich Schauspieler werden oder Dramaturg an einem Theater und hätte mich am liebsten am Studiengang Theaterwissenschaft eingeschrieben. Zwei Wochen bevor meine Eltern tödlich verunglückt sind, besteht mein Vater darauf, dass ich was Anständiges lernen solle. Meine Mutter schlägt Jura oder Medizin vor. Mein Vater Ingenieurwesen. Als beide tot sind, bringe ich es nicht übers Herz, ihren letzten Wunsch zu ignorieren. Die ersten vier Wochen im Wintersemester 1999 ziehe ich zu Ralf nach München-Schwabing. Ralf war mit mir an der Schule in der Theatergruppe. Er verlässt, gegen den Willen seiner Eltern und der Lehrer, die Schule vorzeitig und studiert seit einem Jahr Schauspielerei an der renommierten Otto Falckenberg Schule.

Ich liege auf einer Luftmatratze im Flur und muss fast jede Nacht mit anhören, wie Ralf mit einer anderen Frau vögelt. Am nächsten Morgen sitzen die Frauen – alle meist in meinem Alter, nur im T-Shirt und mit knappem Höschen – in der Küche, schlürfen, lässig ein Bein auf dem Stuhl aufgestützt, am heißen Milchkaffee und blicken mich stolz an, als wollten sie fragen: Na, wie war’s? Gut, hätte ich antworten können, sehr gut, zumindest am Anfang. Anfänglich hole ich mir im Schlafsack liegend regelmäßig einen runter und ejakuliere in eine dreckige Socke, während nebenan das Bett quietscht und der Boden vibriert. Zuletzt kann ich das Gestöhne nicht mehr hören und stopfe mir feuchte Papiertaschentücher in die Ohren. Nach vier Wochen legt mir Ralf einen Zettel mit einer Adresse in Haidhausen auf den Küchentisch und sagt, das wäre vielleicht was für mich. Zwei Tage später ziehe ich nicht weit vom Rosenheimer Platz in eine Einzimmerwohnung um.