817182_Turano_Braut_auf_Zeit_Seite003.pdf

8

Saeule_neu_ok.tif

Blankes Entsetzen erfasste Hannah, als Oliver sie über den Marmorboden von Arnold Constable & Company führte. Mit jedem Schritt wuchs ihre Panik. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, ihr Herz raste, und als sie den Blick hob und nicht nur einen, sondern gleich mehrere Kronleuchter an der Decke hängen sah, zog sich ihr Magen bedrohlich zusammen.

Ein sonderbares Klingeln setzte in ihren Ohren ein, als sie sich umschaute und eine gut gekleidete Dame bemerkte, die in ihre Richtung starrte. Der Schal, den die Frau offenbar hatte kaufen wollen, baumelte vergessen in ihrer Hand. Die Kundin schaute Hannah durchdringend an, um dann mit einer gebieterischen Handbewegung einen Mann in einem dunklen Anzug zu sich zu winken. Hannah beobachtete, wie der Mann zu der Frau eilte und den Kopf beugte, als sie ihm etwas aufgeregt ins Ohr flüsterte.

Hannahs Übelkeit verstärkte sich. Ihr Schicksal war besiegelt. Man hatte sie ertappt. Sie wusste nicht, was sie überführt hatte, aber ihr war klar, dass sie jeden Augenblick auch aus diesem Geschäft geworfen werden würde. Selbst wenn Oliver neben ihr stand und sie praktisch aufrecht hielt, da ihre Beine zu versagen drohten.

„Du musst dich beruhigen“, sagte er, während er ihr eine Hand auf den Rücken legte, um sie zu stützen.

„Diese Frau starrt mich an“, flüsterte Hannah.

Oliver schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, in die Hannah entsetzt starrte, lächelte die Dame und den Herrn an, die sein Lächeln beide erwiderten, und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf Hannah. „Natürlich starrt sie dich an. Du trägst ein sehr modisches Kleid, kombiniert mit einem ungewöhnlichen Hut – der jedoch, wie ich mir gut vorstellen kann, bald in ganz New York City Nachahmerinnen finden wird. Außerdem bist du schön und du bist mit mir zusammen.“

Das Klingeln in ihren Ohren verstummte. „Ich bin schön?“

Oliver zog eine Braue hoch. „Bist du auf Komplimente aus?“

„Irgendwie könnte ich im Moment ein paar Komplimente gut vertragen.“

„Dann werde ich dafür sorgen, dass du welche bekommst.“

Hannah stellte sich darauf ein, dass jetzt etwas Verrücktes aus Olivers Mund kommen würde, und rümpfte die Nase, als er nur lächelte. Doch sie wurde schnell abgelenkt, als der Mann in dem dunklen Anzug zielstrebig auf sie zusteuerte. Eine neuerliche Panik veranlasste sie, wie angewurzelt stehen zu bleiben. Sie war zu keiner Bewegung fähig und konnte Oliver nur aus dem Augenwinkel ansehen.

Oliver musste den Mann doch auch sehen, aber zu ihrem Unmut schien er sich der Tragweite ihrer Situation nicht im Geringsten bewusst zu sein. Er blieb völlig ungerührt und wirkte gar nicht wie ein Mann, der eine kleine Hutmacherin in eines der vornehmsten Warenhäuser von ganz New York führte – was ein unverzeihlicher Affront war.

„Mr Addleshaw!“, rief der Mann erfreut. „Was für eine angenehme Überraschung! Wir haben Sie seit Monaten nicht mehr in unserem Haus gesehen. Und Ihre verehrte Mutter auch nicht.“

„Mr Lamansky, es freut mich wie immer auch, Sie zu sehen“, erwiderte Oliver. „Ich war eine Weile verreist und meine Eltern halten sich derzeit in Indien auf.“ Er deutete auf Hannah. „Darf ich Ihnen Miss –“

„Ah, Sie müssen Miss Birmingham sein!“, fiel Mr Lamansky ihm ins Wort, bevor Oliver eine Chance hatte, Hannah vorzustellen. Mr Lamanskys Lächeln verblasste einen Moment, doch dann hatte er sich schnell wieder gefangen. „Ich habe nur wunderbare Dinge über Sie gehört, seit Sie unsere Stadt beehren. Wie gefallen Ihnen die hiesigen Einkaufsmöglichkeiten?“

Bevor Hannah auch nur einen Ton über die Lippen bringen konnte, ergriff Oliver fest ihren Arm. „Diese Dame“, begann er, „ist nicht Miss Birmingham, sondern Miss Peabody.“

Mr Lamansky blickte ihn mit großen Augen an. „Oh, vergeben Sie mir bitte. Ich nahm an, dass es sich bei dieser Dame um Ihre Verlobte handelt. Ich muss leider gestehen, dass ich Mrs Gould offenbar falsch informiert habe, als sie mich bat, Sie zu fragen, wer Miss, ähm, Peabodys Kleid entworfen hat.“ Er schaute sie mit erwartungsvoll hochgezogener Braue an.

„Äh …“, war die einzige Antwort, die Hannah einfiel.

„Dieses Kleid hat Miss Peabody selbst entworfen“, kam Oliver ihr zu Hilfe, als sie weiterhin nach den richtigen Worten rang.

Angesichts des Blicks, mit dem Mr Lamansky sie bedachte, wünschte Hannah, ein großes Loch würde sich vor ihr auftun oder, noch besser, ein Zug würde plötzlich durch das Geschäft rasen und sie könnte sich vor ihn werfen.

„Bitte entschuldigen Sie, Mr Addleshaw“, sagte Mr Lamansky jetzt mit leiserer Stimme und trat auf Oliver zu. „Halten Sie es für weise, Miss Peabody, eine Kleiderdesignerin, wenn ich Sie richtig verstehe, ausgerechnet in dieses Geschäft zu führen? Ihnen ist doch gewiss bewusst, dass meine Kunden Notiz von ihr nehmen und Miss Birmingham von ihr erzählen.“

Oliver legte die Hand noch fester um Hannahs Arm, und sie spürte, dass er sich versteifte. Sein Blick wurde hart, eine Ader auf seiner Stirn begann zu pochen. Er sah richtiggehend bedrohlich aus, auch wenn fast alle Knöpfe an seinem Jackett fehlten und seine Haare zerzaust waren, weil er ihr nachgelaufen war.

