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Für meine Tochter Annabelle.
Die Leselust hat dich zwar erst mit vierzehn gepackt, doch nun genieße ich nichts mehr, als dich in einem Buch schmökern zu sehen.
Dieses hier ist dir gewidmet. Willa hat vieles von dir.
Ich liebe dich.

Mom

Kapitel 1 – Maggie

Ich musste der Realität entfliehen

Hier ist alles beim Alten geblieben. Pack einfach aus. Gewöhn dich ein. Ich habe drüben im Haus noch einiges zu erledigen. Morgen früh melden wir dich in der Schule an«, erklärte Nonna mit einer Miene, die zusehends verkniffener geworden war, seitdem sie mich vor einer Stunde an der Bushaltestelle abgeholt hatte. »Treib dich aber nicht rum. Hörst du? Bis ich zurückkomme, bleibst du, wo du bist.«

Ich schaffte es zu nicken. Mehr als ein »Danke« hatte ich bislang eh noch nicht herausgebracht. Das letzte Mal hatten wir uns vor zwei Jahren gesehen, als sie genug Geld für einen Besuch bei uns in Little Rock zusammengespart hatte. Dabei spielte Nonna in meinem Leben eine wirklich große Rolle. Als Kind hatte ich manchmal gedacht, außer ihr würde niemand sonst mich lieben. Auf sie war immer Verlass.

Angesichts der Enttäuschung, die ich jetzt in ihrem Blick sah, musste ich ganz schön schlucken, selbst wenn ich gar nichts anderes erwartet und mich inzwischen an diesen Blick gewöhnt hatte. In letzter Zeit sahen mich alle so an.

Keiner glaubte mir. Weder meine Mutter noch der Polizist, der mich verhaftet hatte. Mein Stiefvater schon gar nicht. Nicht einmal mein Bruder! Niemand. Logisch, dass Nonna es da auch nicht tat. Immerhin hatte sie sich bereit erklärt, mich nach einem halben Jahr in der Jugendstrafanstalt bei sich aufzunehmen, als ich erkennen musste, dass mich meine Mutter vor die Tür gesetzt hatte. Ich wusste nicht, wohin, und als Einzige fiel mir Nonna ein, meine Großmutter mütterlicherseits, bei der ich bis zu meinem elften Lebensjahr gewohnt hatte. Ihr Haus war ein echtes Heim für mich, das einzige, das ich je gekannt hatte.

Dann hatte meine Mom entschieden, sie könne sich nun selbst um mich kümmern – das Kind, das sie mit fünfzehn bekommen und bei ihrer Mutter gelassen hatte, als sie drei Jahre darauf ihren Highschoolabschluss machte. Als mein Bruder Chance acht Jahre alt war, hatte sein Vater endlich meine Mutter geheiratet. Und ich sollte nun auch zur Familie gehören. Das Problem war allerdings, dass ich nicht wirklich hineinpasste. Mein jüngerer Bruder wurde von seinem Vater heiß geliebt, ich hingegen schien immer nur im Weg zu sein. Ich zog mich in mein Schneckenhaus zurück, bis ich fünfzehn wurde und sich allmählich alles änderte.

»Antworte mir, Willa!«, riss mich Nonna aus meinen Gedanken.

»Ja, Ma’am«, antwortete ich rasch. Ich wollte sie nicht gegen mich aufbringen. Ich hatte ja nur noch sie.

Nonnas Miene wurde weich. Dann nickte sie. »Gut. Ich komme zurück, sobald ich mit der Arbeit im großen Haus fertig bin.« Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Zimmer, das in den ersten elf Jahren meines Lebens mir gehört hatte. Hier war ich glücklich gewesen. Und erwünscht.

Doch das hatte ich auch versiebt. Im Versieben war ich übrigens großartig. Sofern es eine falsche Entscheidung zu treffen gab, traf ich sie zuverlässig. Das wollte ich nun hinter mir lassen und mich wieder zu dem Mädchen von früher entwickeln. Auf das seine Oma stolz sein konnte. Das sich nicht danebenbenahm, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Auf die Aufmerksamkeit, die ich dann von meiner Mutter erhalten hatte, hätte ich aber gut verzichten können. Am Ende hatte ich sie verloren. Sie wollte nichts mehr von mir wissen.

Sobald die Tür hinter Nonna ins Schloss fiel, sank ich auf das Bett, das mit einem von ihr genähten Quilt bedeckt war. Sie liebte Patchworksachen, und wenn sie freihatte, nähte sie. Was jedoch nicht oft der Fall war. An sechs Tagen in der Woche arbeitete sie für die Lawtons. Sonntags hatte sie keinen Dienst, konnte in die Kirche gehen und ihr eigenes Haus putzen, ein Cottage am Rande des Anwesens der Lawtons. Seit ich denken konnte, führte sie dieser Familie schon den Haushalt. Meine Mutter war in diesem Cottage aufgewachsen. Dieses Zimmer war früher ihres gewesen.

Obwohl ich das Ergebnis eines Ausrutschers war, hatte ich hier eine glückliche Kindheit verbracht. Von Nonna hatte ich die Liebe und Geborgenheit bekommen, die mir Mom als Teenager nicht geben konnte. Und außerdem hatte es die Jungs gegeben. Gunner Lawton und Brady Higgens – meine beiden besten Freunde damals. Gunner wohnte mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Rhett in dem großen Haus. Seitdem er und Brady mich dabei erwischt hatten, wie ich als Vierjährige in seinem Baumhaus mit seinen Spielzeugsoldaten gespielt hatte, waren wir unzertrennlich. Ich hatte die Jungs wochenlang dabei beobachtet, wie sie in das Baumhaus kletterten, das gleich hinter unserem Gärtchen lag, und wollte endlich wissen, wie es da oben aussah. Meine Neugierde hatte mir also meine ersten echten Freunde beschert.

