Roderich Garmeister
© 2016 Roderich Garmeister
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback: | 978-3-7345-8087-1 |
Hardcover: | 978-3-7345-8088-8 |
e-Book: | 978-3-7345-8089-5 |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Der Autor ist mehreren Menschen zu großem Dank verpflichtet. In chronologischer Reihenfolge sind dies:
Ingmar | der mich durch schonungslose Kritik zur ersten grundlegenden Überarbeitung in einem sehr frühen Stadium veranlasst hat. Dadurch erst ist die Erzählung lesenswert geworden. |
Christine | die liebevoll und trotz später Stunde die Wirkung des vorgelesenen Wortes an sich erproben ließ. Entscheidende kleine Details gehen auf sie zurück. Das Publikum bei Lesungen wird es ihr danken! |
Sarah | die immer wieder Teile des Manuskriptes gelesen und wertvolle Hinweise, Korrekturen und Anmerkungen gegeben hat. |
Günter | der mir beibrachte, wie die Stimme eingesetzt werden kann und wie Sätze funktionieren. Ich weiß, es ist Dein Job, aber den hast Du großartig gemacht! |
Janina | die die Endfassung redigiert und ihr mit journalistischem Scharfsinn den letzten Schliff verpasst hat. |
Und | (antichronologisch) alle Freunde, Familienmitglieder und Kollegen, die sich immer wieder erzählen lassen durften, wie weit die Sache gediehen ist, die sich Auszüge anhören mussten und mir Mut machten. |
Ohne Euch wäre dieses Buch nicht so geworden, wie es ist.
Ich danke Euch!
Euer Rodi
Die wurzel mit öl gekocht / unnd ubergelegt / zuvor mit Gerstenmäl zerstossen / als ein pflaster / leschet den kalten brand und wildt fewr.
Hieronimus Bock
Don´t try this at home.
Tory Amos
Eigentlich wollte ich Ihnen nur erzählen, wem ich vorgestern begegnet bin und was alles davor war. Und was sich daraus für Folgen ergeben haben und so.
Wahrscheinlich bin ich Ihnen aber noch ein paar erklärende Worte schuldig, bevor diese Geschichte anfängt. Ist ja nur fair, wenn Sie gleich von Anfang an wissen, worauf Sie sich einlassen. Also:
Was mich selbst angeht, ist der ganze Krempel hier eine Biografie. Jedes Wort ist wahr. Also, so fast jedes. Was andere angeht, ist es das nicht. Die handelnden Personen sind Statisten. Ich musste sie erfinden, umschreiben, miteinander verschmelzen und verfälschen, um ein hinreichend genaues Abbild meines Lebens zeichnen zu können, ohne jemanden in Schwierigkeiten zu bringen.
Eine Ähnlichkeit mit lebenden oder auch nicht lebenden Personen ist also nicht beabsichtigt. Und so sie auftritt, ist sie zufällig.
Das heißt, ein Freund aus alten Tagen wird sich wiedererkennen. Aber das entsprechende Kapitel habe ich ihm unlängst vorgelesen und er hat geholfen, es noch genauer werden zu lassen.
Und: Zwei, die ich für relative Schufte halte, sind so beschrieben, wie sie waren. Oder wie ich sie erlebt habe. Allerdings stand der eine dermaßen im Lichte einer bescheidenen Öffentlichkeit, dass es kaum möglich gewesen wäre, um ihn herum zu lügen.
Blöderweise ist er für die spätere Entwicklung von Bedeutung, so dass ich ihn erwähnen musste. Anstatt ihn mal unter den Tisch fallen zu lassen. Was ich bei anderer Gelegenheit vielleicht hätte tun sollen. Zum Beispiel auf so einem Schulfest. Da hatten sie Tische von geeigneter Höhe aufgestellt.
Der andere war ein eher kleiner Verbrecher. Unsere wenigen Begegnungen waren stets von unschöner Natur. Schwamm drüber. Im Übrigen ist dieser Typ, selber Täter und Opfer zugleich, wahrscheinlich schon lange da oben in Dänemark verstorben.
Ach so, und noch ein anderer Typ sitzt womöglich in der Schweiz im Gefängnis.
Aber ansonsten gilt: Wenn hier irgendjemand ausgiebig und genau beschrieben wird, bin ich das im Wesentlichen selbst. Ab und zu muss es ja auch was zum Lachen geben. Und wenn Sie mal ein schlechtes Beispiel brauchen, dann können Sie so mir nichts, dir nichts, eins aus der Tasche zaubern. Sofern Sie im Besitz dieses Buches sind. Und das ist ja auch immer ganz praktisch.
Mein Name ist nicht Holden Caulfield. Das ist der Ich-Erzähler aus „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger. Ich hatte daran gedacht, ein Pseudonym zu wählen. Aber das wäre schon ziemlich bescheuert, denn der Autor hat mir ja bereits eins verpasst. Wenn der Typ mit dem Pseudonym sich dann selber auch noch eins aussucht, wird die Sache unnötig kompliziert. Ich erwähne diesen jugendlichen Bengel Holden bloß, weil wir Ähnlichkeiten aufweisen, er und ich.
Obwohl, bei allem jugendlichen Gefühlgewirr und so, der alte Holden hat seine Sensibilität auch gelebt. Er war wirklich sensibel und alles, für seine siebzehn Jahre. Was man von mir leider nicht behaupten konnte.
Außerdem hatte er mir in vielerlei Hinsicht ´ne Menge voraus. Er ist wirklich mehrmals von der Schule geflogen. Ich hatte bloß zwei Schulkonferenzen, in denen man mir das androhte.
Er hatte als Jugendlicher ein Faible für erwachsene Frauen. Diese romantische Ader hatte ich auch. Aber während er es zumindest hingekriegt hat, mal mit einer von ihnen zu tanzen, war ich sogar dafür noch zu blöd. Na gut, nicht zu blöd, aber zu schüchtern. Will heißen, zu verklemmt. Da brauchte die Dame nicht mal älter als ich zu sein.
Aber egal. Das war wahrscheinlich alles wichtig für einen gewissen Reifeprozess.
Also der Holden. Der hätte natürlich manchen Scheiß gar nicht erst mitgemacht. Um es gleich zu sagen: Dass ich noch lebe, ist in gewisser Hinsicht eher Zufall. Okay, das trifft sicherlich auf uns alle irgendwie zu. Straßenverkehr, Flugreisen, Krankheiten, das alles. Ist doch manchmal ein Elend. Und dann kann man problemlos noch selber was dazu beisteuern.
