ISBN: 978-3-95428-625-6
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Titelbild: Ulrich Rogalski, www.ulrich-rogalski-nachtfoto.de
Die Erzählung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Es erinnerte an das gleichförmige Schwingen eines Pendels oder das rhythmische Wiegen eines Kindes in den Armen der Mutter. Die sanften Wellen schoben ihre undefinierbare Last auf der Wasseroberfläche spielerisch vor sich her, umschmeichelten sanft dieses kaum erkennbare grüne Etwas, das immer wieder hin- und herschaukelte, auf- und abtauchte, bis es schließlich ganz unter der Brücke verschwand.
*
Herbert stieg in den alten Nachen, der am Ufer des Verbindungskanals festgekettet war. Der alte Mann war verärgert und murmelte in seinen Bart: „Meckern due se alle, aber wenn’s ans Oigemachte geht, do lässt sich kenna vun derre Bagasch bligge! Große Tön spugge, un nix dehinna!“ Kräftig stieß er sich vom Land ab und ließ sich an die beiden schweren Eisentore unter der Teufelsbrücke treiben. Er blickte hinauf zu seinem Freund Fritz und rief: „Du, isch mach jetzt do unne weita. Du kannscht jo schun amol uf die anner Seit gehe un de Dreck oisammle, isch kumm dann nachher niwwa un helf der!“ Fritz nickte und verschwand.
Der Appell, den der Mannheimer Morgen zwei Tage zuvor auf seiner Lokalseite abgedruckt hatte, war nur auf wenig, um nicht zu sagen, keine Resonanz bei der Bevölkerung gestoßen. Man hatte darin die Mannheimer aufgerufen, sich am Samstagnachmittag, den 11.07.2009 um 14 Uhr an der Teufelsbrücke einzufinden, um den Müll, der sich dort seit Jahren angesammelt hatte, gemeinsam zu beseitigen. Schließlich sollte die unter Denkmalschutz stehende Brücke, wenn in der nächsten Woche die Gutachter aus Karlsruhe kämen, einen erhaltenswerten Eindruck machen. Ihr Urteil würde letztendlich über das künftige Schicksal des Bauwerkes mitentscheiden.
Herbert begann, die ersten PET-Flaschen aus dem Kanal zu angeln. „Wenn die Leit doch net imma, do wo se grad stehe, ihrn Scheißdreck falle losse däte. Isch weeß a net, bei uns hots des friher net gewwe!“, murrte er kopfschüttelnd.
Bald hatte er jede Menge Mineralwasserflaschen der unterschiedlichsten Marken in seinem Plastiksack, sodass selbst der bestsortierteste Getränkemarkt vor Neid erblasst wäre. „Es geht äfach alle noch viel zu gud, des is bares Geld, wo do rumschwimmt!“ Nach und nach begann er nun schon den zweiten Sack zu füllen: Tetrapacks jeglicher Größe, Joghurtbecher und Plastiktüten in allen möglichen Designs. Der größte Teil stammte aus dem nahegelegenen Penny-Markt. Am meisten ärgerten ihn jedoch die vielen Plastikteller, -gabeln und -becher, die auf der Wasseroberfläche schwammen. Es waren die Überreste vom Stadtteilfest, das eine Woche zuvor hier am Quartiersplatz stattgefunden hatte und das er auch noch mitorganisiert hatte.
Herbert blickte hinüber an die Stelle, wo die beiden riesigen Torflügel zusammenstießen. Sie waren nicht ganz geschlossen. Seit man die Brücke nicht mehr nutzte, befanden sie sich in dieser Position, denn das Wasser sollte sich nicht stauen, sondern ungehindert auf die andere Seite fließen können. Er kniff die Augen zusammen. „Ah, des derf doch wohl net wohr soi! Do hot doch tatsächlisch enna glei en ganze Millsack ins Wasser gschmisse. “
Und tatsächlich! Ein großer grüner Plastiksack hatte sich zwischen die beiden Torflügel geklemmt. „Am Schluss is do vielleischt noch Sondermill drin!“ Wütend ruderte Herbert auf die Stelle zu. Er beugte sich aus dem Nachen und versuchte, nach einem Zipfel des Sacks zu angeln. Der hatte sich jedoch derart in die Öffnung gequetscht, dass er sich nicht so leicht herausziehen ließ. Aber Herbert, der über vier Jahrzehnte einen Handwerksbetrieb im Jungbusch betrieben hatte, ließ sich davon nicht beirren. Er hatte stets mit seinen Händen gearbeitet und noch immer viel Kraft in den Fingern. Und darum griff er erneut fest zu. Ein Drücken und ein Ziehen – und da plötzlich machte es einen Ruck. Der Sack zerbarst und er hatte ein großes Stück Plastik in seiner Hand.
