Alva Furisto
Der Overview-Effekt
Das Buch:
Robert hat Anna im Glauben gelassen, ihr Freund Jonas sei tot. Kann er es ihr da verübeln, dass sie ihm vollends misstraut, als Jonas wiederaufersteht und Robert die beiden in ein Flugzeug verfrachtet, um sie vor dem Zugriff einer Terrororganisation zu schützen?
Erst, nachdem er sie über die Hintergründe bezüglich seiner und Johns Freundschaft und den daraus resultierenden Plan eingeweiht hat, gewinnt er Annas Vertrauen zurück. Voller Stolz, in ihr die richtige Wahl getroffen zu haben, beobachtet er, wie sie beginnt, seine Geschäfte zu übernehmen. Da taucht ICARUS wieder auf und sät Misstrauen in der Bevölkerung. Roberts einzige Idee, alles wieder ins Lot zu bringen, stammt aus einer Geschichte von Anna.
Doch wie können sie den Betroffenen die Erde als Ganzes zeigen, um den »Overview-Effekt« zu erzeugen?
Die Autorin:
Alva Furisto wurde 1979 in Mainz geboren. Ihre Kindheit war geprägt von kleinen Abenteuerreisen, die sie mit ihrem Pony unternahm. Dabei erkundete sie im Umkreis ihres Wohnortes jeden Winkel und ließ ihrer Fantasie freien Lauf, welche Geschichten sich an den verborgenen Orten, die sie fand, abgespielt haben mochten. Während sie sich in ihrem Beruf mit der Materie von Gesetzestexten und ihrer Subsumtion beschäftigte, begann sie 2005, wieder ihrer Leidenschaft für Geschichten zu frönen und arbeitete an ihrem ersten Roman. Sie veröffentlichte eine Kurzgeschichte und »Elly Unverbindlich« im Jahr 2015. Derzeit lebt sie mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Sohn im Westerwald, und arbeitet im Öffentlichen Dienst.
https://alvafuristo.wordpress.com
Außerdem erschienen:
Der PSI-Effekt – 6:42 Uhr (06/2016)
Alva Furisto
Roman
Der Overview-Effekt – 6:42 Uhr
Alva Furisto
Copyright © 2016 at Bookshouse Ltd.,
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Satz: at Bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: bookwire GmbH
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-53-569-9 (Paperback)
978-9963-53-570-5 (E-Book .pdf)
978-9963-53-571-2 (E-Book .epub)
978-9963-53-572-9 (E-Book Kindle)
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Urheberrechtlich geschütztes Material
In liebevoller Erinnerung an Anna Gärtner.
1. Die letzte Ehre
2. Staatsgewalt
3. Verzweiflungsakt
4. Inquisition
5. Jake Cunningham
6. Showtime
7. Nevada-Frankfurt
8. Leon
9. Abschied
10. Sie sind frei
11. Was wird aus uns?
12. Im Fokus
13. Danach ist davor
14. RIP Media
15. Kardinal Erzbischof John Jacob Meyer
16. Operation Desert Storm
17. Blackout
18. Nach dem Blackout
19. Inttext
20. Zehn Stunden
21. Mexiko
22. Die Beichte
23. Sei frei
24. 11. September 2001
Epilog - Chatroom
Danksagung
Kapitel 1
Die letzte Ehre
Der Wasserkocher verbreitete lautes Rauschen durch die Küche und riss Anna aus ihren Gedanken. Die Sonne schien bereits hell, doch ein Blick auf die Uhr verriet, es war erst 6:42 Uhr. Kurz fiel ihr auf, dass diese Uhrzeit sie zu verfolgen schien, aber die Gewissheit, dass dieser Tag einer der schrecklichsten werden würde, den man sich vorstellen konnte, überlagerte ihre Gedanken wieder. Der Kocher klickte und ging aus.
Anna schüttelte den Kopf. Wie falsch dieses sonnige Wetter für eine Beerdigung war. Es passte nicht zu Jonas und auch nicht zu den Gegebenheiten des Westerwaldes. Hier war es vorwiegend düster, windig und kalt. Sie goss das Wasser über das Kaffeepulver.
Es klopfte. Um Haaresbreite wäre ihr der Kocher vor Schreck aus der Hand geglitten. Gerade so konnte sie ihn wieder ins Gleichgewicht bringen. Es klopfte erneut. Wer um alles in der Welt störte sie um diese Uhrzeit?
Barbara und Susi wollten Anna gegen acht Uhr abholen. Außerdem wusste Barbara, wo der Ersatzschlüssel lag. Sie würde um diese Zeit nicht klopfen. Da Anna auch kein Auto hatte vorfahren hören, ging sie angespannt zur Tür und öffnete. Sie starrte John an, schüttelte verständnislos den Kopf und verkniff sich den Impuls, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Schweigend ging sie zurück in die Küche. Seine Anwesenheit ignorierend widmete sie sich weiter ihrem Kaffee. John folgte ihr und setzte sich an den Küchentisch. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stellte sie eine Tasse vor ihm ab und begann, noch eine weitere für sich aufzubrühen.
Den Kaffeebecher in der Hand lehnte sie sich gegen die Küchenzeile und fixierte seine grauen Augen. Lange konnte sie seinem fürsorglichen Blick nicht standhalten und musterte stattdessen sein Äußeres. Sein schwarzgraues Haar war gewachsen, seit sie es in Roanode Rapids kurz geschoren hatte, um ihn auf der Flucht zu tarnen. Die schmalen Lippen verliehen ihm auch heute einen ernsten Ausdruck.
»Ich wollte nach Ihnen sehen.« John starrte zurück.
»Da bin ich.« Aller Bemühungen zum Trotz gelang es ihr nicht, ein nervöses Blinzeln zu unterdrücken. Bei seinem Anblick spürte sie die langsam heilenden Verletzungen, an denen sich zwei Kugeln in ihre Haut gebohrt hatten. Die Geschosse waren für ihn bestimmt gewesen.
Noch vor ein paar Tagen hätte sie es nicht für möglich gehalten, dass sie einem exkommunizierten Erzbischof zur Flucht verhelfen würde, um ihn in einem Unterschlupf in der Nähe ihres Hauses zu verstecken. Jetzt saß er in ihrer Küche. Noch viel unbegreiflicher war allerdings, dass sie heute ihren Lebensgefährten beerdigen musste.
Bei dem Gedanken an Jonas schluckte Anna den sich in ihrem Hals bildenden Kloß hinunter.
»Sie sollten nicht allein sein.«
»Werde ich nicht. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich Freunde. Und die werden gleich hier sein.« Anna deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Deshalb ist das keine gute Idee.«
»Ich würde Sie gern begleiten.« John trank seelenruhig einen Schluck seines Kaffees.
»Darüber haben wir gesprochen. Angelockt von dem Erfolg meines Buches werden eine Menge Leute anwesend sein, und sie kennen Ihr Gesicht in diesem Zusammenhang aus den Medien. Die Presse wird auch da sein. Es geht einfach nicht.« Anna schüttelte den Kopf, verwundert über seine kindliche Starrsinnigkeit in dieser Sache.
»Sie können die Grabrede nicht halten. Das ist zu viel, selbst für Sie.« Er musterte sie besorgt.