Aber Sie wollen ja vielleicht endlich wissen, wem Sie gerade erlauben, Ihnen `nen Knopf ans Ohr zu labern.
Mein Name ist Raltebrandt Gerstenmälzer. Sie dürfen ruhig Ralte sagen. Falls Sie sich über den Vornamen wundern, daran sind meine Eltern schuld. Die hatten nichts Besseres zu tun, als sich für ihre vier Kinder absonderliche Namen auszusuchen. Die Auswahlkriterien waren erstens, dass die Namen mindestens schon ein halbes Jahrtausend aus der Mode sein mussten, und zweitens, dass sie in unserem Heimatgebirge zur Zeit unserer Kindheit niemand kannte. So war von vornherein sichergestellt, dass wir schon früh eine wichtige Außenseiterfunktion wahrnehmen konnten.
Weiterhin hatte ich damals eine gewisse Neigung zu Heldenfiguren. Und ein Held wollte ich deshalb auch irgendwie werden. Dass das mit einer vernünftigen Lebensführung nicht immer vereinbar ist, war mir damals nicht klar.
Aber eigentlich wollte ich Ihnen ja erzählen, wem ich vorgestern begegnet bin und was alles davor gewesen ist. Und die Folgen davon. Die auch.
Die Geschichte fängt an, da bin ich so ungefähr zwanzig. Und sie findet ihr Ende ein Vierteljahrhundert später. Also vorgestern. Was man so Ende nennt.
Neulich, vor gar nicht allzu langer Zeit, also genau genommen vorgestern, traf ich beim Einkaufen völlig unerwartet, unverhofft und nach vielen (also vierzehn) Jahren die Frau, um derentwillen ich mich beinahe mal erschossen hätte.
Das heißt, natürlich nicht um derentwillen. Sondern wegen meiner spätjugendlichen, vollkommen überzogenen Trauer darüber, dass sie sich statt meiner einen langhaarigen Typen geangelt hatte. Dies geschah gerade zu dem Zeitpunkt, als ich endlich zu der Erkenntnis gereift war, dass sie die große Liebe meines Lebens ist. Dazu hatte ich etwa ein Jahr gebraucht, und als der Erkenntnisprozess abgeschlossen war, war es zu spät.
Natürlich hatte sie mir in typisch weiblicher Manier eine hinreichend große Anzahl an Warnzeichen gegeben, die ich geflissentlich zu übersehen geruht hatte. Und nicht nur das. Ich war auch blöddämlich genug gewesen, eine ehemalige und übrigens auch ziemlich hübsche Schulfreundin, die Jahre zuvor einmal in trauter Zweisamkeit auf der Parkbank ihren Kopf auf meine Schultern gelegt hatte, tröstender Weise zum Tanzen auszuführen. Und zwar, weil ihr arroganter Arsch von einem Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Die Dame, um die es hier eigentlich geht, hatte ich wohlweislich darüber informiert und sie gefragt, ob sie mitkommen wolle. Wollte sie nicht, sie hatte es im Hals, so wie sie sagte.
Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob in unserem hintergebirgigen Heimatlandstrich die Redewendung „so einen Hals haben“ zu jener Zeit bereits bekannt war. Das Ganze ist ja nun auch schon wieder fast ein Vierteljahrhundert her. Aber wie ich heute mit dem Abstand meiner reifen Jahre und jeder Menge an Erlebnissen, Büchern und Rotwein zu sagen weiß, spielt uns unsere Psyche so manchen wohlgemeinten Streich. Und selbst wenn sie (die Dame) damals noch keinen solchen Hals kannte, so hatte sie gewiss einen und das hatte sich psychosomatisch an der richtigen Stelle manifestiert.
Ich arroganter Schnösel ließ sie also wo sie war, ging mit der anderen tanzen und wähnte fast schon zwei Eisen im Feuer, sprich zwei Damen an der Hand zu haben.
Infolge dieser Fehleinschätzung angelte sich die große Liebe halt diesen Typen und die andere Tussi landete auch irgendwie wieder bei ihrem arroganten Arsch von einem Freund.
Ich dummdämlicher Affe hatte von alldem nichts mitbekommen, denn ich war ohnehin die meiste Zeit nicht da. Nämlich ich diente meinem Vaterland in herausragender Weise, indem ich ab und zu auf ein Schiff aufpasste, das sich zu dieser Zeit überwiegend im Hafen oder in der Werft aufhielt. Diese Tätigkeit hatte ich mir ausgesucht, weil unser hintergebirgiger Heimatlandstrich zwar über liebenswerte Menschen, deren einen ich ja tatsächlich liebte, weiterhin über Berge, Forste, Rinder, Hunde, Katzen und Pferde, auch sonstiges Getier, aber wenig Abwechslung verfügte und ich in spätpubertärer Manier auf See zum Manne zu reifen gedachte.
Stattdessen passte ich also auf diesen Kahn auf, schipperte wohl gelegentlich auch mal damit die Küste entlang. Weil erst noch ausprobiert werden musste, ob es auch gut war, das Schiff, oder eher: das Boot.
Ich war also jedenfalls nicht da, und darum hatte die große Liebe wohl auch gefunden, dass sowieso wenig zum Schluss machen vorhanden sei und diesen Umstand keiner weiteren Erwähnung für würdig erachtet.
Immerhin, der Briefverkehr klappte zu jener Zeit noch vorzüglich und so schrieben wir uns weiterhin in schöner Regelmäßigkeit Briefe, die an dem Gefühl, uns gut zu kennen und gern zu haben, nichts zu wünschen übrig ließen.
Und so kam es nicht von ungefähr, dass ich die in einem ihrer Briefe enthaltene Redewendung „ich mag Dich“ (die Dame hatte offensichtlich keinen Hals mehr) als Ausdruck der innigen Zuneigung empfand und meinerseits im hohen Norden auftaute, gleichsam den sorgfältig gehegten Gefühlspanzer ablegte und mit dem Zug gen Heimat fuhr, der jungen Dame meine tiefe Liebe zu gestehen, und sie zu bitten, mir alle Blödheit zu vergeben und die Meine zu sein, für immerdar.
Fast schon, aber eigentlich tatsächlich mit zittrigen Knien harrte ich ihrer an der Ecke des Musikschuppens, der in jenen längst vergangenen Tagen den Bewohnern unseres Heimatgebirges zum Abrocken diente.
