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Edgar Wallace

Sammelband

Romane und Geschichten

Edgar Wallace

Sammelband

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
7. Auflage, ISBN 978-3-943466-83-6

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Pro­log

Ed­gar Wal­lace – Bio­gra­phi­sches

Ge­schich­ten

Das Ge­setz der Vier

Der Dieb in der Nacht

Der Red­ner

Die Aben­teue­rin

Kri­mi­nal­ge­schich­ten

Ro­ma­ne

Das in­di­sche Tuch

Das Ver­rä­ter­tor

Der grü­ne Bo­gen­schüt­ze

Der un­heim­li­che Mönch

Der Zin­ker

Die drei von Cór­do­ba

Die selt­sa­me Grä­fin

Die to­ten Au­gen von Lon­don

Der Frosch mit der Mas­ke

Die Ban­de des Schre­ckens

Der Hexer

Neu­es vom Hexer

Am großen Strom

A.S. der Un­sicht­ba­re

Bo­nes in Afri­ka

Bo­nes in Lon­don

Bo­sam­bo vom Fluß

Das Ge­heim­nis der gel­ben Nar­zis­sen

Das ge­heim­nis­vol­le Haus

Das Ge­sicht im Dun­kel

Der Bri­gant

Der Der­by­sie­ger

Der Dia­man­ten­fluß

Der Dop­pel­gän­ger

Der Gol­de­ne Ha­des

Der leuch­ten­de Schlüs­sel

Der Lü­gen­de­tek­tor

Der Mann, der sei­nen Na­men än­der­te

Der Mann im Hin­ter­grund

Der Mann von Marok­ko

Der Rä­cher

Der Teu­fel von Ti­dal Ba­sin

Der vier­e­cki­ge Sma­ragd

Die blaue Hand

Die ge­fie­der­te Schlan­ge

Die gel­be Schlan­ge

Die Grä­fin von As­cot

Die Mil­lio­nen­ge­schich­te

Die Schatz­kam­mer

Die Schuld des An­de­ren

Ein ge­ris­se­ner Kerl

Feu­er im Schloß

Gangs­ter in Lon­don

Ge­heim­agent Nr. 6

Groß­fuß

Hands up!

Hü­ter des Frie­dens

In den Tod ge­schickt

Klub der Vier

Lou­ba der Spie­ler

Mary Fer­re­ra spielt Sys­tem

Pe­ne­lo­pe von der ›Po­lyan­t­ha‹

San­ders vom Fluß

San­ders

Töch­ter der Nacht

Turf­schwin­del

Über­fall­kom­man­do

Ver­damm­te Kon­kur­renz

In­dex

Dan­ke

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Prolog

Edgar Wallace – Biographisches

Leben und Werk

Wer im Lon­don des Jah­res 1886 die Fleet Street auf­sucht, wird den klei­nen Bur­schen viel­leicht gar nicht be­mer­ken. Und warum soll­te man ihm auch Be­ach­tung schen­ken? Er ist nur ei­ner von vie­len Jun­gen, die dort – lauthals die ak­tu­el­le Schlag­zei­le ru­fend – Zei­tun­gen feil­bie­ten. Das wird sich al­ler­dings än­dern. Der jun­ge Dick Free­man hat ei­ni­ges vor mit sei­nem Le­ben.

Eine Mar­ke er­schafft sich selbst

Am 1. April 1875 wird Richard Hora­tio Ed­gar Wal­lace in Lon­don ge­bo­ren. Sei­ne leib­li­chen El­tern, ein un­ver­hei­ra­te­tes Schau­spie­ler­paar, ge­ben das Kind zur Ad­op­ti­on frei. Wes­halb sich aus­ge­rech­net der Fisch­händ­ler Ge­or­ge Free­man ent­schließt, den Säug­ling als Sohn auf­zu­neh­men? Wer weiß… All­zu wohl­ha­bend ist er je­den­falls nicht. Der klei­ne Dick Free­man nimmt schon im Al­ter von elf Jah­ren Ge­le­gen­heits­ar­bei­ten an und wird sich wäh­rend der ers­ten Jah­re sei­nes Er­werbs­le­bens mehr schlecht als recht durch­schla­gen. Es dau­ert noch et­was, bis der Schulab­bre­cher zu je­nem Mann wird, den das Pub­li­kum als Er­folgs­au­tor kennt, wohl­ge­nährt und mit ei­ner Vor­lie­be für lan­ge Zi­ga­ret­ten­spit­zen.

Edgar Wallace vor einem Hotel (ca. 1928)

Von 1889 bis 1900 ver­öf­fent­licht der Au­tor 62 Ge­dich­te, be­vor er sich 1901 ers­te jour­na­lis­ti­sche Spo­ren als Son­der­kor­re­spon­dent im Bu­ren­krieg ver­dient. Dort ge­won­ne­ne Ein­drücke wird er in sei­ne zwölf Afri­ka-Ro­ma­ne ein­ar­bei­ten, die in den Jah­ren 1911 bis 1928 er­schei­nen. Zu­nächst je­doch, aus Süd­afri­ka zu­rück­ge­kehrt, ar­bei­tet er jour­na­lis­tisch und gibt mi­li­tär-sa­ti­ri­sche Kurz­ge­schich­ten her­aus.

Mit »Die vier Ge­rech­ten« (»The four Just Men«, 1905) er­fin­det sich der Jour­na­list neu – als Kri­mi­nal­au­tor Ed­gar Wal­lace. Um den Ver­kauf des Bu­ches an­zu­kur­beln, schließt er eine Wet­te mit der Le­ser­schaft. Die Idee funk­tio­niert, das Buch wird zum Pub­li­kums­er­folg. Al­ler­dings er­kauft Wal­lace sei­ne Be­kannt­heit teu­er. Wür­de nicht der Dai­ly Mail-Grün­der Lord Harm­worth ein­grei­fen, wäre der Au­tor rui­niert: Vie­le Le­ser er­ra­ten die Lö­sung des be­schrie­be­nen Kri­mi­nal­falls und ver­lan­gen ihre 500 Pfund Wett­prä­mie.

Von 1908 an er­schei­nen zahl­rei­che Kri­mi­nal­ro­ma­ne. Wal­lace füllt in un­glaub­li­cher Ge­schwin­dig­keit rie­si­ge Pa­pier­men­gen. Meis­tens ar­bei­tet er par­al­lel an meh­re­ren Bü­chern. In der Re­gel be­en­det er min­des­tens zwei Kri­mis pro Jahr – 1919 sind es drei, 1922 und 1923 vier, 1924 gan­ze sechs Exem­pla­re. Dass die­ses Pen­sum stei­ge­rungs­fä­hig ist, be­weist er 1929: In­ner­halb des einen Jah­res schreibt Ed­gar Wal­lace 22 Bü­cher.

Mög­lich ist das nur, weil er nach Sche­ma F vor­geht. Da so­gar die­se selbst­au­fer­leg­te Re­duk­ti­on des Er­zäh­lens nicht pro­duk­tiv ge­nug ist, um ihm den ge­wünsch­ten Le­bens­stan­dard zu ge­währ­leis­ten, be­nutzt er einen Vor­läu­fer des Dik­tier­ge­rä­tes. So ent­steht in 200 Sei­ten ge­hef­te­te Mas­sen­wa­re, die sich größ­ter Be­liebt­heit er­freut.

Der Au­tor ent­wirft durch­schau­ba­re Hand­lun­gen, die er mit ein­di­men­sio­nal cha­rak­te­ri­sier­ten Pro­tago­nis­ten aus­stat­tet. Ty­pi­sche Fi­gu­ren sind das lie­be Mäd­chen, der ex­zen­tri­sche Ad­li­ge, der raf­fi­niert-fre­che De­tek­tiv, der smar­te Gi­go­lo-Schur­ke und der gänz­lich un­mo­ra­li­sche Kri­mi­nel­le. Die Frau­en ha­ben treu und naiv zu sein, die Gu­ten hoch­her­zig, die Bö­sen ver­kom­men, wenn auch mo­disch ge­klei­det. Die Welt des Ed­gar Wal­lace ist in Ord­nung und leicht ver­ständ­lich – das Gute wird sie­gen. Dass sich die Kri­mis den­noch un­ter­halt­sam le­sen, liegt am er­zäh­le­ri­schen Ge­schick des Au­tors, der mit au­ßer­or­dent­li­cher Ra­sanz Span­nung auf­baut, um am Ende al­les in ro­man­ti­schem Wohl­ge­fal­len auf­zu­lö­sen.

