Buch
Jack Reacher ist ein Mann mit Vergangenheit. Jahrelang hat er als Militärpolizist Gewaltverbrecher zur Strecke gebracht. Doch seit seiner Entlassung aus der Army reist er ziellos durchs Land. Auf der Spur eines längst vergessenen Bluessängers ist er nach Margrave gekommen und landet im Gefängnis – unter Mordverdacht.
Als Reacher erfährt, dass der grausam misshandelte Tote sein Bruder ist, gerät seine Welt aus den Fugen. Was hatte der angesehene Fahnder aus dem Washingtoner Finanzministerium in Margrave zu suchen? Was ist das Geheimnis dieser gottverlassenen Kleinstadt, die von einer Stiftung des reichsten Mannes im Ort zu einer sauberen Mustergemeinde herausgeputzt worden ist?
Autor
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.
Die Jack-Reacher-Romane bei Blanvalet:
1. Größenwahn • 2. Ausgeliefert • 3. Zeit der Rache • 4. Sein wahres Gesicht • 5. In letzter Sekunde • 6. Tödliche Absicht • 7. Der Janusmann • 8. Die Abschussliste • 9. Sniper • 10. Way Out • 11. Trouble • 12. Outlaw • 13. Underground • 14. 61 Stunden • 15. Wespennest • 16. Der Anhalter • 17. Der letzte Befehl • 18. Die Gejagten
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Lee Child
Größenwahn
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Marie Rahn
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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Killing Floor«
bei Bantam Press, London 1997.
Copyright der Originalausgabe © 1997 by Lee Child
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1998 by Wilhelm Heyne Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright dieser Ausgabe © 2017 by Blanvalet Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Amazon Content Services LLC
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21456-2
V003
www.blanvalet.de
Ich wurde in Eno’s Diner verhaftet. Um zwölf Uhr. Ich aß gerade Rühreier und trank Kaffee. Kein Mittagessen, ein spätes Frühstück. Ich war durchnässt und müde nach einem langen Marsch im strömenden Regen. Die ganze Strecke vom Highway bis zum Stadtrand.
Das Diner war klein, aber hell und sauber. Brandneu, konzipiert wie ein umgebauter Eisenbahnwaggon. Schmal, mit einer langen Theke auf der einen Seite und einer Küche, die nach hinten hinausging. Auf der gegenüberliegenden Seite Essnischen. Ein Eingang an der Stelle der Mittelnische.
Ich saß in einer Nische am Fenster und las in einer Zeitung, die jemand liegengelassen hatte, über die Wahlkampagne eines Präsidenten, den ich das letzte Mal schon nicht gewählt hatte und dieses Mal auch nicht wählen würde. Draußen hatte es aufgehört zu regnen, aber das Glas war noch übersät mit glänzenden Tropfen. Ich sah, wie die Streifenwagen auf den Kiesplatz einbogen. Sie fuhren schnell und kamen knirschend zum Stehen. Lichtsignale blitzten und blinkten. Rotes und blaues Licht auf den Regentropfen am Fenster. Wagentüren flogen auf, Polizisten sprangen heraus. Zwei aus jedem Wagen, die Waffen im Anschlag. Zwei Revolver, zwei Schrotflinten. Das war schweres Geschütz. Ein Revolver und eine Flinte rannten auf die Rückseite. Die beiden anderen stürmten zur Tür.
Ich saß nur da und beobachtete sie. Ich wusste, wer sich im Diner befand. Ein Koch im hinteren Teil. Zwei Kellnerinnen. Zwei alte Männer. Und ich. Dieser Einsatz galt mir. Ich war noch nicht mal eine halbe Stunde in der Stadt. Die anderen fünf waren wahrscheinlich schon ihr ganzes Leben hier. Gäbe es ein Problem mit einem von ihnen, würde ein verlegener Sergeant zögernd hereinkommen. Er würde eine Entschuldigung murmeln. Er würde mit leiser Stimme sprechen. Er würde den Betreffenden bitten, mit ihm zum Revier zu kommen. Also galten das schwere Geschütz und der ganze Auftrieb nicht ihnen. Das galt mir. Ich stopfte mir die Rühreier in den Mund und legte einen Fünfer unter den Teller. Faltete die Zeitung zu einem kleinen Viereck und schob sie in meine Manteltasche. Hielt meine Hände über dem Tisch und leerte die Kaffeetasse.
Der Typ mit dem Revolver blieb an der Tür. Er ging in die Hocke und zielte beidhändig mit der Waffe. Auf meinen Kopf. Der Typ mit der Repetierflinte kam näher. Die beiden waren schlank und durchtrainiert. Gepflegt und ordentlich. Agierten wie aus dem Lehrbuch. Der Revolver an der Tür konnte den ganzen Raum mit großer Genauigkeit in Schach halten. Die Flinte in meiner Nähe konnte mich über das ganze Fenster verteilen. Die umgekehrte Anordnung wäre ein Fehler gewesen. Der Revolver konnte mich in einem Nahkampf verfehlen, und von der Tür aus würde ein Schrotschuss nicht nur mich, sondern auch den anderen Officer und den alten Mann in der hinteren Nische töten. Bis jetzt machten sie alles richtig. Daran gab es keinen Zweifel. Sie waren im Vorteil. Auch daran kein Zweifel. Die enge Nische hielt mich gefangen. Ich hatte zu wenig Bewegungsspielraum, um großartig etwas zu machen. Also legte ich meine Hände auf den Tisch. Der Officer mit dem Gewehr kam näher.
»Keine Bewegung! Polizei!«, schrie er.
Er schrie, so laut er konnte. Stieß seine ganze Anspannung aus und versuchte mich einzuschüchtern. Agierte wie aus dem Lehrbuch. Viel Lärm und Aggression, um die Zielperson weichzumachen. Ich hob die Hände. Der Typ mit dem Revolver löste sich von der Tür. Der Typ mit der Flinte kam näher. Zu nahe. Der erste Fehler. Im Notfall hätte ich mich auf den Lauf der Flinte stürzen und ihn nach oben drücken können. Ein Schuss in die Decke vielleicht und ein Ellbogen im Gesicht des Polizisten, und die Waffe wäre mein gewesen. Der Typ mit dem Revolver hatte seinen Schusswinkel verengt und konnte nicht das Risiko eingehen, seinen Partner zu treffen. Es hätte übel für sie enden können. Aber ich blieb einfach sitzen, mit erhobenen Händen. Der Typ mit der Flinte sprang immer noch schreiend herum.