Kurz bevor ich weggezogen war, lief dann alles nicht mehr ganz so unbeschwert, denn sowohl ich als auch die beiden Jungs wurden sich allmählich bewusst, dass ich ein Mädchen war. Damals glaubte ich, in Brady verliebt zu sein. Er war beliebt, und mit seinem Lächeln konnte er mein Herz zum Flattern bringen. Ehrlich gesagt dachte ich sogar, ich könnte nie einen anderen Jungen lieben. Doch dann hatte ich zu meiner Mutter ziehen müssen. Heute konnte ich mich kaum noch daran erinnern, wie Brady und Gunner überhaupt ausgesehen hatten. Und natürlich hatte es in meinem Leben dann andere Jungs gegeben. Allerdings hatte mich nur einer von ihnen nachhaltig beeindruckt. Nur einen davon hatte ich geliebt. Carl Daniels. Ich dachte, mit ihm würde ich für immer glücklich sein. Bis er der Meinung war, es wäre okay, mit anderen Mädchen rumzumachen, wenn ich ihm auf der Rückbank eines Autos nicht meine Unschuld schenken würde.

Damit stand fest, dass ich wirklich niemandem vertrauen konnte. Wenn man liebte, wurde man nur verletzt. Meine Mutter und Carl hatten mir beide gezeigt, wie verwundbar einen die Liebe machte. Noch mal machte ich diesen Fehler nicht!

Inzwischen schien all das eine Ewigkeit zurückzuliegen. Gunner und Brady verkörperten für mich eine glückliche Zeit, von der ich nachts oft träumte, wenn ich der Realität entfliehen musste.

Jetzt würde mein Leben hier anders verlaufen. Ich hatte einen Fehler begangen, der sich nie wiedergutmachen ließ und an dem ich mein Leben lang zu knabbern hätte. Dass ich von meiner Mom abgelehnt wurde, traf mich auch hart. Ob ich darüber wohl je hinwegkäme?

Ich stand auf, ging zum Spiegel und musterte mich. Die dunkelblauen Augen meiner Mutter blickten mir entgegen. Die glatten blonden Haare, etwas über schulterlang, konnten mit ihren roten Locken nicht mithalten. Meine Haarfarbe musste ich wohl von meinem Vater haben. Einem Mann, den ich nicht kannte. Mom wollte mir ja nicht einmal seinen Vornamen verraten! Selbst Nonna war nicht eingeweiht. Einmal hatte Mom gesagt, der Grund sei, dass dieser Mann mir kein Vater sein könnte. Mit ihrem Schweigen beschützte sie mich und ihn. Das ging mir bis heute nicht in den Kopf.

Ich hob die Hand und fuhr mit den Fingern über mein Ohrläppchen. Von den Piercings, die mein Ohr einst eingerahmt hatten, sah man inzwischen fast gar nichts mehr. In der Jugendstrafanstalt hatte ich sie nicht tragen können, und inzwischen hatte ich keinen Bock mehr darauf. Viel zu umständlich. Selbst ohne unterschied ich mich mehr als genug von dem Mädchen, das Lawton vor sechs Jahren verlassen hatte.

Kapitel 2 – Maggie

Die anderen konnten alle zur Hölle fahren

Ich stierte wütend aus dem Beifahrerfenster meines eigenen Pick-ups. Gerade mal zwei Bierchen hatte ich gekippt. Verdammt, das war alles! Wäre Brady nicht so damit beschäftigt gewesen, an Ivy Hollis rumzufummeln, hätte er mitgekriegt, dass ich durchaus noch in der Lage war, selbst zu fahren, und auf seine Chauffeurdienste verzichten konnte.

»Und wie kommst du dann nach Hause? Meinen Pick-up leihe ich dir garantiert nicht!« Ich sah zu Brady, der mich dreckig angrinste. Blödmann.

»West gabelt mich auf. Er muss Maggie eh nach Hause bringen.« Na toll. Seitdem West mit Bradys Cousine Maggie zusammen war, hatte er sich zu einem ebensolchen Gutmenschen wie Brady entwickelt. Wenn einen das nicht in die Alkoholsucht trieb!

»Und mit Kimmie läuft dank dir jetzt auch nichts. Ich kann ja schlecht ein Mädchen in meinen Wagen lotsen, wenn du hinterm Steuer klemmst!« Ich war stinksauer.

»Dafür solltest du mir dankbar sein. Oder erinnerst du dich nicht mehr, wie sich Kimmie nach eurer letzten Nummer in deinem Pick-up aufgeführt hat?«

Da war tatsächlich was dran. Danach hatte Kimmie wie eine Klette an mir gehangen. Ich hatte direkt vor ihrer Nase mit Serena rumknutschen müssen, damit sie mich endlich in Ruhe ließ. Statt zu antworten, grunzte ich nur. Es passte mir gar nicht, wenn er recht hatte.

»Was auch immer«, murmelte ich.

Brady lachte in sich hinein, und das wusste ich auch, ohne hinzusehen. »Schau mal, wer ist das denn?« Sämtlicher Spott war aus seiner Stimme gewichen, und er nahm den Fuß vom Gas.

Ich folgte seinem Blick und entdeckte jemanden, der zum hinteren Teil des Anwesens marschierte. Keine Ahnung, wer, denn mehr als eine schemenhafte Figur konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen.

Achselzuckend lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Ich war erschöpft. Vielleicht hatte Brady ja recht, und es war gut, dass ich nicht selbst am Lenkrad saß. »Das dürfte Ms Ames sein. Sie arbeitet meistens noch so spät.« Ich unterdrückte ein Gähnen.

»Die sollte hier aber eigentlich nicht so allein in der Dunkelheit rumspazieren. Das ist nicht sicher.«

Dass Brady immer so den lieben und anständigen Kerl raushängen lassen musste! Manchmal trieb er mich damit in den Wahnsinn, ehrlich. »Das tut sie schon länger, als ich lebe. Das geht schon klar, denke ich.« Ms Ames war unsere Zugehfrau und Köchin und sprang auch für meine Mutter immer mal in die Bresche. Wenn Mom Rat oder Hilfe brauchte, wandte sie sich grundsätzlich an Ms Ames. Ich mochte sie lieber als meine eigenen Eltern und ging gleichzeitig davon aus, dass auch sie mich lieber mochte, als es meine Eltern taten. Das Ganze beruhte also auf Gegenseitigkeit. Nachdem mein großer Bruder Rhett der erklärte Liebling meiner Eltern war, hatte Ms Ames mir klargemacht, ich sei ihrer. Zudem war sie eine toughe alte Lady, und ich wusste, wer immer ihr da draußen im Dunkeln begegnete, sollte sich besser warm anziehen. Mit ihr war nicht zu scherzen. Als ich klein war, war sie mehr als einmal für mich in den Ring gestiegen und stets als Siegerin hervorgegangen.

