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BARBARA EDER/FELIX WEMHEUER (HG.)
Die Linke und der Sex

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Über die HerausgeberInnen

Barbara Eder, Jahrgang 1981, lebt in Wien und Berlin als Soziologin, Philosophin und freie Journalistin.

Felix Wemheuer, Jahrgang 1977, lebt in Wien und veröffentlichte zuletzt bei Promedia „Maoismus: Ideengeschichte und revolutionärer Geist“ (2009). Er ist regelmäßiger Mitarbeiter der Wochenzeitschrift „Jungle World“.

„Die ursprünglich polygame Veranlagung ist zu stark im Menschen, als daß sie durch äußere und innere Gewalt gänzlich unterdrückt werden könnte (…). In der kommenden Zeit stürmischer, revolutionärer Entwicklung wird dieser Prozeß sicher noch eine Beschleunigung und Intensivierung erfahren. Und in der von wirtschaftlichen Kämpfen befreiten glücklicheren Zukunft des Sozialismus wird die wilde Vermischung und Polygamie in allen Formen das Sexualleben des Menschen beherrschen.“

Elfriede Friedländer, Sexualethik des Kommunismus, 1920

Inhalt

Barbara Eder/Felix Wemheuer

Die Linke und der Sex. Eine Einführung

Kapitel I:
Kritik an sexuellen Herrschaftsverhältnissen

Linda Singer

Sex, AIDS-Business und andere Dienstleistungen im Spätkapitalismus

Linda Williams

GrenzgängerInnen der Lust

Brigitta Kuster/Renate Lorenz

10 x sexuell arbeiten

Reichsverband für proletarische Sexualpolitik

Sexualpolitische Plattform

Kapitel II:
Polygame Kommunismen

Alexandra Kollontai

Zärtlichkeit unter GenossInnen: Die erotische Freundschaft

Elfriede Friedländer

Sexualethik des Kommunismus

Clara Zetkin

Revolution statt Sex: Gespräche mit Lenin

Kapitel III:
Utopische Projekte der sexuellen Revolution

Herbert Marcuse

Die Re-Erotisierung des ganzes Körpers und die Befreiung von der Arbeit

Shulamith Firestone

Befreiung von Frauen und Kindern im kybernetischen Kommunismus

Beatriz Preciado

Postsexuelle Körper

Kapitel IV:
Kritik der „sexuellen Befreiung“

Reimut Reiche

Die Kommune I

Michel Foucault

Nein zum König Sex

Michel Foucault

Lesbischer Sadomasochismus als Praktik des Widerstandes

Anhang

AutorInnen dieses Buches

Quellen

Leseempfehlungen

Barbara Eder/Felix Wemheuer

Die Linke und der Sex. Eine Einführung

Die sexuelle Befreiung der Menschheit ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft – so lautete einst ein linker Glaubenssatz. Dieses Buch dokumentiert die wesentlichsten Debatten, die innerhalb der Linken in den vergangenen 100 Jahren über Sex geführt wurden. Dazu zählen nicht nur historische Auseinandersetzungen mit Sexualitäten und den dazugehörigen Lebensformen, sondern ebenso Zeugnisse der Hoffnungen und Enttäuschungen infolge der sexuellen Revolution. Dazu kommen geschlechterkritische Texte aus der queeren Bewegung, deren AkteurInnen vor den Revolten von Stonewall1 die Klassenfrage stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt hatten als die Frage der sexuellen Orientierung.2

Die Sexualitäten, die linke AktivistInnen der westlichen Industrienationen zu befreien dachten, sind ebensowenig universal wie jene Menschheit, in deren Dienste sie ihre Ambitionen stellten. Ohne diesen Widerspruch ausreichend zu berücksichtigen, wurde dennoch davon ausgegangen, daß die Befreiung der Sexualität im Dienste der Revolution gesellschaftlich notwendig und wünschenswert sei.

Projekte der sexuellen Befreiung standen stets in engem Zusammenhang mit globalen Revolten. Im Zuge der revolutionären Unruhen, die in Europa nach dem Ersten Weltkrieg und in Reaktion auf die Oktoberrevolution von 1917 ausbrachen, diskutierten AktivistInnen in der kommunistischen Bewegung über die Auflösung der patriarchalen Kleinfamilie, „erotische Kameradschaft“ oder die Gründung von Gewerkschaften für Prostituierte. Als erstes Land in der Geschichte legalisierte die junge Sowjetunion Abtreibung und Homosexualität und führte die Zivilehe und das liberalste Scheidungsrecht der damaligen Zeit ein.3 Für viele deutsche KommunistInnen war es auch in den frühen 1920er-Jahren der Weimarer Republik selbstverständlich, mit AktivistInnen der Schwulenrechtsbewegung oder linken PsychoanalytikerInnen zusammenzuarbeiten. Wilhelm Reich versuchte als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) die Theorien von Karl Marx und Sigmund Freud zu verbinden. Sexuelle Unterdrückung durch Staat, Familie und Kirche war für Reich ein wichtiger Grund, warum sich viele ArbeiterInnen trotz ihrer ökonomischen Lage nicht der Revolution anschlossen. Auf sein Bestreben hin gründete die KPD 1931 den „Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“ als Unterorganisation. Die von Reich verfaßte „Sexualpolitische Plattform“ (S. 71) erklärte die sexuelle Frage zu einer „Kampffrage erster Ordnung, eine Machtfrage der Werktätigen gegen Kapital und Kulturreaktion“.4 Um das sexuelle Elend zu beseitigen, forderte der Reichsverband die Legalisierung von Abtreibung und Homosexualität sowie die kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln durch die Krankenkassen. Menschenwürdige Wohn- und Arbeitsverhältnisse seien die Voraussetzung, um eine gesunde und befriedigende Sexualität zu ermöglichen und auch die Ursachen der Prostitution zu beseitigen. Flächendeckende Aufklärung für Kinder und Jugendliche sowie Zugang zu medizinischer und psychologischer Betreuung für alle sollten seelische Störungen verhindern. (Viele Forderungen der Plattform sind heute auch in den westlichen Zentren noch immer nicht verwirklicht, von den Ländern der sogenannten Dritten Welt ganz zu schweigen.) Ein Gros der Funktionäre und die Parteiführung der KPD wandten sich schließlich gegen diese offensive Politisierung der Sexualität. Ein Funktionär beschwerte sich zum Beispiel: „Reich will, daß wir aus den Turnhallen unserer Vereine Bordelle machen. Wir sollen unsere Jugend auf die sexuellen Fragen raufstoßen, statt sie davon abzulenken.“5 Vor allem Reichs Versuch, den Aufstieg des Faschismus psychoanalytisch zu erklären, führte zum Bruch mit der KPD.6 1933 wurde Reich aus der Partei und 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen.