Zeit sei­nes Le­bens will es Wal­lace nicht ge­lin­gen, mit sei­nem Ein­kom­men haus­zu­hal­ten. Der stän­dig ver­schul­de­te Spie­ler ver­trös­tet sei­ne Gläu­bi­ger auf noch zu er­wirt­schaf­ten­de Ho­no­ra­re. Trotz sei­nes Flei­ßes und des enor­men Er­folgs, ver­zeich­net er fi­nan­zi­ell nie­mals eine po­si­ti­ve Bilanz.

Als er am 10. Fe­bru­ar 1932 in Hol­ly­wood stirbt, hin­ter­lässt er tief­trau­ri­ge Fans und eine hoch­ver­schul­de­te Fa­mi­lie. Nach­dem der Au­tor, man­gels Ge­le­gen­heit, kein Geld mehr aus­gibt, rei­chen den Hin­ter­blie­be­nen die Tan­tie­men aus, um sämt­li­che Schul­den des Ver­stor­be­nen bin­nen ei­nes Jah­res zu til­gen.

Wel­che Be­deu­tung dem Kri­mi­nal­schrift­stel­ler bei­ge­mes­sen wird, ver­deut­li­chen die Trau­er­be­kun­dun­gen der Bri­ten: Im Ha­fen von Southamp­ton wird Halb­mast ge­flaggt, als das Schiff mit Wal­la­ces Sarg dort ein­trifft, und in der Fleet Street er­tö­nen die Glo­cken. Nahe der da­ma­li­gen Pres­se­mei­le, am Lud­ga­te Cir­cus, be­fin­det sich heu­te eine Ge­denk­ta­fel für Ed­gar Wal­lace.

Vor al­lem: Viel

Ins­ge­samt ver­fasst Wal­lace 124 Kri­mi­nal­ro­ma­ne, 12 wei­te­re Ro­ma­ne, zehn Sach­bü­cher, un­zäh­li­ge Essays, Er­zäh­lun­gen und Kurz­ge­schich­ten so­wie ei­ni­ge Thea­ter­stücke und Dreh­bü­cher. Sechs wei­te­re Kri­mis er­schei­nen post­hum. Dar­über hin­aus wer­den 1935 vier, vom Pri­vat­se­kre­tär des Au­tors um­ge­ar­bei­te­te, Büh­nen­fas­sun­gen ver­öf­fent­licht.

Ab­ge­se­hen da­von, dass Ed­gar Wal­lace ex­trem pro­duk­tiv ist, greift er Ide­en be­reits pu­bli­zier­ter Bü­cher er­neut auf. Die­se ef­fi­zi­en­te Metho­de wen­det er bei­spiels­wei­se 1921 beim Ro­man »The Law of the Four Just Men« an, worin er sich auf sei­nen Erst­ling be­zieht.

Der in Deutsch­land ver­mut­lich be­kann­tes­te die­ser Ti­tel ist »Neu­es vom Hexer«. Des­sen the­ma­ti­scher Vor­gän­ger ver­hilft dem Au­tor 1927 qua­si über Nacht zum Durch­bruch auf dem hie­si­gen Markt, als »Der Hexer«, un­ter der Re­gie von Max Rein­hardt, im Ber­li­ner Deut­schen Thea­ter zu se­hen ist. Noch im sel­ben Jahr er­schei­nen im Gold­mann Ver­lag vier Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Wal­lace. Zu­vor war, als ers­te deut­sche Über­set­zung, le­dig­lich »Der Frosch mit der Mas­ke« ver­öf­fent­licht wor­den. Da­nach ver­legt Gold­mann jähr­lich min­des­tens zwei Wal­lace-Kri­mis, und die deut­sche Le­ser­schaft ist be­geis­tert.

Dass Ed­gar Wal­lace auch an­de­re Li­te­ra­tur­gat­tun­gen be­dient, wird hier­zu­lan­de weit­ge­hend igno­riert.

Ge­le­gent­li­che Schau­er

Ab 1925 schreibt Wal­lace Büh­nen­stücke. Für das ers­te die­ser Wer­ke ar­bei­tet er sei­nen Kri­mi­nal­ro­man »The Gaunt Stran­ger« um, das un­ter dem Ti­tel »The Rin­ger« im Thea­ter zu se­hen ist. Büh­nen­fas­sung und Ro­man lö­sen, un­ter dem Ti­tel »Der Hexer«, in Deutsch­land fre­ne­ti­schen Ju­bel aus. Über­setzt wird al­ler­dings nicht das Ori­gi­nal, son­dern die be­ar­bei­te­te Fas­sung.

1930 kommt »The Ca­len­dar« auf die Büh­ne, das in Deutsch­land 1932 als »Platz und Sieg« ver­öf­fent­licht wird.

1929 über­nimmt Wal­lace die Re­gie der Ver­fil­mung von »Red Aces« (»Mr. Ree­der weiß Be­scheid«, 1962). Für die Ver­fil­mung von »The Squea­ker« schreibt er das Dreh­buch und führt 1930 Re­gie. Das deut­sche Pub­li­kum kennt den Film un­ter dem Ti­tel »Der Zin­ker«.

Schließ­lich ar­bei­tet der Au­tor, 1932 in Hol­ly­wood, an der ers­ten Fas­sung des Dreh­buchs für »King Kong und die wei­ße Frau« mit.

Da die Ro­man­vor­la­gen sich gut ver­fil­men las­sen, wer­den Wal­la­ces Kri­mis be­reits wäh­rend der Stumm­film-Ära ad­ap­tiert. Der ers­te deut­sche Ti­tel ist »Der große Un­be­kann­te«, ein 1927 ge­dreh­ter Stumm­film. Nach dem zwei­ten Stumm­film »Der rote Kreis« (1929), zei­gen deut­sche Ki­nos in den 1930er Jah­ren drei Ton­fil­me: »Der Zin­ker« (1931), »Der Hexer« (1932) und »Der Dop­pel­gän­ger« (1934).

»Der Frosch mit der Mas­ke« löst 1959 eine Flut deutsch­spra­chi­ger Wal­lace-Ver­fil­mun­gen aus. Ri­al­to Film pro­du­ziert in­ner­halb von 13 Jah­ren 38 Ad­ap­tio­nen. Zu­min­dest an­fangs hält man sich recht ge­nau an die Kri­mi­nal­ro­ma­ne und dreht harm­lo­se, span­nen­de Un­ter­hal­tung, ab­ge­run­det durch woh­li­ge Gru­sel­schau­er so­wie ein ob­li­ga­to­ri­sches Hap­py End.

Der hohe Wie­de­rer­ken­nungs­wert der Se­rie re­sul­tiert dar­aus, dass häu­fig die­sel­ben Schau­spie­ler ähn­li­che Rol­len be­set­zen und der Vor­spann mit dem be­rühmt ge­wor­de­nen »Hier spricht Ed­gar Wal­lace!« be­ginnt. Von der Film­kri­tik wer­den die­se Wer­ke ein­hel­lig ver­ris­sen – die Zuschau­er aber lie­ben sie. Der Di­cke mit der Zi­ga­ret­ten­spit­ze hät­te sie wohl eben­falls zu schät­zen ge­wusst.

Gedenktafel in der Fleet Street zu Ehren von Edgar Wallace

Noch ein Vorwort

Men­schen­ken­ner und Men­schen­freund, Aben­teu­rer und Prak­ti­ker, Self­ma­de­man und Welt­mann, Tat­sa­chen­mensch und Eng­län­der – wenn man all die­se Ei­gen­schaf­ten ad­diert und die Sum­me zieht, hat man Ed­gar Wal­lace vor sich, eine der in­ter­essan­tes­ten Per­sön­lich­kei­ten des heu­ti­gen Eng­land. Als Mensch lie­bens­wür­dig und ver­ständ­nis­voll, als Mann der Fe­der in sei­nen De­tek­tivro­ma­nen fes­selnd, in sei­nen afri­ka­ni­schen No­vel­len le­ben­dig und pa­ckend. Er ist au­gen­blick­lich der po­pu­lärs­te und meist­ge­le­se­ne Schrift­stel­ler Eng­lands. Sei­ne Bio­gra­phie »Men­schen« zeigt uns sei­nen schwe­ren und mü­he­vol­len Auf­stieg.