»Vielleicht sollte ich mal anhalten und mich vergewissern, dass sie gut heimkommt.« Noch immer klang Brady besorgt.

»Wenn du jetzt anhältst, klemm ich mich für das letzte Stück selbst hinters Steuer«, warnte ich ihn. Jetzt waren wir fast da, und mein Bett rief. Ich wollte einfach nur nach Hause. Außerdem: Bis er Ms Ames erreicht hatte, war die schon längst in ihrem Haus. Und in Sicherheit. Wie immer.

»Was bist du doch für ein kleiner Scheißkerl«, brummte Brady und setzte den Weg fort. Seine Bemerkung kratzte mich nicht sonderlich. Mein Vater nannte mich oft genauso. Doch wenn er das sagte, dann meinte er es auch, das wusste ich. Und er verabscheute mich. Denn auch wenn mein Nachname Lawton lautete … war ich nicht sein Sohn. Ich war lediglich das Ergebnis irgendeiner der vielen Affären meiner Mom. Der Mann, den ich Vater nannte, war nicht mein leiblicher Vater. Als mein älterer Bruder achtzehn Monate alt war, war Dad an Prostatakrebs erkrankt. Obwohl man den Tumor entfernt hatte, war sein Schniedel danach nicht mehr einsatzfähig. Tja.

Brady fuhr auf meinen Platz in unserer für sechs Wagen ausgelegten Garage, stellte den Motor ab und warf mir den Wagenschlüssel zu. »Geh ins Bett. West hat mir gerade eine SMS geschrieben, sie sind auch gleich hier. Ich gehe ihnen schon mal entgegen.«

Ich war nicht blöd. Er wollte nach Ms Ames sehen. Ich nickte und dankte ihm widerwillig, dass er mich heil heimgebracht hatte, und ging zum Haus. Als ich an der Bürotür meines Vaters vorbeikam, konnte ich ihn telefonieren hören. Es klang nach etwas Geschäftlichem. Er arbeitete in einer Tour. Früher hatte es mich traurig gemacht, dass er nie Zeit für mich hatte. Doch das änderte sich schlagartig, als ich ihn mit zwölf dabei belauschte, wie er mich als Bastard bezeichnete. Ein wenig hatte mich das auch erleichtert. Ich wollte nicht so sein wie er. Kein so sinnloses Leben voller Wut und Bitterkeit führen. Nur darauf bedacht, wie die Welt ihn sah und wie diese Familie rüberkam. Er war alles, was ich nie sein wollte. Ich hasste diesen Mann.

Ich verübelte es meiner Mutter nicht einmal, dass sie ihn betrogen hatte. In meiner Gegenwart zeigte er ihr nie Zuneigung. Sie war eine Trophäe an seinem Arm, mehr nicht. Außerdem war er mehr auf Reisen, als dass er zu Hause war.

Typen wie West fanden es okay, ein Mädchen zu lieben, doch ich wusste es besser. Wahre Liebe gab es nicht. Es war ein flüchtiges Gefühl, das dich verwirrte und am Ende zerstörte. Anderen zu vertrauen brachte nichts. Sobald du sie liebtest, besaßen sie die Macht, dir wehzutun.

Keine Frau würde je mein Herz berühren. Dafür war ich viel zu clever. Früher hatte ich meine Mutter geliebt, doch die hatte mich den Großteil meines Lebens wie Luft behandelt – zumindest dann, wenn sie gerade mal nicht mit mir angeben wollte wie mit einem preisgekrönten Pony. Auch meinen Vater hatte ich geliebt und um seine Anerkennung gebuhlt, bis mir aufgegangen war, dass ich da lange warten konnte. Rhett war sein Goldschatz. Der Sohn, mit dem er angab. Der Sohn, der von ihm stammte. Ich wusste, weit weg von ihnen war ich besser aufgehoben, trotzdem zerriss es mir bei dem Gedanken, was mir alles abging, manchmal das Herz.

Mein Leben würde voller Abenteuer sein. Das hatte ich mir geschworen. Ich würde mich nie an nur ein Mädchen binden. Ich würde Lawton schnellstmöglich hinter mir lassen und die Welt erkunden. Niemals jemanden lieben und mir nie wieder wehtun lassen.

Als ich bei meinem Zimmer ankam, sah ich den Gang entlang zum Zimmer meiner Mutter. Ein gemeinsames Schlafzimmer hatten sie und mein Vater nie gehabt. Zumindest nicht, seit ich auf der Welt war. Vielleicht ja, als sie hier frisch eingezogen waren? Ich war mir nicht sicher, und es interessierte mich auch nicht. Ihre Tür war geschlossen, und ich wusste, es scherte sie nicht, ob ich heil nach Hause gekommen war. Beide scherte es nicht. Die einzige Person, die sich um mich scherte, war ich. Klar, ich gab mich gern der Vorstellung hin, dass Ms Ames mich gernhatte, aber je älter ich wurde, umso mehr enttäuschte ich sie. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie mich ebenfalls fallen ließ.

Damit konnte ich umgehen. Ich wusste, auf mich konnte ich mich verlassen. Mehr brauchte ich nicht. Die anderen konnten alle zur Hölle fahren.

Kapitel 3 – Maggie

Ich stand auf einem sinkenden Schiff

Ich hatte nachsehen wollen, ob es das Baumhaus noch gab, und war schon fast wieder am Cottage angekommen, als ich hinter mir das Rascheln von Blättern hörte. Ich erstarrte.

»Hey!«, rief eine männliche Stimme. »Was machst du hier? Das ist ein Privatgrundstück, und du hast hier nichts verloren.«

Mit klopfendem Herzen versuchte ich, die schwache Erinnerung, die ich von der Stimme eines kleinen Jungen hatte, mit der tieferen Stimme hinter mir in Einklang zu bringen. Konnte das Gunner sein? Und wenn, war ich bereit, ihm gegenüberzutreten?

