Elizabeth Fleckenstein / Michael Albus
Schattendasein

Elizabeth Fleckenstein / Michael Albus

Schattendasein

Flüchtlinge berichten
Mit einem Beitrag von Rupert Neudeck

Butzon & Bercker

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-2353-9

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4311-7

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4312-4

E-Pub: ISBN 3-978-3-7666-4310-0

© 2017 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: Ein Asylsuchender aus Gambia schaut aus dem Fenster eines Aufnahmezentrums in Rom, wo er lebt. © 2016, Valerio Muscella

Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Die Mutter mit dem Löwenherz

Um Sharif aus Syrien

Die Sprache lernen und anderen Flüchtlingen helfen

Hassim und Abbas, zwei Jugendliche aus Syrien

Wir sollten geschlachtet werden, weil wir Ungläubige sind!

Rasul und Rasha Alaskoria, eine christliche Familie aus dem Irak

Ich habe nichts anderes erlebt als Krieg

Israa, Mutter aus dem Irak

Todesangst und ständige Spannung haben mich verändert

Rami aus Aleppo

Ich spüre, dass mich bis heute eine Mauer umgibt

Amar Izabie aus Afghanistan

Den Traum habe ich immer noch

Bubakar, 17 Jahre alt, aus Gambia

Libian

Die kleine Maus, 14 Jahre alt, aus Somalia

Eine tiefe Wunde nicht nur unserer Zeit

Michael Albus im Gespräch mit Elizabeth Fleckenstein

Flüchtling sein

Die Stunde der Frauen

Rupert Neudeck

Begegnung mit dem Fremden

Nicht nur politische und wirtschaftliche Dimensionen

Michael Albus

Vorwort

Flüchtling, Migrantin, Migrant, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Schmerz, Folter, Ware Mensch, Schlepper, Zaun, Mauer, Wachhund, Hetzjagd, Boot, Polizei, Brandanschlag, Zelt, Willkommenskultur, Erstaufnahme, Duldung, Abschiebung – nur ein paar Worte aus einer endlosen Litanei, die in unseren Tagen und Nächten, in unseren Jahren, Monaten und Wochen heruntergebetet wird. Aber die, um die es wirklich geht, die Menschen auf der Flucht, führen ein Schattendasein. Sie wollen ihrem Schatten entfliehen, ins Licht kommen. Das ist ihr innigster Wunsch.

Flucht – ein Reizthema. Die einen reizt es zu Ausbrüchen der Unmenschlichkeit, Brandsätze in Flüchtlingsunterkünfte zu werfen, zu hetzen, zu pöbeln. Die andern reizt es zu helfen, im Guten Hand anzulegen, wo immer es geht, sich zu schämen beim Anblick einer Not. – Es gibt noch eine dritte Gruppe. Es sind die, die alles verdrängen, sich abschotten im Wohlstand, Hornhaut auf der Seele haben, dicht machen. Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss, eine Mauer. Flucht – ein Reizthema. Nicht vorübergehend. Nein, bleibend.

Wir erfahren über die, die unterwegs waren und sind, meist nur Klischees, hören stereotype Worte, sehen stereotype Bilder: Millionen auf der Flucht, Flüchtlingsstrom, Flüchtlingskrise, Migrationshintergrund, Kolonnen an Waldrändern, Menschen mit Bündeln und Kindern auf den Armen und an den Händen, Polizisten, Soldaten, die Zäune bauen, Warnungen vor Überfremdung, fahruntüchtige Schlauchboote, Busse, Züge, erschöpfte Gesichter.

Und das tote Kind am Strand des Meeres! – Schon vergessen?

Überhaupt die Kinder auf der Flucht! Geschichten von unabsehbarer Tragweite spielen sich hier ab. Ganze Leben werden davon geprägt.