In der Nähe von Green­wich wird er als Fin­del­kind ent­deckt und im Al­ter von neun Ta­gen von ei­nem Fisch­trä­ger ad­op­tiert, der in dürf­ti­gen Ver­hält­nis­sen lebt. Als er her­an­wächst, macht der Cha­rak­ter sei­ner Ad­op­tiv­mut­ter großen Ein­druck auf ihn. Er er­zählt, daß sie die sanf­tes­te Frau war, die je­mals ge­lebt hat. »Schrei­ben konn­te sie nicht, aber le­sen. Meis­tens las sie laut die Mord­ge­schich­ten, die in den Sonn­tags­blät­tern stan­den. Dann spra­chen wir über Ver­bre­cher …« Die Schu­le wird ihm zur Qual, und die At­mo­sphä­re der an­stän­di­gen Ar­men, in der er groß wird, macht ihn früh­reif. Schon mit elf Jah­ren hat er einen Be­ruf: Er ver­kauft Zei­tun­gen in der City. Spä­ter hilft er in Buch­dru­cke­rei­en. Sehr be­zeich­nend für sei­nen un­ab­hän­gi­gen Cha­rak­ter ist es, daß er ge­gen sei­nen Ar­beit­ge­ber schon als zwölf­jäh­ri­ger Jun­ge klagt, weil ihm un­recht­mä­ßig Lohn ab­ge­zo­gen wird. Der Klei­ne tritt als sein ei­ge­ner An­walt vor dem Rich­ter auf und ge­winnt den Pro­zeß. Viel grü­belt er über sich und sei­ne Stel­lung zu den Men­schen nach und lernt schon in frü­her Ju­gend zwei Din­ge: »Nie­mals sich sel­ber leid tun und nie­mals den Leu­ten bit­te­re Wahr­hei­ten sa­gen, wenn man nicht in der Lage ist, sie nie­der zu schla­gen.«

Das Haus sei­ner El­tern wird ihm zu eng. Als Koch und Ka­jü­ten­jun­ge geht er auf ein Schiff, aber schon nach kur­z­er Zeit ist ihm die­ses Le­ben ver­lei­det, und er be­nutzt die ers­te Ge­le­gen­heit, nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren. Al­ler Mit­tel bar, ist er ge­zwun­gen, sich sei­nen Le­bens­un­ter­halt zu­sam­men­zu­steh­len. So schlägt er sich müh­sam wie­der zu sei­nen El­tern durch. Dann wird er Milch­jun­ge, aber an­statt die Milch aus­zu­tra­gen, liest er Schau­er­ge­schich­ten. Nach ei­nem ver­geb­li­chen Ver­such, im Mau­rer­be­ruf un­ter­zu­kom­men, läßt er sich als Sol­dat an­wer­ben. In sei­ner frei­en Zeit schreibt er Ge­dich­te und Lie­der, zu­nächst für sich.

Mit sei­ner Trup­pe kommt er nach Süd­afri­ka. Eine Dame wird auf sei­ne Ge­dich­te auf­merk­sam und führt ihn in die Ge­sell­schaft ein … Er macht mit Kip­ling und Mark Twain Be­kannt­schaft. All­mäh­lich nimmt er zu den po­li­ti­schen Pro­ble­men und zu der Ras­sen­fra­ge Stel­lung. Er schreibt für Zei­tun­gen und ist stän­dig be­dacht, sei­nen Stil zu bes­sern und zu ver­voll­komm­nen. Das Le­ben bringt ihn mit ein­fluß­rei­chen Schrift­stel­lern und Po­li­ti­kern zu­sam­men. Er nimmt sei­nen Ab­schied von der Trup­pe und wird Be­richt­er­stat­ter. In Kap­stadt er­scheint sein ers­tes Buch, »Die miß­lun­ge­ne Sen­dung«, ein Band Ge­dich­te, die sich stark an Kip­ling an­leh­nen.

In­zwi­schen bricht der Bu­ren­krieg aus, in dem er Be­richt­er­stat­ter großer eng­li­scher Zei­tun­gen wird. Da er die stren­ge Zen­sur des Ober­kom­man­die­ren­den Kit­che­ner durch­bricht, kommt er in große Schwie­rig­kei­ten. Die nächs­ten Jah­re brin­gen ihm einen Er­folg – er wird Che­fre­dak­teur des Jo­han­nis­bur­ger »Rand Dai­ly Mail«, die heu­te eins der größ­ten Blät­ter Süd­afri­kas ist. Die­se Pe­ri­ode in Jo­han­nis­burg be­zeich­net Wal­lace selbst als »die groß­ar­tigs­te Zeit sei­nes Le­bens«. Er ist Schrift­lei­ter ei­nes viel­ver­spre­chen­den Blat­tes, hat ein Ge­halt von zwei­tau­send Pfund Ster­ling und kommt mit vie­len be­deu­ten­den Men­schen zu­sam­men. Dann er­faßt auch ihn die Spe­ku­la­ti­ons­psy­cho­se, mü­he­los ge­winnt er große Ver­mö­gen, ver­liert wie­der al­les, sei­ne Stel­lung bricht zu­sam­men, und er kehrt bet­tel­arm nach Lon­don zu­rück. Nor­th­clif­fe gibt ihm neue An­stel­lung.

In den großen Ge­richts­hö­fen Lon­d­ons be­rei­chert er als Be­richt­er­stat­ter kri­mi­na­lis­ti­scher Sen­sa­ti­ons­pro­zes­se sei­ne Men­schen­kennt­nis. Als Jour­na­list macht er große Rei­sen, kommt nach Ka­na­da, nach Ma­drid, nach Marok­ko. Nicht be­frie­digt von sei­nem Be­ruf, grün­det er, da kein Ver­le­ger sei­ne Schrif­ten her­aus­ge­ben will, einen Selbst­ver­lag, um sei­ne Wer­ke zu ver­öf­fent­li­chen. Er will sich »einen Ruf als Er­zäh­ler schaf­fen, und wenn er da­bei Ban­ke­rott ma­chen soll«. Und er macht Ban­ke­rott. Nor­th­clif­fe hilft ihm wie­der. Wäh­rend des Welt­krie­ges ist er Mi­li­tär­be­richt­er­stat­ter für die »Bir­ming­ham Post«: Schließ­lich ge­lingt es ihm, sich als Be­richt­er­stat­ter durch­zu­set­zen und als frei­er Mann sei­nen ei­ge­nen Plä­nen und Ide­en zu le­ben.

Wal­lace ist ein Schrift­stel­ler von au­ßer­or­dent­li­cher Frucht­bar­keit. Er schrieb haupt­säch­lich De­tek­tivro­ma­ne, aber sei­ne afri­ka­ni­schen No­vel­len be­sit­zen grö­ße­ren li­te­ra­ri­schen Wert. Er selbst schreibt über ihre Ent­ste­hung: »Als ich die Küs­te (die West­küs­te Afri­kas) auf und ab fuhr, ehe ich das Kongo­ge­biet be­trat, sprach ich mit Be­am­ten und er­fuhr von ih­nen die Sa­gen über die al­ten Ko­lo­ni­al­be­am­ten: Von je­nem Be­am­ten, der in Grand Bas­sam drei Mis­se­tä­ter mit ei­ge­ner Hand auf­häng­te, von son­der­ba­ren und un­heim­li­chen Pala­vern, die im Busch ge­hal­ten wur­den; von Zau­ber­dok­to­ren, Ju-jus und Fe­ti­schen; von Li­be­ria und sei­nen eng­lisch spre­chen­den Ne­gern; von dem son­der­ba­ren Skla­ven­volk von An­go­la, das noch für eine Fla­sche Kun­strum ge­kauft und ver­kauft wird. In der Tat – ich heims­te eine Un­men­ge von Wis­sen und Er­fah­run­gen ein, die ich nie­mals auf­brau­chen wer­de.«

Wal­lace hat meh­re­re Bän­de afri­ka­ni­scher No­vel­len ver­öf­fent­licht. In die­se Rei­he ge­hört auch der vor­lie­gen­de Band. Die pa­cken­den klei­nen Ge­schich­ten sind dem Le­ben ab­ge­lauscht und ran­ken sich um be­stimm­te Ty­pen. San­ders, Ha­mil­ton, Bo­nes, Bo­sam­bo wa­ren und sind le­ben­de Men­schen. Die afri­ka­ni­schen No­vel­len zeich­nen sich be­son­ders durch einen ei­gen­ar­tig tro­ckenen, aber köst­li­chen Hu­mor aus und sind pa­ckend und span­nend ge­schrie­ben. Wal­lace macht aus Ta­ten kei­ne Hel­den­ta­ten, aus tap­fe­ren, pflicht­be­wuß­ten Men­schen kei­ne Über­menschen. Je­der Über­schwang liegt ihm fern. Knapp, fast spar­sam geht er mit den Wor­ten um, und des­halb sind sie ge­wich­tig und ge­halt­voll. Sei­ne meis­ter­haf­te Er­zäh­lungs­kunst gibt ein un­über­treff­li­ches Bild des äqua­to­ria­len West­afri­ka. Der Le­ser hat ne­ben der reiz­vol­len Lek­tü­re noch den Ge­winn, ein Stück in­ter­essan­ter Kul­tur- und Ko­lo­ni­al­ge­schich­te ken­nen­zu­ler­nen.