In der Sowjetunion zeichneten sich jedoch gegen Ende der 1920er-Jahre massive Probleme bei der Revolutionierung des Alltags ab. Das Programm, die Kleinfamilie durch kollektive Küchen, Kindergärten und Wäschereien zu ersetzen, war angesichts der knappen Ressourcen des rückständigen Landes undurchführbar.7 Außerdem nutzten viele Männer die mit den sexuell libertären Lebensformen einhergehenden neuen Freiheiten allzu sehr aus und übernahmen für ihre Kinder keine Verantwortung. In der Sowjetunion wurden daraufhin Familie und mütterliche Hausarbeit wieder hochgehalten und die Abtreibung verboten. „Freie Liebe“, Psychoanalyse oder Homosexualität galten als Ausdruck bürgerlicher Dekadenz. Die/der gute KommunistIn mußte seine/ihre Bedürfnisse wieder disziplinieren. Schließlich vollzog sich auch in der kommunistischen Weltbewegung eine konservative Wende.

Erst mit der Revolte von 1968 wurde die Idee, sich von den Moralvorstellungen und Lebensformen einer repressiven Gesellschaft zu befreien, wieder populär. Die neue Linke studierte wieder die TheoretikerInnen der 1920er-Jahre wie Reich oder die russische Kommunistin Alexandra Kollontai. Anstatt auf den Tag der großen Revolution zu warten, begannen StudentInnen und Jugendliche mit der Gründung von Kommunen, Wohngemeinschaften und Kinderläden. Der Glaube, daß „Sex, Haschisch und Vietnam“ irgendwie zusammenhingen, führte zur Politisierung von Menschen auf der ganzen Welt. Doch schon die ersten Jahre der Bewegung ließen viele TeilnehmerInnen der Bewegung enttäuscht und ernüchtert zurück. Nicht nur patriarchale Normen dominierten die Kommunen, auch sexuelle Übergriffe fanden statt; zudem wurden viele Lesben, Schwule und Trans-Personen, die oftmals in verschiedenen sexualpolitischen Bewegungen aktiv waren, durch Heterosexismus und Homophobie marginalisiert.8

Im Laufe der 1970er-Jahre erkannten Medien und Unternehmen, daß man mit Sex viel Geld verdienen kann. Die Kommerzialisierung der Erotik nahm der Kritik an der sexuellen Unterdrückung durch Familie, Kirche und Kapital den Stachel. Konkurrenzverhalten und Leistungsdruck am Arbeitsmarkt bestimmten zunehmend die Arten und Weisen wie (hetero-)sexuelle Beziehungen geführt wurden. Als die Prekarität mit der Auflösung des sozialen Wohlfahrtsstaates im 21. Jahrhundert wiederkehrte, wurde die Frage virulent, wie sich Sexualitäten durch die Ausbreitung entsicherter Lebensformen verändern. Der Imperativ, sich abseits des „Normalarbeitsverhältnisses“ gut regieren zu müssen, führte nicht nur zur Erosion von konventionellen Familienstrukturen, sondern auch zu neuen Lüsten und Zwängen im Bereich des Sexuellen.

Nach dem Scheitern der anti-autoritären Linken übernahmen die sich neu formierende Zweite Frauenbewegung und die Lesben- und Schwulenbewegung den Anspruch, den Alltag umzugestalten. Andere Teile der Neuen Linken organisierten sich in diversen leninistischen „K-Gruppen“, die sich in der Regel an einem konventionellen Lebenstil orientierten, um sich von ihrem imaginierten Ideal des „Proletariats“ nicht allzu weit zu entfernen. Parallel dazu entstanden in Reaktion auf die AIDS-Krise der 1980er-Jahre, von den USA ausgehend, breite Bündnisse gegen die staatliche und mediale Denunziation queerer Lebensformen. Die amerikanische Sex Radical Gayle Rubin thematisierte in dieser Zeit erneut den Zusammenhang zwischen sexueller Identität und Klassenlage. Immer noch teilt die moderne westliche Gesellschaft Geschlechtsakte in ein hierarchisches System des sexuellen Wertes ein. Nach diesem System wird jene Sexualität als „gut“, „normal“ oder „natürlich“ angesehen, die heterosexuell, ehelich, monogam, reproduktiv und nicht kommerziell ist. Sie soll im Paar stattfinden, in derselben Generation, zuhause passieren und keine Pornographie, Fetisch-Objekte und Sex-Toys gebrauchen. Weibliche und männliche Rollenklischees werden in ihr reproduziert. In Abweichung von der impliziten Norm der heterosexuellen Kleinfamilie stehen Homosexuelle, Trans-Personen, FetischistInnen, SadomasochistInnen und SexarbeiterInnen.9