»Aber Sie? Hab ich etwas nicht mitbekommen?«
Jemand steckte den Schlüssel ins Türschloss. Aufgeschreckt stellte Anna den Becher zur Seite. Noch bevor sie reagieren konnte, wurde die Küchentür geöffnet und Barbara trat auf die Schwelle. Sie sah John am Küchentisch sitzen, blinzelte Anna verstört an und packte sie am Arm. Durch den Flur folgte Anna ihr ins Wohnzimmer und schloss die Tür.
»Anna? Sag mal, ist das der, für den ich ihn halte?«
Anna starrte Barbara an. Ihr blondes Haar saß wie immer tadellos, die Rente schien ihr gut zu bekommen, und auch wenn sie angesichts der Situation angegriffen wirkte, so strahlte sie dennoch Energie und Lebensfreude aus. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Anna einen Sinn dafür gehabt, sich für Barbara zu freuen.
»Ich weiß nicht. Für wen hältst du ihn denn?« Bereits während sie die Worte aussprach, tat es ihr leid, dass sie Unwissenheit vorgaukelte. Das hatte Barbara nicht verdient. Anna lächelte ihre Freundin aufgesetzt an und erntete einen verächtlichen Blick. »Ach so. Nein. Wie kommst du darauf, dass du so jemanden bei mir antriffst? Das ist nur …« Anna kaute verlegen auf der Unterlippe und erkannte an Barbaras Miene, dass jede weitere Lüge an ihr abprallen würde.
»Anna. Du kommst in Teufels Küche.« Barbara gestikulierte wild mit der Hand in Richtung Tür.
Anna seufzte. »Der Teufel sitzt in deiner Küche, wäre die zutreffende Formulierung.«
»Also, ich … Was soll ich jetzt … Ich finde das unheimlich«, stammelte Barbara.
»Daran gewöhnt man sich.« Anna verzog das Gesicht zu einem Grinsen, um die Situation ins Lächerliche zu ziehen.
Barbara taxierte sie ernst. »Was nun?«
»Ich wollte dich da nicht mit hineinziehen, aber er … Sag kein Wort, zu niemandem. Wir gehen jetzt in die Küche und trinken einen Kaffee.«
»Ehrlich?« Barbara blieb der Mund offen stehen.
»Glaubst du, ich verzichte auf meinen Kaffee, nur weil er da sitzt? Das wäre unheimlich, oder?«
»Ja, aber wieso sitzt er denn da?«
Bei Barbaras Frage kniff Anna die Augen zusammen. Die so erzeugte Dunkelheit brachte leider auch keine Erkenntnisse, was sie tun sollte. Sie atmete tief durch und öffnete die Augen. »Ich kann mir gerade keine Situation vorstellen, die bizarrer sein könnte. Es ist fast komisch, aber doch nicht an so einem Tag, sonst würde ich glatt darüber lachen.«
»Verzeih mir. Dein Leben war schon immer eigenartig, aber mir war nicht bewusst, wie weit du in der Lage bist, das noch zu steigern. Sag mal.«
Anna zuckte hilflos mit den Schultern. »Es passiert eben. Ich weiß doch auch nicht.«
»Wieso ist er hier? Man hat doch niemanden, gegen den ein Haftbefehl vorliegt und der weltweit gesucht wird, in seiner Küche sitzen?«
»Weil, ach … Warum eigentlich? Wir wussten nicht wohin. Dann hier.« Wieder und wieder hatte sich Anna gefragt, wie die Vorkommnisse diesen Verlauf hatten nehmen können. Sie rieb sich angestrengt über die Stirn.
»Wir? Wer ist wir?« Barbaras Blick durchbohrte sie geradezu.
»Das ist kompliziert. Ich kann es nicht erklären, bevor ich nicht einen Kaffee getrunken habe. Sorry.« Anna öffnete die Tür, und Barbara folgte ihr in die Küche.
Anna hatte gehofft, John wäre in der Zwischenzeit verschwunden. Er saß aber völlig unbeeindruckt von der Gefahr, entdeckt worden zu sein, auf seinem Stuhl und trank seinen Kaffee.
»Darf ich vorstellen? John Meyer, das ist Barbara Ba…, Ba…, ist auch egal. Barbara. Möchte noch jemand etwas trinken?«
John hielt ihr prompt seine Tasse hin. »Gern.«
Ihn mit einem strafenden Blick ermahnend, nahm sie das Gefäß entgegen.
»Sie sind also der Mann, dem Anna das Leben gerettet hat.« Barbara setzte sich ihm gegenüber.
Anna kannte sie als eine Person, der es gelang, nahezu immer und überall friedfertig eine gepflegte Konversation zu betreiben. Zu ihrem Erstaunen jedoch klang Barbara gerade angriffslustig.
»Ja.« John nickte.
»Und jetzt sitzen Sie in Annas Küche?«
»Jetzt sitze ich in Annas Küche.«
»Dürfte ich wissen, warum?«
Hilfe suchend schaute John zu Anna.
Sie beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln heraus und hantierte mit dem Wasserkocher. »Jetzt bin ich auch gespannt«, entfuhr es ihr.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte er.
»Aber Ihnen ist bekannt, dass ein Haftbefehl gegen Sie vorliegt und sich Anna strafbar macht?«
Anna stellte jeweils eine Tasse Kaffee vor ihren Gästen ab und setzte sich mit ihrer an den Tisch.
»Anna will die Grabrede selbst halten.« John erntete für seine Bemerkung einen bösen Blick von Anna.
»Wie bitte? Das kann unmöglich dein Ernst sein?« Barbara ließ sich entrüstet im Stuhl zurückfallen.
»Ich war nicht das Thema. Ist mir etwas entgangen?« Anna trommelte mit ihren Fingern auf der Tischplatte.
»Das kannst du unmöglich durchstehen.« Barbara schüttelte besorgt den Kopf.
»Er wird wegen Unterschlagung, Betrug und Korruption innerhalb und außerhalb der Kirche gesucht.« Zu Barbara sehend deutete Anna vorwurfsvoll mit dem Finger auf John.
»Sie sollte es nicht tun. Sie wird zusammenbrechen.« John ignorierte Anna.
»Die Exkommunikation nicht zu vergessen.« Nach ihren Worten stieß Anna zischend Luft aus.
»Das sehe ich genauso.« Barbara stimmte John zu und nickte.
»Und der Autodiebstahl«, zählte Anna weiter auf. Irgendwie musste ihr doch gelingen, den Fokus wieder von sich auf John zu lenken?
»Für so etwas gibt es Pfarrer«, sagte John an Barbara gerichtet.
»Oder freie Prediger, wenn einem das nicht passt«, bestätigte Barbara.
»Ganz zu schweigen von der illegalen Einreise nach Deutschland.« Anna erhob ihre Stimme.
Barbara und John sahen sie erwartungsvoll an. Sie sprang auf. »Habt ihr euch gerade binnen Sekunden gegen mich verschworen?« Sie musterte die beiden verärgert.
»Beruhigen Sie sich.« John klang friedfertig, was Anna nur noch mehr in Rage versetzte.
»Könnte er nicht die Rede halten?«, fragte Barbara leise.
»Wie soll das gehen? Hast du mir eben zugehört? Er würde in Handschellen vom Friedhof geführt.« Anna seufzte hilflos.
»Ich würde es trotzdem tun.« Voller Mitgefühl sah John sie an.
»Wieso hast du keinen Prediger engagiert?« Barbara neigte verwundert den Kopf.