Warum hatte sie bloß nicht vorgeschlagen, dass er erst einmal seine Haare in Ordnung brachte?

Plötzlich verspürte sie den unerklärlichen Drang, hysterisch zu lachen. Ihre Belustigung verschwand jedoch schlagartig, als Oliver zu sprechen begann.

„Ich fürchte, in der Stadt kursieren zahlreiche Missverständnisse“, meinte er sehr ruhig. Angesichts von Olivers Missstimmung wurde Mr Lamanskys Gesicht ganz blass. „Erstens bin ich nicht mit Miss Birmingham verlobt – auch wenn Ihnen vielleicht andere Gerüchte zu Ohren gekommen sind.“

„Sie sind nicht verlobt?“

„Nicht mit Miss Birmingham. Verlobt bin ich sehr wohl.“ Er wandte sich an Hannah und bedachte sie mit einem Lächeln, das so überraschend herzlich war, dass sich in ihr der ungewohnte Drang regte, ihm mühsam stammelnd zu Füßen zu sinken. Doch dann fiel ihr wieder die lästige Kleinigkeit ein, dass Oliver offenbar ein ganzes Arsenal an Lächel-Varianten auf Lager hatte, auf das er offenbar je nach Bedarf zurückgriff. „Wenn Sie mir erlauben, möchte ich noch einmal von vorn beginnen.“ Er schaute Mr Lamansky an. „Darf ich Ihnen meine Verlobte, Miss Peabody, vorstellen? Hannah, das ist Mr Lamansky, einer der Geschäftsführer dieses Hauses. Ich bin mir sicher, dass er alles in seiner Macht Stehende tun wird, um dir zu einem Einkaufserlebnis zu verhelfen, das du so schnell nicht vergessen wirst.“

„Ihre … Verlobte?“, flüsterte Mr Lamansky.

„Sie sagen es, Mr Lamansky. Und Sie können Mrs Gould gern erzählen, dass meine Verlobte ihr Kleid selbst entworfen hat. Sie können ihr auch mitteilen, dass Miss Peabody bald ihre eigene Boutique eröffnen wird, und ihr versprechen, dass wir ihr die Adresse der Boutique gern zukommen lassen, wenn sie offiziell eröffnet ist.“

„Ihre Verlobte will eine Boutique betreiben?“

Oliver schmunzelte. „Meine Verlobte ist eine sehr selbstständige Dame. Sie hat meinen Antrag nur angenommen, als ich einwilligte, dass sie ihre Pläne, eine der begehrtesten Modedesignerinnen in ganz New York zu werden, weiter verfolgen kann.“

Hannah starrte ihn mit offenem Mund an. Sie hatte nicht die geringste Absicht, eine Boutique für die bessere Gesellschaft zu eröffnen. Warum sagte er so etwas? Und warum in aller Welt erzählte er diesem Mann, dass sie seine Verlobte wäre? Sie sollte ihn doch nur zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten, aber jetzt hatte er zweifellos die Büchse der Pandora geöffnet.

Leider schien Oliver nicht zu begreifen, welche Folgen das, was er so unüberlegt hinausposaunt hatte, nach sich ziehen würde. Sie konnte bei ihm jedoch keine Spur von Panik ausmachen. Stattdessen funkelten seine Augen mit ungeahnter Intensität. Sie hatte jedoch keine Ahnung, was dies bedeutete.

„Ich werde das Unterfangen meiner Verlobten natürlich unterstützen. Sie ist sehr talentiert. Ich rechne fest damit, dass ihre Boutique eine begehrte Adresse für alle Damen sein wird, die einzigartige Modekreationen lieben.“

Im Bruchteil einer Sekunde begriff sie, was er vorhatte. Oliver war Geschäftsmann und ständig auf der Suche nach Geschäftsideen, die Profit brachten. Offenbar hatte er in diesem ganzen Wahnsinn beschlossen, ihr Partner in dieser Unternehmung zu werden. Aber er wusste doch, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, für die Reichen und Vornehmen zu arbeiten! Sie wollte Frauen helfen, die in einer ähnlichen Situation waren wie sie. Frauen, die nur sehr begrenzte Mittel hatten, sich aber trotzdem gern modisch kleideten.

„Aber genug davon“, sagte Oliver abrupt. „Wir sind heute hier, um meine geschätzte Verlobte mit einer neuen Garderobe auszustatten. Ich hege die Hoffnung, dass sie alles, was sie sich wünscht, unter dem Dach dieses Geschäftes finden wird. Sie war in letzter Zeit zu sehr beschäftigt, um Kleider zu entwerfen. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass wir hierherkommen, um sicherzugehen, dass sie alles bekommt, was sie braucht.“

Er bedachte Hannah mit einem Blick, den der Geschäftsführer wahrscheinlich als Hingabe deuten sollte, aber Hannah entging der Anflug von Belustigung darin keineswegs.

Sie blinzelte verwirrt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Oliver Addleshaw Humor hatte.

Mr Lamansky räusperte sich. „Sagten Sie, eine komplett neue Garderobe?“

„Ich bin nicht sicher, ob ich ‚komplett‘ gesagt habe, aber ich denke, das trifft es.“

Bevor Hannah Gelegenheit hatte, Luft zu holen, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen, wurde sie in ein Privatzimmer geführt und in einen Polstersessel verfrachtet. Mr Lamansky reichte ihr eine Porzellantasse mit Tee und bedachte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

„Ich schicke Ihnen sofort einige Damen, die Ihnen behilflich sein werden.“ Er verbeugte sich kurz und verließ dann den Raum.

Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, senkte Hannah die Tasse und wandte sich an Oliver, der es sich ebenfalls in einem Sessel bequem gemacht hatte. „Was hast du getan!?“

Oliver nippte an seinem Tee, verzog das Gesicht und stellte die Tasse schnell wieder ab. „Hatte ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich Tee verabscheue?“

„Ich glaube nicht, dass das bei den wenigen Gesprächen, die wir bis jetzt geführt haben, zur Sprache kam. Oliver, was hast du dir nur dabei gedacht, Mr Lamansky zu sagen, ich wäre deine Verlobte? Das war nicht Teil unserer Abmachung.“

„Mir hat nicht gefallen, wie der Mann dich behandelt hat“, erwiderte Oliver.