Durch die gesellschaftlich reproduzierten Sex-Hierarchien werden nicht-heterosexuelle und/oder nicht-reproduktiv ausgelegte Sexualitäten an den Rand gedrängt, was sich in Stadtteilsegregation, Ghettoisierung, Kriminalisierung und allgemeiner Repression manifestiert. Von den AktivistInnen der „sexuellen Befreiung“ wurde der Blick jedoch nicht primär auf die Unterdrückung sexueller Minderheiten gerichtet. Ebensowenig stellten sie die Frage, wem das Privileg, sich von seiner Sexualität zu befreien, überhaupt zukommt. Dem/der Homosexuellen steht dieses Recht offenbar nicht zu, da diese/r seit dem 19. Jahrhundert „über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform“ sowie eine „möglicherweise rätselhafte Physiologie besitzt“.10 Daher ist diese/r so sehr durch ihre/seine Sexualität bestimmt, daß sich von dieser selbst zu befreien einer vollständigen Anullierung ihrer/seiner Existenz gleichkäme.11 Vor diesem Hintergrund sind auch Michael Foucaults Mitte der 1970er entwickelten kritischen Überlegungen zur Idee der sexuellen Befreiung zu verstehen, die unter anderem zur Grundlage der Kritik vieler Queer-Feministinnen wurden.

Die Rolle der Sexualität für den revolutionären Prozeß ist heute kein Kernthema der Linken mehr. Für die organisierte Linke im deutschsprachigen Raum spielen Debatten um polyamouröse Beziehungsformen, kollektive Kindererziehung, ökonomische und soziale Diskriminierung aufgrund sexueller Identität oder die Suche nach ekstatischen Zuständen kaum eine Rolle. Während Teile der Frauenbewegung durch die Einführung von Quoten und „Gender-Mainstreaming“ partiell institutionalisiert wurden, fristen queer-feministische Ansätze weitgehend ein Schattendasein am Rande der Institutionen und werden oftmals in die politische Unsichtbarkeit abgedrängt. Frauen und homosexuellen Paaren mit doppeltem Einkommen stehen heute zahllose Karrieremöglichkeiten offen, dagegen werden Lesben (die Monique Wittig zufolge keine Frauen sind und gesellschaftlich auch nicht als solche wahrgenommen werden12) sowie Frauen mit Kindern auch durch die ökonomischen Krisenzeiten zu prekären Lebensverhältnissen gezwungen. Die zahlreichen Ausschließungen seitens der Linken haben zudem dazu geführt, daß viele schwule AktivistInnen mehr Anknüpfungspunkte in der queeren Bewegung finden konnten als in der Linken.13 Obgleich queere Bewegungen ihre Forderungen geschlechterübergreifend formulieren und ihre Kritik am gesellschaftlichen System der Zweigeschlechtlichkeit aufs Engste mit der Institution der Heterosexualität verbunden ist, mangelt es ihren AkteurInnen weitgehend an einer fundamentalen Kritik der Verhältnisse im real existierenden Kapitalismus.14 Ähnliches gilt für die andere Partei: Eine gelungene Verknüpfung von Kapitalismuskritik und der radikalen Kritik an den mit Sex-Hierarchien einhergehenden Geschlechterbinarismen findet innerhalb der Linken nur bedingt statt. Geschlecht und Sexualität gelten zumeist als Nebenwidersprüche des Hauptwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit.

Wir sind der Meinung, daß die soziale Reproduktion von Geschlechternormen und Zwangsheterosexualität15 Epiphänomene kapitalistischen Denkens, Handelns und Fühlens sind. In einer Gesellschaft, die den Wert ihrer Mitglieder nach derem finanziellen Vermögen bemißt, ist Sex ähnlich dem Geld zudem ein Mittel, seinen Status zu markieren. Wer Geld hat, kann sich im kapitalistischen System als begehrenswert darstellen und genießt gesellschaftliche Anerkennung. Ebenso verfestigt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den westlichen Gesellschaften den Geschlechterbinarismus. Für den vorliegenden Band haben wir Texte zusammengestellt, in deren Zentrum das Verhältnis von Sex und Kapitalismus steht. Entlang der folgenden Fragestellungen haben wir diese thematisch geordnet:

Was ist Sex überhaupt? Welche Rolle spielen Körper in diesem Zusammenhang? Dazu werden in den Texten materielle Praktiken und Handlungen sowie der imaginäre Raum der Phantasie behandelt. Die Vorstellungen von Sex gehen dabei weit auseinander, von einem biologistisch gedachten „Trieb-Abfuhr“-Modell bei Wilhelm Reich bis hin zu Michel Foucaults Vorstellungen, der Sex zum Epiphänomen von wissenschaftlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts erklärt hat.

In den urbanen Zentren der westlichen Welt scheint heute auf den ersten Blick sexuell alles möglich. Gibt es dennoch systematische Formen von sexueller Unterdrückung in modernen kapitalistischen Gesellschaften und wie sehen diese aus? In welchem Zusammenhang steht Rassismus mit den herrschenden Vorstellungen von Sexualität? In welcher Weise wirken sich Konkurrenzbeziehungen zwischen den Menschen und warenfetischistisch organisierte Beziehungsstrukturen auf sexuelle Beziehungen aus?