»Kein dahergelaufener, selbst ernannter Halbheiliger wird Jonas’ Grabrede halten. So etwas habe ich schon erlebt. Es war grauenvoll.« Angesäuert setzte sich Anna wieder. »Was ist eigentlich mit den Vorwürfen gegen ihn?«, versuchte sie Barbara vom Thema abzulenken.
John atmete tief durch und presste die Lippen aufeinander.
»So schlimm kann es nicht sein, sonst würdest du ihn nicht hier sitzen lassen.« Ihre Freundin deutete auf John.
»Vielleicht zwingt er mich dazu.«
»Anna, bitte«, sagte John empört.
»Wohl kaum.« Seinem Blick ausweichend, starrte sie aus dem Fenster und erkannte einen schwarzen Skoda Yeti, der in ihre Einfahrt rollte. Zu ihrem Entsetzen erblickte sie hinter dem Zaun ein Presseauto. Instinktiv ergriff sie Johns Hand und registrierte Barbaras erstaunten Blick.
»Sie müssen aus dieser Küche.«
John stand auf und wandte sich in Richtung Haustür.
»Nein, nicht da. Die Hyänen lauern bestimmt schon hinter der Hecke.« Da er zögerte, zog sie ihn an der Hand, und er folgte ihr über die braune Steintreppe bis ins Obergeschoss. Sie öffnete eine der beiden Türen.
»Bitte gehen Sie hier hinein. Ich will nicht, dass etwas geschieht, was Sie gefährdet.«
John betrat das Zimmer und blickte sich fasziniert um. Ihm war, als hätte er beim Durchschreiten der Tür eine Zeitreise in die Siebzigerjahre gemacht. Alles passte: Tapete, Vorhang, Möbel. In der Mitte des Raumes hing eine bauchige orangefarbene Lampe herab. Eine Wand war komplett verdeckt von einem großen Regal mit unzähligen Büchern und gegenüber stand ein alter Plattenspieler. John sah Anna fragend an, die mit ihrem schwarzen Hosenanzug und ihrem heute glatt gezogenen und hochgesteckten, dunklen Haar wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung wirkte.
»Ein Spleen von Jonas.« Sie deutete auf die Bücher. »Lesen Sie etwas. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie ungesehen wieder hier hinauskönnen. Die Toilette ist den Flur entlang die kleine Treppe hinunter. Etwas zu trinken, ach so …«
»Schon gut. Danke«, unterbrach John sie und griff sich ein Buch mit der Aufschrift: Stoßgebete.
Anna riss es ihm aus der Hand und verzog das Gesicht. »Das ist definitiv nichts für Sie.« Nachdem sie das Buch an seinen Platz zurückgestellt hatte, ergriff sie eine Ausgabe ihres Buches und reichte sie ihm. »Waren Sie damit fertig?«
»Nein.« Mit dem Buch in der Hand setzte er sich in den Sessel.
»Dann haben Sie jetzt Gelegenheit.« An der Tür drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Ich weiß es zu schätzen, wirklich.«
»Was?«
»Dass Sie sich Sorgen machen. Aber mein Dickkopf …«
Barbara hatte Susi hereingelassen. Sie packten die nötigen Sachen zusammen und fuhren mit Susis Auto zum Friedhof. Die Presseleute belagerten bereits die Umgebung, doch bisher traute sich noch keiner von ihnen, näher zu kommen.
In der kleinen Trauerhalle war der Sarg bereits aufgebahrt. Er glänzte schwarz, hatte ovale Ränder und trug die Aufschrift Skouman Opan I. Jonas hatten Annas schräge Einfälle immer gefallen.
Barbara schaute skeptisch. Ihre Freundin hatte in diesen Dingen einen klassischen Geschmack, sie hätte jedoch nie gewagt, in einem solchen Augenblick etwas zu sagen. In Gedanken den Anlass des heutigen Tages mit aller Macht verdrängend, kramte Anna das Skript für die Grabrede aus ihrer Umhängetasche und legte es auf das Rednerpult. Susi und Barbara verteilten die Blumenarrangements aus Vergissmeinnicht und orangefarbenen Lilien im Raum. Anna legte eine CD in die Stereoanlage. Bei den ersten Takten atmete sie tief ein.
»Ich gehe in den Nebenraum. Um zehn Uhr komme ich wieder.« Sie flüchtete in der Hoffnung, die Fassung nicht zu verlieren. Anna hatte all jenen, auf deren Anwesenheit sie Wert legte, Bescheid gegeben, rechtzeitig da zu sein, um die begrenzte Anzahl von Stühlen in der kleinen Trauerhalle zu besetzen. Sie wollte den Raum gefüllt wissen mit Personen, denen Jonas tatsächlich etwas bedeutet hatte. Der Rest musste mit Stehplätzen, vor der zu beiden Seiten geöffneten Flügeltür, vorlieb nehmen.
Sie legte sich die Stonehenge-Kette um den Hals, ein Geschenk von Jonas, und atmete durch. Dann öffnete sie die Tür zur Trauerhalle und trat hinter das Rednerpult. Der Raum und der Eingangsbereich waren mit Personen gefüllt.
Sie musterte die Sitzreihen und entdeckte Hedwig, die Taxiunternehmerin. Jonas hatte ihr in schweren Zeiten sehr geholfen. Barbara und Susi, Rita und Raimund, die eine Bäckerei besaßen und Jonas in der Zeit der Trennung von seiner Exfrau beigestanden hatten, bevor Anna in sein Leben getreten war, füllten weitere Plätze. Rita weinte schon jetzt bitterlich. Anna blinzelte und schluckte. Bemüht, unter all den mitleidvollen Blicken nicht die Fassung zu verlieren, trat sie an das kleine Rednerpult. Jonas’ Freund und Arbeitskollege Roland Sonnenschein saß ebenfalls auf einem der Stühle. Sie erinnerte sich daran, dass John die Möglichkeit in Betracht zog, Roland pflegte Beziehungen zu ICARUS. Womöglich war er nicht unschuldig an Jonas’ Tod. Anna unterdrückte die bei diesem Gedanken aufsteigende Wut. Heute konnte sie sich nicht darum kümmern.
Sie löste den Blick von Roland, der wie gebannt zurückgestarrt hatte, und sah weiter in die Runde. Einige Nachbarn füllten die restlichen Sitze.
Anna stellte die Musik ab und schaltete das Mikrofon ein. Ihre Knie waren aus Gummi. Sie legte Halt suchend die Hände auf das Pult. »Liebe Freunde. Liebe Familie. Wir sind heute hier, um Jonas Müller, den wir alle sehr geschätzt haben, die letzte Ehre zu erweisen.« Dünn klang ihre Stimme durch die Lautsprecher. In der Tür entdeckte sie Reporterteams mit Kameras. Es erschreckte sie nicht, sie hatte damit gerechnet.