Ein friedfertiger Freund, der sich freute, mich zu sehen, stand auch da, sah sie und sagte: „Sieh an, da kommt die Edeltraut mit ihrem neuen Anhang!“
Sie heißt natürlich ganz anders, aber der Satz entfaltet seine Wirkung besser, wenn dort ein Name steht, auch wenn er nicht stimmt.
Ich werde in dieser Erzählung also weiterhin von der Dame, der überirdischen Schönheit, der großen Liebe, der Angebeteten, dem wundervollen weiblichen Wesen, der tief verletzten, unsicheren jungen Frau oder der blöden Kuh sprechen, und Sie wissen, wer gemeint ist.
Die Dame kam also, an ihrer Seite dieser Typ, und mein Herz sank ins Bodenlose. Aufgrund angeborener Tapferkeit blieb ich und durchlebte einen der beschissensten Abende, die mein blödes Hirn zu vergessen sich weigert.
Noch etwas draußen rumstehen. Energie sammeln. Tun, als ob alles okay wär. Reden. Reingehen. Unbeteiligt gucken. Der Schuppen ist in Halbdunkel und laute Musik getaucht. Recht eng auch. Viele Leute. So schnell siehst du hier keinen. Auch keine Eile damit. Ihr hennagefärbtes Gewuschel von Haar ist trotzdem auszumachen. Kommt mir entgegen. Sehr eng, der Laden. Bin ein bisschen größer als sie. Sehe sie nicht, kann bequem über sie drüber gucken, als wir uns dicht aneinander vorbei drängen. Suche wen. Finde niemanden. Sie kommt zurück. Jetzt wäre es lächerlich, sich nochmal nicht zu sehen. Sie „entdeckt“ mich ebenfalls:
„Hi! Du hier?“
„Äh, ja. In der Tat.“
„Das ist ja geil, wir haben uns ja schon seit Wochen nicht mehr gesehen!“
„Ja, stimmt.“
„Und, was machst du?“
„Eigentlich bin ich gekommen, weil ich in den letzten Wochen kaum noch ruhig schlafen konnte und über alles und uns nachgedacht habe und mir alles so ungeheuer leid tut und ich in der ganzen Zeit an dich und nur noch an dich denken konnte und wollte und, falls du es gemerkt hast, diese vielen kleinen Andeutungen in meinen Briefen genau das sagen sollten, denn wie du weißt, fällt es mir ungeheuer schwer, über Gefühle zu reden und daher habe ich diese Form der Kommunikation gewählt, weil ich weiß, dass du gerne Briefe von mir bekommst und auch zwischen den Zeilen lesen kannst, dachte ich, und auch wenn Frauen gerne mehr und eindeutigere Liebesbeweise haben wollen, kann ich einfach nicht mehr, als dir jetzt und hier zu sagen: Ich liebe dich! Ich liebe, liebe, liebe dich! Bitte, bitte, lass mich jetzt hier nicht so stehen, ich habe dich vorhin mit diesem Kerl hier gesehen und da ist mir das Herz fast in der Brust zersprungen und das Einzige, worum ich dich jetzt bitte, ist, mir zu sagen, ob es wirklich, wirklich aus ist zwischen uns. Dann will ich auch wieder gehen und dir vorher alles Glück dieser Erde wünschen. Aber bitte, bitte, sag mir, was du fühlst und… ach, ich kann nicht mehr… ich bin ein Depp, ein Oberdussel… aber könntest du vielleicht trotzdem… mich… lieben? Trotzdem? Wenn du mir verzeihen kannst?“
Leider war es in dem Laden viel zu gedrängt, zu laut, zu verräuchert, zu dunkel und sie zu klein, als dass so eine Rede möglich gewesen wäre. Ihr die Worte in gebeugter Haltung in eines ihrer Ohren zu schreien. Hinzu kam, dass ich trotz allen jeansjackigen, kragenhochgeklappten Rebellentums viel zu konservativ, das heißt, zu zurückhaltend, selbstverleugnend und verklemmt erzogen worden war, als dass ich auch nur einen der soeben niedergeschriebenen Sätze über die Lippen gebracht hätte. Sie können also den ganzen sentimentalen Sermon getrost überspringen, denn das habe ich nie gesagt.
Scheiß Erziehung.
Also, so keine Gefühle, zumindest nicht Traurigkeit oder Liebe in der Öffentlichkeit zu zeigen. Entsprach nicht den Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts, mit denen ich noch gründlich in Elternhaus und Grundschule geimpft worden war.
Im zwanzigsten Jahrhundert, während meiner Grundschulzeit, galt dann, keine Gefühle zu zeigen, weil man sich damit angreifbar macht. Und wer sich angreifbar machte, wurde auch angegriffen, da half alle weichgespülte Siebzigerjahrepädagogik nichts. Das überzogene Pathos des neunzehnten Jahrhunderts wurde vom Zynismus des Zwanzigsten abgelöst, wobei man sich darüber streiten kann, was da besser und was schlechter ist. Gefühle? Ha!
In jedem Fall zeigte ich also keine. Indianer kennen keinen Schmerz. Der Spruch ist jetzt bestimmt auch schon als Ethnien diffamierend gebrandmarkt. Mir egal, echt jetzt. Political Correctness ist ungefähr so was wie institutionalisiertes Christentum. Also verlogen bis zum Gehtnicht-mehr. Und ich sage auch weiterhin Negerkuss. So, jetzt wissen Sie´s.
Meine liebste Spielfreundin bei meiner Oma, wenn ich die besuchte, war so dunkelhäutig, wie die schwarze Tochter weißer Adoptiveltern nur sein konnte. Und wissen Sie was? Das kam bei unserem Spielen noch nicht mal zur Sprache! Das war vollständig irrelevant. Und manchmal saßen wir zusammen bei meiner Oma auf dem Sofa und futterten Negerküsse. Ich diffamiere keine Ethnien, und nach meiner Cowboyphase wollte ich dann irgendwann lieber Indianer sein. Und ein solcher kennt eben keinen Schmerz, so.
Obwohl andererseits, physiologisch betrachtet ist er doch nicht ganz korrekt, der Spruch. Es müsste vielmehr richtiger heißen: Ein Indianer zeigt keinen Schmerz, zumindest, solange er noch in vertretbarem Rahmen ist. Also der Schmerz jetzt, nicht der Indianer. Das immerhin lässt sich anhand von Kulturstudien des neunzehnten Jahrhunderts belegen. Hatte halt trotzdem auch seine guten Seiten, dieses Jahrhundert.