Seine Antwort überraschte sie so sehr, dass ihr Tränen in die Augen traten. Noch nie in ihrem Leben hatte ein Mann sie verteidigt, und sie war plötzlich dankbar, dass sie saß. Sie war ziemlich sicher, dass sie sich nicht auf den Beinen halten könnte, da sich ihr gesamter Körper irgendwie wie Wackelpudding anfühlte. Sie wischte sich über die Augen. Als sie sicher war, dass sie nicht in Tränen ausbrechen würde, schaute sie Oliver wieder an. „Ich bin dir wirklich dankbar, dass du diesen Mann in seine Schranken verwiesen hast, aber dir ist doch sicher bewusst, dass uns diese spontane Idee in große Schwierigkeiten bringen wird.“

Oliver zuckte die Achseln. „Ihm zu sagen, dass wir verlobt seien, war nur Mittel zum Zweck. Und du musst zugeben, dass es besser war, als diesem Mann einen Hieb zu versetzen. Das war nämlich mein erster Gedanke.“

„Ihn zusammenzuschlagen wäre vielleicht das kleinere Übel gewesen. Man hätte uns bestimmt des Hauses verwiesen, aber dann wir wären jetzt nicht verlobt!“

„Hannah“, begann Oliver langsam, „dir ist schon bewusst, dass wir nicht wirklich verlobt sind, nicht wahr?“

Hannah verdrehte die Augen. „Es besteht kein Grund, nervös zu werden, Oliver. Natürlich weiß ich, dass wir nicht wirklich verlobt sind. Aber wir sind Lügner. Und das ist viel schlimmer.“

„Hast du damit ein Problem?“

„Ich lüge nicht gern. Gott gefällt es nicht, wenn Menschen lügen. Und unsere angebliche Verlobung ist eine große Lüge.“

Oliver runzelte die Stirn. „Deine Logik verwirrt mich ein wenig. Warum war es für dich keine Lüge, dich als meine Begleiterin auszugeben, aber meine Verlobte zu spielen ist für dich eine Lüge?“

Hannah schaute Oliver über den Rand ihrer Tasse an. „Es ist seltsam, dass du das ansprichst, denn genau darüber habe ich gestern Abend mit meinen Freundinnen diskutiert. Diese Frage hat mir keine Ruhe gelassen. Aber dann hat Miss Longfellow, eine meiner Mitbewohnerinnen, erzählt, dass sie gelegentlich als Gesellschafterin gearbeitet hat. Für diese Aufgabe bekam sie dann eine finanzielle Entschädigung. Das Ganze ist also offenbar eine völlig respektable Aufgabe, die eine Frau ausüben kann. Wie du siehst, ist absolut nichts Ungebührliches dabei, wenn ich mich dafür bezahlen lasse, dir bei bestimmten gesellschaftlichen Veranstaltungen Gesellschaft zu leisten.“

„Vergib mir, wenn ich dich darauf hinweise, aber Gesellschafterinnen werden gewöhnlich von Damen an ihrem Lebensabend beschäftigt. Zu dieser Gruppe gehöre ich definitiv nicht.“

„Das stimmt, aber es ist das gleiche Prinzip. Du hast mich eingestellt, um dich zu begleiten, wenn auch nicht in der Funktion, die die meisten bezahlten Begleiterinnen ausüben. Aber mit deiner Erklärung, dass ich deine Verlobte wäre, verlangst du von mir, eine Lüge zu leben.“

Oliver neigte den Kopf leicht zur Seite. „Würdest du dich besser fühlen, wenn ich vor dir niederknie und dich bitte, für die nächsten Wochen meine Verlobte zu sein?“

Ihr schoss das Bild durch den Kopf, wie Oliver vor ihr kniete. Ein warmes Gefühl erfasste sie, doch sie verdrängte es mit aller Gewalt sofort wieder. Bei solchen Hirngespinsten konnte nichts Gutes herauskommen. Und Oliver hatte ja nicht vorgeschlagen, ihr einen echten Heiratsantrag zu machen. Außerdem war sie nicht einmal sicher, ob sie diesen Mann überhaupt mochte. Was konnte also diese Gefühle ausgelöst haben?

„Hannah, stimmt etwas nicht?“

Die junge Frau trank einen Schluck von ihrem Tee, um sich wieder zu fassen. Dann zog sie eine Braue hoch. „Es ist alles in bester Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass du gerade erzählt hast, wir wären verlobt. Und dass Mr Lamansky diese Neuigkeit bestimmt schon eifrig verbreitet.“

„Und das stört dich, weil du meinst, wir würden den Menschen eine Lüge auftischen?“

„Wir tischen ihnen ja auch eine Lüge auf.“

„Das sehe ich anders. Wie du schon erwähnt hast, habe ich dich engagiert, eine Rolle zu spielen. Dann ist es doch egal, ob du in die Rolle meiner Begleiterin oder in die meiner Verlobten schlüpfst. Du solltest dich als Schauspielerin betrachten, die eine Rolle spielt.“

„Apropos Schauspielerinnen, findest du nicht, dass es weniger kompliziert wäre, wenn du einfach eine Schauspielerin engagiert hättest?“

„Schauspielerinnen sind wohl kaum respektabel.“

„Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Hutmacherin verdienen, auch nicht. Wenigstens nicht in deiner Welt.“

„Du verdienst dir deinen Lebensunterhalt nicht mehr als Hutmacherin.“

„Ich glaube, ich hatte schon erwähnt, dass du wirklich lästig bist.“

„Du solltest dir merken, dass es nicht ratsam ist, seinen Arbeitgeber zu beleidigen.“

Hannahs Augen funkelten. „Das wäre der perfekte Grund, um diese angebliche Verlobung zu lösen! Du kannst Mr Lamansky erzählen, dass wir einen furchtbaren Streit hatten, weil ich die unangenehme Gewohnheit habe, dich zu beleidigen.“

„Du willst doch wohl nicht kneifen, Hannah? Und nein, so etwas werde ich ihm bestimmt nicht erzählen. Wir haben eine Abmachung, die uns beiden nützt.“

Hannah warf resigniert die Hände in die Luft und seufzte laut. „Also gut, du hast gewonnen! Ich muss mein Gewissen wohl einfach damit beruhigen, dass ich Schauspielerin zu der Liste meiner Berufe hinzufügen kann.“