»Du machst besser den Mund auf, oder ich rufe die Polizei«, warnte mich der Typ.

Vor ein paar Minuten hatte ich die Scheinwerfer des Wagens wahrgenommen, der sich auf der langen Auffahrt dem Haus der Lawtons näherte. Als der Fahrer die Geschwindigkeit drosselte, hatte ich schon befürchtet, ich müsste erklären, wieso ich mich hier aufhielt. Schließlich hatte ich keine Ahnung, wer eigentlich von meiner Rückkehr wusste. Hatte meine Großmutter schon irgendjemandem davon erzählt? Den Anschein machte es jedenfalls nicht.

Die Tür des Cottages ging auf, und Nonna trat heraus. Unsere Blicke trafen sich, und dann warf sie einen Blick über meinen Kopf hinweg auf den Typen hinter mir. Ihre Miene hellte sich auf, und sie lächelte. »Danke, Brady, dass du auf mich aufpasst, aber Willa gehört hierher. Sie wohnt jetzt wieder für eine Weile hier. Du erinnerst dich doch an sie? Als Kinder habt ihr immer zusammen gespielt.«

Brady Higgens. Hätte ich mich doch nur genauer an sein Gesicht erinnern können. Doch ich erinnerte mich nur noch an das Kribbeln in meinem Bauch, wenn er damals in meiner Nähe gewesen war. Langsam wandte ich mich um und sah mir den Typen an, der in meiner Kindheit eine so große Rolle gespielt hatte.

Die Verandalampe warf ein sanftes Licht auf sein Gesicht, und mir stockte ein wenig der Atem. Der hübsche Junge, den ich zurückgelassen hatte, war nun groß, muskulös und sogar noch perfekter als damals mit elf. Unsere Blicke verschmolzen, und ich brachte keinen Ton heraus. Ich wollte wegsehen, andererseits konnte ich mich gar nicht an ihm sattsehen. Total verwirrend.

»Willa?« Der heisere Klang seiner Stimme ließ mich schaudern.

Ich nickte, denn ich traute mir noch nicht zu, etwas zu sagen. All diese dummen Schmetterlinge, die er mir als kleines Mädchen beschert hatte, kehrten zahlreicher denn je zurück.

Er machte einen Schritt auf mich zu und verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. Er wirkte glücklich, erfreut und … da war etwas, das ich verstand. Etwas, auf das ich, sosehr es mir auch gefiel, nicht reagieren konnte – er wirkte interessiert.

»Willa, komm rein«, meinte Nonna mit strenger Stimme, die keinen Einwand duldete. »Nochmals danke, Brady, dass du nach mir geschaut hast. Und jetzt nichts wie nach Hause mit dir, damit sich Coralee keine Sorgen um dich macht.«

Ich riss meinen Blick von Brady los und eilte die Stufen hinauf, hielt die Augen aber gesenkt, damit ich meine Großmutter nicht ansehen musste. Ihr war dieser Blick in seinen Augen auch aufgefallen. Und sie traute mir nicht. Keiner tat das.

Hätte Brady Bescheid gewusst, dann hätte er mich auch nicht so angeschaut.

»Immer gern, Ms Ames. Eine gute Nacht wünsche ich«, rief er. Ich nahm schleunigst Kurs auf mein Zimmer, da ich mir die Standpauke, dass ich mich von Brady fernhalten solle, nicht anhören wollte. Als die Haustür ins Schloss fiel, zuckte ich zusammen und wollte in meinem Zimmer verschwinden.

»Nicht so schnell, junge Dame!«, bremste mich Nonna, und ich hätte am liebsten aufgestöhnt. Sie brauchte mir nicht zu erzählen, was ich sowieso schon wusste. »Brady Higgens ist ein guter Junge, Willa. Er entwickelt sich zu einem feinen jungen Mann. Im Footballteam ist er der Quarterback, und Collegescouts strecken bereits ihre Fühler nach ihm aus. Er wird diese Stadt stolz machen. Du bist schon weiter als dieser Junge. Weißt mehr über die Welt als er. Er sieht, dass du dich in eine schöne junge Frau verwandelt hast. Er weiß nur das. Ich habe nicht vor, anderen zu erzählen, was vorgefallen ist. Das geht keinen etwas an. Aber bis du … bis du alles verwunden hast – bis es dir besser geht –, solltest du dir Jungs vom Hals halten.«

Ich musste schlucken. Nonna hatte mich aufgenommen, als niemand sonst mich wollte, aber sie traute mir weder, noch glaubte sie mir. Ich verspürte einen Stich in der Brust und konnte nur nicken. »Schon klar«, erwiderte ich, bevor ich in mein Zimmer eilte und die Tür vor allen verletzenden Worten verschloss, die sie noch sagen könnte. Ich brauchte einfach jemanden, der mich fragte, was wirklich passiert war, und mir glaubte, wenn ich es ihm erzählte.

Genau wie in jeder Nacht seit dem Ereignis, das mein Leben verändert hatte … bekam ich nicht viel Schlaf ab.

Bei der Einschreibung für mein letztes Schuljahr an der neuen Highschool war mir mulmig zumute. Nonnas Versicherungen gegenüber dem Direktor und dem Therapeuten, ich würde keine Schwierigkeiten machen, halfen da wenig. Sie vereinbarten, dass ich jeden Dienstag und Freitag in der letzten Schulstunde zu dem Therapeuten ging und mit ihm über meinen Seelenzustand sprach. Eigentlich hätte ich dankbar sein müssen, dass ich ansonsten keine weiteren Auflagen erhielt, doch mir graute davor.

Nonna hatte meinen Arm gedrückt, mir fest in die Augen gesehen und gesagt, ich solle hart arbeiten und sie stolz machen. Genau das hatte ich doch vor! Inzwischen hatte ich zu viel verloren, um sie auch noch zu verlieren. Ich würde mir ihr Vertrauen verdienen. Mir blieb gar nichts anderes übrig.