Welchen Einfluß hat Lohnarbeit auf Sexualität und Körper? Ist Sexarbeit nur eine Form von Lohnarbeit? Wie bringen wir in den Arbeitsalltag unsere sexuellen Identitäten ein?

Wie verändern sich sexuelle Beziehungen infolge der Ausweitung prekärer Arbeit?

Was bleibt heute von den Utopien der sexuellen Befreiung?

Wie könnten befreite Körper und Post-Sex nach dem Ende des Sex-Gender-Systems aussehen? Bedarf es einer gesellschaftlichen Umwälzung, um den Sex zu befreien? Stellt das Modell von „Polyamory“ die Lösung des Problems dar?

Welche Rolle spielt der Staat als Regulator? Sollte man staatliches Eingreifen zum Schutz beispielsweise von SexualarbeiterInnen unterstützen oder ist der Staat Teil des Problems?

Wir schlagen vor, die vorliegenden Texte mit Antworten auf diese bis heute relevanten Fragen erneut zu lesen. Die im Buch vertretenen AutorInnen haben auch einige Moden des damaligen Zeitgeistes mitgemacht, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können. In der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung waren in den 1920er-Jahren etwa Theorien zur „Rassenhygiene“ nicht unpopulär. So vertraten Alexandra Kollontai und Elfriede Friedländer (Ruth Fischer) die These, daß die „freie“ Sexualität den Erhalt einer gesunden menschlichen Rasse garantieren müsse. Friedländer forderte demgemäß, daß Menschen mit Behinderungen sich nicht weiter fortpflanzen dürfen.16 Erschreckend mag es für einige LeserInnen ebenso wirken, mit welcher Naivität manche Feministinnen der 1968er-Generation Sex zwischen Kindern und leiblichen Eltern diskutierten.17 Die berechtigte Kritik an der Unterdrückung von kindlicher Sexualität in der herkömmlichen Erziehung führte oft dazu, die Abhängigkeiten in den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern zu unterschätzen.18 Nachdem die Ansätze zu einem kollektiven Entdecken von Lust komplett verworfen wurden, mangelt es heute weitgehend an adäquaten Ansätzen zu einer Sexerziehung von Kindern und Jugendlichen – ein Anspruch, der infolge der Debatten um sexuellen Mißbrauch und Vergewaltigung als „pervers“ und „anormal“ abgetan wird.19

Trotz des offensichtlichen Scheiterns der Projekte der sexuellen Befreiung wollen wir emanzipatorische Spuren dieses Projekts für die Gegenwart freilegen. Die im Rahmen der vier Kapitel des Buches wieder abgedruckten Texte werden unter den Aspekten „Kritik an sexuellen Herrschaftsverhältnissen“, „Polygame Kommunismen“, „Utopische Projekte der sexuellen Revolution“ sowie „Kritik der ‚sexuellen Befreiung‘“ im folgenden kurz diskutiert.

1. Kritik an sexuellen Herrschaftsverhältnissen

Im Kapitalismus existieren auch weiterhin sexuelle Herrschaftsformen. Das erste Kapitel dieses Bands präsentiert Texte zur „Mangelware“ Sex im Zeitalter von AIDS, die Konstruktion von Sexualität im Zusammenhang mit „Rasse“ sowie die Produktion von sexuellen Identitäten bei der (Lohn)arbeit. Ein Blick auf die jüngere Geschichte des Feminismus verrät, daß VertreterInnen eines lesbischen Feminismus die Überbetonung der Geschlechter-Kategorie bereits in den 1980er-Jahren suspendiert hatten, zugunsten der Kritik an Institutionen wie jener der Zwangsheterosexualität. Monique Wittig und Adrienne Rich betonten in Antizipation von Judith Butlers späterer Dekonstruktion von Geschlecht den Einfluß institutionalisierter Heterosexualität für den Prozeß der Konstruktion von normativen Geschlechtsidentitäten. Im Zuge der Sex Wars („Sex-Kriege“, intensive Debatten in der feministischen Bewegung Ende der 1970er) behauptete sich queeres Selbstbewußtsein erstmals in deutlicher Abgrenzung zu einer Hetero-Normalität, die knapp ein Jahrzehnt später mit Homo-Ehe und Adoptionswunsch angestrebt werden sollte. Die Sex Wars gelten als jener historische Zeitpunkt, der zur (generationellen) Spaltung der vormals scheinbar homogenen feministischen Bewegung in einen lesbisch-queeren, einen lesbisch-feministischen und einen heterosexuell dominierten Flügel von Feministinnen führte. So insistierten etwa die VertreterInnen der in San Francisco beheimateten ersten lesbischen BDSM20-Gruppe mit dem Namen SAMOIS auf das befreiende erotische Vermögen von selbstbestimmten Akten der Fesselung. Mit dem Erscheinen des von Carol S. Vance herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel „Pleasure and Danger“21 wurde das von Linda Williams später im Zusammenhang mit der Darstellung interrassischen Sexes erneut aufgegriffene Motiv der Angstlust diskutiert, welches im Rahmen sadomasochistischer Inszenierungen unter anderem zur Erzeugung von erotischer Spannung eingesetzt werden kann. Hier fand Angstlust im Kontext feministischer Selbstbestimmung in Abgrenzung von nicht-konsensualen Formen der Gewalt gegen Frauen statt.