„Das ist kein Grund zu schmollen.“

Hannah tat diese Bemerkung mit einer Handbewegung ab und schaute ihn dann stirnrunzelnd an. „Warum hast du Mr Lamansky erzählt, dass ich einen Laden aufmachen will? Und warum sollte er Mrs Gould ausrichten, dass du ihr die Adresse meiner Boutique mitteilen wirst, sobald sie eröffnet ist?“

Oliver lehnte sich zurück und zog die Seiten seines fast knopflosen Jacketts über seinen schlanken Bauch. „Mrs Gould ist die Frau von Jay Gould. Dieser Mann besitzt ein Vermögen. Ihm gehören über zehntausend Meilen Eisenbahnschienen, und es gibt Gerüchte, dass er vor Kurzem weitere Millionen investiert hat. Wenn eine Frau wie Mrs Gould von dir begeistert ist, bekommst du mehr Aufträge, als du bewältigen kannst.“ Sein Lächeln wurde schwächer. „Du solltest vielleicht darüber nachdenken, andere Näherinnen einzustellen, und kalkulieren, wie viel du ihnen aufgrund der zu erwartenden Gewinne bezahlen kannst.“

Hannah hatte plötzlich das Gefühl, ihr Schädel würde jeden Augenblick zerspringen. „Das ist zwar eine interessante Idee, aber ich muss dir sagen, dass ich nicht die Absicht habe –“ Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach sie. Die Tür ging auf, und fünf Frauen, die alle weiße Blusen und dunkelblaue Röcke trugen, tänzelten mit Zeitschriften beladen in den Raum.

„Ah, die Damen kommen wie gerufen!“, rief Oliver aus und stand auf. Er bedachte die Frauen mit einem Lächeln und schritt auf die andere Seite des Zimmers. Dort setzte er sich in einen Sessel, der unter einem Fenster stand, nahm eine Zeitung aus einem Korb zu seinen Füßen und schlug sie auf. „Viel Spaß, Liebling!“ Mit diesen Worten verschwand er hinter der Zeitung.

„Willst du bei der Auswahl meiner Garderobe nicht mitreden?“, fragte sie.

Oliver spähte über dem Zeitungsrand. „Du weißt, was du willst, und du hast gewiss einen besseren Sinn für Mode als ich.“

Hannah betrachtete, wie er wieder verschwand, und war ein wenig unsicher. Er war ein komplizierter Mann, den sie beim besten Willen nicht verstand. Als sich die Verkäuferinnen vorstellten, riss Hannah ihre Gedanken von ihm los und war bald unter Modezeitschriften und Stoffmustern begraben. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, wurden in einer schnellen Abfolge Kleider in den Raum geschleppt, gefolgt von Schuhen, Handschuhen, Hüten, Unterwäsche und Handtäschchen.

Die Verkäuferinnen bewunderten jedes Kleid an ihr und machten ihr bei jeder Anprobe begeisterte Komplimente.

Oliver hatte offenbar ganz genau gewusst, was er tat, als er ihr versprochen hatte, dass sie Komplimente bekäme.

„Dieses Kleid sieht einfach entzückend an Ihnen aus!“, rief eine Frau aus, die, wenn Hannah sich recht erinnerte, Edie hieß. Hannah trat hinter dem Seidenvorhang hervor und strich über die Falten eines hübschen gelben Kleides. „Mr Addleshaw, sieht Miss Peabody in diesem Zitronengelb nicht hinreißend aus?“

Oliver ließ die Zeitung sinken und sein Blick wanderte über sie. Etwas Warmes leuchtete in seinen Augen auf. „Ja, wirklich hinreißend.“

Bei seiner Musterung wurden ihre Knie weich. Hannah fühlte, wie eine Hitze in ihren Zehen einsetzte, an ihrem Körper nach oben zog und sich schließlich in ihrem Gesicht festsetzte. Sie errötete nur sehr selten, aber seit sie Oliver kannte, passierte es ständig.

„Danke“, murmelte sie.

Oliver deutete auf ein anderes Kleid. „Ich würde dieses Kleid auch gern an ihr sehen.“

Hannah warf einen Blick auf das Kleid, auf das er deutete, und runzelte die Stirn. „Dieses Kleid ist viel zu elegant.“

„Dann ist es das perfekte Kleid für die Oper.“

„Ich wusste nicht, dass wir in die Oper gehen.“

Oliver lächelte. „Wir gehen auf jeden Fall in die Oper. Das bedeutet, dass du ein elegantes Abendkleid brauchst.“ Er nickte Edie zu. „Es bereitet mir so viel Freude, meine Verlobte zu verwöhnen.“

Hannah musste ihre gesamte Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht die Augen zu verdrehen. Oliver fand diese Situation offenbar ausgesprochen amüsant, aber sie fürchtete, dass er sich von der Rolle, in die er geschlüpft war, ein wenig zu sehr hinreißen ließ. Bevor sie ihm widersprechen konnte, lächelte Edie entzückt.

„Wie schön, einen Mann zu sehen, der so verliebt und so begeistert davon ist, seine Verlobte mit Geschenken zu überhäufen!“, rief die Verkäuferin aus. „Wir hier bei ‚Arnold Constable & Company‘ sind Ihnen dabei sehr gern behilflich.“ Sie klatschte in die Hände. „Mädchen, wir müssen Miss Peabody in dieses blaue Kleid helfen, und … ja, ich denke, das goldene Kleid, das neu aus Paris eingetroffen ist und im Designersalon hängt, passt perfekt zu ihren Haaren.“ Sie nickte Hannah zu. „Ich lasse einige der Kleider, an denen nichts geändert werden muss, für Sie einpacken, wenn Sie Ihre Wahl getroffen haben.“

„Wir nehmen alle“, verkündete Oliver, noch bevor Hannah etwas entgegnen konnte.

Offenbar hatte er nicht nur seine Knöpfe, sondern auch den Verstand verloren, als er ihr auf der Damenmeile nachgelaufen war.

Hannah warf Oliver einen Blick zu, den die Verkäuferinnen hoffentlich als verliebtes Lächeln deuteten, und wandte sich dann an Edie. „Wäre es möglich, dass ich mit meinem … äh … Verlobten kurz allein spreche?“

„Aber natürlich, Miss Peabody.“ Edie nickte den anderen Verkäuferinnen zu. „Wir warten draußen.“

Einen Moment später hatten sie den Raum verlassen. Hannah hob ihren Rocksaum leicht an und marschierte auf Oliver zu. Sie beugte sie sich zu ihm hinab und senkte die Stimme, da sie von den Verkäuferinnen nicht gehört werden wollte. Sie wusste ganz genau, dass Edie und die anderen Frauen wahrscheinlich an der Tür lauschten.