Noch während wir beim Therapeuten saßen und Nonna meine Situation erläuterte, war bereits der erste Gong ertönt. Ich würde also zu spät in meine erste Schulstunde kommen. Na prima! Alle würden mich anstarren, einschließlich des Lehrers, der mitten im Satz innehalten würde.

Ich blickte auf meinen Stundenplan. Als Erstes hatte ich Sozialkunde bei einem gewissen Mr Hawks in Raum Nummer 203. Ich ging den mit Spinden gesäumten menschenleeren Gang entlang, bis ich ihn fand. Durch die Tür hörte ich eine Stimme, vermutlich die von Mr Hawks. Ich holte tief Luft und rief mir in Erinnerung, dass ich mich doch eigentlich nicht zu fürchten brauchte. Schließlich hatte ich ein halbes Jahr mit Mädchen zusammengelebt, die zu Recht in einer Jugendstrafanstalt einsaßen. Das hatte es wirklich in sich gehabt. Dagegen war das hier nur ein Klassenzimmer mit Kids, die mich nie verstehen würden. Die keine Rolle spielten. Eine Rolle spielte nur, dass ich bestmögliche Noten schrieb und ja nicht in Schwierigkeiten geriet.

Ich legte die Hand auf das kühle Metall des Türgriffs, gab mir einen Ruck und trat ein. Wie erwartet richteten sich sämtliche Augenpaare auf mich. Ich jedoch mied jeglichen Blickkontakt und sah stur auf den älteren Mann mit den schütteren Haaren vorn im Raum, dessen Hemd nicht ganz über seinen Bauch reichte.

»Sie müssen Willa Ames sein«, sagte er mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Bitte nehmen Sie Platz, Willa. Wir gehen gerade die Aufzeichnungen der letzten Woche durch. In zwei Tagen schreiben wir dazu einen Test. Ich erwarte, dass Sie einen Klassenkameraden um die Kopie seiner Notizen bitten und sich vorbereiten. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, insofern: Bringen Sie sich in puncto Unterricht auf Stand. Allerdings müssen Sie aufpassen, wessen Aufzeichnungen Sie sich geben lassen. Nicht jeder hier wird das Klassenziel erreichen.« Mit diesen Worten ließ er den Blick über seine Lesebrille hinweg über die Schülerschar hinwegschweifen.

»Ja, Sir«, erwiderte ich, ehe ich mich umwandte und zu dem einzigen leeren Tisch im Raum ging. Als stände ich auf einem sinkenden Schiff und er wäre ein Rettungsboot, ließ ich ihn nicht aus den Augen.

Kapitel 4 – Maggie

Das Baumhaus sieht noch aus wie immer

Was hat dich dazu gebracht, dich auf diese Irre einzulassen? Ich dachte, du hättest deine Lektion schon gelernt?«, fragte mich West Ashby, als wir nach der ersten Stunde den Kursraum verließen. Es war unser einziges gemeinsames Fach. West war nämlich nicht nur ein großartiger Runningback, sondern auch megaclever, weshalb er zumeist Fortgeschrittenenkurse belegte. Mir war schleierhaft, wieso eigentlich. Für das College hatte er bereits ein Footballstipendium in der Tasche. Ein weiteres brauchte er eigentlich gar nicht.

»Keine Ahnung, wovon du redest«, erwiderte ich.

»Kimmie, Mann. Sie erzählt jedem, dass ihr miteinander rummacht und wieder zusammen seid. Dabei wart ihr das doch nie, wenn ich mich recht entsinne.«

Kimmie? Ernsthaft? Was redete die denn für einen Stuss daher! Vielleicht schuldete ich Brady ja ein Dankeschön dafür, dass er meinen Arsch am Abend zuvor nach Hause befördert hatte. »Sie lügt.«

West lachte in sich hinein. »Dann klärst du das mit ihr mal besser ab. Sie steht nämlich an deinem Spind und macht ein Gesicht wie ein liebeskrankes Hündchen.«

Ich riss meinen Kopf hoch und sah zu meinem Schließfach. Tatsächlich. Da stand Kimmie und lächelte mich an.

»Shit.«

»Für die wirst du ein Kontaktverbot erwirken müssen«, erwiderte West in amüsiertem Ton.

Anstatt ein paar Sachen in meinem Spind abzuladen, zog ich es vor, gleich meinen nächsten Kursraum anzusteuern.

»Viel Glück!«, rief mir West hinterher. Mannomann, auf seinen Humor hatte ich gerade so gar keinen Bock.

Weit gekommen war ich nicht, als sich eine Hand um meinen Arm schlang. »Du kommst nicht mal kurz zu mir? Dabei habe ich doch auf dich gewartet!« Kimmies aufgekratzte Stimme ging mir auf den Zeiger.

»Lass meinen Arm los!«, zischte ich.

»Aber ich wollte mit dir sprechen. Nach gestern Abend kam’s mir so vor, als hätten wir viel zu bereden«, fuhr sie fort, ohne auf meine Bitte einzugehen.

Ich warf einen Blick über ihren Kopf hinweg und entdeckte das Schild für den Mädchenwaschraum. Bevor das hier noch peinlicher wurde, schob ich sie in Richtung der Tür, öffnete diese und ging hinein, denn ich wusste, sie würde mir folgen müssen, wenn sie sich weiter an meinen Arm klammern wollte.

Kimmie kicherte. »Du Böser, du, gehst einfach in den Mädchenwaschraum!«

Ich ließ meine Bücher auf die Waschbeckenkante fallen und riss mich von Kimmie los. »Sag mal, hast du sie noch alle?« Ich machte einen Schritt von ihr weg. »Ich hatte was getrunken. Wir haben ein bisschen rumgemacht. Zur Hölle, an das meiste erinnerte ich mich nicht mal.« Okay, das war eine Lüge. Ich war nicht betrunken gewesen. Nur bescheuert.

Kimmie sah aus, als hätte ich sie geohrfeigt. »Aber ich dachte, du wolltest wieder mit mir zusammen sein. Und würdest mich mögen.«

Ich seufzte auf. »Kimmie, ich lege mir grundsätzlich keine Freundinnen zu, und das weiß auch jeder auf der Schule hier. Wir waren nie zusammen. Wir hatten nur ein bisschen Spaß miteinander, das ist alles.«

Ihre Unterlippe bebte, und am liebsten hätte ich schnell meine Bücher geschnappt und wäre abgehauen.