Ich war ein Indianer. Oder ein Ritter des europäischen Abendlandes. Oder beides. Also zeigte ich keinen Schmerz gegenüber dem geliebten Wesen und sagte als Antwort auf ihre Frage „Was machst du?“:
„Paar Leute treffen. Wir sehen uns dann, ja?“
„Ja, mach´s gut. Tschüss!“
„Tschüss.“
(Raus).
Die Stimmung, in die sowohl der mäßig Kluge als auch der mäßig Unkluge verfallen kann, ist erstaunlich. Wieso es dem halbwegs im Anstand verhafteten Menschen dann noch gelingt, eine annähernd aufrechte Haltung einzunehmen, ist ebenfalls erstaunlich.
Jedoch, es geht, und um es gleich mal vorweg zu nehmen: Der Mensch stirbt im Allgemeinen nicht an unerwiderter Liebe, das geht alles irgendwann vorbei. Und auch wenn die entsprechenden Augenblicke bis zur Ekelhaftigkeit reifen können und wie zu lange gekautes Kaugummi im Kiefer schmerzen; es kann nicht genug betont werden: Beim auch nur halbwegs gesunden Menschen geht das vorbei, es kommen hellere Tage.
Und für nicht so halbwegs gesunde Menschen gibt es Profis. Auch ich habe durchaus schon bei einer Professionellen auf dem Sofa gesessen und allein schon durch Erzählen Erstaunliches herausgefunden. Ist gar nicht schlimm, keine Schande und man darf sich ruhig trauen. Gerade habe ich mich übrigens angreifbar gemacht, haben Sie´s gemerkt?
Also noch mal: An unerwiderter Liebe stirbt man nicht. Da muss man schon selber Hand anlegen.
Es traf sich daher vorzüglich, dass mir das geheiligte Vaterland zwecks besserer Ausübung meiner Pflichten einen nicht unbeträchtlichen Ballermann zur Verfügung zu stellen pflegte. Doch davon später. Ich sah die Edeltraut an diesem Wochenende nicht mehr wieder, stieg in den Zug und fuhr gen Norden.
Nach einer mehr als unerquicklichen Zugfahrt, weil zu lang und zu viel Zeit zum Fühlen und Nachdenken, wieder in flachen Gefilden und an den Gestaden der Ostsee zurück, wurde mir der Dienst auf dem Boot so sehr zuwider, dass ich Vegetarier wurde. Naja, das wurde ich natürlich eher wegen ihr. Durch sie. Für sie. Um mich nachträglich ihrer doch noch würdig zu erweisen, ihr, die mir einmal in eben jenem Musikladen beim Verzehr eines Schnitzels zugesehen und durchaus ein nachdenkliches Gesicht dabei aufgesetzt hatte. Also wurde ich so was wie ein Vegetarier, um ein Andenken an sie zu bewahren. Um ihr, der Angebeteten, gleich zu sein, oh ja.
Dann entsann ich mich des immer noch ausgezeichnet funktionierenden Postsystems und schrieb ihr im Zustand einer bis dahin noch nie gekannten Traurigkeit einen derartig von tiefem Gefühl und Liebeskummer überladenen Brief, dass mir noch heute das Grausen kommt, wenn meine Verdrängungsmechanismen versagen. Was sie leider andauernd tun.
Das tränendrüsige Erzeugnis trauerte vergangenen Zeiten hinterher und beklagte den Verlust der Vertrautheit. Drückte zudem auch die Sorge aus, sie könne schlecht von mir denken und reden. Auch wenn sie damit sicherlich in Teilen Recht gehabt hätte. Das war mir tatsächlich trotz allem eine zusätzliche Sorge.
Jedoch um sie gekämpft, ihr durch Worte und Taten bewiesen, dass ich sie liebte, für sie da zu sein, auch, wenn das mit dem Typen zum Beispiel nicht klappte (dessen war ich mir übrigens sicher), das habe ich nicht getan.
Der Antwort harrend, die da kommen sollte, gelang es mir, den Alltag unbeschadet zu überstehen. Zwei Tage später sah ich dann jenen Bootsmitbewohner die Pier entlang kommen, der an diesem Tag den Gang zur Geschwaderverwaltung gemacht, und dabei Post hin- als auch zurückbefördert hatte.
Ich war gerade in der Ausübung einer anderen Dienstobliegenheit befangen, nämlich die Schiffsglocke zu putzen, als ich seiner gewahr wurde und ihm aus überhöhter Position zurief:
„Na, hast du Post für mich?“
Er legte den Kopf in den Nacken und rief zu mir empor:
„Kennst du eine Edeltraut Schneider?“
Sie heißt natürlich immer noch anders, aber das tut nichts. Mich durchzuckte quasi ein elektrischer Blitz, denn es war ja niemand anders als die Dame, meine große Liebe, die postwendend geantwortet hatte.
Also entfernte ich mich von meinem Posten, der Glocke, nahm den Brief in Empfang, begab mich ins Innere unserer wasserbürtigen Wohnstätte und las die in der unverwechselbaren, schönen, weiblichen Handschrift dieses göttlichen Wesens geschriebenen Worte:
„Lieber Ralte,
so kenne ich Dich gar nicht. Ich hätte nie geglaubt, dass Du solche Empfindungen hast. Ich hatte gedacht, zwischen uns sei alles klar…“
… und so weiter. Die eine oder der andere unter Ihnen mag dergleichen auch schon in Händen gehalten haben.
Sie sicherte mir dann den Erhalt einer gewissen Vertrautheit sowie die Nichtabsicht, schlecht von mir reden zu wollen, brieflich zu. Was genau betrachtet dem entsprach, was ich erbeten hatte. Insofern war alles gut und folgerichtig. Gegen Ende kam das Übliche von Freunde bleiben und so.
Nun denn, Ihnen brauche ich da gewiss nichts großartig zu erzählen. Die Sache war klar. Sie hatte den langhaarigen Typen und ich das Nachsehen.
Alles kein Problem, so ist es halt, das Leben, möchte man denken und erstens hatte ich mich entsprechend verhalten und zweitens einer anderen Dame noch früher einen sehr viel derberen Korb überreicht. Somit kann man das alles ganz getrost als gerechten Gang der Dinge betrachten.
Wäre da nicht die Seele des Jünglings, dieses unausgereifte Ding. Oder sagen wir mal, nicht die Seele des Jünglings, sondern die Psyche des heranwachsenden Menschen.
Um den Kummer zu betäuben, sehnte sich diese nach anderweitiger Erfüllung, Regung, Beachtung, allem Möglichen. Sie wusste nur noch nicht, was genau.
Ich saß nach Dienstschluss auf meiner Koje und grübelte. Was war zu tun?