»Runter auf den Boden!«, brüllte er.
Ich glitt langsam aus der Nische und streckte dem Officer mit dem Revolver meine Handgelenke entgegen. Ich würde mich nicht auf den Fußboden legen. Nicht für diese Jungs vom Lande. Und wenn sie das ganze Police Department mit Haubitzen mitgebracht hätten.
Der Typ mit dem Revolver war ein Sergeant. Er blieb schön ruhig. Die Flinte hielt mich in Schach, als der Sergeant seinen Revolver zurück ins Halfter steckte, die Handschellen von seinem Gürtel löste und sie um meine Handgelenke schnappen ließ. Das Verstärkungsteam kam durch die Küche. Sie gingen um die Theke herum. Nahmen hinter mir Aufstellung. Tasteten mich nach Waffen ab. Äußerst gründlich. Ich sah, wie der Sergeant ihr Kopfschütteln bestätigte. Keine Waffen. Die beiden vom Verstärkungsteam nahmen mich bei den Ellbogen. Das Gewehr hielt mich immer noch in Schach. Der Sergeant stellte sich vor mich. Er war ein kräftiger, athletischer Weißer. Schlank und sonnengebräunt. Mein Alter. Das Schild über seiner Brusttasche zeigte seinen Namen: Baker. Er sah mich an.
»Sie werden wegen Mordverdachts verhaftet«, sagte er. »Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann als Beweis gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sollten Sie sich keinen leisten können, bekommen Sie vom Staat Georgia einen Pflichtverteidiger gestellt. Haben Sie das verstanden?«
Das war ein schöner Vortrag meiner verfassungsmäßigen Rechte als Verhafteter. Er sprach deutlich. Er las es nicht vom Blatt ab. Er sprach, als wüsste er, was er sagte und warum es wichtig war. Für ihn und für mich. Ich antwortete nicht.
»Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«, fragte er noch einmal.
Ich antwortete wieder nicht. Lange Erfahrung hat mich gelehrt, dass absolutes Stillschweigen das Beste ist. Sagt man etwas, kann es falsch verstanden werden. Missverstanden. Falsch gedeutet. Man kann deswegen für schuldig befunden werden. Man kann deswegen getötet werden. Schweigen verärgert den Officer, der einen verhaftet. Er muss einem mitteilen, dass man das Recht hat zu schweigen, aber er hasst es, wenn man von seinem Recht Gebrauch macht. Ich wurde unter Mordverdacht verhaftet. Aber ich sagte nichts.
»Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«, fragte der Typ namens Baker noch einmal. »Sprechen Sie Englisch?«
Er war ganz ruhig. Ich sagte nichts. Er blieb ruhig. Er besaß die Ruhe eines Mannes, für den die Gefahr schon vorbei ist. Er würde mich einfach zum Revier fahren, und dann wäre ich nicht mehr sein Problem. Er sah die anderen drei Officer an.
»Okay, macht einen Vermerk, dass er nichts gesagt hat«, grunzte er. »Und dann los.«
Ich wurde zur Tür geführt. Wir formierten uns zu einer Linie. Zuerst kam Baker. Dann der Typ mit der Flinte, der rückwärtsging und immer noch mit dem dicken schwarzen Lauf auf mich zielte. Auf seinem Namensschild stand: Stevenson. Er war ebenfalls ein Weißer, mittelgroß und gut in Form. Seine Waffe sah aus wie ein Abflussrohr. Er zielte auf meinen Bauch. Hinter mir kam die Verstärkung. Man schob mich mit einer flachen Hand auf meinem Rücken durch die Tür.
Draußen auf dem Kiesplatz war es heiß. Es musste die ganze Nacht und den größten Teil des Morgens geregnet haben. Jetzt knallte die Sonne herunter, und der Boden dampfte. Normalerweise war dies wohl ein staubiger, heißer Ort. Heute aber strömte er diesen wundervollen berauschenden Duft nach nassem Straßenbelag unter einer sengenden Mittagssonne aus. Ich hielt mein Gesicht der Sonne entgegen und atmete tief ein, während sich die Officer neu formierten. Einer an jedem Ellbogen für die kurze Strecke zu den Wagen. Stevenson immer noch mit der Waffe im Anschlag. Beim ersten Wagen sprang er einen Schritt zurück, als Baker die Hintertür öffnete. Mein Kopf wurde runtergedrückt. Der Typ an meinem linken Arm schob mich mit einem sauberen Hüftkontakt in den Wagen. Alles einwandfrei. In einer Stadt so weit vom Schuss war das sicher eher das Ergebnis von langem Training als von langer Erfahrung.
Hinten im Wagen war ich allein. Eine dicke Trennwand aus Glas unterteilte den Innenraum. Die Vordertüren waren noch offen. Baker und Stevenson stiegen ein. Baker fuhr. Stevenson hatte sich umgedreht und hielt mich in Schach. Keiner sprach.
Der Wagen mit der Verstärkung folgte uns. Die Wagen waren neu. Glitten ruhig und weich dahin. Innen war es sauber und kühl. Keine Spuren verzweifelter, aufgewühlter Menschen, die dort gesessen hatten, wo ich jetzt saß.
Ich blickte aus dem Fenster. Georgia. Sah fruchtbares Land. Schwere, feuchte rote Erde. Sehr lange, gerade Reihen niedriger Büsche auf den Feldern. Erdnüsse vielleicht. Beulige Früchte, aber wertvoll für den Pflanzer. Oder für den Besitzer. Besaßen die Leute hier das Land, das sie bewirtschafteten? Oder gehörte es riesigen Konzernen? Ich wusste es nicht.