Fast gleichzeitig entfuhr ihm ein gellender Schrei, der sich wie ein Echo in den Straßen nahe des Kanals fing und einem das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen können. Ein bestialischer Gestank schlug Herbert entgegen.
Als er in die toten Augen des wächsernen Frauengesichts blickte, wurde der alte Mann kreidebleich. Von Abscheu und Entsetzen überwältigt, sackte er in seinem Kahn zusammen.
„Ist das nicht ein toller Ausblick von hier oben?“ Jennifer Trams konnte sich nicht sattsehen. Die junge Frau liebte es, an lauen Sommerabenden auf der Terrasse des Hafenstrand in der letzten Etage des Musikparks zu sitzen, sich dort einen Tequila Sunrise zu bestellen und sich eine schwarze Dunhill anzuzünden, um dabei die Sonne zwar nicht auf- , aber über dem Pfälzer Wald untergehen zu sehen.
„Ja, wirklich traumhaft! Die Aussicht ist atemberaubend! – Echt geil von dir, dass du mich mitgenommen hast! Du musst mir alles zeigen, die ganzen spannenden Locations hier im Jungbusch!“, meinte Sibylle euphorisch. Sie prostete Jennifer zu: „Cin, Cin, Frau Nachbarin!“
„Geht schon in Ordnung, aber eins nach dem andern!“, lachend ergriff Jennifer ihr Cocktailglas, „also dann: auf eine gute Nachbarschaft!“ Und indem sie hinunter zur Teufelsbrücke schaute, fügte sie hinzu: „Ich bin bloß froh, dass du dich nicht von der üblen Geschichte, die da drüben passiert ist, verunsichern lässt.“
„Na ja, ich war schon ziemlich geschockt, als ich das am Sonntagmittag gehört habe. Da ringe ich mich durch, in den Jungbusch zu ziehen – allen Unkenrufen zum Trotz – und nachdem ich grad mal zwei Wochen in der Hafenstraße wohne, findet man unter der Brücke eine Frauenleiche! Wenn ich daran denke, dass die Tote vielleicht schon letzte Woche beim Stadtteilfest da unten im Kanal lag. Stell dir doch mal vor, die wär da schon hochgespült worden! Vielleicht gerade als ich unten im Kahn von diesem Herbert saß und meinen Döner aß. Igitt!“ Sibylle verzog ekelerregt ihr Gesicht.
„Also, Sibylle, du hast wirklich eine blühende Fantasie! Aber jetzt dramatisier das mal nicht noch mehr! Du kannst mir glauben, so etwas ist zuvor noch nie vorgekommen. Im Gegenteil, der Jungbusch ist sicherer als viele andere Mannheimer Stadtteile. Laut Statistik ist die Kriminalitätsrate sogar niedriger als in anderen Bezirken. Als Kind habe ich mit meiner Mutter meine ersten Lebensjahre im Jungbusch verbracht. Du, da ist nie was passiert. Und jetzt lebe ich ja auch schon wieder seit sieben Jahren in der Hafenstraße. Ich gehe mitten in der Nacht durch den Jungbusch und bin noch nie belästigt worden. Das mit der Leiche von der Teufelsbrücke ist schon eine merkwürdige Geschichte.“ Jennifer schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Weiß man denn schon etwas über die Tote, wer sie war oder vielleicht sogar, wie sie genau zu Tode kam?“, forschte Sibylle interessiert weiter.