Die Ankunft von AIDS, das in außermedizinischen Kreisen als Synonym für „Schwulenplage“ oder „Schwulenkrebs“ verwendet wurde, verlagerte die Debatten während der Sex Wars schnell außerhalb der „Cruising Area“, also der exklusiv schwulen Gebiete. Weil HIV-infizierte Homosexuelle ebenso wie andere Personengruppen gleichermaßen zu den Opfern einer hochgradig klassenspezifischen Gesundheitsversorgung gehörten, entstanden während der AIDS-Krise neue Bündnisse zwischen schwulen AktivistInnen, SexarbeiterInnen, HIV-positiven Müttern und FixerInnen aus dem Drogenmilieu. Der Schriftsteller Hubert Fichte, der mit „Hamburg Hauptbahnhof. Register“ im Jahr 1984 eine „poetische Anthropologie“22 einer durch den Einbruch von AIDS nur scheinbar beendeten „Verschwulung der Welt“23 vorlegte, konnte die politischen Konsequenzen dieser Zäsur nur mehr in Form von rhetorischen Fragen an die homophobe Presse niederschreiben: „Fordert die freie Presse etwa nicht KZs für Durchfallkranke? Sind die Schwulen nicht gezwungen, die Propagandaartikel gegen sich selbst zu verfassen, selbst zu setzen, selbst zu lektorieren? Geht nicht eine ganze Welt kaputt, weil ein paar Journalisten aus Penetrationsängsten keinen mehr hochkriegen? Soll nicht Sappho24 sterilisiert werden?“25

Die Thematisierung des von vielen Feministinnen marxistischer Prägung (in oftmaliger Dethematisierung der Geschlechterkategorie) monierten Aspekts der ökonomischen Determination von sexueller Identität trat in den Hintergrund. Das ließen die hitzigen Debatten um Sexualität sowie die politische Notwendigkeit der Herstellung von Bündnissen gegen die Stigmatisierung als „Risikogruppe“ zur Zeit der AIDS-Krise kaum zu. Der Zwangscharakter der Heterosexualität wurde von Adrienne Rich bereits in den 1980er-Jahren mit jenem des Erwerbs im Kapitalismus verglichen.26 Auch setzte Judith Butler mit ihrer jüngsten Ablehnung des Zivilcourage-Preises des Berliner CSD (Christopher Street Day)27 eine gegen den Homonationalismus28 gerichtete queere Imperialismuskritik in die politische Praxis um. Dennoch fehlt es zum großen Teil an queer-feministischen Ansätzen, die Libido und Ökonomie gleichermaßen als Instrumente kapitalistischer Profitmaximierung zu denken vermögen. Linda Singers in diesem Band unter dem Titel „Sex, AIDS-Business und andere Dienstleistungen im Spätkapitalismus“ (S. 39) wieder abgedruckter Text „Sex and the Logic of Late Capitalism“29 aus dem Jahr 1993 entlarvt die verque(e)ren Ströme der Libido als Resultat der spätkapitalistischen Transformation von Sex in Wert und Profit – vor dem Hintergrund der Etablierung eines politischen Mythos der Knappheit. Indem durch Werbung und Marketing bei dem/der Einzelnen der Eindruck eines permanenten Mangels an Sex erzeugt wird, können die Bedürfnisse besonders gut angereizt werden. Durch die grassierende AIDS-Paranoia wurde nicht warenförmige Sexualität zu einer „Hoch-Risiko-Zone“30, was dazu führte, libidinöse Besetzungen auf andere Partial-Objekte umzuleiten und neue Körperpraktiken zu erfinden. Mit der Diversifikation des sexuellen Dienstleistungssektors entstanden neue Sex-Industrien. Die Produktpalette des Safer Sex reicht heute von Telefonsex, bei dem Autoerotik durch das Fehlen realer Körperlichkeit mittels technischer Artefakte erzeugt wird, bis hin zu käuflich erwerbbaren Formen von Sex in Special-Interest-Clubs, die verstärkt Frauen adressieren. Neben Prostitution und Pornographie entsteht zudem ein AIDS-Business, bei dem mit der Angst vor einer möglichen Infektion satte Profite erzielt werden. Das Angebot besteht aus Ernährungszusätzen, Vermittlungsagenturen mit getesteten PartnerInnen, Blutbanken und Sex-Spielzeug.

Vollständig zur Ware konnte Sexualität im Spätkapitalismus indes erst nach der Herstellung eines konstitutiven Außerhalbs werden. Die Aufspaltung spätkapitalistischer Sexualität in eine reproduktive und eine käufliche Komponente ist Voraussetzung für das Florieren der Sex-Industrie: Während die Familie zum Hort von „weichen“ Währungen wie Fortpflanzung, Liebe, Romantik und Zärtlichkeit erklärt und verstärkt unter staatlichen Schutz gestellt wird, finden die bezahlten „unerlaubten“ Sexualitäten zumeist in rechtlichen Grauzonen statt. Deren AkteurInnen werden zu Angehörigen einer „gefährlichen Klasse“31 stilisiert: „Wenn das Begehren paradigmatisch sexuell ist, und das Sexuelle paradigmatisch privat, dann projizieren Individuen Erwartungen hinsichtlich ihrer eigenen Erfüllung (und Unmut über deren Fehlen) weit eher in die private Sphäre als diese Erwartungen in Form einer organisierten sozialen Forderung zu äußern: als Forderung nach einer organisierten gesellschaftlichen Reaktion, wie die Redistribuierung oder Reorganisierung von grundlegenden Institutionen.“32