Die Fahrt in die Stadt war kurz. Das Auto zischte über den glatten, nassen Asphalt. Nach vielleicht einer halben Meile sah ich zwei schicke Gebäude, beide neu, beide mit gepflegten Grünanlagen. Das Polizeirevier und die Feuerwehr. Zwei einzelne, nahe beieinanderstehende Gebäude hinter einer weitläufigen Rasenfläche mit einer Statue, am nördlichen Rand der Stadt. Reizvolle Landhausarchitektur aus einem großzügigen Etat. Die Straßen waren aus glattem Asphalt, die Bürgersteige aus rotem Backstein. Etwa dreihundert Meter weiter südlich konnte ich einen blendend weißen Kirchturm hinter einer kleinen Ansammlung von Häusern sehen. Ich sah Fahnenmasten, Markisen, frische Farbe und grüne Rasenflächen. Alles wie neu durch den starken Regen. Jetzt dampfte es und wirkte in der Hitze irgendwie intensiver. Eine wohlhabende Gemeinde. Erbaut, so schätzte ich, mit Hilfe großer Einkünfte aus der Landwirtschaft und hoher Steuern der Pendler, die in Atlanta arbeiteten.
Stevenson starrte mich immer noch an, als der Wagen langsamer wurde, um in die Zufahrt zum Revier einzuschwenken. Die Auffahrt war ein weiter Halbkreis. Ich las auf einem niedrigen Steinschild: Margrave Police Headquarters. Ich dachte: Sollte ich beunruhigt sein? Ich war verhaftet worden. In einer Stadt, in der ich vorher nie gewesen war. Offenbar wegen Mordes. Aber ich wusste zwei Dinge. Erstens konnten sie nichts beweisen, was nicht passiert war. Und zweitens hatte ich niemanden umgebracht.
Zumindest nicht in ihrer Stadt und in letzter Zeit.
Wir hielten direkt vor dem Eingang des langgestreckten, niedrigen Gebäudes. Baker stieg aus dem Wagen und sah nach rechts und links. Die beiden von der Verstärkung kamen hinzu. Stevenson lief um das Heck unseres Wagens. Stellte sich gegenüber von Baker auf. Zielte mit der Flinte auf mich. Es war ein gutes Team. Baker öffnete meine Tür.
»Okay, los geht’s, los«, sagte er. Flüsterte fast.
Er tänzelte auf seinen Fußballen und suchte die Umgebung ab. Ich drehte mich langsam zur Tür und wand mich aus dem Wagen. Die Handschellen machten das nicht gerade leichter. Es war jetzt noch heißer geworden. Ich trat vor und wartete. Die Verstärkung schloss hinter mir auf. Vor mir befand sich der Eingang zum Revier. Eine frische Inschrift auf einem breiten Marmorsturz verkündete: Town of Margrave Police Headquarters. Darunter befanden sich Glastüren. Baker zog eine auf. Die Gummiabdichtungen machten ein saugendes Geräusch. Die Verstärkung schob mich durch die Tür. Die Tür schloss sich mit demselben Geräusch hinter mir.
Drinnen war es wieder kühl. Alles war weiß oder chromfarben. Das Licht kam aus Neonlampen. Es sah aus wie in einer Bank oder Versicherung. Auf dem Boden Teppich. Ein Sergeant im Innendienst stand hinter einer langen Empfangstheke. Fast erwartete man, dass er fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« Aber er sagte nichts. Er sah mich einfach nur an. Hinter ihm befand sich ein riesiger Büroraum. Eine dunkelhaarige Frau in Uniform saß an einem breiten, niedrigen Schreibtisch. Sie erledigte irgendwelchen Schreibkram an der Maschine. Nun blickte sie zu mir herüber. Ich stand da mit einem Officer an jeder Seite. Stevenson lehnte an der Empfangstheke. Seine Flinte wies in meine Richtung. Baker stand nur da und sah mich an. Der Sergeant hinter der Theke und die Frau in Uniform blickten mich ebenfalls an. Ich blickte zurück. Dann wurde ich nach links geführt. Sie ließen mich vor einer Tür anhalten. Baker stieß sie auf, und ich wurde in einen Raum geschoben. Es war ein Verhörraum: keine Fenster. Ein weißer Tisch und drei Stühle. Teppichboden. In der oberen Ecke des Zimmers eine Kamera. Die Temperatur in diesem Raum war sehr niedrig eingestellt. Ich war noch nass vom Regen.
Ich stand da, und Baker durchsuchte meine Taschen. Meine Habseligkeiten bildeten einen kleinen Haufen auf dem Tisch. Eine Rolle Geldscheine. Ein paar Münzen. Quittungen, Fahrscheine, Papierfetzen. Baker überprüfte die Zeitung und ließ sie in meiner Tasche. Blickte auf meine Uhr und ließ sie an meinem Handgelenk. An so was war er nicht interessiert. Alles andere wurde in einen großen Beutel mit Reißverschluss geräumt. Der Beutel war für Leute, die mehr als ich in ihren Taschen haben. Ein weißes Feld war auf den Beutel gedruckt. Stevenson schrieb eine Nummer darauf.
Baker sagte zu mir, ich könne mich hinsetzen. Dann verließen sie den Raum. Stevenson hatte den Beutel mit meinen Sachen. Sie gingen hinaus und schlossen die Tür, und ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Es hörte sich satt und gut geölt an. Nach Präzisionsarbeit. Nach einem großen Stahlschloss. Es hörte sich an wie ein Schloss, das mir standhalten würde.
Ich dachte, sie würden mich für eine Weile allein lassen. Normalerweise geht man so vor. Isolation verursacht den Drang zu sprechen. Der Drang zu sprechen kann zum Drang werden zu gestehen. Eine brutale Verhaftung und eine Stunde Isolation danach, das ist eine ziemlich gute Strategie.
Aber ich hatte mich geirrt. Sie hatten keine Stunde Isolation für mich vorgesehen. Vielleicht war dies ihr zweiter kleiner taktischer Fehler. Baker schloss die Tür auf und kam wieder herein. Er trug einen Plastikbecher mit Kaffee. Dann wies er die uniformierte Frau in den Raum. Die vom Schreibtisch im Großraumbüro. Das schwere Schloss schnappte hinter ihr zu. Sie trug einen Metallkoffer, den sie auf dem Tisch ablegte. Sie öffnete ihn und nahm einen langen schwarzen Nummernhalter heraus. Darin befand sich eine Zahlenreihe aus weißem Plastik.