»Jonas Müller wurde am 23.01.1970 in Altenkirchen im Westerwald geboren. Er verlor im Alter von drei Jahren seinen Vater«. Ihre Stimme wurde noch dünner. »Es …«
Anna verstummte bei dem Anblick, der sich ihr bot. Da stand Maria, Jonas’ Exfrau in der Tür mit Jonas’ beiden Töchtern, die ihre Mutter mittlerweile überragten. Sie hatte den Umgang der Mädchen schon vor Jahren für Jonas und sie blockiert. Anna hatte sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Die aufwallenden Emotionen ignorierend, konzentrierte sie sich wieder auf ihre Rede. »Es hat ihn geprägt. Mit ihm verloren auch seine beiden älteren Brüder und seine Schwester den Vater …«
Marias Gesichtsausdruck ließ Anna erneut stocken. Ihre Mimik erinnerte an ein süffisantes Grinsen. Freute sie sich? Oder ließ der Stress sie so sonderbar aussehen? Anna trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das jemand auf dem Rednerpult bereitgestellt hatte. Von draußen schallten lautere Stimmen herein, nicht angebracht für eine Beerdigung. Ein Auto fuhr vor.
Versucht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, starrte sie auf ihr Blatt. Die Buchstaben begannen, vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie wusste nicht mehr, an welcher Stelle sie gerade gewesen war.
»Jonas Müller war Sohn, Vater und Freund, denen, die …« Anna streifte Marias fiesen Blick und stockte abermals.
John und Barbara hatten es vorhergesagt. Es würde in einer Katastrophe enden. Nur weil sie einen Prediger abgelehnt hatte. Sie trank wieder einen Schluck und bemerkte, dass sie kaum noch in der Verfassung war, zu sprechen. Sie blinzelte verstört in Richtung Publikum. Unruhe kam auf. War sie der Auslöser? Nicht mehr in der Lage, klar zu sehen, überkam sie ein Schwindelgefühl, doch bevor es sie zu Fall brachte, stellte sich jemand hinter sie. Anna erkannte den Geruch des teuren Rasierwassers. Er konnte das nicht sein. Wie sollte er hierherkommen? Und wozu? Behutsam schob er eine Hand auf ihre Schulter. Sie lehnte sich zurück an den Körper, wohl wissend, dass sie dort den nötigen Halt fand.
»Bleib einfach hier stehen. Ich mache das, Goldkind.«
Robert flüsterte nah an ihrem Ohr und nahm ihre rechte Hand in seine. Anna genoss die vertraute Wärme. Von seiner Anwesenheit bestärkt, blickte sie wie durch einen Tunnel in Marias Gesicht.
»Wer zum Teufel ist das?«, hörte sie Jonas’ Exfrau zischen.
»Liebe Freunde, liebe Familie von Jonas Müller. Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung. Leider war es mir nur vergönnt, Jonas Müller flüchtig kennenzulernen. Dennoch hat dieser Augenblick für mich ausgereicht, um zu erkennen, dass er ein Mann mit großen Idealen ist. Es ist bedauerlich, dass er noch nicht mehr davon verwirklicht hat. Es würde mich, Robert Isaac Palmer, ehren, würde er mich einen Freund nennen.« Robert trank einen Schluck Wasser.
Anna sah die Gesichtszüge von Maria entgleisen. Offenbar war ihr der Name des Mannes, an den sich Anna gerade anlehnte, sehr wohl ein Begriff. Diese Frau hatte Jonas und Anna das Leben schwer gemacht, seit sie sich kannten. Letztendlich hatte dieser Konflikt dazu geführt, dass Jonas in die Schweiz gegangen war, um dort zu arbeiten. Der Anschlag in Zürich hatte ihn das Leben gekostet.
Viele Gedanken tobten in ihr. Roberts Worte, dass er Jonas gern seinen Freund genannt hätte, erfüllten sie mit Stolz. Und offenbar war Robert Annas Freund. Diese Kenntnis erzeugte ein gutes Gefühl, brach ihr aber dennoch zugleich das Herz bei der Gewissheit, dass Robert und Jonas nie die Gelegenheit bekommen würden, aufeinanderzutreffen.
Das Einzige, was sie von Roberts Rede wahrnahm, war, dass er formulierte, als sei Jonas gar nicht tot, und es hörte sich gut an. Anna sah kurz zu ihm, dann war Maria mit ihren Töchtern verschwunden. Anna empfand Dankbarkeit für Robert, weil seine Präsenz sie verscheucht hatte.
Der Sarg wurde hinausgetragen, und sie folgten ihm. Die ganze Zeit über hatte Robert den Arm um Anna gelegt. Sie bemerkte, dass die Kameras und Reporter einem Team von Roberts Sender RIP gewichen waren, das sich in dezenter Zurückhaltung übte.
Anna ließ eine rote Rose hinab auf den Sarg fallen. Eine Schaufel steckte neben dem Grab in nahezu weißem Sand.
»New Smyrna Beach. Er sollte diesen Ort sehen«, flüsterte Robert.
Mit zitternden Fingern ergriff Anna die Schaufel. »Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, wie wenn sie geleimt wären.« Sie ließ drei Schaufeln des Sandes auf die glänzende Oberfläche rinnen. Der weiße Sand rieselte sanft auf den schwarzen Lack hinab und verursachte ein friedvolles Geräusch.
In diesem Augenblick realisierte Anna, dass sie nicht ernst nahm, was sie hier tat. Sie hatte keine sterblichen Überreste von Jonas überstellt bekommen. Die Geschichte war absonderlich. Einerseits hatten die Behörden bestätigt, dass er bei dem Anschlag auf den Bahnhof in Zürich ums Leben gekommen war, andererseits fehlten aus Annas Sicht eindeutige Beweise. Die Bergungshelfer hatten sein Handy gefunden. Zertrümmert hatte das Gerät zwischen dem Schutt gelegen, doch war das Beweis genug? Anfangs hatte sie geglaubt, es würde ihr den Verstand rauben, nicht zu wissen, wo sich seine sterblichen Überreste befanden. Heute gab ihr diese Tatsache jedoch Abstand. Was auch immer sie da zu Grabe trugen, war nicht Jonas. Tief in ihr glomm noch immer ein Funke Hoffnung. Mit einem Mal war sie gefasster.
Robert ließ ebenfalls Sand auf den Sarg hinabrieseln und bekreuzigte sich. Danach blieb er an Annas Seite, und sie nahm die Beileidsbekundungen entgegen.
Endlich war der Spuk vorbei: Nur Barbara und Susi waren noch da.
»Wir regeln hier alles. Kommst du zum Café?«, fragte Susi zaghaft.
Robert nickte. »Ich bringe sie hin.«
Anna begleitete ihn zurück zur Trauerhalle und entdeckte Roberts Bodyguard Claude, der mit dem Rücken an einen Ford Explorer lehnte. Er hob die Hand zum Gruß.
»Mein Beileid, Miss Gärtner.« Mit gesenktem Blick setzte er sich hinter das Steuer.
Anna setzte sich neben Robert auf die Rückbank und musterte ihn. »Danke.«
Er sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, dass sie hätte schwören können, er schämte sich. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, bis ihr einfiel, dass er mit Jonas Kontakt gehabt hatte.
»John hat mir erzählt, dass du versucht hast, Jonas zu retten. Ich habe euren Chat gelesen. Er war immer so verdammt stur. Mach dir bitte keine Vorwürfe.«
»Mhm«, brummelte Robert und wich ihrem Blick aus.
Claude drehte sich zu ihnen herum. »Wohin soll ich fahren?«
Hastig öffnete Anna die Tür. Alles war besser, als untätig herumchauffiert zu werden.
»Was hast du vor?« Robert blinzelte sie verwundert an.