»Aber … aber … ich hab gedacht …«

»Dann hast du eben falsch gedacht. Aber ich verspreche dir was. Ich komme dir nie wieder zu nahe. Betrunken oder nüchtern. Also mach einen Abgang und lass mich in Ruhe.«

Kimmie schluchzte auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Dann rannte sie zur Tür. Ich hatte gewusst, diesmal musste ich Klartext reden. Das letzte Mal, als sie dachte, wir wären ein Paar, hatte ich nett sein und ihr den Irrtum schonend beibringen wollen. Doch darauf war sie mit Essen bei mir zu Hause aufgetaucht und hatte mich gestalkt. Um ihr zu zeigen, dass wir kein Paar waren, hatte ich Serena mit ins Spiel bringen müssen. Auf so was Beklopptes hatte ich keine Lust mehr.

Gerade griff ich nach meinen Büchern, als eine der Toilettentüren aufging. Dabei hatte ich gedacht, wir wären allein. Grinsend wartete ich ab, wer das Ganze mit angehört hatte. Hoffentlich war es jemand mit einer großen Klappe, sodass die Gerüchte, ich würde Kimmie daten, noch vor dem Lunch aus der Welt geschafft waren.

Ein langes, ausgesprochen gebräuntes Bein kam zum Vorschein. Das dazugehörige Mädchen trug ausgelatschte Chucks, die der Schönheit dieses Beins keinen Abbruch taten … Verdammt, war das ein Hammerbein! Ich ließ meinen Blick hochwandern, bis Shorts schließlich das endlos lange Bein beendeten und der Rest erschien.

Wer, zum Teufel, war sie?

Blaue Augen von der Farbe des Himmels, eingerahmt von dichten schwarzen Wimpern, dominierten ihr herzförmiges Gesicht. Sie musterten mich genau, als sei sie sich nicht sicher, was sie von mir halten sollte. Rasch nahm ich den Rest ihres Gesichts in mir auf, volle pinke Lippen und eine perfekte Nase. Das alles umgeben von einem Glorienschein aus blondem Haar, das schon fast zu hell war, um echt zu sein.

»Seit wann bist du so grausam, Gunner Lawton?« Ihr Südstaatenakzent war angenehmer als der, den man hier in der Gegend hörte. Melodischer. Ich hätte ihm tagelang zuhören können, ohne dass mir langweilig geworden wäre.

Moment mal … die kannte mich! Ich hörte auf, auf ihren Mund zu starren, und sah ihr in die Augen. Wer war sie? An jemanden wie sie erinnerte man sich doch? Ich war ihr hundertpro noch nie begegnet.

»Du weißt nicht, wer ich bin, richtig?« Sie verzog den Mund zu einem schiefen kleinen Lächeln und fing an, sich die Hände zu waschen. »Na klar. Ist ja auch schon ein Weilchen her. Ich habe allerdings sofort wieder gewusst, wer du bist. Deine Stimme ist jetzt tiefer … doch deine Augen sind noch ganz die alten.«

Ich musste mich aus dieser Trance rütteln. Sie war nur ein Mädchen. Ein megaheißes Mädchen, das auf jeden Fall, aber deshalb durfte ich mir von ihr noch lange nicht den Kopf verdrehen lassen. »Kann nicht sagen, dass ich mich an dich erinnere«, erwiderte ich schließlich.

Sie stieß ein kleines Lachen aus und sah mich im Spiegel an. »Das ist okay. Brady hat mich auch nicht erkannt.« Nachdem sie sich mit einem Papierhandtuch die Hände abgetrocknet hatte, ging sie zur Tür. Dort blieb sie neben mir stehen und legte den Kopf schräg. »Das Baumhaus sieht noch aus wie immer.« Nach diesen Worten ging sie hinaus.

Das Baumhaus … Brady … Heilige Scheiße, das war Willa Ames!

Kapitel 5 – Maggie

Das geschah mit voller Absicht

Im Grunde hatten sie sich genau so entwickelt, wie man es erwarten konnte. Gunner war schon immer großspurig und selbstbewusst gewesen. Fies eigentlich nicht, trotzdem überraschte mich das Gespräch nicht, das ich belauscht hatte. Durch seinen familiären Hintergrund besaß Gunner Lawton Macht und Einfluss in der Stadt und sah obendrein auch noch extrem gut aus.

Früher hatte ich in seiner Nähe allerdings keine Schmetterlinge in meinem Bauch gespürt. Keinen einzigen. Das war damals Brady vorbehalten. Dem guten Kerl, der mich nie akzeptieren würde, sobald er erst mal meine Vergangenheit kannte. Den wahren Grund meiner Rückkehr nach Lawton. Aber Nonna würde sich irgendeine Lügengeschichte einfallen lassen, und alle würden sie schlucken. Wenn ich hierbleiben wollte, musste ich mitspielen.

»Willa Ames.« Gunner rief meinen Namen, und ich musste lächeln. Hatte ja nicht lange gedauert, bis der Groschen fiel.

Ich sah zu ihm zurück und entdeckte, dass er mit einem vielsagenden Grinsen auf mich zukam. Ich wusste, was er dachte. »Geh und wisch diesem Mädchen die Tränen weg und sei nett zu ihr«, erwiderte ich, wartete aber trotzdem, dass er mich einholen konnte.