Nach den neuesten Informationen sind weltweit fünfzig Millionen Kinder unterwegs, begleitet und unbegleitet, immer häufiger allein, ohne jede Begleitung. 17 Millionen sind innerhalb ihrer Heimatländer auf den Straßen, sind sogenannte Binnenflüchtlinge, 28 Millionen flüchten ins Ausland, jedes zweite Kind unter achtzehn Jahren ist von Ausbeutung und Missbrauch bedroht. Davon hören wir, lesen wir, sehen es und gehen vorüber, nehmen es hin in den täglichen Nachrichten! Aber hinter jeder Zahl, hinter jedem Bild steht ein persönliches Schicksal, eine Geschichte, ein Leben!

Das wollten wir nicht auf uns sitzen lassen. Deswegen haben wir einen anderen Weg eingeschlagen. Wir sind zu denen gegangen, die nach ihrer Flucht bei uns angekommen sind. Wir haben sie gefragt nach ihren Ängsten, die überlebt haben, und nach ihren übrig gebliebenen Sehnsüchten und Herzenswünschen. Auch nach ihrem Leben vor der Flucht. Das war möglich, weil Elizabeth Fleckenstein die Sprachen der Angekommenen sprach, selber Krieg erlebt hat, in Frontlinien gearbeitet hat, und die Geflüchteten Vertrauen zu ihr hatten.

So konnten wir Berichte hören, bekamen Geschichten erzählt, die uns den Atem stocken und eine Ahnung in uns davon wachsen ließen, was im „modernen“ 21. Jahrhundert abgeht. Der Geschmack des Elends ist nicht mehr Tausende von Kilometern weit entfernt, sondern ist bis vor unsere Haustüre gekommen. Jetzt kann man nicht mehr einfach auf einen anderen Sender umschalten, nicht mehr einfach sagen: Ich wusste es nicht. Jetzt ist die ganze Gesellschaft damit konfrontiert. Altes, nichts Neues. Dafür aber brutaler als je zuvor. – Welches Gesicht trägt der Mensch?

Während wir an diesem Buch arbeiteten, starb Rupert Neudeck. Ein alter Flüchtling, Helfer und Freund in einem, der in die Abgründe unserer Zeit geblickt hat – und nicht davongelaufen ist. Kurz vor seinem Tod hat er noch einen Text verfasst, den wir in dieses Buch aufgenommen haben, weil er beispielhaft ist und erhöhte Nachdenklichkeit auslösen kann – in diesem, unserem Lande.

Wir wissen, dass das Thema, um das es hier geht, fast schon ironisch gesagt, eine Attraktivität ganz eigener Art hat. Das heißt: Es reizt, abzuwehren, zu sagen: Uns reicht’s! Wir wollen und können das nicht mehr lesen, hören und sehen!

Jedoch: Flucht und Vertreibung ist keine einzelne, auf bestimmte Regionen der Erde beschränkte Erscheinung. Flüchtlinge gibt es überall. Viele von ihnen führen auch deswegen ein Schattendasein, weil wir kaum oder gar nicht über sie berichten oder sie nicht in den Blickpunkt unseres persönlichen oder öffentlichen Interesses nehmen. Wir würden das Thema auch überreizen.

Um diesen „Reiz“ wussten und wissen wir. Und dennoch, oder gerade deswegen: Vergesst die Flüchtlinge nicht! In ihnen begegnen wir uns selber. Unseren humanitären Gipfeln und unseren zynischen Abgründen. Machen wir uns nichts vor: An dem Thema entscheidet sich, ob wir noch oder wieder zur Menschlichkeit fähig sind oder nicht. Es geht dabei um uns Menschen selber. Um nichts mehr, aber auch um nichts weniger.

Wir danken, denen, die den Mut hatten, offen zu sein. Ihre Namen haben wir geändert, damit sie nicht unter die Räuber fallen.

Herbst 2016

Elizabeth Fleckenstein
Michael Albus

Denk an den Anderen

Denk an den Anderen

Wenn du dein Frühstück bereitest, denk an den Andern

und vergiss nicht das Futter der Tauben.