»Ich fahre.«
Claude räumte den Fahrersitz. Anna lenkte den Explorer über die Landstraße und durch die umliegenden Dörfer, bis sie zu der Einfahrt zum Café von Jonas’ Freunden kamen. Die Straße war voll von parkenden Autos. Anna fuhr den Splittweg hinauf, vorbei an dem renovierungsbedürftigen Haus von Jonas’ Exfrau, das sich passenderweise genau neben dem Café befand. Anna spähte aus ihrer hohen Sitzposition durch den vergammelten, im Grunde nicht mehr vorhandenen Sichtschutzzaun und sah Maria auf ihrer angegrauten Holzveranda sitzen, ein Glas Rotwein in der Hand. Sie äugte neugierig zu dem Explorer herüber.
Nachdem Anna den Wagen auf dem für sie freigehaltenen Platz vor dem Café geparkt hatte, stiegen sie aus. Der Außenbereich war voller Leute. Sie tranken bereits Kaffee und aßen den Beerdigungskuchen. Anna besorgte drei Gläser Sekt und reichte eines an Robert. Claude hielt sie das nächste unter die Nase. Er schüttelte den Kopf.
»Du musst.« Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
»Auf Jonas.« Anna sprach laut und erhob das Glas.
»Auf Jonas.« Ihrer Geste folgend, machte Robert wieder ein betretenes Gesicht.
Der Forschergeist in Anna wurde wach. Robert war ein Mensch, der an allen Fäden zog und es gewohnt war, alles im Griff zu haben. War er tatsächlich so betroffen von Annas Verlust oder quälte ihn etwas anderes in Bezug auf Jonas? Hatte er versagt bei dem Versuch, Jonas zu retten oder hatte er es überhaupt nicht richtig versucht? Alles, was sich Robert in den Kopf gesetzt hatte, seit Anna ihn kannte, setzte er auch durch. Dann erinnerte sie sich daran, wie stur Jonas immer gewesen war, und trank das Glas desillusioniert in einem Zug aus. Sie beschloss, genau da zu bleiben, wo sie war: bei Robert und Claude.
Robert strich sich durch sein Gold schimmerndes Haar. In seinem grauen maßgeschneiderten Anzug wirkte er wie gewöhnlich perfekt. Noch immer vermochte sie nicht einzuschätzen, wie alt er war. Gerade aber litt sein makelloses Auftreten unter seiner Verlegenheit. Sie grübelte darüber, ein angenehmes Thema zu finden, um die Stille zu brechen. Was hätte Jonas interessiert?
»Was für ein Auto fährst du? Dieser Kastenfisch da entspricht nicht wirklich deinem Geschmack, oder? Und die Corvette ist hinüber.« Anna schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln, bei dem Gedanken daran, dass Roberts Corvette zuerst einige Überschläge hatte verkraften müssen und danach in Flammen aufgegangen war. Mittlerweile wusste sie, dass es ein Geschenk seiner Frau Alba an ihn gewesen war. Allerdings war ihr nicht klar, welche Rolle Alba in Roberts Leben spielte.
Er wirkte erleichtert über ihre Frage. »Der Explorer ist praktisch und hat genug Platz für Claudes Equipment. Wenn ich dazu komme, selbst zu fahren, dann ökologisch standesgemäß.« Seine blauen Augen strahlten sie an.
Anna schüttelte den Kopf. »Fährst du allein mit der Bahn? Das ist nicht ökologisch.«
»Nein. Ich habe einen Tesla. Du solltest mal mitkommen. Vielleicht fahren wir von Washington nach Miami?«
Robert erwähnte die Route, die Anna mit John auf der Flucht vor ICARUS genutzt hatte. John saß bereits seit Stunden in diesem Zimmer. Innerlich seufzend erkannte sie, dass ihr dieser irre exkommunizierte Erzbischof nicht egal war. Schlimmer noch, er war ihr ans Herz gewachsen. So sehr sie sich bemühte, ihr Pflichtgefühl nicht zuzulassen, fühlte sie sich doch für seinen weiteren Werdegang verantwortlich.
Sie blinzelte und kehrte zu dem Gespräch mit Robert zurück. »Du hast einen Tesla und hast uns diese Zuhälterkarre gegeben?«
»Ich kenne doch Jake. Er ist gut im Zerstören meiner Sachen.« Robert grinste sie an und kam einen Schritt näher. »Wo ist Jake?«, fragte er leise.
»Sicher verwahrt«, flüsterte Anna.
»Ich kann dir nicht genug danken.«
»Nein. Kannst du nicht. Er ist eine Nervensäge.«
Robert lächelte charmant und zuckte mit den Schultern. »Kann ich ihn sehen, ohne sein Versteck zu gefährden?«
Forschend sah sie ihn an. »Hat etwa er dich hierherbestellt?« Sie beobachtete Roberts Reaktion, bemerkte jedoch einmal mehr, wie schwer es ihr fiel, in der Mimik dieses Mannes zu lesen.
»Kann ich mit ihm sprechen?«
»Da seine Ekellenz heute Morgen beschlossen hat, seinen Standort zu verlegen, sollte ein Treffen möglich sein.«
»Er ist in deinem Haus?«
Sie nickte.
»Was für eine idiotische Idee ist das? Das ist leichtsinnig und gefährlich, für dich und für ihn.« Er schüttelte den Kopf.
»Die Idee ist nicht von mir. Ich muss noch mal kurz da hinein.« Sie entfernte sich von Claude und Robert in Richtung des Cafés.
Alles um sie herum wirkte unwirklich und weit entfernt. Vielleicht war ihr Gemütszustand auf Roberts Anwesenheit zurückzuführen, die sie an ihre unglaubliche Zeit in Washington und die darauf folgende Flucht mit John erinnerte. Zu ihrem Erstaunen amüsierte sie sich über die Westerwälder Trauergemeinde, die Robert neugierig beäugte. Keiner wagte, zu ihm zu gehen. Jonas hätte an dieser skurrilen Situation seine Freude gehabt.
Robert sah eine Frau mit langem, blondiertem Haar und ausladenden Hüften, in einem, dem Anlass und ihrer Figur rundweg unpassendem, rosafarbenen Sommerkleid, den Weg hinauf auf ihn zuschlendern. Sie lächelte ihn breit an. Robert hatte sie auf der Beerdigung gesehen und bemerkt, welche Blicke Anna ihr zugeworfen hatte. Eben hatte sie auf der Terrasse vor dem Haus neben dem Café gesessen. Sie strafte die Trauergäste mit einem verächtlichen Blick, ebenso Claude, bevor sie Robert die Hand entgegenstreckte. Er erkannte unter der Fassade aus einer dicken Schicht Make-up Verbitterung und Bösartigkeit. Ein kalter Schauder durchfuhr ihn. Er rührte sich nicht.
Verunsichert zog sie die Hand zurück. »Nice to meet you, Mister Palmer.« Ein übertrieben freundliches Grinsen legte sich wie eine Maske auf ihr Gesicht.
»Sorry. Und wer sind Sie?« Robert räusperte sich unwohl.
»Maria Rückert ist mein Name. Sie sprechen Deutsch? Das ist fantastisch. Ich habe schon viel über Sie gehört, aber das wusste ich nicht.«
»Was kann ich für Sie tun, Frau Rückert?« Robert grinste aufgesetzt zurück.