Mancher steigt dann aufs Motorrad und baut Scheiße. Oder probiert, wieviel er von seiner Lieblingsdroge einpfeifen kann. Oder provoziert sonstigen Ärger. Solches lag mir fern und entsprach nicht den professionellen Regeln des Berufes, den ich ergriffen hatte. Es musste schon etwas anderes her, zumal ich damals über kein Motorrad verfügte.
Nun war dummerweise auch kein humanitär gerechtfertigter und politisch korrekter Krieg in Sicht, aus dem ich medaillenübersät hätte heimkehren können … oder eben auch nicht, oder beziehungsweise, sogar gar nicht. Diese Möglichkeit muss dem Interessierten stets bewusst sein.
Das heißt, es gab schon einen Krieg, in Jugoslawien nämlich, und es wurde hin- und herüberlegt, wie man dort das damals zu äußerer Stärke neu erwachte Vaterland im Sinne humanitärer militärischer Intervention einbringen könne. Da jedoch in der Region keine nennenswerten Bodenschätze vorhanden sind und die Gegend strategisch auch nicht von besonderer Bedeutung schien, durften sich die Menschen dort jahrelang gegenseitig umbringen, ohne dass es größer interessiert hätte. Die internationale Staatengemeinschaft hielt ob der dort verübten Grausamkeiten den Atem an, was sie in solchen Fällen meistens tut. Kann sie übrigens verdammt lange, die internationale Staatengemeinschaft.
Es gab aber auch keine sonst wie geartete Katastrophe als Bewährungsmöglichkeit, um mein Ansehen vor allem vor mir selbst wieder aufzubauen.
Und sonst? Was konnte ich? Das Gitarrenspiel hatte ich weitgehend verlernt. Und dabei war es doch gerade die Gitarre gewesen, die mir ehedem den einen oder anderen Flirt beschert hatte. In jener, zum Glück längst vergangenen Zeit hatte man noch nicht gewusst, dass man, anstatt sich selbst zu verbiegen und an seinen Schwächen zu arbeiten, man doch durchaus man selbst bleiben und an seinen Stärken arbeiten darf. Obwohl andererseits wiederum die eine oder andere Schwäche durchaus der Bearbeitung würdig ist.
Das war die Lösung!
Wenn schon kein Motorrad zum sich Totfahren da war, würde ich also an meinen Schwächen arbeiten. Dem Verzehr von Fleisch, dem Konsum von Alkohol und der Unsportlichkeit. Sobald ich mich aufraffen konnte, würde ich das tun.
Erst mal jedenfalls machte ich ein Bier auf. Und dann noch eins. Und dann noch eins. Ich hatte Angst vor dem Wachliegen und Grübeln.
So vergingen mehrere Tage. Der imaginäre, mit schwarzem Geschnörkel bepflasterte Trauerzug latschte unter unsäglicher Musik in meiner Jünglingsbrust im Kreis und nervte irgendwann dergestalt, dass schon das Aufstehen morgens zur Qual wurde.
Alles Bier half nicht. Ich lag immer lange wach und kam ins Grübeln. Woher kam diese Unfähigkeit, sich der geliebten jungen Dame zu öffnen? Über so etwas simples, wie Liebe zu reden. So etwas kompliziertes, wie Liebe. Wie auch immer.
Meine Erziehung, Sozialisation und Schulbildung hatte in der segensreichen Zeit der späten Siebziger und Achtziger stattgefunden. Damals hatte aus jedem ein empfindsamer, verständnisvoller und offener Mensch zu werden. Und wehe, wenn nicht.
Allerdings, in der rückständigen Grundschule meines Heimatdorfes war man anfangs noch nicht so weit. Ich meine bezüglich der Diskussionen und so. Dort wurde nach der letzten Schulstunde noch gebetet. Bei einer im Schuldienst ergrauten Dame, die in ihrem grauen Rock und hochgeschlossener, weißer Bluse vor uns stand und sprach:
„Gott mag die Lüge nicht. Und wenn ihr lügt, dann leuchtet unter eurer Zunge ein ganz feines silbernes Kreuz auf.“
Ja, so war das.
Missetätern pflegte sie zwischen gekrümmtem Zeige- und Mittelfinger die Wange umzudrehen. Irgendwie waren wir bei ihr ziemlich artig. Aber sie meinte es ehrlich mit uns. Famose Dame. Das neunzehnte Jahrhundert ließ grüßen.
Und das war alles harmlos im Vergleich zu den Praktiken eines kinderhassenden Psychopathen. Dessen Spezialität war das An-den-Ohren-in-die-Höhe-ziehen-und-dann-schütteln. Auch vermochte er mit der flachen Hand durchaus spürbare Schläge auf den Hinterkopf auszuteilen. Seine größte Begabung zeigte er jedoch darin, einzelne, die er sich aussuchte, vor der ganzen Klasse wiederholt bloß zu stellen und sie zielsicher zu Außenseitern zu machen. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, denn ich war eines seiner vorrangigsten Ziele.
So stand er vor uns, die ledrige Raucherhaut sonnengebräunt, nach einem aufdringlichen Aftershave und kalter Zigarette riechend und schaute aus stahlgrauen Augen um sich. Die Füße steckten meist in beigen Segeltuchschuhen, darüber weiße Tuchhosen und babyblaue Polohemden mit weißem Saum und weißem Kragen. Seine Schultern waren keineswegs breiter als die Hüften. Die sportliche Aufmachung hatte er aus den siebziger Jahren herübergerettet. Sie täuschte nicht darüber hinweg, dass er sich schon an den Rand seiner Gesundheit geraucht hatte. Seine körperliche Überlegenheit kam einzig aus der Tatsache, dass er Vierzig und wir Zehn waren. Diese Überlegenheit kostete er aus. Und zwar besonders gerne an mir.
Zugegebenermaßen war ich ein schwieriges Kind. Raufboldig und aufmüpfig. Und ich tat ihm überdies nicht, oder nur ganz selten, ein- oder zweimal, den Gefallen, vor der Klasse in Tränen auszubrechen. Was allerdings wiederum auch seine Aggressionen körperlicher, verbaler, vor allem aber psychischer Natur keinesfalls zu stillen vermochte, sondern eher im Gegenteil.
Aber es gab nur zwei Alternativen: Zu weinen oder sonstwie Verletzung zu zeigen und noch mehr Gelächter der Mitschüler heraufzubeschwören. Oder zu schweigen und noch mehr Gemeinheiten dieses Menschen zu ertragen. Letzteres erschien mir angebrachter. Ihn, den einzelnen, konnte ich hassen, meine Altersgenossen nicht. Denn eigentlich wollte ich doch irgendwie zu ihnen gehören.