„Du warst sehr großzügig mit dem Geld, das du mir für den Kleiderkauf gegeben hast, aber ich glaube nicht, dass es für diese ganzen Sachen hier reicht.“ Sie richtete sich auf und deutete auf die Schuhe, Hüte und Kleider, die den Raum übersäten. „Ich finde, wir sollten drei oder vier Sachen aussuchen und dann gehen.“

„Wirklich?“ Oliver bedachte sie mit einem sonderbaren Lächeln. Dann erhob er sich und schritt zur Tür. Er zog sie schwungvoll auf. Zwei der Verkäuferinnen purzelten ins Zimmer und landeten vor seinen Füßen, während die anderen im Türrahmen standen und sich bemühten, möglichst unschuldig auszusehen.

Oliver zuckte mit keiner Wimper, als er den Damen auf die Beine half und sie dann anlächelte. Für diese höfliche Geste erntete er ein wehmütiges Seufzen und einen verträumten Wimpernaufschlag. „Wir nehmen alles hier. Setzen Sie es bitte auf meine Rechnung.“ Er wandte sich an Hannah. „Ich schaue mich noch ein wenig um. In einer Stunde hole ich dich ab.“ Damit nickte Oliver den Damen zu und verließ den Raum.

9

Saeule_neu_ok.tif

Zwei Stunden später tauchte Hannah ihren Löffel in einen Eisbecher und schob ihn dann genüsslich in ihren Mund. Sie konnte das entzückte Stöhnen, das sich ihr entringen wollte, nur mit Mühe zurückdrängen. Hannah ließ die Köstlichkeit auf ihrer Zunge zergehen, bevor sie schließlich schluckte und den Löffel erneut in ihren Eisbecher tauchte. Als sie merkte, dass Oliver sein Eis gar nicht aß, sondern sie nur interessiert beobachtete, hielt sie inne.

„Schmeckt es dir?“, fragte er.

„So etwas Köstliches habe ich noch nie gegessen.“

Oliver runzelte die Stirn und beugte sich über den kleinen Tisch in der Eisdiele. „Du hast noch nie Eis gegessen?“

„Doch, jetzt schon.“

Etwas, das verdächtig an Mitleid erinnerte, flackerte in seinen Augen auf. „Das tut mir leid, Hannah. Niemand sollte warten müssen, bis er über zwanzig ist, um ein Eis zu essen.“

Sie hob das Kinn. „Zu Mitleid besteht kein Grund, Oliver. Ja, ich führe ein völlig anderes Leben als du, aber ich habe mich nie darüber beklagt, dass mir bis jetzt der Genuss von Eis verwehrt geblieben ist. Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.“

Er schaute sie nachdenklich an. „Das stimmt wahrscheinlich.“

„Das ist alles? Du versuchst nicht, mir andere traurige Erlebnisse aus meiner Vergangenheit zu entlocken?“

„Willst du über traurige Erlebnisse sprechen?“

„Nicht unbedingt.“

„Gut. Dann sollten wir über die Oper sprechen. Ich finde ja, dass man montags in die Oper gehen sollte, da man dort an diesem Wochentag die meisten Mitglieder der Gesellschaft trifft. Wenn es mitten in der Saison wäre, würden wir danach zu einem Ball gehen, der dir sicher auch sehr gefallen würde.“

„Wenn ich ein Mitglied der Gesellschaft wäre, würde mir ein Ball bestimmt gefallen. Aber ich bin kein Mitglied der Gesellschaft. Und deshalb sollten wir nicht über die Oper und Bälle sprechen, sondern darüber, was du dir nur dabei gedacht hast, mir so viele Kleider zu kaufen.“

Er leckte einen Tropfen geschmolzenes Eis von seinem Löffel. „Ich spreche lieber über die Oper. Magst du sie?“

„Natürlich mag ich die Oper. Und ja, ich hatte schon oft das Vergnügen, in die Oper zu gehen. Miss Plum, eine meiner Mitbewohnerinnen, bekommt oft Karten für verschiedene Aufführungen in der Stadt.“

Oliver legte seinen Löffel zur Seite. „Ich dachte, du wohnst bei deiner Großmutter?“

„Wie kommst du denn darauf? Ah … dein Kutscher!“

„Darren hat mir berichtet, dass dich deine Großmutter an der Tür erwartet hat, als er dich gestern nach Hause brachte.“

„Ich habe Darren nicht gesagt, dass Mrs Palmer meine Großmutter wäre. Er hat es einfach angenommen. Wahrscheinlich, weil es ihm Schuldgefühle bereitet hat, mich vor einem Haus abzusetzen, das ihm nicht ganz geheuer war.“

„Mrs Palmer ist also nicht deine Großmutter?“

„Nein, ihr gehört das Mietshaus, in dem ich wohne. Ich fürchte, sie hat unerfreuliche Schlussfolgerungen gezogen, als sie deine vornehme Kutsche sah.“

„Wie kommst du darauf?“

„Weil sie buchstäblich direkt in die Kirche gelaufen ist und mit Pastor Gilmore gesprochen hat. Kurz danach stand er vor meiner Tür. Wie ich schon erwähnt hatte, kannst du in naher Zukunft mit einem Besuch von ihm rechnen.“

„Ist dieser Pastor Gilmore ein Verwandter von dir?“

„Nein, aber er ist ein väterlicher Freund, der es als seine Pflicht betrachtet, auf meine Sicherheit und meinen guten Ruf zu achten.“ Sie strich mit dem Löffel durch die letzten Reste ihres Eises. „Ich bin nicht ganz sicher, was er vorhat, aber ich warne dich lieber vor.“

„Das ist wirklich …“ Oliver hielt inne und beugte sich vor, bis er nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war und sie seinen Atem auf ihrer Wange spüren konnte. Ihr Puls beschleunigte sich sofort, verlangsamte sich aber schnell wieder, als sich seine Brauen kritisch zusammenzogen. „Diese Miss Plum, mit der du zusammenwohnst … Das ist nicht zufällig Miss Lucetta Plum?“

„Doch.“

Seine Brauen zogen sich noch enger zusammen. „Du hast mir nie erzählt, dass du mit einer Schauspielerin zusammenwohnst.“