Sie reichte mir den Halter mit einer entschuldigenden Miene von schroffem Mitgefühl, die typisch ist für Zahnarzthelferinnen. Ich nahm ihn in meine gefesselten Hände. Schielte darauf, um sicherzugehen, dass er richtig herum war, und hielt ihn unter mein Kinn. Die Frau nahm einen hässlichen Fotoapparat aus dem Koffer und setzte sich mir gegenüber. Sie stützte ihre Ellbogen auf den Tisch, um die Kamera zu stabilisieren. Lehnte sich vor. Ihre Brüste berührten den Rand des Tisches. Sie war eine gutaussehende Frau. Dunkles Haar, große Augen. Ich blickte sie an und lächelte. Die Kamera klickte und blitzte auf. Bevor sie mich darum bat, drehte ich mich schon auf dem Stuhl und zeigte ihr mein Profil. Hielt die lange Nummer an meine Schulter und starrte an die Wand. Der Fotoapparat klickte und blitzte wieder. Ich drehte mich in die andere Richtung und hielt die Nummer hoch. Beidhändig, wegen der Handschellen. Sie nahm mir den Halter mit einem verkniffenen Lächeln ab, das besagte: Ja, es ist unangenehm, aber notwendig. Wie eine Zahnarzthelferin.
Dann holte sie die Ausrüstung für die Fingerabdrücke heraus. Eine neue Karte, die schon mit einer Nummer versehen war. Die Felder für die Daumen sind immer zu klein. Diese hier hatte auf der Rückseite zwei Felder für die Abdrücke der Handflächen. Die Handschellen machten das Ganze schwierig. Baker hatte mir nicht angeboten, sie abzunehmen. Die Frau versah meine Hände mit Tinte. Ihre Finger waren weich und kühl. Kein Ehering. Hinterher gab sie mir ein paar Papiertücher. Die Tinte ging damit leicht ab. So was hatte ich noch nicht gesehen, musste neu sein.
Die Frau nahm den Film aus der Kamera und legte ihn zu den Karten auf den Tisch. Sie packte die Kamera zurück in den Koffer. Baker klopfte an die Tür. Das Schloss klickte wieder. Die Frau nahm ihre Sachen. Niemand sagte etwas. Die Frau verließ den Raum. Baker blieb bei mir. Er machte die Tür zu, und das Schloss gab das gleiche satte Geräusch von sich. Dann lehnte er sich gegen die Tür und sah mich an.
»Mein Chef kommt gleich«, sagte er. »Sie werden mit ihm sprechen müssen. Es gab hier einen Vorfall. Der muss geklärt werden.«
Ich antwortete nicht. Mit mir zu sprechen würde für niemanden irgendeinen Vorfall klären. Aber der Typ verhielt sich ganz zivilisiert. Respektvoll. Also testete ich ihn. Ich hielt ihm meine Hände entgegen. Eine unausgesprochene Aufforderung, mir die Handschellen abzunehmen. Er blieb einen Moment lang regungslos, dann nahm er den Schlüssel und schloss sie auf. Befestigte sie wieder an seinem Gürtel. Blickte mich an. Ich blickte zurück und ließ meine Arme herunterhängen. Kein dankbarer Seufzer. Kein reuevolles Reiben meiner Handgelenke. Ich wollte keine Beziehung zu diesem Typen aufbauen. Aber ich sagte etwas.
»Okay«, sagte ich. »Gehen wir zu Ihrem Chef.«
Es war das erste Mal, seit ich das Frühstück bestellt hatte, dass ich sprach. Jetzt blickte Baker dankbar. Er klopfte zweimal an die Tür, und von außen wurde aufgeschlossen. Er öffnete sie und wies mich durch. Stevenson wartete mit dem Rücken zum Großraumbüro. Die Flinte war verschwunden. Die Verstärkung war nicht mehr da. Die Dinge beruhigten sich. Beide Officer nahmen neben mir Aufstellung. Baker fasste leicht an meinen Ellbogen. Wir gingen durch das Großraumbüro und kamen an eine Tür auf der anderen Seite. Stevenson drückte sie auf, und wir betraten ein großes Büro. Alles aus Rosenholz.
Ein fetter Typ saß an einem breiten Schreibtisch. Hinter ihm befanden sich ein paar große Fahnen. Die Stars and Stripes mit Goldfransenrand auf der linken Seite und das, was ich für die Fahne von Georgia hielt, auf der rechten. Zwischen den Fahnen hing eine Uhr. Es war ein großes, altes, rundes Ding mit Mahagonirahmen. Sah aus, als wäre es Jahrzehnte lang poliert worden. Ich dachte, dass es die Uhr aus dem alten Polizeirevier sein musste, das mit der Planierraupe abgeräumt worden war, um Platz für dieses neue Gebäude zu machen. Ich dachte, dass der Architekt sie genommen hatte, um dem neuen Gebäude eine Aura von Geschichte zu geben. Die Uhr zeigte fast halb eins.
Der fette Typ hinter dem großen Schreibtisch blickte auf, als ich zu ihm geschoben wurde. Ich sah, dass er verwirrt dreinblickte, als versuchte er, mich irgendwo einzuordnen. Er sah mich noch mal an, diesmal genauer. Dann lächelte er spöttisch und sprach mit einem Keuchen, das zu einem heiseren Schreien geworden wäre, wenn seine schwache Lunge das nicht verhindert hätte.
»Beweg deinen Arsch auf den Stuhl, und halt dein dreckiges Maul«, sagte er.
Der Fettwanst war wirklich eine Überraschung. Er sah aus wie ein echtes Arschloch. Genau das Gegenteil von dem, was ich bis jetzt gesehen hatte. Baker und sein Verhaftungsteam hielten den Betrieb aufrecht. Professionell und effizient. Die Frau mit den Fingerabdrücken war anständig gewesen. Aber dieser fette Polizeichef war eine reine Platzverschwendung. Dünnes, fettiges Haar. Schwitzend, trotz der kühlen Luft. Der fleckige rot-graue Teint eines untrainierten, übergewichtigen Idioten. Himmelhoher Blutdruck. Versteinerte Arterien. Er sah noch nicht mal halbwegs kompetent aus.