Was half es, wenn ich die eifrigsten Spötter zu verschiedenen Gelegenheiten ordentlich in den Schwitzkasten nahm. Sie hörten solange nicht auf, mich mit Spott zu belegen, bis ich doch ein bisschen zu sehr zudrückte, oder Ohrfeigen verteilte. Allein, jemanden so gründlich zu misshandeln, dass dieser sich in Zukunft vor mir gehütet hätte, das tat ich nicht. Es blieb eine Hemmung, andere wirklich zu verletzen. Diese Hemmung jedoch wurde nie zu meinen Gunsten ausgelegt.
„Der Raltebrandt hat mir wehgetan!“ wurde zu einer der häufigsten Beschwerden auf dem Schulhof.
Die verachteten Heulsusen rannten dann, von mir selten verfolgt, zielbewusst meist zu eben jenem Lehrer, der danach langsam und mit sadistischem Lächeln auf mich zukam.
Ich hatte oft Gelegenheit, zu zeigen, dass ich nicht so leicht heulte. Sehr oft. Ihm machte es Spaß. Manchen meiner Mitschüler auch, was sie durch freudig erregtes Gelächter bekundeten. Und das wiederum führte dazu, dass sie bei passender Gelegenheit wieder im Schwitzkasten landeten.
Ich kann also aus eigener Erfahrung sagen, dass Züchtigung durch Zufügen körperlicher Schmerzen kaum Erziehungserfolge zeitigt, da man sich an solche Schmerzen recht schnell gewöhnt (Indianer, Sie wissen schon). Weiterhin kann ich feststellen, dass die öffentliche Bloßstellung eine sehr viel effektivere Methode ist. Wiederum keinesfalls beim Erziehungserfolg, da so etwas auch beim Zehnjährigen entweder Unsicherheit oder blanken Hass oder beides erzeugt. Aber darin, Wunden von Dauer zu schlagen, ist das Gelächter von Mitschülern sehr effektiv.
Und lachen taten die meisten. Einige wenige, weil sie froh waren, gerade nicht selber dran zu sein (auch ich lachte dann manchmal), einige wenige aus echter, herzlicher und unverdorbener Schadenfreude, die meisten aber wohl eher aus Verlegenheit, weil sie nicht wussten, wie sie sich sonst verhalten sollten. Wie gesagt, diese Art der Bloßstellung kann weitaus schwerer wiegen, als Züchtigung durch Zufügen von körperlichem Schmerz. Und falls ich mich fragte, was im jungen Menschen eine derartige Aversion gegen das Zeigen von Gefühlen hervorrufen kann, dann wuchs langsam eine Erkenntnis.
Statt also zu weinen, guckte ich Kanake (seine Worte) ihn eher an, wie ein abgeblendeter VW (auch seine Worte).
Auf dem Schulhof war eine, wie ich fand, unter Jungs ganz normale Rauferei im Gange gewesen. Aber die Spielregeln hatten sich unmerklich geändert. Früher waren Schimpfworte mit einem Gegenschimpfwort oder einem ritualisierten Gerangel zu beheben gewesen. Jetzt hatten Beleidigungen einen anderen Ton. Sie sollten verletzen. Der Trick bestand darin, sich nichts anmerken zu lassen. Bei entsprechender Gelegenheit konnte dann auf ähnlichem Niveau abgerechnet werden. Dieses Spiel beherrschte ich nicht. Wenn ich nach einer Verbalattacke laut wurde oder zum Angriff über ging, war ich der Aggressor, ganz gleich, wie das angefangen hatte. So sah es unser Klassenlehrer.
Und nun saß er gemütlich zurückgelehnt hinter seinem Pult und arbeitete die letzte große Pause erzieherisch auf.
„Neben dir müssten immer so zwei Schlägertypen hergehen. Und sobald du mal nur so ein bisschen vom Schulweg abweichst oder auch nur das Gesicht verziehst, müssten die dir sofort eins in die Fresse hauen“, sagte er zu mir. Die Klasse lachte.
„Oder vielleicht so schön ganz langsam den Arm umdrehen“, sagte er, wobei er die Geste des Armumdrehens nachahmte und grinste. Die Klasse lachte.
„Jetzt guckt mich der Kanake hier wieder an wie ein abgeblendeter VW“, sagte er. (Meine beginnende Kurzsichtigkeit ließ sich nicht mehr verleugnen, eine Brille hatte ich noch nicht). Die Klasse lachte.
Er stand auf und kam auf mich zu.
„Hörst du vielleicht mal auf, so dämlich zu gucken, du Penner?“ fragte er.
Ich schwieg.
Er griff mich am Ohr, zog mich in die Höhe, drehte das Ohr in verschiedene Richtungen, riss es hin und her und brüllte:
„Dich krieg ich auch noch klein, du Drecksack! Du Zigeuner, mit deinen schwarzen Haaren!“
Er zog mich herunter, so dass ich eine Verbeugung vor ihm machen musste. Dort zerrte und schüttelte er weiter.
„Hörst du? Ich krieg dich klein!“ brüllte er. Dann ließ er unvermittelt los und ging langsam wieder zum Pult zurück.
Ohne an das hämmernde und glühende Ohr zu fassen, versuchte ich die Tränen zurück zu drängen.
„Sie bestimmt nicht“, sagte ich.
Er blieb stehen und atmete tief ein. Dann drehte er sich langsam um und ging wieder auf mich zu. Ich kriegte einen Schreck und machte mich auf die nächsten Schmerzen gefasst.
Aber kurz vor mir blieb er stehen und winkte ab.
„Ach, bei dir ist wahrscheinlich schon jetzt Hopfen und Malz verloren. Du wirst mal als Penner enden. Bist du ja schon.“
Er drehte sich wieder zur Klasse.
„Ist er nicht ein Penner?“
Die Klasse lachte.
„Siehst du? Deine Klassenkameraden haben das alle schon erkannt. Siehst du? Guck dich doch mal um. Na los, guck dich um.“
Ich schwieg.
„Guck dich um!“ brüllte er.
Ich sah mich um.
„Ist der Typ hier ein Penner?“ fragte er.
„Ja“, antwortete die Klasse, die einen lauter, die anderen leiser.
„Ha! Du Kanake“, sagte er.
Dann ging er zum Pult zurück und fing an, sich unsere Nacherzählungen eines Gedichtes vorlesen zu lassen, die wir als Hausaufgabe aufgehabt hatten.