„Du hast mich nie gefragt. Aber um eines sofort klarzustellen: Lucetta ist eine ehrbare Frau.“

„Sie ist Schauspielerin. Und ich habe etwas ganz anderes gehört.“

Hannah spürte, wie Wut in ihr hochstieg. „Du solltest doch aus eigener Erfahrung wissen, dass Gerüchte nicht immer wahr sind.“

„Hat Miss Plum einen Mr Silas Ruff erwähnt?“

„Natürlich.“

„Trotzdem besitzt du die Kühnheit, mir weismachen zu wollen, sie wäre ehrbar?“

Ihre Wut kochte fast über. „Ich weiß nicht, was dir dieser Mr Ruff erzählt hat, aber Lucetta kann diesen Mann nicht ausstehen.“

„Wirklich?“

„Wirklich!“, fauchte Hannah. Sie wollte ihren Löffel wieder in ihr Eis tauchen, musste aber feststellen, dass ihr Becher schon leer war. Einen Moment schaute sie ihn sehnsüchtig an und faltete dann die Hände in ihrem Schoß.

„Möchtest du noch eine Portion?“

„Auf keinen Fall!“, fauchte sie und verzog das Gesicht, als sie ihren schnippischen Ton bemerkte. Sie räusperte sich. „Das Eis war wirklich köstlich. Es war sehr freundlich von dir, mich zu einem Eis einzuladen.“

„Ich bin die Freundlichkeit in Person.“

„So weit würde ich nun auch wieder nicht gehen.“

Zu ihrer Überraschung lachte Oliver schallend. „Hm, vielleicht hast du recht. Da wir offenbar in Bezug auf Schauspielerinnen und ihre Ehrbarkeit nicht einer Meinung sind, solltest du mir jetzt lieber erzählen, ob dir das Einkaufen Spaß gemacht hat.“

Hannah kam zu dem Schluss, dass es nicht sehr höflich wäre, sich noch länger über diesen Mann zu ärgern, und lächelte. „Ich kann mich wirklich nicht erinnern, schon jemals so viel Spaß gehabt zu haben. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil du so viel Geld für mich ausgegeben hast.“

Oliver zuckte die Achseln. „Dafür besteht kein Grund. Außerdem war es ja meine eigene Idee.“ Er legte seine Serviette auf den Tisch und schob seinen Stuhl zurück. „Wenn du wirklich kein Eis mehr möchtest, würde ich vorschlagen, dass wir jetzt gehen.“

Hannah biss sich auf die Lippe. „Bitte vergib mir, Oliver. Ich halte dich von deiner Arbeit ab, nicht wahr?“ Oliver kam um den Tisch herum und half ihr mit einer Hand auf, während er mit der anderen mühelos ihren Stuhl aus dem Weg schob. Sie verkniff sich ein Seufzen. Es war wirklich angenehm, wenn ein gut aussehender Mann einer Frau seine Aufmerksamkeit schenkte. Als Oliver ihren Arm ergriff, wurden ihre Knie weich. Doch dann begriff sie, dass sie sich vollkommen lächerlich benahm. Sie hatten eine Geschäftsvereinbarung, weiter nichts. Das durfte sie unter keinen Umständen vergessen.

„Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte Oliver, als er sie zur Tür führte. „Es ist ein schöner Tag und ich genieße deine Gesellschaft. Es kommt nicht oft vor, dass ich mich mit einer hübschen Frau unterhalten kann, ohne befürchten zu müssen, dass mich ihr Vater später zwingen wird, ihr einen Heiratsantrag zu machen.“

„Das liegt daran, dass wir schon verlobt sind“, grinste sie, was ihm ebenfalls ein Grinsen entlockte.

Diese Geste hatte eine spürbare Wirkung auf ihren gesamten Körper. Wenn er grinste, war er viel zu attraktiv. Und wenn er beiläufig erwähnte, wie hübsch sie sei und wie sehr er ihre Gesellschaft genoss. Wenn er so weitermachte, würde es ihr immer schwerer fallen, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren, und … Sie stolperte, da ihr plötzlich etwas bewusst wurde.

Sie hatte einen riesengroßen Fehler begangen!

Hannah hatte eingewilligt, Oliver für gesellschaftliche Anlässe zur Verfügung zu stehen, aber sie hatte keinen einzigen Moment in Erwägung gezogen, dass sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlen könnte.

Sie musste ihre Abmachung widerrufen. Sie musste … Plötzlich fiel ihr auf, dass alle Gäste in der Eisdiele sie beobachteten. Sie atmete tief ein und konnte erst wieder ausatmen, als sie draußen auf dem Gehweg standen.

„Stimmt etwas nicht? Du wirst ganz blau im Gesicht.“

Hannah atmete keuchend ein. Etwas stimmte ganz und gar nicht, aber das konnte sie Oliver unmöglich erklären. Was würde er denken, wenn er erfuhr, dass sie ihn attraktiv fand? Würde er dieses Geständnis einfach hinnehmen oder wäre er entsetzt und bräche den Kontakt zu ihr ab oder … Sie holte wieder tief Luft, atmete hörbar aus und erinnerte sich schließlich daran, dass er ihr eine Frage gestellt hatte. „Alle haben uns beobachtet, und das hat mich –“

„– veranlasst, das Atmen einzustellen?“

„Wenn ich nervös werde, vergesse ich immer zu atmen.“

„Dann solltest du dankbar sein, dass du nicht der Typ zu sein scheinst, der oft nervös wird. Aber du musst dich daran gewöhnen, dass dich die Leute beobachten. Man wird dich immer beobachten, wenn du in meiner Begleitung bist.“

In diesem Moment wurde ihr in vollem Umfang bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. Panik erfasste sie. Es war einfach lächerlich zu glauben, sie könnte sich wie selbstverständlich in Olivers gesellschaftlichen Kreisen bewegen.

„Ich glaube, das ist unmöglich“, brachte sie schließlich mühsam über die Lippen.