Ravi Ra­ven­dro1


  1. Ravi Ra­ven­dro war der be­kann­tes­te Über­set­zer der Wer­ke Wal­la­ce’ ins Deut­sche  <<<

Geschichten

Das Gesetz der Vier

Kri­mi­na­ler­zäh­lun­gen

Der Mann von Clapham

»Die Ver­tei­di­gung hat be­haup­tet, Mr. Noah Sted­land sei ein Er­pres­ser und habe in­fol­ge sei­ner Dro­hun­gen eine große Sum­me von dem An­ge­klag­ten er­hal­ten. Der Ge­richts­hof kann die­se un­be­wie­se­ne Be­haup­tung nicht ohne wei­te­res an­neh­men, be­son­ders da die Aus­sa­gen des An­ge­klag­ten nicht un­ter Eid ge­leis­tet wur­den. Sie wur­den zwar beim Zeu­gen­ver­hör er­wähnt, es konn­te aber nicht der ge­rings­te Be­weis da­für er­bracht wer­den. Die Ver­tei­di­gung hat nicht ein­mal ge­sagt, wel­che Art von Dro­hung Mr. Sted­land an­wand­te …«

Die glän­zen­de Rede des Staats­an­walts mach­te den bes­ten Tra­di­tio­nen des Ge­rich­tes Ehre, und die Ge­schwo­re­nen ei­nig­ten sich auf »Schul­dig«, ohne sich zu ei­ner län­ge­ren Be­ra­tung zu­rück­zu­zie­hen.

Eine Be­we­gung ging durch den Ge­richts­saal, und man hör­te ein Rau­nen und Flüs­tern, als der Rich­ter sei­ne Horn­bril­le auf­setz­te und zu schrei­ben be­gann.

Der An­ge­klag­te saß hin­ter den großen, ei­che­nen Schran­ken und schau­te er­mu­ti­gend eine jun­ge Frau an, die ihm ihr Ge­sicht zu­wand­te. Er war bei dem Spruch der Ge­schwo­re­nen nicht er­bleicht und rich­te­te jetzt den erns­ten Blick wie­der auf die Ge­stalt des Rich­ters, der in ei­nem braun­ro­ten Talar und ei­ner wei­ßen Perücke dort oben saß und so eif­rig am Schrei­ben war. Er wun­der­te sich, was ein Rich­ter un­ter die­sen Um­stän­den wohl schrei­ben moch­te. Ob er den gan­zen Tat­be­stand noch ein­mal kurz zu­sam­men­faß­te? Der An­ge­klag­te war un­ge­dul­dig. Nach­dem sein Schick­sal be­sie­gelt war, hat­te er nur noch den einen Wunsch, mög­lichst bald mit al­lem fer­tig zu sein; der Auf­ent­halt in die­sem großen, ho­hen Ge­richts­saal, aus dem ihm vie­le ver­schwom­me­ne Rei­hen von Ge­sich­tern ent­ge­gen­starr­ten, war qual­voll. Er konn­te den An­blick des gleich­gül­ti­gen Ver­tei­di­gers und vor al­lem der bei­den Män­ner nicht mehr er­tra­gen, die in der Nähe des Rechts­an­wal­tes sa­ßen und ihn scharf be­ob­ach­te­ten.

Er hät­te gern ge­wußt, wer sie wa­ren und wel­ches In­ter­es­se sie an dem Aus­gang die­ses Pro­zes­ses hat­ten. Vi­el­leicht wa­ren es Schrift­stel­ler aus dem Aus­land, die hier Ein­drücke sam­meln woll­ten. Sie hat­ten je­den­falls ein fremd­län­di­sches Aus­se­hen. Der eine war sehr groß (das hat­te er be­merkt, als er ein­mal auf­ge­stan­den war), der an­de­re war klein und ha­ger und sah fast wie ein Jüng­ling aus, ob­gleich sein Haar schon er­graut war. Bei­de wa­ren glat­tra­siert, tru­gen schwar­ze An­zü­ge und hiel­ten breit­krem­pi­ge, wei­che, schwar­ze Filz­hü­te auf ih­ren Kni­en.

Ein Räus­pern des Rich­ters stör­te den An­ge­klag­ten in sei­nen Be­trach­tun­gen.

»Jeffrey Storr«, sag­te der Rich­ter, »auch ich bin mit dem Spruch der Ge­schwo­re­nen durch­aus ein­ver­stan­den. Sie be­haup­ten, daß Sted­land Sie um Ihre Er­spar­nis­se ge­bracht habe und daß Sie in sein Haus ein­bra­chen, um die Be­stra­fung die­ses Man­nes selbst in die Hand zu neh­men und Ihr Geld und ein Schrift­stück wie­der zu er­hal­ten. Sie sind zwar nicht nä­her auf den Cha­rak­ter die­ses Schrift­stückes ein­ge­gan­gen, ha­ben aber vor­ge­bracht, daß es die Schuld Mr. Sted­lands be­wei­sen wür­de. Sol­che Be­haup­tun­gen kön­nen nicht ernst­lich von ei­nem Ge­richts­hof in Be­tracht ge­zo­gen wer­den. Ihre Ge­schich­te klingt so, als ob Sie von die­sen be­rühm­ten, bes­ser, be­rüch­tig­ten Leu­ten ge­le­sen hät­ten, die man die ›Vier Ge­rech­ten‹ nennt. Sie trie­ben ihr We­sen vor ei­ni­gen Jah­ren, aber nun ist ih­rer Tä­tig­keit glück­li­cher­wei­se Ein­halt ge­bo­ten. Sie hat­ten sich die Auf­ga­be ge­setzt, dort zu stra­fen, wo das Ge­setz ver­sag­te. Es ist eine maß­lo­se Über­heb­lich­keit, an­zu­neh­men, daß das Ge­setz je­mals ver­sagt. Sie ha­ben ein ver­dam­mens­wer­tes Ver­bre­chen be­gan­gen, und be­son­ders der Um­stand, daß Sie im Au­gen­blick Ih­rer Ver­haf­tung im Be­sitz ei­ner ge­la­de­nen Schuß­waf­fe wa­ren, fällt bei der Be­ur­tei­lung Ih­rer Tat er­schwe­rend ins Ge­wicht. Ich ver­ur­tei­le Sie zu sie­ben Jah­ren Zucht­haus.«

Jeffrey Storr ver­neig­te sich, und ohne noch einen Blick auf die jun­ge Frau zu wer­fen, wand­te er sich kurz um und stieg die Stu­fen hin­un­ter, die zu den Zel­len führ­ten.

Die bei­den fremd­län­disch aus­se­hen­den Her­ren, die das In­ter­es­se und den Un­wil­len des An­ge­klag­ten er­regt hat­ten, wa­ren die ers­ten, die den Saal ver­lie­ßen.

Als sie auf der Stra­ße an­ge­langt wa­ren, blieb der Grö­ße­re der bei­den ste­hen.

»Wir wol­len auf die Frau war­ten«, sag­te er.

»Ist er mit ihr ver­hei­ra­tet?« frag­te der Klei­ne­re.

»Ja, sie ha­ben in der Wo­che ge­hei­ra­tet, in der er tö­rich­ter­wei­se sein Geld fort­gab. Es war doch ein merk­wür­di­ger Zu­fall, daß der Rich­ter ge­ra­de heu­te die ›Vier Ge­rech­ten‹ er­wähn­te.«

Der an­de­re lä­chel­te.