»Mein Name ist Morrison«, keuchte er. Als würde mich das interessieren. »Ich bin der Chef des Police Departments hier in Margrave. Und du bist ein Bastard und Mörder von irgendwoher. Du bist in meine Stadt gekommen und hast auf Mr. Kliners Privatbesitz alles durcheinandergebracht. Also legst du jetzt vor meinem Chief Detective ein volles Geständnis ab.«
Er hielt inne und starrte mich an. Als versuchte er immer noch, mich einzuordnen. Oder als wartete er auf eine Antwort. Er bekam keine. Also stieß er mit seinem fetten Finger in meine Richtung.
»Und dann kommst du in den Knast«, sagte er. »Und dann kommst du auf den elektrischen Stuhl. Und dann werde ich auf dein mickriges Scheißarmengrab einen dicken Haufen setzen.«
Er hievte seine Körpermassen aus dem Stuhl und löste den Blick von mir.
»Ich würde es ja selber machen«, sagte er. »Aber ich habe zu viel zu tun.«
Er watschelte hinter seinem Schreibtisch hervor. Ich stand zwischen seinem Schreibtisch und der Tür. Als er an mir vorbeikam, blieb er stehen. Seine fette Nase befand sich in der Höhe meines mittleren Mantelknopfs. Er sah wieder zu mir auf, als würde er über irgendetwas nachdenken.
»Ich hab dich doch schon mal gesehen«, sagte er. »Wo war das?«
Er blickte zu Baker und dann zu Stevenson. Als erwartete er von ihnen, dass sie zur Kenntnis nahmen, was er sagte und wann er das sagte.
»Ich habe diesen Typen schon mal gesehen«, teilte er ihnen mit.
Er knallte die Tür hinter sich zu, und ich blieb mit den beiden Cops zurück, bis der Chief Detective hereinkam. Ein großer Schwarzer, nicht alt, aber seine Haare wurden schon grau und lichteten sich. Gerade genug, um ihm ein aristokratisches Aussehen zu verleihen. Forsch und zuversichtlich. Gut gekleidet, in einem altmodischen Tweedanzug. Leinenweste. Auf Hochglanz polierte Schuhe. Der Typ sah aus, wie ein Chef aussehen sollte. Er wies Baker und Stevenson aus dem Büro. Schloss die Tür hinter ihnen. Setzte sich an den Schreibtisch und winkte mich zum Stuhl gegenüber.
Ruckend zog er eine Schublade auf und nahm einen Kassettenrecorder heraus. Hob ihn hoch, bis seine Arme gestreckt waren, um das Kabelgewirr herauszubekommen. Stöpselte das Stromkabel und das Mikrophon ein. Legte eine Kassette ein. Drückte auf Aufnahme und schnippte mit dem Fingernagel gegen das Mikrophon. Hielt die Kassette an und spulte sie zurück. Drückte auf Start. Hörte das Geräusch seines Fingernagels. Spulte wieder zurück und drückte auf Aufnahme. Ich saß einfach nur da und beobachtete ihn.
Einen Moment lang herrschte Stille. Nur ein schwaches Summen, die Klimaanlage, die Lampen oder der Computer. Oder der Recorder, der langsam vorwärtssurrte. Ich konnte das gemächliche Ticken der alten Uhr hören. Ein beharrliches Geräusch, das niemals aufhören würde, egal was ich täte. Dann richtete sich der Typ in seinem Stuhl auf und blickte mich durchdringend an. Machte diese Art Spitze mit seinen Fingern, wie es hochgewachsene, kultivierte Leute gerne tun.
»So«, sagte er. »Da gibt es ein paar Fragen, nicht wahr?«
Seine Stimme war tief. Wie ein Grollen. Kein Südstaatenakzent. Er sah aus und hörte sich an wie ein Banker aus Boston, nur dass er schwarz war.
»Mein Name ist Finlay«, sagte er. »Mein Dienstgrad ist der eines Captains. Ich bin der Chef des Ermittlungsbüros dieses Departments. Ich höre, dass Sie über Ihre Rechte informiert wurden. Sie haben noch nicht bestätigt, dass Sie sie verstanden haben. Bevor wir zu etwas anderem übergehen, müssen wir diesen Punkt klären.«
Kein Banker aus Boston. Eher ein Typ aus Harvard.
»Ich kenne meine Rechte«, sagte ich.
Er nickte.
»Gut. Das freut mich. Wo ist Ihr Anwalt?«
»Ich brauche keinen Anwalt«, sagte ich.
»Sie werden des Mordes verdächtigt«, sagte er. »Sie brauchen einen Anwalt. Wir können Ihnen einen besorgen. Kostenlos. Möchten Sie, dass wir Ihnen kostenlos einen Anwalt besorgen?«
»Nein, ich brauche keinen Anwalt«, sagte ich.
Der Typ namens Finlay blickte mich eine ganze Weile über seine Fingerspitzen hinweg an.
»Okay«, sagte er. »Aber Sie werden uns das schriftlich geben müssen. Sie wissen schon: dass wir Ihnen mitgeteilt haben, dass Sie einen Anwalt haben können, dass wir Ihnen einen besorgen können, ohne Kosten für Sie, aber dass Sie absolut keinen wollten.«
»Okay«, sagte ich.
Er zog ein Formular aus einer anderen Schublade und sah auf seine Uhr, um Datum und Zeit einzutragen. Dann schob er das Formular zu mir herüber. Ein großes gedrucktes Kreuz markierte die Linie, auf der ich unterschreiben sollte. Er schob mir einen Stift herüber. Ich unterschrieb und schob das Formular zurück. Er sah es sich an. Legte es in eine ockerfarbene Mappe.