»Ich wollte Ihnen im Namen Aller für die bewegende Grabrede danken. Beinah wäre sie verdorben worden, dann kamen Sie.«
Ihre schrille Stimme klingelte in seinen Ohren. »Ich kam zu spät. Wie standen Sie zu Jonas?«
Robert wunderte sich nicht über den versteckten Angriff auf Anna. Es stand dieser Person ins Gesicht geschrieben, dass sie Unruhe stiften wollte.
»Oh, ich bin Jonas’ Exfrau. Sicher hat Anna schlecht über mich geredet, aber das ist nicht so, wie sie es darstellt. Ich habe Jonas geliebt und dann kam sie und …« Sie verstummte, denn Robert sah sie mit finsterer Miene an.
»Sie sind Jonas’ Exfrau? Und Sie besitzen die Frechheit, hier in einem völlig unpassenden Aufzug zu erscheinen und schlecht über Anna zu reden? Anna hat Sie, entgegen Ihrer Annahme, mit keinem Wort bei mir schlechtgemacht. Das hat sie nicht nötig. Ich habe Jonas’ Buch gelesen über das deutsche Familienrecht. Ich kenne jede einzelne Ihrer Schweinereien, die Sie ihm angetan haben. Ich würde vorschlagen, Sie schieben augenblicklich Ihr überaus großzügig geformtes Hinterteil von diesem Hof, bevor Anna Sie sieht.« Roberts Stimme war laut geworden, und die Trauergäste starrten zu ihnen herüber.
Maria hatte noch immer ihr unangebrachtes Lächeln im Gesicht, glotzte ihn aber verwirrt an. »Mister Palmer, ich …«
»Sofort! Oder ich lasse Sie von Claude entfernen, und glauben Sie mir, kein deutsches Gericht wird mich oder ihn dafür belangen.« Robert wurde von einem Hustenanfall gepackt.
Sie schüttelte gespielt verwundert den Kopf und tippelte den Kiesweg wieder hinunter. Robert sah ihr verärgert nach und bekam langsam wieder Luft.
»Das ist doch wohl unglaublich.«
Die meisten Trauergäste wandten ihren Blick wieder ab, einige schauten ihr kopfschüttelnd hinterher. Er erkannte das Gesicht einer der beiden Frauen, die bis zum Schluss auf dem Friedhof verweilt hatten. Sie lächelte ihm freundlich zu, zeigte ihm ihre rechte Hand mit Daumen nach oben und nickte zufrieden. Robert grüßte zurück, innerlich darüber beschwingt, dass er Jonas zu gegebener Zeit wieder auferstehen lassen würde.
Anna trat wieder neben ihn. »War etwas?«
»Nein, nichts.«
»Ich bin fertig.« Anna seufzte.
Robert konnte nicht ganz deuten, auf was sie sich bezog. »Können wir zu John fahren? Ich meine, kommst du mit?«
Annas Blick ging in Richtung der Trauergäste. »Lass uns fahren. Gute Idee.« Sofort marschierte sie in Richtung Explorer.
Sie hatte seit Tagen nicht aufgeräumt oder geputzt. John im Haus zu wissen, war das eine, aber Robert hineinzulassen, der immer perfekt wirkte, etwas ganz anderes. Sie schloss die Eingangstür auf, die wieder einmal fürchterlich hakte.
»Die sollten wir austauschen«, sagte Robert.
»Wir?«
Im Flur sah sie sich überrascht um. Es roch nach Putzmittel, nein, es duftete. Der Boden war sauber. Sie ging in die Küche, keine Tasse und kein Teller stand mehr herum. Der Spülstein wirkte wie neu. Es war ihr unheimlich – fast so, als hätte Jonas während seiner eigenen Beerdigung aufgeräumt.
Sie ließ Robert und Claude in der Küche stehen und ging ins Badezimmer. Es war ebenfalls geputzt und alles an seinem Platz. Anna hechtete durch den Flur zur Treppe.
»Ist alles in Ordnung?«, hörte sie Robert fragen.
»Einen Augenblick. Ich bin gleich da.«
Sie eilte die Stufen hinauf und ging durch den sauberen Flur, die kleine Treppe in den Seitenanbau hinunter, die in das obere Badezimmer und das Schlafzimmer führte. Das Bad war geputzt, kein Kleidungsstück lag herum. Sie spähte in ihr Schlafzimmer. Ihr Bett war aufgeschüttelt und frisch bezogen. Der Kleiderschrank war ihr nächstes Ziel, weil sie die von ihr im Zimmer verstreuten Sachen suchte. Sie öffnete ihn und trat ungläubig einen Schritt zurück. Alles lag ordentlich gefaltet darin. Anna schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich läuft sogar die Waschmaschine.« Sie ging zurück zu der Tür, die in Jonas’ Siebzigerjahrezimmer führte, und vergewisserte sich, dass die Tür daneben im Flur noch abgeschlossen war, bevor sie klopfte und hineinging. John saß auf dem Sessel, ihr Buch in der Hand und schaute zu ihr auf. »Sie sind früh zurück.«
Anna fuhr sich durch ihr Haar. »Waren Sie das?«
»Da Sie nicht an Isidoros Engel glauben, werde ich meine Tat schlecht leugnen können. Sind Sie böse?« Er legte seine Lektüre zur Seite und stand auf.
»Überrascht trifft es besser.«
»Ich wollte irgendetwas für Sie tun. Wie viele Möglichkeiten hatte ich schon?«
»Ich fände es von jedem anderen unverschämt, in meinen Sachen herumzuwühlen. Wir haben jedoch für Tage aus einem Koffer gelebt und im gleichen Zimmer geschlafen. Es gibt nichts, was Sie nicht schon gesehen hätten. Vielen Dank.« Robert trat neben sie.
»Hallo Jake.«
Anna beobachtete die Reaktion der beiden Männer aufeinander. Robert strahlte über das ganze Gesicht und war sichtlich erfreut, John zu sehen. John kam weder auf Robert zu noch erwiderte er sein Lächeln. Im Vergleich dazu, wie er Anna gerade angesehen hatte, verfinsterte sich seine Miene eher.
»Hallo Robert«, sagte er emotionslos.
»Ich dachte, wo ich schon mal da bin, unterhalten wir uns über die Neuigkeiten in deiner Sache.«
Anna rückte einen Stuhl von der Wand und platzierte ihn dem Sessel gegenüber. »Bleibt besser hier. Nicht, dass jemand hereinplatzt.« Ahnend, dass die beiden unter sich sein wollten, verließ sie den Raum.
Robert sah sich im Zimmer um. »Was ist das hier?«
»Jonas’ Zimmer.«
»Jonas Müller ist ein Freak.« Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Robert auf den Stuhl sinken.
»Du meinst, er war ein Freak.« John musterte ihn argwöhnisch.
»Wie auch immer. Deshalb bin ich nicht hier.« Sein schlechtes Gewissen in Bezug auf Jonas verbergen wollend, wich Robert seinem Blick aus.
»Hast du Anna geholfen?«
»Auftrag ausgeführt.«
»Gut.« John nickte zufrieden.
»Um was ging es eben, als ich hereinkam?«
»Auch wenn du das meist irgendwie hinbekommst: Du musst nicht immer alles wissen.«
»Jake, lass nicht mehr Nähe zu, als für die Dauer deines Aufenthaltes nötig ist. Alles andere macht unseren Plan unnötig kompliziert.«
»Das, mein Lieber, sagt der Richtige.« Sichtlich aufgebracht sprang John auf.