»In dem­sel­ben Ge­richts­saal wur­dest du zum Tode ver­ur­teilt, Man­fred.«

»Ich war neu­gie­rig, ob sich der alte Ge­richts­die­ner noch auf mich be­sin­nen wür­de. Man sagt, daß er kein Ge­sicht ver­gißt, das er ein­mal ge­se­hen hat, selbst nach vie­len Jah­ren nicht. Aber schein­bar hat es Wun­der ge­wirkt, daß ich mei­nen Bart ab­nahm. Ich habe den Mann so­gar an­ge­re­det, ohne daß er et­was merk­te. Aber hier kommt sie.«

Glück­li­cher­wei­se war die jun­ge Frau al­lein. Ein schö­nes Ge­sicht, dach­te Gon­sa­lez, der Jün­ge­re von bei­den. Sie trug den Kopf hoch und stolz und wein­te nicht. Gon­sa­lez und Man­fred folg­ten ihr zur Ne­w­ga­te Street, und als sie die Stra­ße nach Hat­ton Gar­den über­quer­te, re­de­te Man­fred sie an.

»Ent­schul­di­gen Sie bit­te, Mrs. Storr.«

Sie wand­te sich um und sah den Frem­den arg­wöh­nisch an.

»Wenn Sie ein Re­por­ter sind –«, be­gann sie.

»Das bin ich nicht«, er­wi­der­te Man­fred lä­chelnd. »Auch bin ich nicht ein­mal ein Freund Ihres Man­nes, ob­gleich ich ei­gent­lich vor­hat­te, Ih­nen das vor­zulü­gen. Dann hät­te ich we­nigs­tens eine Ent­schul­di­gung da­für ge­habt, daß ich Sie hier auf der Stra­ße an­spre­che.«

Sei­ne Of­fen­her­zig­keit mach­te Ein­druck auf sie.

»Ich möch­te nicht über Jeffrey spre­chen«, sag­te sie. »Ich habe nur den einen Wunsch, al­lein zu sein.«

»Das kann ich ver­ste­hen«, mein­te er mit­füh­lend. »Aber ich wünsch­te, ich wäre ein Freund Ihres Man­nes, viel­leicht könn­te ich ihm hel­fen. Die Ge­schich­te, die er vor Ge­richt er­zähl­te, ist wahr – das ist doch auch dei­ne An­sicht, Leon?«

»Sie ist ganz be­stimmt wahr«, be­stä­tig­te Gon­sa­lez. »Ich habe be­son­ders sei­ne Au­gen­li­der be­trach­tet. Wenn ein Mann lügt, zwin­kert er bei je­der Wie­der­ho­lung sei­ner un­wah­ren Be­haup­tung. Hast du noch nicht be­merkt, Ge­or­ge, daß Män­ner nicht lü­gen kön­nen, wenn ihre Hän­de zu­sam­men­ge­preßt sind, daß aber Frau­en die Hän­de da­bei fal­ten?«

Mrs. Storr sah Gon­sa­lez ver­wirrt an. Sie war nicht in der Stim­mung, einen Vor­trag über die Phy­sio­lo­gie des Aus­drucks über sich er­ge­hen zu las­sen. Selbst wenn sie ge­wußt hät­te, daß Leon Gon­sa­lez der Ver­fas­ser drei­er großer Bü­cher war, die sich den bes­ten Wer­ken Lom­bro­sos oder Man­te­gazzas an die Sei­te stell­ten, hät­te sie ihm nicht zu­ge­hört.

Man­fred un­ter­brach sei­nen Freund.

»Wir glau­ben wirk­lich, Mrs. Storr, daß wir Ihren Mann be­frei­en und sei­ne Un­schuld be­wei­sen kön­nen. Aber wir müs­sen so­viel Ma­te­ri­al über den Fall sam­meln, wie es nur mög­lich ist.«

Sie zö­ger­te einen Au­gen­blick.

»Ich woh­ne in der Grays Inn Road – viel­leicht ha­ben Sie die Güte, mich zu be­glei­ten…

Mein Rechts­an­walt glaubt nicht, daß es Zweck hat, Be­ru­fung ein­zu­le­gen«, fuhr sie fort, als die bei­den Freun­de sie in die Mit­te ge­nom­men hat­ten und ne­ben ihr her­gin­gen.

Man­fred schüt­tel­te den Kopf.

»Das Be­ru­fungs­ge­richt wür­de das Ur­teil nur be­stä­ti­gen«, sag­te er ru­hig. »Wenn Sie kei­ne an­de­ren Be­wei­se vor­brin­gen kön­nen als heu­te, ist es un­mög­lich, Ihren Mann zu ret­ten.«

Sie sah ihn ent­täuscht an, und er merk­te, daß sie den Trä­nen nahe war.

»Ich dach­te… Sie sag­ten doch…?« be­gann sie un­si­cher.

Man­fred nick­te. »Wir ken­nen Sted­land und –«

»Das Merk­wür­digs­te an Er­pres­sern ist doch, daß die Schä­de­l­er­hö­hung am Ein­tritts­punkt des Ok­zip­tal­nervs bei ih­nen kaum be­merk­bar ist«, un­ter­brach Gon­sa­lez die Un­ter­hal­tung nach­denk­lich.

»Mein Freund ist eine Au­to­ri­tät auf dem Ge­biet der Schä­del­kun­de.« Ge­or­ge Man­fred lä­chel­te ent­schul­di­gend. »Ja, wir ken­nen Sted­land. Sei­ne Ver­bre­chen sind uns von Zeit zu Zeit be­rich­tet wor­den. Erin­nerst du dich an den Fall Wel­ling­ford, Leon?«

Gon­sa­lez nick­te.

»Dann sind Sie wohl De­tek­ti­ve?« frag­te Mrs. Storr.

Man­fred lach­te lei­se.

»Nein, wir sind kei­ne De­tek­ti­ve – wir in­ter­es­sie­ren uns nur für Ver­bre­chen. Ich glau­be, wir ha­ben die bes­ten und voll­stän­digs­ten Ak­ten in der gan­zen Welt über Ver­bre­cher, die nicht be­straft wur­den.«

Sie gin­gen eine Wei­le schwei­gend ne­ben­ein­an­der her.

»Sted­land ist ein bö­ser Mensch.« Gon­sa­lez nick­te, als ob ihm erst jetzt die­se Er­leuch­tung ge­kom­men wäre. »Hast du sei­ne Ohren be­ob­ach­tet? Sie sind un­ge­wöhn­lich lang, und die äu­ße­ren Rän­der sind zu­ge­spitzt. Es sind rich­ti­ge Ver­bre­che­roh­ren!«

Die Woh­nung von Mrs. Storr war klein, not­dürf­tig ein­ge­rich­tet und zeig­te das ty­pi­sche Aus­se­hen mö­blier­ter Miets­räu­me. Man­fred sah sich in dem en­gen Spei­se­zim­mer um.

Die jun­ge Frau, die Man­tel und Hut ab­ge­legt hat­te, kam jetzt zu­rück und setz­te sich zu den bei­den Freun­den, die sie schon ge­be­ten hat­te, Platz zu neh­men.

»Es wird mir klar, daß ich da­bei bin, mein Ge­heim­nis zu ver­ra­ten«, sag­te sie mit ei­nem schwa­chen Lä­cheln. »Aber ich füh­le, daß Sie mir wirk­lich hel­fen wol­len, und ich habe merk­wür­di­ger­wei­se auch die Über­zeu­gung, daß Sie es kön­nen. Die Po­li­zei­be­am­ten wa­ren recht freund­lich zu uns und ha­ben uns ge­hol­fen, wo sie konn­ten. Wahr­schein­lich hat­ten sie Mr. Sted­land schon seit län­ge­rer Zeit im Ver­dacht und hoff­ten, daß wir ih­nen die nö­ti­gen Be­wei­se zu sei­ner Über­füh­rung lie­fern könn­ten. Als sich die­se Hoff­nung aber nicht er­füll­te, blieb ih­nen nichts an­de­res üb­rig, als An­kla­ge ge­gen mei­nen Mann zu er­he­ben. Was soll ich Ih­nen nun er­zäh­len?«

»Die Ge­schich­te, die vor Ge­richt ver­schwie­gen wur­de«, er­wi­der­te Man­fred.

Sie war ei­ni­ge Zeit ru­hig und sam­mel­te sich.