»Ich kann Ihre Unterschrift nicht lesen«, sagte er. »Also beginnen wir für das Protokoll mit Ihrem Namen, Ihrer Adresse und Ihrem Geburtsdatum.«
Wieder herrschte Stille. Ich blickte ihn an. Der Typ war hartnäckig. Vielleicht fünfundvierzig. Man wird nicht Chief Detective in Georgia, wenn man fünfundvierzig und schwarz ist, außer man ist hartnäckig. Keine Chance, mit ihm Spielchen zu spielen. Ich holte tief Luft.
»Mein Name ist Jack Reacher«, sagte ich. »Kein zweiter Vorname. Keine Adresse.«
Er schrieb es auf. Viel zu schreiben gab es nicht. Ich teilte ihm mein Geburtsdatum mit.
»Okay, Mr. Reacher«, sagte Finlay. »Wie ich schon sagte, haben wir eine Menge Fragen. Ich habe mir Ihre persönlichen Sachen angesehen. Sie tragen keinerlei Ausweis bei sich. Keinen Führerschein, keine Kreditkarten, nichts. Und Sie haben keine Adresse, sagen Sie. Also frage ich mich: Wer ist dieser Mann?«
Er erwartete keinerlei Kommentar von mir.
»Wer war der Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf?«, fragte er mich.
Ich antwortete nicht. Ich starrte auf die große Uhr, wartete, dass sich der Minutenzeiger bewegte.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte er.
Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Nicht die leiseste Ahnung. Irgendwas war irgendjemandem passiert, aber nicht mir. Ich saß einfach nur da. Antwortete nicht.
»Was ist Pluribus?«, fragte Finlay.
Ich blickte ihn an und zuckte mit den Schultern. »Das Motto der Vereinigten Staaten?«, fragte ich dann. »E pluribus unum? Übernommen 1776 beim zweiten Kontinentalkongress, richtig?«
Er grunzte nur. Ich blickte ihn weiterhin direkt an. Ich dachte mir, dass dies der Typ Mann war, der vielleicht eine Frage beantworten würde.
»Worum geht es?«, fragte ich ihn.
Wieder Stille. Jetzt blickte er mich an. Ich konnte sehen, wie er darüber nachdachte, ob er antworten sollte und wie.
»Worum geht es?«, fragte ich ihn wieder.
Er lehnte sich zurück und legte erneut seine Fingerspitzen aneinander.
»Sie wissen, worum es geht«, sagte er. »Ein Tötungsdelikt. Mit ein paar sehr beunruhigenden Einzelheiten. Das Opfer wurde heute Morgen drüben bei Kliners Lagerhaus gefunden. Am nördlichen Ende der Landstraße, oben, am Zubringer zum Highway. Ein Zeuge berichtete, er hätte gesehen, wie ein Mann diesen Ort verließ. Kurz nach acht Uhr heute Morgen. Die Beschreibung lautete auf einen Weißen, sehr groß, mit langem schwarzem Mantel, hellem Haar, ohne Kopfbedeckung und Gepäck.«
Wieder Stille. Ich bin weiß. Ich bin sehr groß. Mein Haar ist hell. Ich saß hier in einem langen schwarzen Mantel. Ich hatte keine Kopfbedeckung. Auch keinen Koffer. Ich war fast vier Stunden lang an diesem Morgen auf der Landstraße gewandert. Von acht bis etwa Viertel vor zwölf.
»Wie lang ist die Landstraße?«, fragte ich. »Vom Highway bis hierher?«
Finlay dachte nach.
»Etwa vierzehn Meilen, schätze ich«, antwortete er.
»Okay«, sagte ich. »Ich bin den ganzen Weg vom Highway bis in die Stadt gelaufen. Etwa vierzehn Meilen. Viele Leute müssen mich gesehen haben. Das will nichts heißen.«
Er antwortete nicht. Ich gewann Interesse an der Situation.
»Ist das Ihr Distrikt?«, fragte ich ihn. »Die ganze Strecke bis zum Highway?«
»Ja, so ist es«, sagte er. »Die Zuständigkeit ist eindeutig. So kommen Sie hier nicht raus, Mr. Reacher. Die Stadt dehnt sich vierzehn Meilen weit aus, genau bis zum Highway. Das Gewerbegebiet da draußen ist mein Bereich, darüber gibt es nichts zu diskutieren.«
Er wartete. Ich nickte. Er fuhr fort:
»Kliner hat die Anlage gebaut, vor fünf Jahren«, sagte er. »Haben Sie schon von ihm gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie sollte ich von ihm gehört haben?«, sagte ich. »Ich war ja noch nie hier.«
»Er ist ein großes Tier in der Gegend«, sagte Finlay. »Sein Betrieb da draußen bringt uns eine Menge Steuern, ist sehr gut für uns. Viel Geld und viele Vorteile für die Stadt ohne große Nachteile, weil das Ganze so weit draußen ist, klar? Also versuchen wir, für ihn darauf aufzupassen. Aber jetzt ist das Gelände der Tatort für ein Tötungsdelikt geworden, und Sie haben uns eine Menge zu erklären.«
Der Mann machte nur seinen Job, aber er verschwendete meine Zeit.
»Okay, Finlay«, sagte ich. »Ich werde eine Erklärung abgeben und jede kleinste Einzelheit beschreiben, die ich gemacht habe, und zwar von dem Zeitpunkt an, da ich Ihre lausige Stadtgrenze überschritten habe, bis ich mitten in meinem verdammten Frühstück hierhergeschleppt wurde. Wenn Sie damit etwas anfangen können, dann kriegen Sie von mir einen verdammten Orden. Denn ich habe nichts anderes getan, als fast vier Stunden im strömenden Regen einen Fuß vor den anderen zu setzen, und zwar Ihre ganzen so verdammt kostbaren vierzehn Meilen weit.«
Das war die längste Ansprache, die ich die letzten sechs Monate gehalten hatte. Finlay saß nur da und starrte mich an. Ich beobachtete, wie er mit dem Grundproblem eines jeden Detectives kämpfte. Sein Bauch sagte ihm, dass ich vielleicht doch nicht sein Mann war. Aber ich saß ja vor ihm. Was sollte ein Detective da machen? Ich ließ ihn überlegen. Versuchte, den richtigen Zeitpunkt für einen Schubs in die richtige Richtung abzupassen. Ich wollte ihm etwas über den wahren Täter sagen, der noch herumlief, während er hier seine Zeit mit mir verschwendete. Das würde seine Unsicherheit vergrößern. Aber er machte den ersten Schritt. In die falsche Richtung.