Robert deutete freundlich auf den Sessel. »Setz dich, bitte.«
John ließ sich wieder hineinfallen. »Was ist mit ICARUS?«
»Wir haben ein paar Namen, aber wir kennen die Verbindungen nicht, die Art, wie sie miteinander kommunizieren. Wenn wir das wüssten, würden wir mehr finden. Die Jagd auf Hinweise ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«
»Welche Namen?«
»Bischof James Brown, weiterhin der Vizepräsident der USA, der Deutsche Bundeskanzler, ein italienischer Mafiaboss namens Mario Venducci, ein israelischer Minister«, zählte Robert auf.
»Das hört sich übel an.«
»Du musst schleunigst zurück auf deinen Posten. Mit unserem Plan würden wir sie alle erwischen. Sie hängen da sicherlich ausnahmslos mit drin, um ihr Geld zu waschen. Ich habe James Brown im Fokus. Er ist vermutlich der Auslöser für deine Exkommunikation. Wenn ich ihn in den Griff bekomme, wird der Haftbefehl gegen dich fallen gelassen. Dann müssen wir nur noch für deine Sicherheit sorgen und du kannst zurück, um unseren Plan zu Ende zu bringen.«
»Deine Worte in Gottes Ohr.« John seufzte.
»Du musst aus diesem Haus raus.«
»Ich verschwinde, sobald es dunkel ist. Anna sorgt gut für mich, und sie passt auf, dass ich keine Dummheiten mache. Hierfür kann sie nichts.«
Anna hatte sich ein Glas Rotwein eingegossen und an die offene Verandatür im Wohnzimmer gesetzt. Claude zog es zu ihrem Leidwesen vor, auf dem Küchentisch seine Waffe zu putzen.
In Gedanken starrte sie auf den Teich und zündete sich eine Zigarette an. Sie hätte nur allzu gern gewusst, was die beiden zu besprechen hatten, doch es war offensichtlich, dass Robert sie nicht hatte dabei haben wollen.
Unerwartet stand Robert neben ihr und zog die Zigarette aus ihrer Hand, um sie im Aschenbecher neben der Tür auszudrücken. »Das ist nicht gut für dich.«
Der Ausdruck seiner freundlichen blauen Augen nahm ihr jede Gegenwehr. Er setzte sich neben sie auf die Bank und legte den Arm um sie.
»Danke für deine Rede.«
Robert nahm ihr das Rotweinglas aus der Hand, trank einen Schluck und stellte es zur Seite. »Kommst du zurecht?«
Anna schmiegte den Kopf an seine Schulter. »Ich denke schon. Was ist mit dir?«
Mit seiner freien Hand strich er sanft über Annas Wange. »Ich kann mich nicht erinnern, wann sich das letzte Mal jemand danach erkundigt hat«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Du solltest besser auf dich achten. Denk nicht immer nur an andere, denk auch an dich«, flüsterte Anna.
Roberts Hand fuhr über ihren Rücken. »Versprochen.«
Sie schwieg und sah wieder auf den Teich.
Robert genoss ihre Nähe. Anna zog ihn an. Er fand keine Erklärung dafür. Mehr und mehr drängte sich ihm der Verdacht auf, dass es John ähnlich ging. Wenn er das nicht stoppte, würde ihr Plan in einer Katastrophe enden. Schmunzelnd dachte er an die Parallelen zu Annas Buch: Er selbst verglich sie mit der Heilerin Neomai. Allein, weil er daran glaubte, dass in Anna viel von ihrer Romanfigur steckte, war er auf sie aufmerksam geworden. Er hoffte, dass sie ebenso unerschütterlich für ihre Ideale einstand. Wenn Johns Charakter ein Abbild des Gardvord – des Hüters der Fylgia – war, dann würden sie zusammenarbeiten wie ein Uhrwerk und alles zum Guten lenken. Musste er sich doch keine Sorgen um die beiden machen? Und wer war er, wenn er sich mit den Figuren verglich?
Robert zwang sich, mit seinen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren. »Ich fliege morgen früh zurück. Wir sollten gegen sechs Uhr in Richtung Frankfurter Flughafen starten. Ich werde mir mit Claude ein Hotel suchen, damit wir dir nicht zur Last fallen.«
»Bitte bleibt.« Anna schmiegte den Kopf noch inniger an seine Schulter.
Es gab für Anna nichts Schöneres als ein Haus voller Leben. Jonas hatte das nie besonders gemocht. Er brauchte Zeit für sich und hatte sich oft in sein Büro verkrochen. Nun würde es ihn nicht mehr stören. Bei diesem Gedanken hörbar schluckend, sprang sie auf.
»Holt euer Gepäck rein, dann könnt ihr duschen. Oben ist noch ein Badezimmer. Frag John, wo. Er kann herunterkommen. Ich schließe die Tür ab, dann gibt es ein Abendessen.«
Nachdenklich betrachtete Robert sie. »Und es macht dir nicht zu viel Mühe?«
»Ich war dein Gast. Jetzt sei meiner. Wenn dein Besuch auch viel zu kurz ist.« Sie lächelte ihn überzeugend an.
»Das holen wir nach. Irgendwann. Versprochen.« Mit einem Nicken stand er auf.
Anna lief in die Küche. »Nimm die Waffe von meinem Küchentisch, Claude. Das ist eine Küche und als solche möchte ich sie jetzt nutzen.« Genervt dreinsehend packte Claude seine Sachen zusammen und verließ den Raum.
Wenig später saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer am Tisch. Anna hatte ihn mit Brot, Käse, Wurst und Marmelade eingedeckt. Der Anblick von Robert und John, die ihr gegenübersaßen, vermittelte ihr das Gefühl von Familie. Sie verwischte diesen unheimlichen Gedanken schnell, denn Robert musste wieder abreisen. Wenn John ihm folgen würde, waren die beiden Männer vermutlich für immer aus ihrem Leben verschwunden. Für sie schien es nur ihren sonderbaren Plan zu geben, von dem sie noch immer nicht wusste, um was es ging. Zu gern wäre sie dahintergestiegen, was diese so völlig unterschiedlichen Männer derart stark verband.
Sie musterte John. Er betete wie immer, bevor er aß. Aus seinem schwarzen Haar hatte sich eine angegraute Strähne gelöst, die ihm in die Stirn fiel.
Roberts leuchtend blaue Augen blitzten auf. Wie so oft stand ihm der Schalk im Nacken und verschleierte sein Alter. Er hatte sein Glas Rotwein fast leer getrunken und nahm den ersten Bissen. Johns Gebet ignorierte er, genau wie Anna. Claude, der neben ihr saß, ließ sich von John anstecken und faltete die Hände zum stummen Gebet. Anna überlegte, ob sie nach Johns verunglücktem Bruder Thomas fragen sollte. Zu gern hätte sie von Robert und John mehr über ihn erfahren, zumal sie den Eindruck hatte, dass Thomas den Kern ihrer Freundschaft begründete. Ihr Bauchgefühl hielt sie allerdings davon ab. Sie ahnte, dass es am Tag von Jonas’ Beerdigung emotional auch für sie zu keinem angenehmen Gespräch führen würde.
»Wofür hast du gebetet, Jake?«
Roberts gespielt bissiger Tonfall holte Anna zurück aus ihren Gedanken.