Er verdrehte die Augen. »Du hast ja keine Ahnung, wie gestört die ist.«

Natürlich, er wusch seine Hände in Unschuld. Wie immer. Gunner fand immer einen Grund, warum er nicht im Unrecht war. »Dein Penis ist also rein zufällig in ihre Vagina gerutscht?«

Er gluckste. »Nein, das geschah mit voller Absicht. Verdammt, siehst du gut aus. Seit wann bist du wieder hier?«

Das arme Mädchen aus dem Waschraum war ihm keinen weiteren Gedanken mehr wert. Na, vielleicht lernte sie daraus und vermied derartige Fehlgriffe künftig. Mit Gunner hatte man Spaß, aber mehr war nicht drin. »Nonna hat mich gestern vom Busbahnhof abgeholt.«

»Du wohnst also wieder bei Ms Ames? Ja, und wann hattest du vor, zu mir zu kommen und Hallo zu sagen?«

Gar nicht. Im großen Haus wollte mich Nonna nicht sehen. Das war mir klar, ohne dass sie es überhaupt sagen musste. Folglich zuckte ich die Achseln. »Es ist sechs Jahre her.« Eine andere Antwort hatte ich nicht anzubieten.

Gunner zog eine Augenbraue nach oben. »Ja und?«

»Ich wusste ja, dass wir uns in der Schule über kurz oder lang begegnen würden. War mir nicht sicher, was aus dir geworden ist oder ob unsere Freundschaft aus Kindertagen noch Bestand hat.«

Gunner betrachtete mich von Kopf bis Fuß, so, wie er es schon im Waschraum getan hatte. »Ich bin ein Kerl, Willa. Wir können Freunde sein oder was anderes. Das liegt jetzt ganz an dir.«

Nun war es an mir, die Augen zu verdrehen. Das war die albernste Anmache, die ich je gehört hatte. Und ich hatte schon eine Menge gehört.

»Mir liegt daran, rechtzeitig in meine nächste Stunde zu kommen und keine Schwierigkeiten zu kriegen. Es war nett, dich wiederzusehen, Gunner. Bestimmt laufen wir uns mal wieder über den Weg. Wir sind ja hier nicht in der Großstadt.« Ich wandte mich um und ließ ihn im Gang stehen. Es wäre verkehrt und zwecklos gewesen, ihm in irgendeiner Hinsicht Hoffnung zu machen.

Auf meinem Weg zu Zimmer 143 mied ich wieder jeglichen Blickkontakt zu anderen. Ich musste Nonna von mir überzeugen. Keinen Teenager würde man leichter großziehen können als mich. Ich würde ihr keine Probleme bereiten. Ich hatte schon so viel angestellt, dass es für ein ganzes Leben reichte. Schluss damit.

Ein hochgewachsener Typ mit den himmelblausten Augen, die ich je gesehen hatte, erregte meine Aufmerksamkeit, bevor ich hörte, wie Gunner »Nash!« rief und er seinen Blick abwandte. »Yeah«, erwiderte er.

Ich wartete nicht ab, dass Gunner uns einander vorstellte. Er hatte nichts zu bedauern. Ich schon. Ich hoffte bloß, er würde nie in so eine Situation kommen wie ich, denn das machte das Leben fast unerträglich. Wir waren nicht unbesiegbar. Leider hatte ich das ein wenig zu spät begriffen.

Die Highschool war überall dasselbe, zumindest in den Vereinigten Staaten. Alles lief nach demselben Muster ab. Die Cliquen, das Herumblödeln, die Dummheit so vieler, überall dasselbe. Mit dem einzigen Unterschied, dass mich hier niemand kannte. Die Kids, mit denen ich als Kind in die Schule gegangen war, hatten mich vergessen, und die beiden Jungs, die sich an mich erinnerten, erzählten niemandem sonst, wer ich war. Tatsächlich ging Brady sogar so weit, mich in unserer gemeinsamen Unterrichtsstunde komplett zu ignorieren.

Das hatte mich, ehrlich gesagt, schon getroffen. Er hatte neben einer hübschen Brünetten und einem Typen gesessen, der sie bestimmt datete, denn sie konnten ihre Finger nicht voneinander lassen. Brady alberte mit ihnen herum und tat so, als wäre ich Luft, bis die Stunde vorbei war und er mir auf dem Weg nach draußen mit einem Kopfnicken ein schlichtes Hallo andeutete.

Einen Moment lang fragte ich mich, ob ihm irgendwie zu Ohren gekommen war, was ich getan hatte. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Ich wollte sein Interesse ja gar nicht wecken. Für Schmetterlinge und dergleichen hatte ich keine Zeit. Alles, was ich wollte, war, meine Nonna stolz auf mich zu machen und meinen Bruder vielleicht eines Tages dazu zu bringen, wieder mit mir zu reden. Meine Mutter hingegen konnte mich mal, und meinen Stiefvater wollte ich nie wiedersehen.

So sah also mein Leben aus. Wie man sich bettet, so liegt man. Nonnas Worte, als sie mich vom Busbahnhof abgeholt hatte.

»Wie war die Schule?« Sie kam aus ihrer kleinen Küche und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

So was wie einfach kacke würde vermutlich nicht gut rüberkommen, weshalb ich mich für ein »Gut« entschied. Ihr zuliebe.

Sie wirkte nicht überzeugt. »Bring deine Tasche auf dein Zimmer und komm dann gleich wieder runter. Du musst mir helfen, die Kartoffeln für das Dinner heute Abend drüben zu schälen.«

Normalerweise bereitete Nonna sämtliche Gerichte für die Lawtons auch in deren Haus vor. Mir zuliebe verbrachte sie den Nachmittag nun bei sich. Es war ein schönes Gefühl, umhegt zu werden. Das kannte ich gar nicht mehr.

»Mach ich.« Ich würde alles tun, um hierbleiben zu können. Nach Hause wollte ich auf keinen Fall mehr, selbst wenn es meine Mutter erlaubt hätte.

Ich legte meine Schultasche auf mein Bett, schlüpfte aus meinen Chucks und ging dann auf Socken wieder in die Küche hinunter. Sechs Abende in der Woche bereitete Nonna das Dinner für die Lawtons. Am Samstagabend gab es gewöhnlich eine große Gesellschaft, und auch dafür kochte Nonna. Oftmals fand dazu noch eine Party statt, und Nonna musste Aushilfen anheuern. Wenn ich mich recht erinnerte, fuhren die Lawtons sonntags zum Dinner in den Country Club in Franklin, der eine Fahrstunde entfernt in Tennessee lag. Gunner war früher immer bei uns geblieben, nachdem er mit seinen Eltern noch gemeinsam die Baptistenkirche besucht hatte.