»Keine Erklärungen«, sagte er. »Ich stelle die Fragen, und Sie werden sie beantworten. Sie sind Jack Niemand Reacher. Keine Adresse. Kein Ausweis. Was sind Sie? Ein Landstreicher?«
Ich seufzte. Es war Freitag. Die große Uhr zeigte an, dass der Tag schon mehr als halb vorüber war. Dieser Typ namens Finlay wollte mich sorgfältig in die Mangel nehmen. Ich würde das Wochenende in einer Zelle verbringen. Wahrscheinlich erst Montag rauskommen.
»Ich bin kein Landstreicher, Finlay«, sagte ich. »Ich bin ein Vagabund. Das ist ein großer Unterschied.«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Kommen Sie mir nicht so, Reacher«, sagte er. »Sie stecken tief in der Scheiße. Üble Dinge sind hier passiert. Unser Zeuge hat gesehen, wie Sie den Tatort verließen. Sie sind ein Fremder ohne Ausweis und ohne Hintergrund. Also kommen Sie mir nicht so.«
Er machte immer noch seinen Job, aber er verschwendete auch immer noch meine Zeit.
»Ich habe keinen Tatort verlassen«, sagte ich. »Ich bin eine verdammte Straße entlanggelaufen. Das ist ein Unterschied, nicht wahr? Wenn Leute einen Tatort verlassen, rennen sie und verstecken sich. Sie gehen nicht mitten auf der Straße. Was ist dabei, auf einer Straße zu gehen? Ständig gehen irgendwelche Leute auf irgendwelchen verdammten Straßen, oder etwa nicht?«
Finlay lehnte sich vor und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Seit der Erfindung des Automobils läuft niemand mehr eine solche Strecke. Also, warum haben Sie keine Adresse? Woher kommen Sie? Beantworten Sie meine Fragen. Bringen wir es hinter uns.«
»Okay, Finlay, bringen wir es hinter uns«, sagte ich. »Ich habe keine Adresse, weil ich nirgendwo wohne. Vielleicht werde ich eines Tages irgendwo wohnen, und dann habe ich eine Adresse und sende Ihnen eine Postkarte, die Sie sich in Ihr verdammtes Adressbuch stecken können, wenn Sie darüber so verdammt beunruhigt sind.«
Finlay starrte mich an und wog seine Möglichkeiten ab. Entschied sich für die geduldige Tour. Geduldig, aber hartnäckig. Als könnte ihn nichts ablenken.
»Woher kommen Sie?«, fragte er. »Wie lautet Ihre letzte Adresse?«
»Was meinen Sie genau mit: Woher kommen Sie?«, fragte ich.
Er presste die Lippen zusammen. Bald hatte ich ihn so weit, und auch er würde sauer. Aber er blieb ruhig. Würzte seine Geduld mit eisigem Sarkasmus.
»Okay«, sagte er. »Sie verstehen meine Frage nicht, also will ich sie erklären. Was ich meine, ist Folgendes: Wo sind Sie geboren, oder wo haben Sie den größten Teil Ihres Lebens verbracht, den Sie in Ihrem sozialen oder kulturellen Kontext instinktiv als besonders wichtig betrachten?«
Ich sah ihn einfach nur an.
»Ich gebe Ihnen ein Beispiel«, sagte er. »Ich für meinen Teil bin in Boston geboren, in Boston aufgewachsen und habe dann zwanzig Jahre in Boston gearbeitet, so dass ich sagen würde – und ich denke, da stimmen Sie mir zu –, dass ich aus Boston komme.«
Ich hatte recht gehabt. Ein Harvard-Typ. Ein Harvard-Typ, der die Geduld verlor.
»Okay«, sagte ich. »Sie haben mir diese Fragen gestellt. Ich werde sie beantworten. Aber lassen Sie mich eins versichern: Ich bin nicht Ihr Mann. Bis Montag werden Sie wissen, dass ich nicht Ihr Mann bin. Also tun Sie sich selbst einen Gefallen. Hören Sie nicht auf zu suchen.«
Finlay unterdrückte ein Lächeln. Er nickte ernst.
»Ich bedanke mich für Ihren Rat«, sagte er. »Und Ihre Sorge um meine Karriere.«
»Nichts zu danken«, sagte ich.
»Fahren Sie fort«, sagte er.
»Okay«, sagte ich. »Wenn ich Ihrer kunstvollen Definition folge, komme ich von nirgendwoher. Ich komme von einem Ort, der sich Militär nennt. Ich wurde auf der amerikanischen Militärbasis in Westberlin geboren. Mein alter Herr gehörte zu den Marines, und meine Mutter war eine französische Zivilistin, die er in Holland kennengelernt hatte. Sie heirateten in Korea.«
Finlay nickte. Machte sich eine Notiz.
»Ich war ein Kind der Army«, sagte ich. »Geben Sie mir eine Liste aller amerikanischen Militärstützpunkte auf der Welt, und Sie haben eine Liste der Orte, wo ich gelebt habe. Ich ging in zwei Dutzend verschiedenen Ländern zur Highschool und war vier Jahre lang in West Point.«
»Fahren Sie fort«, sagte Finlay.
»Ich blieb in der Army«, sagte ich. »Militärpolizei. Ich diente und lebte wieder an all den Orten, wo ich vorher gewesen war. Dann, Finlay, nach sechsunddreißig Jahren Militär, zunächst als Kind eines Offiziers, dann selbst als Offizier, gab es für die Army keinen Bedarf mehr, weil die Sowjets den Geist aufgaben. Hurra also, jetzt bekommen wir den Lohn für den Frieden. Was für Sie bedeutet, dass Ihre Steuern für etwas anderes ausgegeben werden, für mich aber, dass ich ein sechsunddreißigjähriger arbeitsloser Exmilitärpolizist bin, der als Landstreicher bezeichnet wird, und zwar von eingebildeten Zivilistenbastards, die keine fünf Minuten in der Welt bestehen könnten, in der ich jahrelang überlebt habe.«
Er dachte einen Moment lang nach. War nicht beeindruckt.