Singer meint, daß die Ausweitung der Prostitution unter anderem zur Disziplinierung von verheirateten Frauen führt, die verstärkt dem Druck ausgesetzt sind, die Bedürfnisse ihres Mannes zu befriedigen, weil er diese anderenfalls außerhalb der Ehe ankauft. Wenngleich die getauschte Währung eine andere ist, geht Singer aufgrund der Ähnlichkeit des Tauschkreislaufs von einer strukturellen Analogie zwischen Sexarbeit und bürgerlicher Ehe aus. Die Ehe stellt für sie eine legalisierte Form der Prostitution dar, bei der von Frauen stets ein Surplus an (sexueller) Arbeit erwartet wird. Der Ehevertrag, durch den die Bedingungen des Tausches zugunsten der Frauen verändert werden sollten, bietet Ehefrauen jedoch lediglich die Vorteile von Prostituierten. Doch während letztere den Zeitraum ihrer Arbeit beschränken können und für diese auch entlohnt werden, befindet sich die Ehefrau im Kreislauf eines entfremdeten Tausches. Sie verbessert durch unbezahlte und gesellschaftlich unsichtbare Arbeit die soziale Position des Mannes. Obgleich sich Singer für die Legalisierung von Prostitution ausspricht, ermöglicht dies lediglich die Wahl zwischen der Rolle einer kommerziell orientierten Sexarbeiterin und einer Ehefrau: „Im Kapitalismus müssen ArbeiterInnen ihre körperlichen Fähigkeiten ständig gegen Lohn oder Heirat tauschen. Unter der Voraussetzung, daß die moralischen Unterschiede zwischen diesen Ökonomien nebensächlich sind, gibt es keinen guten Grund, Frauen für ein Verhalten zu bestrafen, das unter anderen Umständen sozial belohnt und geachtet würde. (…) Wenn heterosexuelle Beziehungen im Patriarchat Frauen in jedem Fall ausbeuten, sollten sie zumindest entscheiden können, mithilfe welcher Strategie sie sich durch diese Situation am besten hindurchmanövrieren.“33

Mit der sozialen Wirksamkeit sexueller Phantasmen beschäftigt sich Linda Williams in dem Text „Grenzgänge der Lust. Interrassisches Tabu und politische Transgression“34 (S. 59). Deren Produktion zählt zur gesellschaftlichen Funktion der im Spätkapitalismus unter anderem durch Pornographie verbreiteten Sexualität. Für Williams ist es eine dem Film „Mandingo“35 entlehnte Phantasie interrassischen36 Begehrens, die beim brutalen Überfall von Polizisten auf den Afroamerikaner Rodney King im Jahr 1991 eine entscheidende Rolle spielte. Im anschließenden Prozeß, der mit dem Freispruch von drei weißen und einem hispanischen Polizisten endete, führte der Polizeioffizier Stacey Koon die Angst vor einer „Begegnung à la Mandingo“37 als Rechtfertigung für seine gewalttätigen Aktionen an. Er unterstellte King damit das Zurschaustellen eines mit Schwarzen assoziierten Potenzgehabes, was Koon dazu veranlaßte, die in den Übergriff involvierte weiße Polizistin Melanie Singer vor der phantasierten Omnipotenz des lüsternen schwarzen Mannes zu beschützen. Die rassistische Vorstellung, daß ein schwarzer Mann eine weiße Frau verführen könnte, beeinflußte auch die amerikanische Gesetzgebung maßgeblich: In den USA standen Eheschließungen zwischen Weißen und Nichtweißen infolge des „Racial Integrity Act“ aus dem Jahr 1924 unter Strafe. Erst im Jahr 1975 wurde das Verbot „gemischtrassiger“ Ehen in allen amerikanischen Bundesstaaten vollständig außer Kraft gesetzt. Ein Meilenstein im Hinblick auf die Legalisierung war der Prozeß des Bundesstaates Virginia gegen die interrassische Ehe von Mildred Jeter Loving und Richard Perry Loving im Jahr 1967. Er endete mit einem Freispruch und der Entscheidung des Gerichtshofs, das dazugehörige Gesetz infolge der rassistischen Absicherung weißer Vorherrschaft fallen zu lassen.

Im Film „Mandingo“, der aufgrund seiner offensiven Sexualität einen Bruch mit der kolportierten Sklavenmentalität schwarzer Menschen markiert, wird die Angst der Weißen vor dem hyperpotenten schwarzen Sklaven indes zu einer Quelle der Lust: Anstatt sie zu fürchten, begehrt die weiße Frau des Plantagenbesitzers die Sexualität des schwarzen Sklaven, mit dem sie auch ein Kind bekommt. Später wird das Baby vom weißen Herrn getötet, weil sich dieser so für die Untreue seiner Frau rächt. Am Ende bezahlt er selbst mit dem Tod, als er von einem Haussklaven erschossen wird.