Mit leicht zitternden Fingern meldete ich mich.
„Nää, deinen Mist will hier keiner hören“, sagte er und guckte über mich hinweg, als sei ich nicht da. Die Klasse lachte, wenn auch nicht mehr ganz so enthusiastisch.
So was in der Art kam gelegentlich mal vor. Nicht jeden Tag. Bloß ab und zu.
Als diese verbeamtete Fehlbesetzung wieder einmal einen anderen von seinen Lieblingszielen mehrmals hintereinander als Kanake bezeichnete, meldete ich mich. Mein Arm blieb oben, bis der Typ mit seiner Zeremonie fertig war.
„Was gibt es denn jetzt noch?“
Ich wies diesen sogenannten Pädagogen darauf hin, dass die Kanaken ein stolzes Südseevolk seien, die auf kleinen, selbstgebauten Booten zur See führen. Das war mir aus einer Fernsehreportage bekannt. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er von diesem Volk noch nie gehört. Jedoch ganz im Geiste der auch heute noch in Industrie, Politik und Militär praktizierten Methode, Fehler nicht zuzugeben, sondern pseudosachlich zu verbrämen, wurde ich in sehr ruhigem Tonfall belehrt:
„Dieses Wort hat sich im Laufe der Jahre so eingebürgert, um ein Missfallen an jemandem auszudrücken. Und dabei ist es gar nicht so sehr als Beleidigung gedacht. Weder gegen diese Menschen in der Südsee, noch gegen denjenigen, den man so nennt. Verstehst du?“
Ich nickte. Er hatte gerade ziemlichen Dünnschiss erzählt. Das muss ihm selbst klar gewesen sein. Wir machten weiter im Unterricht.
Dieser fehlverbeamtete Mensch war im Schuldienst eigentlich untragbar, ohne dass jemand etwas dagegen unternommen hätte. Die Bigotterie einer pseudochristlichen, im Geiste rückständigen Schule zeigte sich hier auf das Vortrefflichste.
Merkwürdigerweise war er in seiner Notengebung keineswegs unfairer als andere Lehrer. So zerstreute sich diese vierte Klasse im nächsten Schuljahr auf verschiedene Schulen und ich war einen Großteil der Spottdrosseln, Petzen und Verleumder los.
Nun zeigte sich aber, dass etwas zurückgeblieben war. Anderen gegenüber zwanglos und offen sein, das ging nicht. Ich blieb ein Außenseiter, der sehr schnell in der gleichen Rolle wie vordem steckte. Ich war allein. Und wollte es bleiben.
Wenn Jungs dann ab einem gewissen Alter Scheiße mit Schießpulver bauen, dann zumeist, weil sie es knallen und qualmen lassen wollen. Ich tat es, weil ich diesen perversen Menschen umbringen wollte. Ich ging methodisch vor und suchte in einschlägiger Literatur nach Rezepten für Schwarzpulver. In geheimen Listen wurden die Zutaten und ihre empfohlenen Mischungen für spätere Versuche sortiert. Dann stahl ich mir zu diversen Gelegenheiten eben diese Ingredienzien zusammen. Das Schwierigste war der Salpeter, und da mir damals der Unterschied zwischen zwei bestimmten Elementen noch nicht klar war, glaubte ich, im Pökelsalpeter ein geeignetes Mittel zu haben. Natürlich war dem kein Erfolg beschieden, und wenn die Häufchen meiner Mixturen, die ich angezündet hatte, abgebrannt waren, blieb stets eine zähe Masse von Verbrennungsrückständen zurück.
Dieselben Mixturen erzeugten auch, wenn sie aus einem illegal beschafften Vorderlader abgefeuert werden sollten, keinen „KNALL“, sondern eher ein „pömpf“, was anzeigte, dass das Spielzeugzündhütchen seine Energie sinnlos vermuffelt hatte. Dann musste eine Sicherheitswartezeit von mindestens zwei Minuten eingehalten werden. Und dann wurde die Waffe wieder einmal umständlich von ihrer tauben Ladung befreit. Dennoch machte ich weiter. In meinem mittlerweile zwölfjährigen Gehirn war der Gedanke an die Tötung meines früheren Peinigers zur festen Größe geworden.
Sehr zu seinem Glück hörte ich in einer weiteren Fernsehreportage etwas von einer sogenannten Verjährung. Im Falle dieser Reportage sechs Jahre. Die Grundschule hatte ich mit zehn beendet. Also nahm ich mir vor, wenn ich ihn bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr noch nicht erledigt haben sollte, würde ich ihn leben lassen. Ich muss es betonen, sehr zu seinem Glück. Denn zwar war ich in der Schule rundherum eine Pfeife, was aber nicht besagt, dass ich nicht doch Ahnungen und Kenntnisse erworben hätte. Neben Geschichte war meine heimliche Leidenschaft die Chemie, ohne dass ich es in einer der beiden Fächer je zu nennenswertem schulischen Erfolg gebracht hätte. Jedoch wurde mir durch unseren Chemielehrer die Bezeichnung „Chaotenchemiker“ zuteil, was wahrscheinlich einer gewissen Berechtigung nicht entbehrte.
So war ich irgendwann durch kriminelle Energie in den Besitz einer Substanz gelangt, die ich hier nicht nennen möchte. Es war mir jedoch möglich, erstens zu erkennen, dass diese Substanz der Verbrennung viel Sauerstoff zur Verfügung stellen konnte. Und dies aufgrund der niedrigeren Bindungsenergie auch sehr viel schneller als der klassische Salpeter. Die schnellere Verbrennung würde auch eine schnellere Ausbreitung der Explosionsgase zur Folge haben, was die Geschosswirkung zweifellos erhöhen musste. Entsprechende Experimente bestätigten, dass mir plötzlich ein hochwirksamer Sprengstoff zur Verfügung stand, der, wenn aus besagtem Vorderlader verfeuert, eine Kugel zum Durchschlagen eines dicken Buchenscheites beschleunigen konnte. Sehr zum Glück meines Feindes hatte ich das sechzehnte Lebensjahr da schon überschritten.
Und sehr zu meinem Glück gingen die folgenden Wahnsinnsexperimente allesamt glimpflich aus. Denn ich brauchte mir nicht einzubilden, etwas Neues entdeckt zu haben. Der große Chemiker Lavoisier war schon im achtzehnten Jahrhundert auf den gleichen Gedanken verfallen, als den Truppen der Französischen Revolution im Kampf gegen die Frankreich umgebenden alten Regime das Pulver knapp wurde. Man rückte von diesem Pulverbestandteil jedoch raschestens wieder ab, nachdem sich herausstellte, dass die Kanonen dem infernalischen Sprengdruck nicht lange Stand hielten.