„Ich kann dir auch nicht mehr sagen als das, was gestern im Mannheimer Morgen stand. Allerdings war ich doch erstaunt darüber, wie schnell die Polizei ihre Identität klären konnte, denn so eine Wasserleiche verändert ja stark ihr Aussehen. Aber es lag anscheinend bereits eine Vermisstenanzeige vor. Sie haben geschrieben, dass es weder ein Selbstmord noch ein Unfall war, sondern der Tod eindeutig durch Fremdeinwirkung eintrat. Bei der Toten soll es sich um eine in Berlin ziemlich bekannte Fotografin namens Koko handeln. Sie sei Ende 50, klein und zierlich gewesen und habe an einer Fotoserie über die Industriekultur in Mannheim gearbeitet. Irgendwo stand, glaube ich auch, dass sie früher sogar ein paar Jahre hier im Jungbusch gewohnt habe“, erklärte Jennifer. „Schade, dass sie mir nicht persönlich begegnet ist, sie war sicherlich eine interessante Frau. Wie ihr jemand nur so was antun konnte?“
„Ach, interessante Frau hin oder her. Die wär’ besser in Berlin geblieben und hätte ihre Fotos in Kreuzberg geknipst“, meinte Sibylle mit beinahe abschätzigem Unterton. Sie trank ihre Bloody Mary aus und signalisierte der Kellnerin, dass sie ihr eine neue bringen solle.
Jennifer wunderte sich ein bisschen über Sibylles flapsigen Kommentar, angesichts dessen, dass hier ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen war. Auf Sibylle schien wohl doch das Vorurteil über kühle Blondinen zuzutreffen, so nüchtern, wie sie über den Vorfall hinwegging. Aber sie hatte keine Lust, weiter darüber nachzudenken. Darum ging sie auch nicht näher auf Sibylles Reaktion ein, sondern meinte nur: „Na ja, die Teufelsbrücke, die Kauffmannsmühle, die Spatzenbrücke – der Jungbusch muss eine richtige Fundgrube für diese ‚Koko’ gewesen sein. Ich weiß nicht, ob Kreuzberg ihr das hätte bieten können. Aber wie dem auch sei, ich finde es tragisch, was ihr widerfahren ist.“
„Ja, natürlich, das ist schon irgendwie schlimm. – Aber was soll’s? Das Leben muss weitergehen“, antwortete Sibylle, indem sie mit dem Strohhalm in ihrer Bloody Mary rührte, „für den einen kommt die Zeit halt früher und für den anderen später“, sinnierte sie weiter, während sie einen kräftigen Schluck ihres Cocktails nahm. „Weiß man denn auch schon wie sie genau umgebracht wurde?“, fragte Sibylle weiter.
„Sie schreiben nur, sie sei erschlagen worden. Der Täter habe sie dann in einen grünen Müllsack gesteckt, diesen mit Steinen beschwert und sie in den Kanal geworfen. Laut Polizeibericht sei das schon vor mehr als 10 Tagen passiert, denn so lange brauche eine Wasserleiche in etwa, bis sie wieder vom Grund aufsteige.“
„Das ist ja richtig gruselig!“ Sibylle schüttelte sich. „Wieso tauchen die Leichen denn überhaupt wieder auf und bleiben nicht für immer unten?“
„Ach, das hängt wohl mit den Bakterien und der Gasentwicklung im Körper zusammen. Wahrscheinlich haben die schweren Steine den Plastiksack teilweise zerschlissen und sind rausgekullert und der Sack mit der Leiche ist dann hochgestiegen“, erklärte Jennifer, während sie zu Sibylle hinüber blickte, die genüsslich ihre zweite Bloody Mary ausschlürfte.
„Sag mal, schmeckt dir das Zeug denn? Ich finde, das ist ein scheußliches Gesöff!“ Jennifer hasste alle Drinks mit Tomatensaft.
„Wieso? Hat doch zu unserem Thema gepasst!“ Sibylle grinste, als sie sich erhob und schwungvoll ihre langen blonden Haare nach hinten über ihre Schultern warf.