„Dann stehen dir einige unangenehme Wochen bevor, denn ich werde immer beobachtet.“

Sie verlangsamte ihre Schritte. „Wirklich?“

„Ich bin ein sehr vermögender Mann, Hannah. Damit ist eine gewisse Aufmerksamkeit verbunden.“

„Ich verabscheue diese Aufmerksamkeit.“

„Ich bin auch nicht immer darauf erpicht, aber das ist der Preis, den ein Mann meines gesellschaftlichen Standes zahlen muss.“ Er lächelte. „Aber vergessen wir das jetzt. Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang, bevor wir zur Kutsche zurückkehren, oder musst du nach Hause?“

„Musst du nicht wieder an die Arbeit?“

„Ehrlich gesagt, bin ich heute nicht in der Stimmung zu arbeiten.“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das eine völlig neue Erfahrung für dich ist“, merkte Hannah an, bevor ihre Aufmerksamkeit plötzlich zu einem kleinen Mädchen wanderte, das Blumen verkaufte. „Gütiger Himmel! Das ist ja die kleine Clarice. Aber wo ist ihre Mutter?“ Sie zog Oliver mit sich und eilte zu Clarice. „Hallo, Liebes.“

Clarices Gesicht strahlte auf. Als sie Hannah angrinste, kam eine große Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen zum Vorschein. „Miss Peabody, was machen Sie in einer so vornehmen Gegend und mit …“ Sie zog die Nase kraus und starrte Oliver mit offenem Mund an.

„Ich musste einige Einkäufe erledigen. Wo ist deine Mutter?“

„Sie ist bei meinem kleinen Bruder zu Hause. Donnie geht es heute nicht gut. Deshalb konnte Mama ihn nicht bei Mrs Golhem lassen, die normalerweise auf uns aufpasst.“ Sie schob ihre schmächtige Brust vor. „Ich hab ihr gesagt, dass ich groß genug bin, um die Blumen zu verkaufen, und da wir erst Milch kaufen können, wenn …“ Sie sprach nicht weiter, sondern begann, mit ihrem alten Schuh in der Erde zu scharren.

„Ich habe Mr Addleshaw gerade erzählt, wie sehr ich Blumen liebe“, erklärte Hannah und schaute Oliver vielsagend an. „Hat Clarice nicht wirklich hübsche Blumen?“

Oliver bedachte zu Hannahs Enttäuschung den Blumenkorb, den Clarice in den Händen hielt, mit einem sehr kritischen Blick und runzelte die Stirn. „Sie sehen verwelkt aus, und ich –“

Sie trat ihm auf den Fuß.

„Au! Du bist mir auf den Fuß getreten.“

„Ich trete dir gleich auch auf den anderen Fuß, wenn du nicht …“ Sie deutete mit dem Kopf auf Clarice, die den Kopf gesenkt hatte und die schmutzige Straße unter ihren Schuhen anstarrte.

Oliver blinzelte. „Ach ja, natürlich! Ich soll dir eine Blume kaufen.“ Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche. „Wie viel kostet denn eine Blume?“

Clarice hielt fünf Finger hoch.

„Ich soll fünf Dollar für eine verwelkte Blume zahlen?!“

Hannah stapfte auf seinen anderen Fuß und drückte kräftig seinen Arm. „Fünf Cent, Oliver. Eine Blume kostet fünf Cent.“ Sie ging neben Clarice in die Hocke und öffnete ihr Handtäschchen, holte fünf Dollar heraus, drückte diese dem Kind in die kleine Hand und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Bring das deiner Mama, Schatz! Und sag ihr, dass du deine hübschen Blumen alle verkauft hast.“

„Das ist viel zu viel Geld“, flüsterte Clarice.

„Nein“, erklärte Hannah bestimmt und nahm die verwelkten Blumen aus Clarices Korb. „Sag deiner Mama, ich hoffe, dass es Donnie bald wieder besser geht.“ Sie schaute Oliver mit zusammengekniffenen Augen an, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon. Hoffentlich fühlte er sich nicht gezwungen, ihr zu folgen. Leider wurde schnell deutlich, dass er nicht gerade begeistert war, wenn er einfach stehen gelassen wurde, denn ein paar Sekunden später hatte er sie eingeholt.

„Du bist aufgebracht“, stellte er fest, während er wieder neben ihr herging.

„Du bist wirklich ein Genie.“

„Das war nicht sehr nett von mir, nicht wahr?“

Hannah blieb abrupt stehen. „Nein! Clarice ist ein Kind, Oliver. Sie hat einen kranken kleinen Bruder zu Hause. Ihre Mutter kann ihn nicht zum Arzt bringen, weil sie sich das nicht leisten können. Ich finde es sehr beunruhigend, dass du keinen Funken Mitgefühl für Menschen hast, denen es weniger gut geht als dir.“

„Ich habe noch nie wirklich Notiz von Straßenverkäufern genommen oder mir über ihre Not Gedanken gemacht“, gab er zögerlich zu.

Hannah deutete um sich. „Dann mach die Augen auf! Schau dir diese vielen Menschen an, die versuchen, irgendwie zu überleben. Siehst du die Frau da drüben, die Äpfel verkauft? Sie heißt Martha. Sie hat mir einmal einen Apfel geschenkt, als ich fast am Verhungern war, weil ich von einem Tag auf den anderen ganz auf mich allein gestellt war. Sie pflegt eine ältere Verwandte und verdient sich ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Äpfeln oder was sie sich sonst von den feinen Restaurants erbettelt, die alles wegwerfen, was nicht ganz perfekt ist.“ Sie deutete auf einen Mann, der einen Wagen schob. „Das ist Hermann. Er verkauft Sandwiches. Seine Sandwiches sind übrigens die besten, die ich je gegessen habe.“

Oliver trat näher. „Du hältst mich für einen Snob.“

„Du bist ein Snob.“

Als sich Olivers Miene verdunkelte, dachte Hannah, er würde sie gleich anschreien, doch dann nahm er sie zu ihrer Überraschung am Arm und begann, sie von einem Straßenhändler zum nächsten zu führen.

Eine Viertelstunde später hatte Hannah die Hände mit den verschiedensten Waren voll – angefangen bei Marthas Äpfeln über Hermanns Sandwiches bis hin zu einigen Perlenketten, die eine blinde Frau verkaufte. Ihre Meinung über Oliver Addleshaw begann, sich zu ändern. Er hatte sich anfangs im Umgang mit den Menschen, die ihre Waren feilboten, sichtlich unwohl gefühlt, doch als sie Hermanns Wagen erreicht hatten, hatte sich plötzlich etwas an ihm verändert. Hermann hatte ein besonderes Sandwich für ihn zubereitet. Nach dem ersten Bissen und einem lauten genussvollen Stöhnen hatte Oliver angefangen, sich mit dem Mann zu unterhalten. Alles Mögliche hatte er ihn gefragt: woher er seine Zutaten bekam, wie viele Kunden er im Laufe eines Tages hatte … Als Hermann ihnen schließlich erklärt hatte, dass er weiterziehen müsse, um seine Sandwiches zu verkaufen, hatte Oliver ihm ein großzügiges Trinkgeld gegeben und versprochen, dass er seinen Geschäftspartnern und auch seiner Familie und seinen Freunden sagen werde, dass sie Hermanns Essen unbedingt probieren müssten.