Wenn du in deine Kriege ziehst, denk an den Andern

und vergiss nicht jene, die Frieden fordern.

Wenn du deine Wasserrechnung begleichst, denk an die Andern,

die ihr Wasser aus den Wolken saugen müssen.

Wenn du zu deinem Hause zurückkehrst, deinem Hause, denk an den Andern und vergiss nicht das Volk in den Zelten.

Wenn du schlafen willst und die Sterne zählst, denk an den Andern,

der hat keinen Raum zum Schlafen.

Wenn du dich mit Wortspielen befreist, denk an den Andern

und denk an jene, die die Freiheit der Rede verloren.

Wenn du an die Anderen in der Ferne denkst, denke an dich,

und sage: Wäre ich doch eine Kerze im Dunkeln.

Mahmud Darwisch, *1941 in al-Birwa bei Akko, Palästina, † 2008 in Houston/Texas. Darwish wurde als die poetische Stimme seines Volkes bezeichnet. Das Gedicht wurde übersetzt von Hakam Abd al-Hadi, *1939 in Jenin, Palästina

Die Mutter mit dem Löwenherz

Um Sharif aus Syrien

Es ist Samstagmorgen, wir sitzen im Büro des Deutschen Roten Kreuzes in der Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburgs alter Stadthalle.

Um Sharif und zwei andere Frauen, Basima und Djamila, sind da. Sie möchten ihre Geschichte erzählen.

Als ich fragte, ob es Um Sharif lieber ist, dieses Gespräch alleine und vertraulich mit mir zu führen, meinte sie: „Nein! Die anderen Frauen können gerne dabei sein, denn hier ist es wie in einer Familie.“

Wir trinken frischen Kaffee und essen ein paar Nüsse, die auf dem Tisch liegen. Im Orient ist es ein Code, eine Sitte, eine Gewohnheit, wenn ein Gast kommt, ihm etwas zu essen zu geben und ihm Kaffee oder Tee anzubieten.

Kurz danach fragt mich Djamila, ob es okay ist, wenn die Bürotür geschlossen wird. – „Klar doch!“ antworte ich.

Dann nehmen die drei Frauen ihre Kopftücher ab. „Heiß ist es hier, gell?“ bemerke ich.

Die zwei Frauen meinten darauf: „Ja, endlich bläst etwas Luft durch die Haare!“

Wir machen es uns so gut wie möglich gemütlich, und das Gespräch beginnt langsam.

Elizabeth Fleckenstein (in der Folge EF)

Um Sharif, aus welchem Land kommst du?

Um Sharif (in der Folge US)

Ich bin aus Syrien. Habe in der Provinz Idlib, in einem Dorf mit Namen Ladiie gelebt.

EF

Du bist Mutter. – Wie viele Kinder hast du?

US

Fünf Kinder. Amir, Faris, Samira, Sharif, Fida. Eigentlich sechs. Aber ein Kind von mir ist an Krebs gestorben.

Es tritt plötzlich Stille ein. Die beiden anderen Frauen blicken nach unten … Um Sharif fährt fort …

Wir hatten ein gutes Leben. Ich habe mit meinen Kindern gelebt, und konnte es kaum erwarten, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Wir hatten ein Leben, von dem man eigentlich nur träumen kann. Dann hat sich mein erstgeborener Sohn verlobt. Und er und sein Bruder fingen an zu arbeiten.

Ich war auch berufstätig, hatte eine gute Arbeit. Ich war Friseurin. Den Friseursalon habe ich innerhalb meines Hauses eingerichtet. Damit konnte ich mich und meine Familie versorgen. Es fehlte uns an nichts. Alhamdulillah! Dank sei Gott!

Wir konnten ausgehen, Ausflüge machen. Das Haus war mein Eigentum. Ich musste keine Miete zahlen.

Aber dann kam das Jahr 2011. Plötzlich fing es mit dem Krieg an.

EF

Wie alt waren deine Kinder damals?