„Na, du hast vielleicht Humor!“, erwiderte Jennifer kopfschüttelnd.
„Man darf das alles nicht so schwer nehmen, dafür ist das Leben viel zu kurz. – Aber ich muss jetzt los. Also bis dann! Man sieht sich! Und nochmals danke!“ Mit diesen Worten tänzelte Sibylle mit ihren hochhackigen Schuhen und einem aufregenden Hüftschwung, den Jennifer Lopez nicht besser hingekriegt hätte, über die Holzplanken der Aussichtsterrasse in Richtung Ausgang.
Die Männerrunde am Nebentisch gaffte ihr unverhohlen hinterher.
„Ein gekonnter Abgang“, dachte Jennifer bei sich, „von der kann ich noch was lernen.“
Sie zündete sich eine neue Dunhill an und nahm einen tiefen Zug, während sie über das Hafengebiet schaute, über das sich langsam das Dunkel der Nacht breitete. Am anderen Rheinufer begannen bereits die ersten Lichter auf dem riesigen BASF-Gelände zu funkeln so wie Tausende von kleinen Sternen. Jennifer atmete tief durch und war ganz froh, dass sie wieder allein war.
Sibylle lag ihr nicht wirklich und sie fragte sich, ob sie den Kontakt mit ihr tatsächlich intensivieren wollte? Im Grunde hatte sie doch wenig mit ihrer neuen Nachbarin gemein, außer dass sie seit kurzer Zeit Tür an Tür wohnten und, wie es der Zufall wollte, am selben Tag Geburtstag hatten, nur dass Sibylle ein Jahr jünger war.
Genau genommen hätten die beiden Frauen kaum gegensätzlicher sein können. Sibylle Vandenberg war groß und blond, hatte eine schlanke, aber trotzdem wohlproportionierte Figur. Jennifer hingegen war mindestens einen halben Kopf kleiner. Sie hatte dunkelbraune Locken, die ihr bis zur Schulter reichten. Doch auch wenn sie nicht so sexy wie Sibylle war – sie fand ihre Hüften zu breit, ihre Beine zu kurz und ihren Busen zu klein – so war sie doch eine exotische Schönheit mit ihrem bronzenen Teint und ihren großen dunklen Augen, die ihr die italienischen und lateinamerikanischen Vorfahren vermacht hatten.
Sibylle kleidete sich gerne figurbetont. Sie bevorzugte kurze Oberteile und Hosen, die tief auf den Hüftknochen saßen, sodass ihr Tattoo am verlängerten Rückgrat und ihr Bauchnabel-Piercing gut zu sehen waren. Jennifer hingegen liebte es, in bequemen Jeans und Turnschuhen durch die Gegend zu laufen. Das Einzige, in das sie immer investierte, waren ihre Shirts. Da hatte sie einen kleinen Spleen. Die mussten immer ein bisschen ausgefallen sein.
Jennifer drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Und während sie im Musikpark in dem geräumigen Fahrstuhl hinunterfuhr, war sie sich ziemlich sicher, dass sie die Beziehung zu ihrer neuen Nachbarin nicht vertiefen wollte. Sibylle erschien ihr doch sehr oberflächlich, egozentrisch und überkandidelt. Eigentlich konnte sie mit solchen Frauen überhaupt nichts anfangen.
Als freischaffende Journalistin war Jennifer immer unterwegs. Wenn sie von ihrem Job leben wollte, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als alle möglichen Aufträge anzunehmen, auch wenn das mitunter ziemlich nervte. Die wenige Freizeit, die ihr dann noch blieb, wollte sie lieber mit ihren alten Freunden Cleo und Arteo bei guten Gesprächen in deren Künstlerateliers im Jungbusch und in der Filsbach verbringen. Sie hatte sowieso das Gefühl, dass sie die beiden in letzter Zeit sträflich vernachlässigte. Dabei waren Cleo und Arteo die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie waren ihr vertraut und immer für sie da gewesen, obwohl sie selbst große Probleme hatten. Ihre Beziehung war in letzter Zeit alles andere als einfach, um nicht zu sagen katastrophal. Sie stritten sich ständig. Vor Jennifer versuchten sie es herunterzuspielen, aber sie bekam es meist hautnah mit. Sie spürte immer deutlicher, wie die beiden sich mehr und mehr fremd wurden und hätte nur zu gerne zwischen ihnen vermittelt. Denn auch wenn sie nicht mit ihnen verwandt war, so waren Cleo und Arteo doch in gewisser Weise ihre Ersatzfamilie. Bei ihnen fühlte sie sich zu Hause.