Das lief inzwischen bestimmt alles ganz anders. Wahrscheinlich verbrachte er seine Sonntage nun mit Freunden und ging auf die Feldpartys, auf die wir früher schon hingefiebert hatten. Eine Kleinstadt wie Lawton bot an Wochenenden wenig Abwechslung, und eigentlich waren die Feldpartys der einzige Ort, an dem die Jugendlichen ihren Spaß haben konnten. Logischerweise fanden sich die Stars der Lawton-Highschool auch dort ein. Nach dem, was ich heute mitgekriegt hatte, gehörten Gunner und Brady auch zu diesem erlauchten Kreis.

»Schnapp dir einen Schäler. Ich nehme das Messer. Muss ja nicht sein, dass du dir einen Finger abschneidest«, sagte Nonna, als ich in die Küche zurückkam. Dort stand ein großer Kübel gewaschener Kartoffeln, die geschält werden mussten.

Ich fing an, über dem Geschirrhandtuch, das sie für mich ausgebreitet hatte, eine Kartoffel zu schälen.

»Na, wie war der Unterricht so?«

Nach so etwas hatte sich meine Mutter nie erkundigt. Überhaupt hatte sie mich nie viel gefragt. Jetzt erst merkte ich, wie sehr ich Nonnas Fürsorglichkeit vermisst hatte. Es war mir so unendlich schwergefallen, sie zu verlassen.

»Jetzt mal ehrlich? Langweilig.«

Nonna gab einen missbilligenden Laut von sich. »Du musst in die Schule, damit was aus dir wird.«

Das verstand ich ja, doch in den Kursen wurde Stoff durchgenommen, den ich schon kannte. Vor meiner Zeit in der Jugendstrafanstalt hatte ich Fortgeschrittenenkurse besucht. »Ich weiß. Keine Bange, ich werde gute Noten schreiben.«

Sie ließ eine geschälte Kartoffel in eine mit Wasser gefüllte Schüssel fallen und griff nach einer weiteren. »Hast du Gunner oder Brady getroffen?«

Als ob es an dieser kleinen Highschool überhaupt anders ginge. »Ja, habe ich. Mit beiden von ihnen habe ich gemeinsame Kurse.«

»Und? Hast du dich mit ihnen unterhalten?«

»Ja, aber nicht viel.« Anscheinend hatte sie Angst, ich könnte mit einem der beiden etwas anfangen. Sie traute mir nicht über den Weg. Warum sollte sie auch? Ich hatte nichts getan, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

»Du wirst bald genug Freunde finden. Aber sei wählerisch. Du bist, mit wem du dich abgibst. Das hast du ja schon auf die harte Tour lernen müssen.«

O ja, allerdings. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mir diese Lektion im Nachhinein gerne erspart. Ich hatte Stunden, Tage und Wochen damit verbracht, mir zu wünschen, an jenem Abend nicht dort gewesen sein. Cleverer gewesen zu sein. Nicht gesehen zu haben, was ich gesehen hatte.

»Deine Mama ist nicht perfekt – weiß Gott nicht. Aber sie hat versucht, dich zu sich zu holen und dir die Mutter zu sein, die sie dir im ersten Teil deines Lebens nicht sein konnte. Du kannst weder ihr noch irgendjemand anderem die Schuld dafür geben, was passiert ist. Du hast diese Fehler gemacht, und nun musst du schauen, wie du dich davon wieder erholst.«

Dass ich Fehler gemacht hatte, brauchte man mir nun wahrlich nicht zu sagen. Die Folgen spürte ich täglich. Allerdings dachte Nonna, meine Mutter hätte versucht, mir eine Mom zu sein. Von wegen. Ich fragte mich oft, warum sie mich vor sechs Jahren überhaupt zu sich geholt hatte. Nichts hatte ich ihr recht machen können. Nun dachte die einzige Frau, die mich geliebt hatte, ich wäre ein Loser der übelsten Sorte.

Umso wichtiger war es mir, meine Großmutter vom Gegenteil zu überzeugen. Ob ich meine Mutter je wiedersah, war mir dagegen egal. Als ich sie am meisten gebraucht hatte, hatte sie mir nicht zugehört. Sie hatte mir nicht geglaubt. Und auch sonst keiner.

Kapitel 6 – Maggie

Nenn’s, wie immer du willst

Als ich nach oben ging, stand Maggies Zimmertür offen. Ich wusste, dass ihr Freund, der auch einer meiner besten Freunde war, nach dem Training heute mit seiner Mutter zu einer Therapiesitzung gegangen war. Seit dem Tod seines Vaters vor ein paar Monaten war seine Mutter ständig zwischen Lawton und der Stadt, in dem ihr Elternhaus stand, hin- und hergependelt. Der Verlust seines Dads hatte die beiden tief getroffen. Seine Mutter war seitdem völlig neben der Spur.

Maggie las in einem Buch, und die Haare hingen ihr über die Schulter, sodass sie ihr Gesicht verdeckten. Als ich durch ein Räuspern auf mich aufmerksam machte, riss sie den Kopf hoch, und ihre ausdrucksstarken Augen weiteten sich. Dann lächelte sie. »Hey, Brady!«

Als meine Cousine bei uns eingezogen war, hatte sie zunächst kein Wort gesprochen. Nur West hatte ich es zu verdanken, dass sie jetzt wieder ganz selbstverständlich meinen Namen aussprach beziehungsweise überhaupt redete. Als er mit ansehen musste, wie sein Vater nach und nach dem Krebs erlag, hatte sie ihm zur Seite gestanden und seinetwegen auch wieder zu reden angefangen.

»Was liest du denn?« Ich trat in mein ehemaliges Zimmer.

»Irrfahrt im Dunkel von Jean Rhys.«

Noch nie gehört. Sah so aus, als würde Maggie eher nichts Gängiges lesen. Sie war nicht der Typ Mädchen, der Twilight verschlang. Als wüsste ich, wovon, in Dreiteufelsnamen, sie sprach, nickte ich.

Sie grinste. »Es handelt von einem jungen Mädchen mit einer fiesen Stiefmutter, deren Vater schon gestorben ist. Um Cinderella geht es aber nicht.«