US

Kurz bevor der Krieg angefangen hat, hatte mein ältester Sohn seinen Militärdienst gerade beendet. Er war gerade neunzehn Jahre alt geworden. Faris war sechzehn, Samira war vierzehn. Meine Kleinsten, die mit mir gegangen sind: Sharif war damals elf und Fida fünf Jahre alt.

Der Krieg fing zuerst in Daraa an. Als wir von den Unruhen gehört haben, dachten wir uns: Es wird sich wieder bald beruhigen! Doch das war leider nicht der Fall. Genau eine Woche später griffen die bewaffneten Auseinandersetzungen auch auf unser Dorf Ladiie über.

Die Fronten verliefen damals noch zwischen dem Militär und der Freien Syrischen Armee. Das geschah im Monat Ramadan 2011.

EF

Also war es im August?

US

Genau! Alle haben gefastet und wussten oder begriffen nicht wirklich, was um uns herum geschah.

Ich war damals beim frühen Morgengrauen in meinem Haus.

Plötzlich klopft es an der Tür, und ich höre Stimmen von draußen sagen: „Steh’ auf, nimm deine Kinder und geh’!“ – Die Stimmen wurden hektischer: „Schnell, schnell, schnell! Geh’! Es kommt hier gleich zu einer bewaffneten Konfrontation. In der Nachbarschaft ist schon fast niemand mehr da. Geh’ raus, verschwinde, fliehe von hier!“

Doch wohin sollte ich denn fliehen? Wer verlässt schon schnell und gern sein Haus und sein Eigentum? Wohin sollte ich denn fliehen?

Überstürzt, ohne viel nachzudenken, packte ich meine fünf Kinder und ging raus. Wir liefen schnell auf die freien Felder. Drei Tage lang waren wir in den Feldern. Aber wir waren von bewaffneten Männern umzingelt. Wir konnten nicht zurück in unsere Häuser. Wir ernährten uns von den Früchten der Felder.

Manchmal aßen wir Gräser oder Pflanzen, von denen wir wussten, dass sie essbar waren.

Nach diesen drei Tagen wurde uns vom Militär mitgeteilt, dass wir zwei Stunden hätten, um die Felder zu verlassen. Wer dennoch da bleiben würde, würde von den Regierungstruppen festgenommen und als Teil der Opposition angesehen.

Das Militär warnte uns und sagte: „Passt auf, dass ihr nicht von einer verirrten Kugel getroffen werdet! Es gibt Heckenschützen!“

Wir entschieden uns, dicht von Mauer zu Mauer zu laufen.

Alle Bewohner, die sich geweigert haben zu fliehen, wurden festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.

EF

Das heißt, die Opposition hat sich bei der Zivilbevölkerung versteckt und Schutz gesucht, sie praktisch als lebenden Schutzschild missbraucht.

US

Genau. Das hat uns und anderen am meisten geschadet. Viel Leid ist unschuldigen Menschen damals zugefügt worden. Deswegen sind viele Menschen in der Folge auch einfach geflohen.

EF

Was ist dann mit euch passiert?

US

Nachdem wir von Mauer zu Mauer vorsichtig entlanggeschlichen waren, um uns vor Heckenschützen zu verbergen, fand ich endlich ein Taxi. Gott hat uns dieses Auto geschickt. Der Chauffeur hat drei Familien ins Taxi gestopft. Meine Jungs quetschten sich in den Kofferraum des Autos.

EF

Was geschah mit euren Sachen, die ihr zurücklassen musstet? Konntet ihr etwas mitnehmen?

US

Wir konnten nichts mitnehmen, gar nichts. Wir hatten nur die Kleidung am Leib, die wir vor der Flucht anhatten. Das war es. Besonders schlecht war es für die, die ihren Pass vergessen hatten und das Geld, vor lauter Angst und Panik wegen des Lebens ihrer Kinder. Klar, was dann passiert ist: Die Häuser wurden geplündert. Alles wurde geraubt. Alles, was wir einst hatten.