Hannahs Meinung von Oliver stieg, je länger sie ihn im Gespräch mit Hermann beobachtete. Gleichzeitig beunruhigte sie dies. Sie hatte schon erkannt, dass sie sich ein wenig zu ihm hingezogen fühlte, aber die Entdeckung, dass er tatsächlich eine mitfühlende Seite hatte, auch wenn diese Seite tief in ihm vergraben gewesen war, machte sie nervös.

„Du hattest recht, Hannah. Hermann hat wirklich köstliche Sandwiches“, sagte Oliver, als er auf eine leere Bank zusteuerte und sich setzte. „Glaubst du, er hätte Interesse daran, einen Laden zu eröffnen?“

„Denkst du eigentlich jemals auch an etwas anderes als an Geschäfte?“

„Natürlich.“

Sie biss in den Apfel, den sie von Martha bekommen hatte, und neigte den Kopf zur Seite. „Und an was?“

„Äh … nun ja …“

„Gehst du irgendwelchen Zerstreuungen nach?“

„Zerstreuungen?“

„Was machst du gern, wenn du nicht arbeitest? Außer, in die Oper zu gehen?“

„Ich segle gern. Zählt das als Zerstreuung?“

„Ja. Wenn du regelmäßig segelst.“

„Definiere ‚regelmäßig‘.“

„Ich weiß nicht. Ein paar Mal im Monat vielleicht, wenn es das Wetter zulässt.“

Oliver schüttelte den Kopf. „Dann ist es keine Zerstreuung.“

„Aber du bist gern auf dem Wasser?“

„Sehr gern. Ich habe sogar darüber nachgedacht, in den Jachtclub einzutreten, aber ich war in letzter Zeit sehr eingespannt.“

Plötzlich wurde ihr leicht schwindelig. „Sag nicht, dass du eine eigene Jacht besitzt.“

„Bezeichnest du mich wieder als Snob, wenn ich das zugebe?“

„Wahrscheinlich.“

„Na ja, meinetwegen. Solange du mir nicht wieder auf den Fuß trittst. Um zu deiner Frage zurückzukommen: Ja, ich besitze eine eigene Jacht. Sie ist eine echte Schönheit.“

„Aber du kommst selten dazu, damit aufs Wasser hinauszufahren, obwohl du gern segelst?“

„Ich verdiene auch gern Geld.“

„Im Leben geht es um mehr, als darum, Geld zu verdienen.“

„Das sehe ich nicht so.“

Sie schaute ihn einen Moment an. „Ja, ich glaube dir, dass du das nicht sehen kannst. Apropos Geld, ich muss dir das Geld zurückgeben, das du mir gestern gegeben hast. Da du die Kleider bezahlt hast, brauche ich es ja jetzt nicht mehr.“ Sie wollte ihr Handtäschchen öffnen.

„Behalte es. Du kannst es als Bonus betrachten, weil du Miss Birmingham und ihrem hässlichen Verhalten ausgesetzt warst.“

„Das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Wie willst du denn dein Ziel erreichen, dir ein unverschämt großes Vermögen anzuhäufen, wenn du dein Geld immer so großzügig ausgibst?“

„Willst du mir etwa Vorschriften machen?“

„Jemand muss doch die Stimme der Vernunft sein.“

Oliver beugte sich näher zu ihr und betrachtete sie nachdenklich, als würde er aus ihr einfach nicht schlau. Zum ersten Mal ging es Hannah genauso wie ihm: Sie wurde aus ihm auch nicht schlau.

Er war ein Snob, aber in ihm steckte noch etwas anderes. Etwas, das ihm wahrscheinlich nicht einmal selbst bewusst war.

Die Zeit schien stillzustehen. Die Menschen um sie herum traten immer mehr in den Hintergrund und für Hannah gab es in diesem Moment nichts anderes auf der Welt als Olivers Gesicht.

Es war ein interessantes Gesicht, das im Bruchteil einer Sekunde bedrohlich und einschüchternd wirken konnte. Aber im Moment wirkte es nicht einschüchternd. Es wirkte … verwirrt und gleichzeitig faszinierend. Er war einer der begehrtesten Junggesellen des Landes, und trotzdem war er ganz anders, als sie erwartet hatte.

Er war nett – auf eine stürmische und eigenwillige Weise. Er war sehr großzügig – was ihn selbst zu überraschen schien. Und er war viel zu attraktiv, selbst in einem schlecht sitzenden Jackett, an dem fast alle Knöpfe fehlten.

„Hannah, huhu! Hannah Peabody, hier drüben!“

Hannah wandte ihre Aufmerksamkeit von Oliver ab und richtete sie auf die beiden Frauen, die auf der anderen Straßenseite aufgeregt winkten. Sie hob lächelnd eine Hand und winkte zurück. „Das sind Ginger und Tawny. Ich habe sie –“ Sie brach abrupt ab, als sich Oliver plötzlich aufrichtete, sie am Arm packte und anfing, sie über den Gehweg zu zerren. In die entgegengesetzte Richtung, fort von den Frauen, die ihren Namen gerufen hatten.

Sie riss sich von ihm los. „Hast du den Verstand verloren? Das sind Freundinnen von mir. Du kannst mich doch nicht einfach so mitzerren!“

„Solche Freundinnen sind nichts für dich. Sie laufen uns auch noch nach! Wir müssen sofort in die Kutsche steigen.“

Hannah ignorierte ihn und schaute sich um. Ginger und Tawny kamen tatsächlich auf sie zugelaufen. Die Federboas, die sie sich um den Hals geschlungen hatten, flatterten hinter ihnen im Wind.

„Denk nicht einmal daran, mit ihnen zu sprechen!“, knurrte Oliver.

Hannah versteifte sich, hob das Kinn und wandte sich um. Trotzig ging sie Ginger und Tawny entgegen, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie damit das Ende ihrer Beziehung zu Oliver Addleshaw besiegelte.