Wir hatten also beide Glück gehabt, mein Feind und ich. An dieses Jahr, als dieser Mensch unser Klassenlehrer war, denke ich jetzt nur noch mit leisem Abscheu zurück.
Erstaunlicherweise gab es unter dieser Versammlung von Lehrversagern auch Ausnahmen, die die ihnen anvertrauten Kinder tatsächlich als ihre Schüler wahr- und als Menschen ernstnahmen. Zum Beispiel die alte Dame mit dem christliche Eifer und dem Wange Umdrehen (sei ihr verziehen, dabei lachte wenigstens niemand). Weiterhin ein junger, motorradbegeisterter Mensch, der die Prinzipien einer modernen Pädagogik umsetzte und lebte. Leider lebte er nicht allzu lange, da er seine Motorradbegeisterung dazu benutzte, um sich versehentlich viel zu früh umzubringen. Das geschah sehr viel später, und ich habe es sehr bedauert. Der Psychopath lebt meines Wissens nach immer noch. Aber wissen Sie was? Ich merke gerade, dass ich abschweife.
Also der Brief von Traudl. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, war es mit meiner Fähigkeit, Gefühle zu zeigen, nicht weit her. Was nicht bedeutet, dass ich etwa keine gehabt hätte. Meine Reaktion war jedenfalls ein ungeahnter Anfall permanenter Traurigkeit. Die zeigte sich kaum anders, als dass in mich alkoholische Getränke gegossen wurden. Meistens machte ich das selber.
Und jetzt kommt wieder so eine Story, die zeigt, dass eigentlich genau ich zu den Allerletzten gehöre, die sich in moralischer Hinsicht anderen überlegen fühlen dürfen:
Wir, das heißt die Besatzungen der sogenannten Boote, hatten einen bestimmten Luxus. Auf den Booten verfügten wir über eine Koje mit Spind. An Land gab es für uns außerdem in Kasernengebäuden aus rotem Backstein eine Stube mit Bett und Spind. Das wurde die Bootsstube genannt. Meistens teilten sich zwei Leute eine Bootsstube, was ein Fortschritt gegenüber den üblicherweise acht Leuten pro Stube in der Grundausbildung war. Nach den drei Monaten Grundausbildung waren wir zwecks Erlernen weiterer Finessen für wiederum drei Monate nur noch vier Leute pro Stube. Und jetzt eben zwei. Die Unterbringung wurde immer luxuriöser.
Mein Bootsstubenmitbewohner war vorher bei der Fremdenlegion gewesen. Es existierten eine Anzahl Fotos, drei Orden, zwei schwarze Schulterklappen mit je drei grünen Winkeln drauf und ein Opinel-Taschenmesser mit dem Aufdruck LEGION ETRANGERE. Die Story war somit als glaubhaft belegt zu betrachten. Er war etwa einen halben Kopf größer als ich und mindestens eine ganze Schulter breiter. Seine Stimme war tief und heiser. Seine Worte sprach er in einer langsamen Bedächtigkeit aus, als wenn sie stets sorgsam abgewogen und daher von einer gewissen Endgültigkeit waren.
Zwei Jahre früher, nach einem nächtlichen Fallschirmabsprung im Irak, war seine Einheit in einer völlig anderen Gegend als vorausberechnet gelandet. Diese Gegend sollte erst noch durch eigene Kräfte aufgeklärt werden. Und die wussten natürlich nicht, dass da vorne die eigenen Leute unauffällig im Gelände verteilt waren. In der allertiefsten Finsternis fuhr ihm dann ein leichter Spähpanzer über den linken Fuß. Weil das Unfallfahrzeug tatsächlich nur von leichtgepanzerter Natur war, und auch wegen des lockeren Sandbodens, existierte der Fuß weiter. Allerdings gereichte ihm die lange Genesungszeit zu einer vorzeitigen Kündigung seitens des Arbeitgebers, der Republik Frankreich.
Der ehemalige Legionär verfügte über schwarzes, mittellanges Haar, welches meistens ausgiebig frisiert und mit Gel behandelt war. Da das Zeug in großen Mengen in unserer Stube lagerte, nutzte ich es auch irgendwann. Mein Haarwuchs war damals noch hinreichend kräftig dafür. Ein sehr schickes violettes Hemd lieh er mir eines Tages und im Laufe der Monate ging es stillschweigend in meinen Besitz über. Dass es mir etwas zu groß war, kompensierte ich dadurch, dass ich es mit hochgerollten Ärmeln und halb offen trug. Und es außerdem in die engen Jeans stopfte. Diese Aufmachung kam mir damals modisch vor. Wir hingen öfter zusammen rum oder suchten zwielichtige Lokale auf.
Der ehemalige Legionär und ich kamen eines Nachmittages auf die Idee, einen uns bekannten Ari-Gasten aus dem benachbarten Schnellbootgeschwader zu besuchen (Ari-Gast, das ist ein Mannschaftsgrad der Artillerie).
Die Schnellbootfahrer wurden gemeinhin als die Ostseerocker bezeichnet, teils wegen der Schnittigkeit ihrer Gefährte, teils, weil sie sich auch so gaben. Sie trugen ihres Spitznamens gemäß oftmals eine gewisse Anzahl Aufnäher und Anstecker auf den Ärmeln, Kragen und Schiffchen. Letzteres ist keine Anspielung auf ihre vergleichsweise kleinen Fahrzeuge, sondern war in jenen längst vergangenen Tagen unsere dienstliche Kopfbedeckung. Die Ostseerocker waren in der Auslegung der Bekleidungsvorschriften vergleichsweise locker. So gab es hochgestellte Kragen, sehr schief auf dem Kopf getragene Schiffchen und gelegentlich war auch die Rasur als nachlässig zu bezeichnen. Ich weiß nicht, ob das noch daher rührte, dass ihnen im Falle eines Krieges gegen den sogenannten Ostblock auf der Ostsee nur eine geringe Überlebenschance gegeben wurde. Das hätte sie vielleicht zu einer lässigen Attitüde berechtigt. Nur, zum Glück war mit dem Eintreten eines solchen Ernstfalles ja nicht mehr zu rechnen. Den äußeren Habitus des schnell fahrenden, schnell kämpfenden und schnell untergehenden Seesoldaten gaben sie sich jedoch noch immer.