Es war eine schreckliche Zeit. Viele Menschen wurden getötet. Wir sahen LKWs, die vollgeladen waren mit Leichen. Niemand wusste, wer sie sind. Sie wurden in Massengräber gebracht und dort anonym verscharrt.

Die Straßen und die Märkte verwandelten sich in Geisterstätten. Alles war leer und öde geworden.

Du weißt doch, wie es ist, wenn es wirklich so richtig regnet? So sind die Kugeln auf uns heruntergeprasselt, um uns herum geflogen.

Ich hatte das Ziel, nach Idlib zu meinen Eltern zu flüchten.

EF

Ist dir das gelungen?

US

Nein. In Idlib war es noch viel schlimmer. Wir kamen bis an die Brücke, die nach Idlib führte. Doch die Brücke war schon zerstört worden. Ich konnte von dort aus die Stadt sehen: Totale Zerstörung! Alles war schwarz und trostlos.

EF

Und diese Zerstörung geschah innerhalb weniger Tage?

US

Ja. Innerhalb einer Woche war nahezu alles dem Erdboden gleich gemacht.

Ich fragte mich voller Angst und Sorge: Wo sind meine Eltern? Die Brücke war zerstört. Wie konnte ich zu meinen Eltern kommen? Wo hielten die sich auf? Es hat sich dann herausgestellt, dass meine Eltern auch geflüchtet waren. Wohin, wusste ich natürlich nicht. Ich habe sie also nicht finden können.

EF

Hattest du nicht die Möglichkeit, sie per Handy zu kontaktieren?

US

Nein. Alle Telefonnetzwerke waren lahmgelegt. Es gab auch keine Elektrizität.

Ganz verzweifelt fragte ich mich: Was soll ich jetzt machen? Wo soll ich hin?

Nach langem Ringen entschied ich mich, mit den Kindern in die Türkei zu fliehen. Wir kamen dort in ein Flüchtlingslager. Und zum großen Glück fand ich da auch meine Eltern.

Ich blieb dort zwanzig Tage lang. Dann entschied ich mich, gemeinsam mit meinen Kindern zurück nach Syrien zu reisen.

Ich konnte es einfach nicht schlucken, nicht verwinden, dass man mich einen „Flüchtling“ nannte. Oft habe ich geweint und mir gesagt: Wie kann es sein, dass wir vorher in Würde gelebt haben und jetzt „Flüchtlinge“ genannt werden? Ich konnte es einfach nicht ertragen, wollte zurück. Mir war es lieber, in meinem eigenen Land, in meinem Heimatland zu sterben als hier im Flüchtlingslager das Leben zu fristen.

EF

Bist du wieder in dein Dorf zurückgegangen? Wie war es dort? War dein Haus noch da?

US

Alles war noch da. Gott sei Dank! Zu diesem Zeitpunkt hatte das Militär die Kontrolle über das Dorf übernommen. Danach normalisierte sich die Lage halbwegs. Lästig war nur, dass so viele Militärkontrollpunkte errichtet wurden. Das hieß: Jedes Mal, wenn ich Gemüse einkaufen wollte, wurde ich mindestens fünfmal aufgehalten und durchsucht.

EF

Waren andere auch wieder zurückgekehrt? Nachbarn?

US

Nur die wenigsten. Es war wie in einer unheimlichen und verlorenen Geisterstadt.

EF

Wie lange bist du mit deinen Kindern dort geblieben?

US

Ich blieb dort ein Jahr unter diesen Umständen.

EF

War da nicht eine ständige Spannung und Angst?

US

Ja. Und wie! Die Angst hat uns Tag und Nacht begleitet. Immer wieder gab es auch bewaffnete Auseinandersetzungen.

EF

Was ist dann passiert?