In „Mandingo“ treibt der Sex zwischen einem unterdrückten schwarzen Mann und der weißen Frau des Plantagenbesitzers den politischen Prozeß der schwarzen Emanzipation subtil voran, weil in den interrassischen Sexszenen der kommende Aufstand bereits antizipiert wird. Angst ist in diesem Zusammenhang ein Affekt, der die sexuelle Spannung zwischen den PartnerInnen bis ins Unermeßliche steigert. Da sie ahnen, daß sie ihr sexuelles Handeln mit dem Tod bezahlen müssen, ist ihr Sich-Ausliefern aneinander gefährlich. Die Machtpositionen von weißer Herrin und schwarzem Sklaven sind niemals symmetrisch, weshalb Williams Judith Butlers Relektüre des Hegelschen Herr-Knecht-Szenario zum eingehenderen Verständnis dieser sexuellen Beziehungen bemüht. Butler zufolge ist es gerade nicht die bedingungslose Auslieferung an den Anderen, sondern vielmehr der durch die Bewegung des „ein Anderer-Werdens“ initiierte Selbstverlust von HerrIn und SklavIn, durch die im „Augenblick äußerster Verwundbarkeit“38 Anerkennung möglich wird: „Der Preis für die Selbstidentität [ist] paradoxerweise der Selbstverlust.“39 In „Mandingo“ ist es zudem nicht die Struktur des Zweiersystems, die den Spielraum für den Akt wechselseitigen erotischen Anerkennens bereitstellt, sondern vielmehr die Abwesenheit eines Dritten, durch den das Begehren vermittelt wird. Der reale Ausschluß des weißen Plantagenbesitzers initiiert die sexuelle Spannung zwischen dem schwarzen Sklaven Mende und der weißen Frau. Diese entsteht infolge der Absenz jenes Dritten, der im Hinblick auf Hautfarbe und Klassenlage der weißen Frau weitaus ähnlicher wäre und dessen soziale Dominanzposition durch den sexuellen Akt unterminiert wird. Die „Trias von heterosexuellem, homosexuellem und unbenannt andersartig sexuellem Begehren“40 wird folglich zur Voraussetzung für die Möglichkeit des erotischen Anerkennens zwischen den Rassen.

Lohnarbeit ist ein weiteres Thema, das in den gegenwärtigen queer-feministischen Debatten oft leider nur am Rande behandelt wird. Obgleich mit dem absehbaren Ende der Arbeitsgesellschaft sozial abgesicherte Lohnarbeit zur Mangelware wird, hat sie ihre identitätsbildende Funktion (noch) nicht verloren. Selbst wenn es sich dabei nicht im eigentlichen Sinne um Sexarbeit handelt, definieren Renate Lorenz und Brigitta Kuster in ihrem Text (S. 69) jedwede Form des Arbeitens als ein mit libidinösem Mehrwert aufgeladenes Set an Tätigkeiten, Praktiken und Handlungen. Durch (Lohn-)Arbeit werden klassenmäßige, geschlechtliche und sexuelle Identitäten reproduziert, durch den Einsatz subjektiver und emotionaler Fähigkeiten im Sinne eines je spezifischen „Wie“ eines Tuns und des routinisierten Ausführens sexualisierter Tätigkeiten in der Alltagspraxis. Etwaige Überschreitungen im Sinne eines Durchqu(e)rens gesellschaftlich zugeschriebener Plätze sind mit einem Aufwand im Sinne eines Surplus verbunden. Dieser ist für jene Personen, die Normen wie der Heterosexualität, dem Amerikanisch-Sein/Weiß-Sein und der Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen, besonders hoch – und können mit „besonderen Drohungen und immer möglichen Entrechtungen, Verletzungen und Beschämungen“41 im Hinblick auf seine/ihre geschlechtliche Identität quittiert werden. Diesem Umstand wenden sich Renate Lorenz und Brigitta Kuster in ihrem Text „10 x sexuell arbeiten. Ein Manifest der Arbeit des Sexuellen und des Sexuellen der Arbeit“ zu.

Jenes Arbeitsverhältnis, das im Fordismus noch als versachlichtes Verhältnis zwischen ProduzentIn und Ding betrachtet werden konnte, dient im Postfordismus nicht allein dazu, sexuelle Lust zu kanalisieren, sondern zugleich herzustellen. Aufgrund seiner Verwurzelung in Arbeitsprozesse kann Sex somit weder von der Arbeit selbst befreit noch durch Freiheit von dieser zum Instrument einer Befreiung werden. Mit der Entgrenzung von Arbeit wird vornehmlich auch in jenen sozialen Sphären sexuell gearbeitet, die mit der Intaktheit der bürgerlichen Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit noch als Refugien der Reproduktion galten, mit von Geburt an festgelegten geschlechtlichen Identitäten. Das Prekär-Werden von vormals fix zugewiesenen Plätzen erfordert die verstärkte Arbeit am Geschlecht. So etwa besteht die sexuelle Arbeit der Partnerin eines sich als heterosexuell definierenden Trans-Mannes darin, diesem das „Passing“ zu erleichtern, indem sie in transempathischer Antizipation möglichst glaubwürdig das verkörpert, was dieser sich erwartet. Die aktive, aber im Prozeß der Produktion (mit der Naturalisierung der Rolle) zugleich unkenntlich gemachte Arbeit daran, „das Girl zu sein“42, wird aufgrund ihrer relativen Unsichtbarkeit nicht mit ausreichendem Wert belohnt. Im Gespräch mit Jane Ward43 werfen Renate Lorenz und Brigitta Kuster deshalb die Frage danach auf, „wann, wie und warum“44 einer so voraussetzungsvollen Arbeit selbst dann zugestimmt wird, wenn durch diese weder Zweigeschlechtlichkeit noch Heteronormativität destabilisiert werden kann. Die AutorInnen fordern eine Neuverhandlung der gesellschaftlichen Bewertung dieser Form sexuellen Arbeitens genauso wie der ihr zugrundeliegenden Bedingungen. Lorenz und Kuster zeigen, wie auch bei der Arbeit sexuelle Identitäten produziert werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob sie den Begriff des „sexuellen Arbeitens“ nicht überdehnen und damit den Unterschied zwischen einer SexarbeiterIn, die am Tag für 15 Kunden die Beine breit machen muß, und einer Sekretärin, die sich besonders „weiblich“ anzieht und mit dem Chef flirtet, nicht relativieren. Der Übergriff auf den Körper ist in den beiden Fällen qualitativ verschieden.