Die Tote von der Teufelsbrücke war wochenlang Stadtgespräch, aber natürlich trieb das Verbrechen insbesondere die Jungbuschbewohner um. Egal, wo man hinging wurde man mit dem ungeklärten Mordfall konfrontiert.
Überall war davon die Rede: bei den Ausstellungseröffnungen in der Galerie Strümpfe oder im zeitraumexit schräg gegenüber der Pop-Akademie oder beim Plausch mit den Künstlern des laboratorio 17 und des Hinterhofateliers. Der Mord war das Thema.
Auch der Quartiermanager war darüber äußerst bekümmert, denn die Negativschlagzeilen würden dem Stadtteil sicher schaden und alten Ressentiments wieder Nahrung geben. Diese Sorge war sicherlich einer der Beweggründe, warum man schon bald konkrete Überlegungen dahingehend anstellte, wie man das tragische Ereignis künstlerisch als Theaterstück oder Video-Projektion während des Nachtwandels Ende Oktober umsetzen könnte.
Sogar im türkischen Gemüseladen in der Jungbuschstraße und beim italienischen Feinkosthändler Ecke Beil- und Böckstraße erregte der Fall die Gemüter. Im Nelsons‘ konnte man nicht mehr in Ruhe sein Bierchen trinken und im Cafga nicht mehr ungestört in seinen Buschito beißen. Es war nicht mal mehr möglich, im Café Buschgalerie Ritas leckere selbstgebackene Dalbergschnitte zu genießen, ohne dabei die Wasserleiche vor Augen geführt zu bekommen.
In der Hafen- und Liebfrauenkirche betete man für die Seele der Toten und möglicherweise legte man auch in den beiden Moscheen bei Allah ein gutes Wort für die Verstorbene ein. Die Wasserleiche von der Teufelsbrücke war allgegenwärtig.
Jennifer Trams war schon bald maßgeblich in die Sache involviert. Eine Boulevard-Zeitung hatte herausgefunden, dass die freie Journalistin im Jungbusch wohnte und sie beauftragt, in der Sache zu recherchieren. Sie sollte mit kleinen Reportagen ihre Leser auf dem Laufenden halten. Jennifer hatte das finanziell verlockende Angebot nicht abschlagen können, obwohl sie das Blatt eigentlich nicht ausstehen konnte.
Bei der Polizei gab es auch nach drei Wochen so gut wie nichts Neues zum Stand der Ermittlungen. Lediglich an einer wenig einsehbaren Stelle am Ufer unterhalb der Spatzenbrücke hatte man Spuren entdeckt, die eindeutig belegten, dass sich das Verbrechen hier ereignet haben musste. Mittlerweile konnte man auch den Todeszeitpunkt näher eingrenzen. Die Tat musste zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli verübt worden sein. Darüber hinaus gab es jedoch keinerlei Hinweise, weder was den Täter betraf noch sein Motiv.
Als Jennifer gerade das Tavola Calda, den italienischen Imbiss in der Beilstraße verließ, wäre sie beinahe mit der kleinen, rundlichen Cleo, die mit ihren fliegenden Gewändern draußen vorbeirauschte, zusammengestoßen.
„Na, du lebst ja auch noch, meine Kleine! Ich weiß ja schon fast nicht mehr wie du aussiehst, so lange hast du dich schon nicht mehr bei mir sehen lassen!“, und bevor Jennifer antworten konnte, fuhr sie fort, „du siehst ja gar nicht gut aus, Jenni!“ Cleo umarmte sie überschwänglich. Sie hatte schon immer einen Hang zu großen Gesten.