US

Dann sind schreckliche Ereignisse vorgefallen. Zuerst wurde Faris an einer dieser Checkpoints festgenommen. Nach drei Monaten konnte ich ihn aus dem Gefängnis herausholen, nach langem Ringen, nach vielen Tränen. Fast mein ganzes Hab und Gut musste ich dafür verkaufen. Faris, noch fast ein Kind, war nach den drei Monaten sehr krank und konnte kaum mehr laufen, weil er in einer Isolationszelle festgehalten worden war, ohne Licht, unter ganz schwierigen Umständen. Sein Fieber wollte nicht unter 40 º Celsius heruntergehen. In den Nächten hat er schreckliche Albträume gehabt. Er ist schweißgebadet aufgewacht und hat geschrien. Zuerst wusste ich nicht, dass er gefoltert worden ist. Nachdem ich ihn ins Bad gebracht hatte, sah ich die vielen Spuren von brennenden Zigaretten an seinen Beinen und an den Hüften.

Knapp einen Monat später wurde mein ältester Sohn festgenommen und eingesperrt. Ich wusste aber nicht, wo er war. Er war verschollen. Niemand wusste, wo er war. Fünf Jahre ist er jetzt schon im Gefängnis. Erst seit drei Monaten, sprich seit April 2016, weiß ich, wo er gefangen ist und dass es ihm sehr schlecht geht.

EF

Kann das Komitee vom Roten Kreuz deinen Sohn denn nicht besuchen?

US

In Syrien gibt es so viele Gefängnisse, die geheim sind. Niemand, nicht einmal das Rote Kreuz, darf dorthin. Die Menschen, die dort festgehalten werden, sind wie verschollen. Viele Gefangene müssen dort in extremen Situationen leben. Sie werden schlecht behandelt, gefoltert, dürfen keine Kontakte zu ihren Familien aufnehmen. Manche sterben in diesen Gefängnissen auch. Sie sind für immer vergessen und vermisst.

EF

Also zuerst wurde Faris eingesperrt. Dann nach langem Ringen konntest du ihn rausholen. Dann sperrten sie deinen zweiten Sohn ein. Er ist bis jetzt noch im Gefängnis?

US

Ja. Aber nicht nur das! – Sieben Monate später, nachdem Sharif verschollen war, wurde ich selber für einen Monat festgenommen und eingesperrt. Im Morgengrauen klopfte es an die Tür. Als ich aufmachte, standen da zwei in Militäruniformen gekleidete Männer und fragten: „Wo ist dein Sohn Sharif?“ Ich antwortete: Ich weiß es nicht. „Also dann bitte sofort mit uns kommen!“

Damals war nur meine siebenjährige Tochter Fida bei mir. Sie weinte und schrie: „Bitte nehmt mir meine Mutter nicht weg!“ Die Soldaten beruhigten das Kind und meinten: „Keine Angst, deine Mutter kommt in zwei Stunden wieder.“ Die Soldaten baten mich, mein zweites Kopftuch mitzunehmen. Beim Rausgehen benutzten sie mein zweites Kopftuch dann dazu, meine Augen zu verbinden.

Fida war nun ganz alleine. Niemand war da. Gott sei Dank wusste sie, wo das Haus der Frau ihres Bruders ist, und ging weinend dahin.

EF

Wer hat sich um deine Kinder gesorgt?

US

Samira und Faris flüchteten damals, kurz bevor ich festgenommen worden war, in die Türkei zu ihrem Vater, der einen Herzinfarkt erlitten hatte. Amir war ja in einem Gefängnis verschollen. Und die beiden Kleinen, Sharif und Fida, waren allein mit mir. Die Kleine wurde von einer mir bekannten Frau behütet. Scharif drehte durch. Er geriet unter den Einfluss einer schlechten Jugendgruppe und war verloren, vollgedröhnt mit Drogen und Alkohol. Er war erst elf Jahre alt und konnte nicht mit der Tatsache umgehen, dass seine Mutter weg war. Er war total frustriert.