John schluckte den Bissen hinunter. »Du weißt genau, warum man vor dem Essen betet.« Murrend griff er sich das Rotweinglas.
»Du solltest nicht zu viel davon zu dir nehmen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du nicht ganz trinkfest bist, mein Freund.«
Anna hörte erstaunt bei den Sticheleien zu. Offensichtlich zog Robert ihn genauso gern auf wie sie.
»Wegen der Kartoffeln«, sagte John.
»Bitte? Was hat das mit dem Wein zu tun?« Robert bedachte sie mit einem fragenden Blick.
»Ich habe ein Gebet gesprochen wegen der Kartoffeln.« John seufzte angestrengt.
Anna hatte den Eindruck, er tat nur genervt.
»Hier sind doch gar keine Kartoffeln.« Auf dem Tisch umherschauend schüttelte Robert den Kopf.
»Na, da siehst du mal, wie gut es gewirkt hat.« John grinste und zwinkerte Anna zu.
Sie genoss seinen beinah jungenhaften Gesichtsausdruck und das Strahlen seiner Augen, das die meiste Zeit, seit sie ihn kannte, von seiner ernsten Miene überschattet wurde.
»Ich glaube, Isidoros Engel haben die Kartoffeln abgeholt, das Feld musste bestellt werden.« Anna lächelte zurück.
»Ich hab keinen blassen Schimmer, wovon ihr redet.« Robert musterte einen nach dem anderen.
»Dann solltest du unbedingt mal nach Madrid. Am besten fährst du mit Anna. Sie macht herrliche Führungen durch die Almudena-Kathedrale. Zeitgemäß und sozialkritisch. Da bekommst du als Playboy und Snob bestimmt auch deine Standpauke.« Für seine Bemerkung bedache Anna den ehemaligen Erzbischof mit einem strafenden Blick.
»Ich denke, das Etablissement, das du danach aufgesucht hast, würde mir völlig ausreichen.« Genüsslich trank Robert einen Schluck Wein.
»Vielleicht nimmst du dann besser John mit. Da er ja anscheinend unter einem Filmriss seit dem frühen Abend leidet, könnte er versuchen, sein Gedächtnis dort aufzufrischen. Aber du musst aufpassen, er wird latent aggressiv, gelegentlich.« Anna schmunzelte.
»Wovon sprechen Sie?«
»Ich spreche von dem jungen Spanier, dem Sie beinah das Handgelenk gebrochen haben, weil er die Frechheit besaß, sich neben mich zu setzen und mich zu belästigen.«
»Sie haben es nie erwähnt. Wieso machen Sie es jetzt?« Erwartungsvoll, beinah vorwurfsvoll sah er sie an.
Anna hatte ihm einen Denkzettel verpassen wollen, wegen seiner Bemerkung zu ihrem Streit bei der Almudena-Kathedrale. Sie hatte ihn keinesfalls vorführen wollen. »Tischgespräche in fiese Richtungen zu lenken, habe ich von Robert gelernt. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
Zum Zeichen der Beschwichtigung hob John die Hand. »Hab ich dem armen Kerl etwas getan?«
»Er hat eine gehörige Portion Angst bekommen, und sein Handgelenk schmerzte mit Sicherheit ein paar Tage. Nichts, was er nicht verdient hatte für seine Aufdringlichkeit.«
»Mhm.«
»Ich würde wetten, du hast das mit den Tischgesprächen schon beherrscht, als du mich noch nicht gekannt hast«, murrte Robert.
Anna legte den Kopf schief. »Vorsicht mit dem Wetten, das könnte dich noch einen Camaro kosten.«
»Noch hast du nicht gewonnen.« Er grinste sie selbstsicher an.
In Annas Kopf gab es plötzlich eine Verknüpfung. Die Wette war um Roberts Alter gegangen. Er hatte gesagt, er sei zu haben. Jetzt fielen ihr die Nachrichten ein, und es ergab sich eine herrliche Gelegenheit, Robert einfach direkt nach dem zu fragen, was ihr durch den Kopf ging. »Wie geht es deiner Frau?«
John verschluckte sich an seinem Wein, und Robert bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Gut.«
»Ihr habt euch vertragen?« John blinzelte Robert irritiert an.
»Sie verträgt sich mit meinem Vermögen, und ich mich mit ihren IT-Kenntnissen. In einem halben Jahr ist das Geschichte. Ich wollte es nur vor der Presse gut aussehen lassen. Weiter nichts.« Mit einem Mal wirkte Robert verstimmt.
Anna fiel es wie Schuppen von den Augen. »Damals. Die Erpressung des Attorney General. Es ging darum, sie aus dem Gefängnis zu holen?«
Robert nickte, während John den Kopf schüttelte. »Ich habe das nicht gehört.«
»Ich bin müde und werde schlafen gehen. Um das Haus herum ist ein Sicherheitssystem aufgebaut. Ihr könnt beruhigt schlafen.« Claude stand auf, John tat es ihm gleich.
»Ich zeige ihm das Gästebett und frage ihn, wie ich hier herauskomme, ohne erschossen zu werden, wenn es dunkel ist.«
Anna nickte ihm zu. John und Claude verließen das Wohnzimmer.
Robert stand ebenfalls auf und begann, gemeinsam mit Anna den Tisch abzuräumen. Nach wenigen Minuten war alles verstaut.
»Ich bin auch müde.« Gähnend blinzelte Anna Robert an.
»Zeig mir, wo ich schlafen kann. Dann leg dich hin.«
Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn die Treppe hinauf durch den Flur. Ihr Weg führte vorbei an der verschlossenen Tür, die wenigen Stufen hinunter, vorüber an dem Badezimmer, wo er zuvor geduscht hatte, bis hinein in ihr Schlafzimmer. Dort ließ sie seine Hand los. »Hier kannst du schlafen.«
»Und du?« Verunsicherung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich schlafe auf dem Sofa. Ich kann hier nicht mehr schlafen. Ich habe es versucht. Ich werde immer wieder wach und denke, Jonas wäre da.« Annas Stimme zitterte.
Robert stellte sich vor sie und legte sanft die Hände auf ihre Schultern. »Anna, das ist nett gemeint, aber ich werde mich nicht in das Bett von Jonas und dir legen. Das kann ich genau so wenig wie du.«
Eine Träne lief über Annas Gesicht. »Ich …, entschuldige, ich hätte nicht gedacht, dass es dir so nahe geht. Vielleicht wäre ein Hotel doch die bessere Lösung gewesen.«
Anna bemerkte Roberts betroffenes Gesicht. Hatte er doch etwas mit Jonas Tod zu schaffen? Nicht in der Lage, ihn länger anzusehen, wandte sie sich ab. »Ich gehe kurz ins Badezimmer. Treffen wir uns im Wohnzimmer.«
Robert lief schwermütig nach unten und zog im Wohnzimmer das Sofa aus. Im Kasten darunter fand er Decke und Kissen und legte es für Anna bereit. Er benutzte das Badezimmer im Erdgeschoss. Von John und Claude war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Als er zurückkam, stand Anna in einem schwarzen Nachthemd im Wohnzimmer und deutete auf das Sofa.
»Das ist leider alles, was ich dir anbieten kann.«
»Was ist mit dir?«
»Ich versuche es oben. Auf die eine Nacht kommt es auch nicht an, oder?« Wieder war sie den Tränen nah.