»Nun gut, ich will Ih­nen al­les mit­tei­len«, sag­te sie dann. »Bis jetzt kennt nur der Rechts­an­walt mei­nes Man­nes den wah­ren Sach­ver­halt. Aber ich glau­be, daß auch er dar­an zwei­felt. Und wenn er uns nicht ein­mal glaubt«, rief sie ver­ängs­tigt, »wie kann ich er­war­ten, Sie zu über­zeu­gen?«

»Ha­ben Sie kei­ne Sor­ge, Mrs. Storr, wir sind schon über­zeugt«, ent­geg­ne­te Gon­sa­lez, der sie in­ter­es­siert an­ge­se­hen hat­te. Man­fred nick­te.

Wie­der ent­stand eine Pau­se. Es fiel ihr sicht­lich schwer, mit ih­rem Be­richt zu be­gin­nen, und Man­fred ver­mu­te­te, daß sie ir­gend­wie da­durch bloß­ge­stellt wur­de. Die­se An­nah­me be­stä­tig­te sich auch.

»Als jun­ges Mäd­chen be­such­te ich eine große Töchter­schu­le in Sus­sex; ich glau­be, es wa­ren mehr als zwei­hun­dert Schü­le­rin­nen dort. Ich will mich kei­nes­wegs für ir­gend et­was ent­schul­di­gen, was ich da­mals tat«, fuhr sie schnell fort. »Ich ver­lieb­te mich in einen jun­gen Bur­schen – er war der Sohn ei­nes Flei­schers! Das klingt schreck­lich, nicht wahr? Aber Sie müs­sen be­den­ken, daß ich noch ein Kind und sehr emp­fäng­lich für al­les Neue und Un­ge­wöhn­li­che war – ach, ich weiß, es ist fürch­ter­lich, aber ich traf ihn ge­wöhn­lich nach der An­dacht in dem Gar­ten hin­ter dem großen Ver­samm­lungs­saal. Er stieg im­mer über die Mau­er, und wir plau­der­ten dann mit­ein­an­der, manch­mal eine gan­ze Stun­de lang. Es war aber nur eine Mäd­chen­schwär­me­rei, und ich weiß wirk­lich nicht, warum ich da­mals eine sol­che Dumm­heit be­ging.«

»Man­te­gaz­za er­klärt der­ar­ti­ge Din­ge sehr ge­nau in sei­ner ›P­sy­cho­lo­gie der Lie­be‹«, sag­te Leon Gon­sa­lez halb für sich. »Aber ver­zei­hen Sie, daß ich Sie un­ter­bro­chen habe.«

»Es war wei­ter nichts als eine Freund­schaft zwi­schen Kin­dern. Ich sah zu ihm auf wie zu ei­nem Hel­den und hielt ihn für den In­be­griff al­ler Männ­lich­keit. Er muß auch wirk­lich der bes­te und schöns­te al­ler Flei­scher­jun­gen ge­we­sen sein«, mein­te sie lä­chelnd. »Er hat mir nie­mals ein bö­ses Wort ge­sagt und war im­mer sehr gut zu mir. Un­se­re Freund­schaft hör­te nach ei­nem oder zwei Mo­na­ten von selbst wie­der auf, und die gan­ze Ge­schich­te wäre da­mit zu Ende ge­we­sen, wenn ich nicht so tö­richt ge­we­sen wäre, Brie­fe an ihn zu schrei­ben. Es wa­ren ganz ge­wöhn­li­che, dum­me Lie­bes­brie­fe, sie wa­ren auch ganz un­schul­dig – we­nigs­tens er­schie­nen sie mir da­mals so. Wenn ich sie al­ler­dings heu­te, von mei­nem jet­zi­gen Stand­punkt aus, lese, bleibt mir der Atem weg, was ich da­mals al­les ge­schrie­ben habe.«

»Dann ha­ben Sie die Brie­fe also noch?« frag­te Man­fred.

»Nein. Ich mein­te ei­gent­lich nur einen be­stimm­ten Brief, und auch da­von be­sit­ze ich nur eine Ko­pie, die mir Mr. Sted­land ge­ge­ben hat. Die­ser eine Brief, der nicht ver­nich­tet wur­de, fiel näm­lich in die Hän­de der Mut­ter des Jun­gen. Sie war sehr auf­ge­bracht und trug ihn zu der Haupt­leh­re­rin, die viel Auf­he­bens da­von mach­te. Sie droh­te mir, an mei­ne El­tern zu schrei­ben, die da­mals in In­di­en wa­ren. Als ich aber fei­er­lich ver­sprach, un­se­rer Freund­schaft ein Ende zu ma­chen, be­ru­hig­te sie sich und ver­tusch­te die Sa­che schließ­lich. Wie der Brief in Sted­lands Be­sitz kam, weiß ich nicht. Ich hör­te von die­sem Mann erst eine Wo­che vor mei­ner Hoch­zeit. Jeff hat­te un­ge­fähr zwei­tau­send Pfund er­spart, und wir wa­ren ge­ra­de im Be­griff, uns zu ver­hei­ra­ten, als uns plötz­lich die­ser Schlag wie ein Blitz aus hei­te­rem Him­mel traf. Ich er­hielt einen Brief von ei­nem ganz un­be­kann­ten Mann, in dem ich auf­ge­for­dert wur­de, ihn in sei­nem Büro auf­zu­su­chen. So kam ich zum ers­ten­mal mit die­sem Schuft in Berüh­rung. Sei­nen Brief soll­te ich zu der Un­ter­re­dung wie­der mit­brin­gen. Ich war neu­gie­rig, was er von mir woll­te und ging tat­säch­lich nach sei­nem klei­nen Büro in der Nähe der Re­gent Street. Ich brauch­te nicht lan­ge auf die Auf­klä­rung zu war­ten. Nach­dem er mir sein Schrei­ben wie­der ab­ge­nom­men hat­te, er­klär­te er mir frei­her­aus, warum er mich be­stellt hat­te.«

Man­fred nick­te.

»Er woll­te Ih­nen na­tür­lich den Brief ver­kau­fen – wie­viel ver­lang­te er?«

»Zwei­tau­send Pfund. Das war ja die teuf­li­sche Ge­mein­heit«, sag­te die jun­ge Frau hef­tig er­regt. »Er wuß­te fast auf den Pfen­nig ge­nau, wie­viel Jeff sich er­spart hat­te.«

»Hat er Ih­nen da­mals den Brief ge­zeigt?«

»Nein, nur eine Fo­to­ko­pie da­von, und als ich den Brief dann wie­der las und zu mei­nem Schre­cken ge­wahr wur­de, wel­che Schluß­fol­ge­run­gen man aus die­sem un­schul­di­gen Schrei­ben zie­hen konn­te, pack­te mich ein furcht­ba­res Ent­set­zen. Es blieb mir nichts an­de­res üb­rig, als Jeff al­les zu sa­gen, denn Mr. Sted­land hat­te ge­droht, Fo­to­ko­pi­en des Brie­fes an alle un­se­re Freun­de und an Jeffreys On­kel zu schi­cken, der mei­nen Mann zum ein­zi­gen Er­ben ein­ge­setzt hat­te. Zum Glück wuß­te Jeffrey schon al­les, was sich da­mals in der Schu­le zu­ge­tra­gen hat­te, und ich brauch­te des­halb sei­nen Arg­wohn und Ver­dacht nicht zu fürch­ten. Jeffrey ging zu Sted­land, und ich glau­be, daß sie in hef­ti­gen Streit ge­rie­ten. Aber Sted­land ist trotz sei­ner Jah­re ein großer, star­ker Mann, und Jeffrey un­ter­lag in dem Kampf. Das Ende der Sa­che war, daß Jeff ver­sprach, den Brief für zwei­tau­send Pfund un­ter der Be­din­gung zu kau­fen, daß Sted­land ihm auf eine lee­re Sei­te des Schrei­bens eine Quit­tung über die­se Sum­me gab. Das be­deu­te­te den Ver­lust all sei­ner müh­sa­men Er­spar­nis­se, es be­deu­te­te auch die Ver­zö­ge­rung un­se­rer Ver­hei­ra­tung. Aber Jeffrey woll­te sein Ver­spre­chen un­ter al­len Um­stän­den hal­ten. Mr. Sted­land wohnt in ei­nem großen Haus in der Nähe von Cla­pham Com­mon –«

»148 Park View West«, un­ter­brach Man­fred.