2. Polygame Kommunismen

Aus der Linken gingen aber auch alternative Beziehungsformen hervor, die anstreben, sexuelle Herrschaftsformen zu überwinden. In den letzten Jahren sind auch im deutschsprachigen Raum einige Bücher zu „Polyamory“ veröffentlicht worden.45 Dieses Wort setzt sich aus dem Griechischen „polýs“ (viele) und dem französischen „amour“ (Liebe) zusammen. Die „Polyamory“-Bewegung stammt ursprünglich aus der amerikanischen Hippie-Kultur und bildet heute ein heterogenes Bündnis von esoterisch bis linksliberal ab. „Polyamory“ stellt monogame Zweierbeziehungen in Frage, die laut ihren ProponentInnen auf Besitzanspruch, Mißtrauen und Eifersucht beruhen würden. Stattdessen soll eine Vielzahl von offenen Liebesbeziehungen zwischen Menschen möglich sein. Es wird aber nicht der wahllose Tausch von SexualpartnerInnen propagiert, sondern Respekt, Verantwortung und Offenheit gegenüber allen Beteiligten gefordert. Die Texte im zweiten Kapitel dieses Buches dokumentieren, daß auch in der kommunistischen Bewegung über Polygamie diskutiert wurde.

Schon Friedrich Engels beschäftigte sich mit Polygamie in der menschlichen Urgesellschaft. Er stellte die These auf, daß die Etablierung der Monogamie und die Herrschaft des Mannes über die Frau eine Folge der Einführung des Privateigentums war. Um sein Eigentum vererben zu können, mußte der Mann über seine leiblichen Kinder Gewißheit haben und die Frau zur Enthaltsamkeit gegenüber anderen Männern zwingen.46 Engels zog aus dieser Analyse allerdings nicht die Schlußfolgerung, daß mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel wieder polygame Lebensformen auftreten würden. In diese Richtung argumentierten erst KommunistInnen in den 1920er-Jahren. Der russischen Kommunistin Alexandra Kollontai wurde die berühmte „Glas-Wasser-Theorie“ zugeschrieben, die besagte, daß das Bedürfnis nach Sex im Sozialismus so einfach wie der Durst nach Wasser befriedigt werden könnte. Kollontai selbst behauptete allerdings nur, daß man im sexuellen Akt nichts Schamvolles oder Sündhaftes sehen solle, sondern als Manifestation eines gesunden Organismus, der auch Hunger oder Durst stillen müsse.47 In ihrer Schrift „Die neue Moral und die Arbeiterklasse“ (S. 81) machte sie sich Gedanken, wie gleichberechtigte sexuelle Beziehungen zwischen Männern und Frauen aussehen könnten, die weder von wirtschaftlicher noch von emotionaler Abhängigkeit geprägt seien. Ein Ideal der Liebe, das eine völlige Selbstaufgabe und Selbstaufopferung verlangt, sah sie vor allem für jene Frauen als problematisch an, die sich so in vollständige Abhängigkeit zu einem Mann begeben würden. Die monogame Ehe stifte auf Dauer keinen Eros und bedürfe der Prostitution als notwendiger Ergänzung. Sie entwickelte das Ideal einer ledigen Frau, die sich nicht durch ihre Emotionen versklaven lasse und mit Partnern „erotische Kameradschaften“ eingehen würde. Auch wenn sich die Menschen weiter am Ideal der monogamen Beziehung orientieren sollten, so müsse die Gesellschaft verschiedene Formen von Liebesbeziehungen anerkennen.48 Als Folge des Ersten Weltkriegs und des russischen Bürgerkriegs lebten in den Dörfern Rußlands im Jahr 1921 etwa 8 Millionen mehr Frauen als Männer.49 Daher waren Kollontais Vorschläge für ledige Frauen keine bloßen Utopien. Als Kommunistin war Kollontai sich im Klaren darüber, daß die neuen Beziehungsformen eine gesellschaftliche Umwälzung voraussetzten, sollten sie nicht auf privilegierte Frauen aus der Oberschicht beschränkt bleiben. Damit auch die neue Frau die Rolle der Mutter einnehmen konnte, sollte der Staat die Vergesellschaftung der Hausarbeit mit Einrichtungen wie Kinderkrippen, Volksküchen oder Mütterheimen vorantreiben. Kollontai verlangte auch, allen Männern eine Steuer für einen staatlichen Alimentefonds aufzubürden, um ledige Mütter zu unterstützen. Sie hoffte, daß die Arbeitspflicht für alle SowjetbürgerInnen die Frauen aus ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Männern befreien werde. Wie in der kommunistischen Bewegung damals üblich, galten auch für Kollontai Hausarbeit und Prostitution als unproduktive Tätigkeiten. Für Frauen, die ihrer Arbeitspflicht nicht nachkämen, forderte sie die Verurteilung zur Zwangsarbeit.50 Ihre libertären Ideen hatten in der Zeit des „Kriegskommunismus“ (1919-1921) auch einige repressive Elemente.