Die Kinder wussten nicht, wo ich war, wie lange ich im Gefängnis bleiben werde, ob ich lebendig oder tot war, ob sie mich jemals wieder treffen würden. Ich war verschollen. Fida ist bis heute sehr geschockt von diesem Ereignis. Sie übernachtet jeden Abend bei mir im Bett – ihre Arme hat sie dann eng um mich geschlungen. Wenn ich nachts nur kurz auf die Toilette muss, ist sie voller Angst und Schrecken und fragt mich: „Wohin gehst du?“ Das ist bis heute so!

Das Gefängnis, in das sie mich gebracht haben, war früher eine öffentliche Toilettenanlage, deren Kabinen dann zu Isolationszellen umgebaut wurden. Kannst du dir vorstellen, wie klein so eine Zelle ist? – Ohne Licht, ohne Bett, ohne Decke. Manchmal war ich ganze Tage ohne Wasser und Essen. In der Nacht konnte ich ja nicht einmal meine Beine ganz ausstrecken. Ich musste in Kinderstellung schlafen. Bis heute habe ich dadurch Schmerzen in meinen Beinen. In den ersten drei Tagen musste ich sogar noch diese winzige Zelle mit einer Mutter und ihrer zweijährigen Tochter teilen!

Basima und Djamila, die dabei sitzen, öffnen ganz weit die Augen und sagen: „Was! Auch ein Kind war da eingesperrt?“

US

Ja, sogar Kinder wurden eingesperrt. – Als ich zur Toilette musste, habe ich eine halbe Stunde wild an der Tür geklopft, bis irgendjemand aufmachte. Sehr oft habe ich auf mich selber uriniert, weil ich es nicht mehr aushalten konnte.

Nach drei Monaten wurde ich entlassen. Der Gefängniswärter ermöglichte es mir, einen Anruf zu machen. Ich rief sofort die Ehefrau meines ältesten Sohnes an.

Als ich endlich nach Hause kam, umarmte ich als Erstes meine Kinder.

Nach allem, was geschehen war, blieb ich dennoch in meinem Dorf. Der Gedanke, dass mein ältester Sohn noch im Gefängnis verschollen war, hat mich nicht losgelassen. Jeden Tag ging ich von einem Gefängnis zum anderen und suchte ihn. Von Damaskus bis nach Homs. In jeder Stadt habe ich gesucht. Oft während Bombardierungen und Schießereien. Doch ich bekam kein Lebenszeichen von Amir.

Ich habe mir sogar einen Rechtsanwalt genommen, hatte aber kein Geld, um ihn zu bezahlen. Deshalb habe ich mich entschieden, meinen Ehering zu verkaufen.

Der Anwalt antwortete mir nach ein paar Monaten: „Höre auf zu suchen! Amirs Gnade liegt bei Gott. Sei froh, dass dein Sohn nicht im Gefängnis verbrannt worden ist!“ – Viele Gefangene sind in den geheimen Gefängnissen verbrannt worden.

EF

Verbrannt? Wirklich verbrannt?

US

Ja. Weißt du, wie ein alter Ofen funktioniert? Genau so machen sie es. Sie verbrennen Gefangene genau so, machen Feuer unter ihren Füßen!

Dieser Satz kam von den Lippen des Anwalts in meine Ohren. Nachdem ich das gehört hatte, bekam ich einen Nervenzusammenbruch!

Um Scharif erzählte dann, wie Frauen und Männer gefoltert wurden und werden. Ich lasse es hier aus guten Gründen raus!

EF

Das sind richtige Monster!!! Nicht einmal wilde Tiere würden so etwas machen!!!

US

Gott hat Syrien längst verlassen. Das sind keine Menschen mehr. Das sind Monster.

Jamila fügt hinzu: „Der Teufel hat dort einen Körper und ein Gesicht bekommen und herrscht dort!

US

Ich hatte Angst um meine jüngsten Kinder. Meinem Sohn Sharif wurde gedroht, auch ins Gefängnis geschmissen zu werden.