»Sie wis­sen es?« frag­te sie er­staunt. »Ja, dort­hin muß­te Jeffrey ge­hen, um das Ge­schäft ab­zu­schlie­ßen. Mr. Sted­land öff­ne­te die Haus­tür selbst und führ­te Jeff zu sei­nem Ar­beits­zim­mer im ers­ten Stock. Mein Mann er­kann­te, daß es nutz­los war, mit die­sem Men­schen noch zu rech­ten oder ihn zu bit­ten, und be­zahl­te das Geld nach Sted­lands An­wei­sung in ame­ri­ka­ni­schen Bank­no­ten –«

»Die na­tür­lich viel schwie­ri­ger zu ver­fol­gen sind«, warf Man­fred da­zwi­schen.

»Dann hol­te Sted­land den Brief, schrieb die Quit­tung auf die lee­re Sei­te, lösch­te sie ab und leg­te das Schrei­ben in einen Um­schlag, den er mei­nem Mann gab. Als Jeffrey zu Hau­se das Ku­vert öff­ne­te, fand er nur einen lee­ren Brief­bo­gen dar­in.«

»Der Be­trü­ger hat ihn übers Ohr ge­hau­en«, sag­te Man­fred.

»Den­sel­ben Aus­druck ge­brauch­te auch Jeffrey. Und nun ent­schloß er sich zu die­ser ver­zwei­fel­ten, wahn­sin­ni­gen Tat. Sie ha­ben doch si­cher schon von den ›Vier Ge­rech­ten‹ ge­hört?«

»Ja, ich habe von ih­nen ge­hört«, ant­wor­te­te Man­fred ernst.

»Mein Mann glaubt an ihre Metho­den und be­wun­dert sie sehr. Er hat wohl al­les ge­le­sen, was je­mals über sie ge­schrie­ben wur­de. Ei­nes Abends, zwei Tage nach un­se­rer Hoch­zeit – ich hat­te dar­auf be­stan­den, daß wir uns so­fort trau­en lie­ßen, nach­dem ich die Lage über­schau­te –, kam er zu mir und sag­te: ›Grace, ich wer­de jetzt die Metho­den der Vier Ge­rech­ten ge­gen Sted­land an­wen­den.‹ Er weih­te mich in sei­ne Plä­ne ein. Of­fen­bar hat er Sted­lands Haus ge­nau be­ob­ach­tet und aus­ge­kund­schaf­tet, denn er wuß­te, daß au­ßer Sted­land und sei­nem Die­ner nie­mand dort schlief. Er hat­te sich einen Plan aus­ge­dacht, wie er in das Haus kom­men konn­te. Mein ar­mer Jeffrey – er hat­te als Ein­bre­cher we­nig Er­folg. Sie ha­ben ja heu­te ge­hört, wie es ihm schließ­lich ge­lang, in Sted­lands Zim­mer ein­zu­drin­gen. Er hat wohl ge­hofft, den Mann mit sei­nem Re­vol­ver ein­zu­schüch­tern.«

Man­fred schüt­tel­te den Kopf.

»Sted­land ist ei­ner der be­kann­tes­ten und ge­fürch­tets­ten Re­vol­ver­hel­den in Süd­afri­ka ge­we­sen. Er ist der ge­wand­tes­te und schnells­te Schüt­ze, den ich ken­ne, und er trifft un­fehl­bar. Na­tür­lich hat er Ihren Mann so­fort mit sei­nem Re­vol­ver be­droht, be­vor der über­haupt sei­ne Ta­sche er­rei­chen konn­te, um die ei­ge­ne Waf­fe zu zie­hen.«

»Das ist mei­ne Ge­schich­te«, sag­te Mrs. Storr ru­hig. »Wenn Sie Jeff hel­fen kön­nen, wer­de ich Ih­nen mein gan­zes Le­ben lang dank­bar sein.«

Man­fred er­hob sich lang­sam.

»Es war ein wahn­sin­ni­ges Un­ter­neh­men. Ihr Mann hät­te sich sa­gen sol­len, daß Sted­land ein ihn so be­las­ten­des Do­ku­ment nicht in sei­ner Woh­nung auf­be­wah­ren wür­de, da er doch min­des­tens sechs Stun­den am Tag nicht zu Hau­se ist. Vi­el­leicht war der Brief auch ver­nich­tet, ob­wohl das un­wahr­schein­lich ist. Sted­land wird ihn zu spä­te­rem Ge­brauch auf­ge­ho­ben ha­ben. Er­pres­ser sind große Men­schen­ken­ner, und er weiß, daß er aus Ihrem Brief noch Geld ma­chen kann. Aber soll­te die­ser Brief noch exis­tie­ren –«

»Soll­te er noch exis­tie­ren…«, wie­der­hol­te sie mit zit­tern­den Lip­pen. Sie hat­te sich lan­ge tap­fer auf­recht ge­hal­ten, aber nun kam die Re­ak­ti­on.

»Dann wird er in ei­ner Wo­che in Ihren Hän­den sein«, sag­te Man­fred, und mit die­sem Ver­spre­chen ver­ab­schie­de­ten sich die bei­den von ihr.

*

Mr. Noah Sted­land hat­te das Ge­richts­ge­bäu­de an die­sem Nach­mit­tag nicht in der bes­ten Stim­mung ver­las­sen. Er war nur da­mit zu­frie­den, daß er das Haus durch den all­ge­mei­nen Aus­gang ver­las­sen konn­te und nicht in eine der Ge­fäng­nis­zel­len ab­ge­führt wor­den war. Er ließ sich nicht leicht er­schre­cken, aber er war emp­fäng­lich für ge­wis­se Un­ter­strö­mun­gen. Es schi­en ihm, daß die sorg­fäl­tig ge­wähl­ten Wor­te des Rich­ters we­ni­ger nach dem Wort­laut als nach dem Ton eine ver­steck­te An­kla­ge ge­gen ihn selbst ent­hiel­ten. Aber auch nach­dem er sich dar­über klar­ge­wor­den war, ver­ließ ihn das drücken­de Ge­fühl nicht. Er be­saß ein be­trächt­li­ches Ver­mö­gen, das er bei ver­schie­de­nen Ge­le­gen­hei­ten zu­sam­men­ge­rafft hat­te. Manch­mal war es plötz­lich um be­deu­ten­de Sum­men an­ge­wach­sen. Er war in sei­nen Un­ter­neh­mun­gen im­mer er­folg­reich ge­we­sen, da er sich nie­mals von der Stim­me des Ge­wis­sens oder des Mit­leids hat­te be­ein­flus­sen las­sen. Das Le­ben war für die­sen großen, breit­schult­ri­gen Mann mit der fah­len Ge­sichts­far­be wei­ter nichts als ein Spiel. Und Jeffrey Storr, ge­gen den er per­sön­lich kei­nen Groll heg­te, hat­te in die­sem Spiel eben ver­lo­ren.

Sted­land konn­te ohne die ge­rings­te Er­re­gung dar­an den­ken, daß Storr nun in Sträf­lings­klei­dern lan­ge Jah­re ein schreck­li­ches Le­ben im Ge­fäng­nis füh­ren muß­te. Der­ar­ti­ge Vor­stel­lun­gen rie­fen kein an­de­res Ge­fühl in ihm her­vor als das ei­nes Spie­lers, der den Zu­sam­men­bruch sei­nes Geg­ners ge­las­sen und gleich­gül­tig be­ob­ach­tet.

Er öff­ne­te die Tür sei­nes schma­len Hau­ses selbst und schloß sie wie­der, in­dem er den Schlüs­sel zwei­mal um­dreh­te. Dann stieg er die mit ei­nem ab­ge­tre­te­nen Läu­fer be­deck­te Trep­pe hin­auf und ging in sein Ar­beits­zim­mer. Die Geis­ter der ar­men Men­schen, de­ren Le­ben er ver­nich­tet hat­te, hät­ten ihm den Auf­ent­halt in die­sem Raum un­er­träg­lich ma­chen müs­sen, aber Mr. Sted­land glaub­te nicht an Geis­ter. Er fuhr mit dem Fin­ger über die stau­bi­ge Plat­te ei­nes Ma­ha­go­ni­ti­sches und schimpf­te über die gut­be­zahl­te Auf­war­te­frau, die für die­se Nach­läs­sig­keit ver­ant­wort­lich war.