»Weiter«, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Also genieße ich im Augenblick mein Leben«, sagte ich. »Vielleicht finde ich irgendwann mal einen Job, vielleicht auch nicht. Vielleicht lasse ich mich irgendwo nieder, vielleicht auch nicht. Aber im Augenblick bin ich nicht daran interessiert.«
Er nickte. Machte sich noch ein paar Notizen.
»Wann haben Sie die Army verlassen?«, fragte er.
»Vor sechs Monaten«, sagte ich. »Im April.«
»Haben Sie seitdem eine Arbeit gehabt?«, fragte er.
»Sie scherzen wohl«, sagte ich. »Wann haben Sie das letzte Mal Arbeit gesucht?«
»Im April«, äffte er mich nach. »Vor sechs Monaten. Ich bekam diesen Job.«
»Na, das ist schön für Sie, Finlay«, sagte ich.
Mir fiel nichts anderes ein. Finlay starrte mich einen Moment lang an.
»Wovon haben Sie gelebt«, fragte er. »Welchen Dienstgrad hatten Sie?«
»Major«, sagte ich. »Sie gaben mir eine Abfindung, als sie mich rauswarfen. Das meiste davon habe ich noch. Ich versuche, so lange wie möglich damit auszukommen, verstehen Sie?«
Eine lange Pause. Finlay trommelte rhythmisch mit dem Ende seines Stifts.
»Also lassen Sie uns über die letzten vierundzwanzig Stunden reden«, sagte er.
Ich seufzte. Jetzt würde ich Probleme bekommen.
»Ich kam mit einem Greyhound-Bus hierher«, sagte ich. »Stieg auf der Landstraße aus. Um acht Uhr heute Morgen. Lief bis zur Stadt, kam zum Diner, bestellte Frühstück und aß es gerade, als Ihre Jungs hereinkamen und mich mitschleppten.«
»Haben Sie hier irgendwas zu tun?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin arbeitslos«, sagte ich. »Ich habe nirgendwo irgendwas zu tun.«
Er schrieb das auf.
»Wo sind Sie in den Bus gestiegen?«, fragte er mich.
»In Tampa«, sagte ich. »Fuhr dort letzte Nacht um Mitternacht ab.«
»Tampa in Florida?«, fragte er.
Ich nickte. Er zog ruckend eine weitere Schublade auf. Nahm einen Busfahrplan heraus. Faltete ihn breit auseinander und fuhr mit einem langen braunen Zeigefinger über die Seite. Der Mann war sehr gewissenhaft. Er sah zu mir herüber.
»Da gibt es einen Schnellbus«, sagte er. »Fährt direkt Richtung Norden nach Atlanta. Kommt dort um neun Uhr morgens an. Hält aber um acht nicht hier.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bat den Fahrer anzuhalten«, sagte ich. »Er erklärte, er dürfe das eigentlich nicht, machte es aber trotzdem. Hielt extra wegen mir an und ließ mich raus.«
»Sind Sie früher schon einmal hier gewesen?«, fragte er.
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Haben Sie Verwandte in der Gegend?«, fragte er.
»Nein, nicht hier«, sagte ich.
»Haben Sie sonst wo Verwandte?«, fragte er.
»Einen Bruder in D. C.«, sagte ich. »Arbeitet im Finanzministerium.«
»Haben Sie Freunde hier in Georgia?«
»Nein«, sagte ich.
Finlay schrieb das alles auf. Dann gab es wieder eine lange Pause. Ich wusste genau, welche Frage jetzt kommen würde.
»Warum also?«, fragte er. »Warum sind Sie unfahrplanmäßig ausgestiegen und vierzehn Meilen im Regen zu einem Ort gegangen, wenn Sie keinen Grund dafür haben?«
Das war die entscheidende Frage. Finlay hatte sie ohne weiteres gefunden. Ein Staatsanwalt würde das auch. Und ich hatte keine richtige Antwort darauf.
»Was soll ich Ihnen antworten?«, sagte ich. »Es war eine willkürliche Entscheidung. Ich war unruhig. Ich musste ja irgendwo hin, nicht wahr?«
»Aber warum hierhin?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Der Mann neben mir hatte eine Landkarte, und ich pickte mir diesen Ort heraus. Ich wollte weg von den Hauptstraßen. Dachte, ich könnte in einer Schleife wieder zum Golf zurück, vielleicht weiter nach Westen.«
»Sie pickten diesen Ort heraus?«, fragte Finlay. »Erzählen Sie mir nicht so eine Scheiße. Warum sollten Sie sich diesen Ort herausgepickt haben? Er ist doch nur ein Name. Nur ein Punkt auf der Landkarte. Sie müssen einen Grund gehabt haben.«
Ich nickte.
»Ich wollte nach Blind Blake suchen«, sagte ich.
»Wer zum Teufel ist Blind Blake?«, fragte er.
Ich sah, dass er Szenarien durchspielte, wie ein Schachcomputer mögliche Züge durchspielt. War Blind Blake mein Freund, mein Feind, mein Komplize, mein Mitverschwörer, mein Mentor, mein Gläubiger, mein Schuldner, mein nächstes Opfer?
»Blind Blake war ein Gitarrenspieler«, sagte ich. »Starb vor sechzig Jahren, wurde möglicherweise ermordet. Mein Bruder hatte eine Aufnahme von ihm, auf der Hülle stand, dass es in Margrave passiert ist. Er schrieb mir darüber. Sagte, er sei ein paarmal im Frühling hier gewesen, weil er hier zu tun hatte. Ich dachte mir, ich fahr mal hin und überprüfe die Geschichte.«
Finlay starrte mich verblüfft an. Das Ganze musste ziemlich dünn für ihn klingen. Für mich hätte es auch ziemlich dünn geklungen, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre.
»Sie sind hierhergekommen, um einen Gitarrenspieler zu suchen?«, fragte er. »Einen Gitarrenspieler, der vor sechzig Jahren gestorben ist? Warum? Sind Sie auch ein Gitarrenspieler?«
»Nein«, sagte ich.