„Tut mir leid, Cleo, dass ich mich so rar gemacht habe. Aber du hast recht, ich bin wirklich total durch den Wind. Ich soll einen Artikel über die Tote von der Teufelsbrücke schreiben und komme einfach nicht voran. Niemand hat etwas gesehen und keiner weiß was. Der Fall liegt vollkommen im Dunkeln. Ich habe mir schon überlegt, ob ich nach Berlin fahren soll, wo diese Koko gelebt hat. Vielleicht würde mich das ja weiterbringen. Aber die Fahrkarten sind sauteuer, soviel Kohle habe ich im Moment einfach nicht“, sprudelte es aus Jennifer heraus.
Cleo hatte ihr aufmerksam zugehört. „Ich glaube nicht, dass du nach Berlin fahren musst. Das kannst du dir sparen, meine Süße“, meinte sie mit einem vielsagenden Blick.
Jennifer schaute sie verwundert an. „Wieso sagst du so etwas?“
„Weil ich dir da vielleicht helfen kann, denn ich habe Koko gekannt.“
„Was!“ Jennifer blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. „Du? Du hast die Tote aus dem Kanal gekannt?“ Jennifer war sprachlos.
„Ja, und nicht nur ich“, fuhr Cleo fort, „du hast sie auch gekannt!“
„Was? Ich? – Aber das müsste ich doch wissen! – Das kann nicht sein!“ Jennifer war überzeugt, dass Cleo sich irrte.
„Hör zu, Jenni, ich habe jetzt nicht viel Zeit, denn ich muss dringend zum Doc in die Jungbuschstraße.“
„Bist du krank?“, hakte Jennifer nach.
„Ach, nichts von Bedeutung!“, Cleo winkte ab, „aber hör zu, komm doch heute Mittag auf ein Käffchen zu mir ins Atelier, dann können wir in aller Ruhe reden.“
Jennifer betrachtete ihre alte Freundin noch immer voller Erstaunen. „Aber Cleo, sag mir wenigstens eins, bevor du jetzt gehst, woher soll ich diese Frau denn gekannt haben? Ich kenne keine Koko! Ich habe diesen Namen noch nie zuvor gehört!“
„Klar, dass du dich nicht erinnern kannst. Sie hieß nämlich nicht immer Koko. Den Künstlernamen hat sie sich nämlich erst zugelegt, als sie weg von Mannheim ist. Du kennst sie wahrscheinlich nur unter ihrem bürgerlichen Namen Kornelia Kolberg.“
Kornelia Kolberg? In Jennifers Gehirn ratterte es. Der Name kam ihr tatsächlich bekannt vor. Nur, wo hatte sie den schon mal gehört?
„Wir haben sie damals alle nur Konnie gerufen, denn sie konnte den Namen Kornelia nicht ausstehen. – Und, fällt der Groschen jetzt?“ Cleo schaute sie erwartungsvoll an.
„Konnie? – Warte mal! Du meinst jetzt aber nicht die Konnie von damals aus unserer Wohngemeinschaft?“ Jennifer legte ihre Stirn nachdenklich in Falten.
Cleo nickte. „Genau die! – So, aber jetzt muss ich wirklich gehen. Über alles andere reden wir heute Mittag bei mir. Bis dann, mein Schatz!“
Gedankenversunken ging Jennifer die Straße entlang. Sie versuchte sich an Konnie zu erinnern und an all die anderen. Mein Gott, wie lange lag das zurück! Doch mindestens 30 Jahre! Es war Mitte der 70er-Jahre gewesen, als sie alle zusammen in der WG in der Jungbuschstraße gewohnt hatten.
Und plötzlich sah Jennifer wieder die ganze Truppe von damals vor sich: Isolde, Lara und Konnie sowie ihre Künstlerfreunde Cleo und Arteo. Und dazwischen sich selbst als kleines Mädchen mit ihrer schönen jungen Mutter Caterina. Die war allerdings schon ein halbes Jahr vor ihrer Geburt, im Dezember 1975, in die Jungbusch-WG gezogen.