Er hielt eine große Zi­gar­re zwi­schen sei­nen gold­plom­bier­ten Zäh­nen, lehn­te sich in sei­nen Ses­sel zu­rück und ver­such­te wie­der, sich über die­ses merk­wür­di­ge Ge­fühl klar­zu­wer­den, das ihn in dem Ge­richts­saal ge­quält hat­te. We­der die Hal­tung des Rich­ters noch die hef­ti­gen An­grif­fe des Ver­tei­di­gers be­schwer­ten ihn, eben­so­we­nig die Mög­lich­keit, daß die Mit­welt ihn ver­ur­tei­len könn­te. Auch das Los des Ver­ur­teil­ten oder der blei­chen, ab­ge­härm­ten Frau be­drück­te ihn nicht. Und doch war er ängst­lich ge­wor­den und hat­te sich un­ru­hig um­ge­se­hen.

Als er eine hal­be Stun­de lang in Ge­dan­ken ver­sun­ken ge­raucht hat­te, läu­te­te die Glo­cke an der Haus­tür, und er ging hin­un­ter, um zu öff­nen. Der Mann, der vor der Tür stand, lä­chel­te ver­le­gen. Er war der An­ge­stell­te Mr. Sted­lands und ver­sah zu glei­cher Zeit alle Pf­lich­ten vom Haus­meis­ter bis zum Lauf­bur­schen für sei­nen Herrn.

»Komm her­ein, Jope«, sag­te Mr. Sted­land und schloß die Tür hin­ter ihm. »Geh in den Kel­ler und brin­ge mir eine Fla­sche her­auf.«

»Wie wa­ren Sie mit mei­ner Aus­sa­ge zu­frie­den?« Der Die­ner grins­te er­war­tungs­voll.

»Ver­rück­ter Kerl!« brumm­te Sted­land. »Was soll­te denn das, daß du sagst, du hät­test mich um Hil­fe ru­fen hö­ren?«

»Nichts für un­gut, Herr, ich woll­te nur die Sa­che für den An­ge­klag­ten ein we­nig schlim­mer ma­chen«, er­klär­te Jope un­ter­wür­fig.

»Ich – um Hil­fe ru­fen!« Mr. Sted­land lach­te höh­nisch. »Denkst du denn, ich wür­de so einen Lum­pen­kerl wie dich zu Hil­fe ru­fen? Bei ei­ner wirk­li­chen Prü­ge­lei wür­dest du ja viel nüt­zen! Hol den Whis­ky!«

Als Jope kurz dar­auf mit ei­ner Fla­sche und ei­nem Si­phon So­da­was­ser nach oben kam, schau­te Sted­land mür­risch zum Fens­ter hin­aus. Man konn­te von dort aus auf einen klei­nen un­ge­pfleg­ten Gar­ten se­hen, der von ei­ner ho­hen Mau­er um­ge­ben war. Da­hin­ter lag ein Ge­län­de, auf dem ein halb­vollen­de­tes Ge­bäu­de stand. Wäh­rend des Bau­es war der Un­ter­neh­mer plei­te ge­gan­gen, und Mr. Sted­land är­ger­te sich je­des­mal, wenn er die Rui­ne sah, denn der Grund und Bo­den, auf dem sie stand, ge­hör­te ihm.

Plötz­lich wand­te er sich um.

»Jope, war ir­gend je­mand im Ge­richts­saal, den wir kann­ten?«

»Nein, Mr. Sted­land«, er­wi­der­te der Mann er­staunt. »Nie­mand mit Aus­nah­me des Po­li­zei­in­spek­tors –«

»Ach, den mei­ne ich nicht«, rief Mr. Sted­land un­ge­dul­dig. »Ich kann­te alle De­tek­ti­ve, die dort wa­ren. Hast du nicht sonst je­mand ge­se­hen, der et­was ge­gen uns hat?«

»Nein, Mr. Sted­land. Hat es denn über­haupt et­was zu sa­gen, ob ei­ner dort war?« frag­te Jope kühn. »De­nen sind wir doch stets ge­wach­sen, von de­nen kann uns doch kei­ner.«

»Wie lan­ge sind wir schon bei­sam­men?« brumm­te Sted­land un­freund­lich, als er sich ein Glas Whis­ky ein­schenk­te.

Jope lä­chel­te schmeich­le­risch.

»Nun ja, wir sind schon eine gan­ze Wei­le bei­ein­an­der, Mr. Sted­land.«

Der große Mann wisch­te sich die Lip­pen ab und schau­te wie­der zum Fens­ter hin­aus.

»Ja, das stimmt«, sag­te er nach ei­ni­ger Zeit. »Es ist schon lan­ge her. Du hät­test tat­säch­lich dei­ne Stra­fe jetzt bei­na­he ab­ge­ses­sen, wenn ich der Po­li­zei vor sie­ben Jah­ren er­zählt hät­te, was ich von dir wuß­te –«

Jope fühl­te sich un­be­hag­lich und wech­sel­te so­fort das Ge­sprächsthe­ma. Er hät­te sich sa­gen kön­nen, daß die sie­ben­jäh­ri­ge Ge­fäng­niss­tra­fe von Mr. Sted­land in eine le­bens­läng­li­che Skla­ve­rei um­ge­wan­delt wor­den war, aber so weit reich­ten die Ge­dan­ken Mr. Jo­pes nicht.

»Ist noch et­was auf der Bank zu er­le­di­gen?« frag­te er dienst­eif­rig.

»Sei doch kein Dumm­kopf! Die Bank schließt um drei Uhr.« Sted­land wand­te sich plötz­lich zu ihm um. »In Zu­kunft mußt du in der Kü­che schla­fen.«

»In der Kü­che?«

Sted­land nick­te be­stä­ti­gend.

»Ich möch­te nicht wie­der von ei­nem nächt­li­chen Be­su­cher über­rascht wer­den. Die­ser Kerl war in mei­nem Zim­mer, be­vor ich wuß­te, was los war. Und hät­te ich nicht ein Schieß­ei­sen zur Hand ge­habt, so hät­te er mich über­wäl­tigt. Der ein­zi­ge Weg, auf dem je­mand in die­ses Haus ein­bre­chen kann, führt durch die Kü­che, und ich habe eine Ah­nung, daß in der nächs­ten Zeit et­was pas­siert.«

»Der sitzt doch jetzt im Zucht­haus.«

»Von dem rede ich doch gar nicht«, fuhr ihn Sted­land an. »Ich den­ke, du hast jetzt be­grif­fen, daß du dein Bett in der Kü­che auf­schla­gen sollst.«

»Es ist aber so zu­gig dort –« be­gann Jope.

»Du stellst dein Bett in der Kü­che auf!« schrie Sted­land und schau­te den Mann böse an.

»Ja­wohl, ge­wiß«, sag­te Jope schnell.

Als der Die­ner ge­gan­gen war, zog Sted­land sei­nen Rock aus und schlüpf­te in eine fle­cki­ge Haus­ja­cke aus Al­pa­ka. Dann schloß er den Geld­schrank auf und nahm sein Bank­buch her­aus. Er setz­te sich in sei­nen Stuhl, blät­ter­te zu­frie­den die Sei­ten um und träum­te von ei­ner großen Plan­ta­ge in Süd­ame­ri­ka und von ei­nem an­ge­neh­men und ru­hi­gen Le­ben. Durch zwölf­jäh­ri­ge har­te Ar­beit in Lon­don hat­te er ein großes Ver­mö­gen zu­sam­men­ge­bracht. Er war stets vor­sich­tig zu Werk ge­gan­gen und im­mer auf sei­ner Hut ge­we­sen. Alle sei­ne Er­pres­sun­gen hat­te er in ge­schäfts­mä­ßi­ger Wei­se durch­ge­führt, so daß man ihm nichts nach­wei­sen konn­te. Sein Kon­to bei der Pri­vat­bank von Sir Wil­liam Mol­bu­ry & Co. war eins der größ­ten. Die­se Bank war in der City be­kannt we­gen ih­rer ver­schwie­ge­nen und ge­heim­nis­vol­len Ge­schäfts­füh­rung, und aus die­sem Grund hat­te auch Mr. Sted­land sein Kon­to dort ein­ge­rich­tet. Au­ßer­dem ge­hör­te Mol­bu­rys Fir­ma zu den alt­mo­di­schen Ban­ken, die stets große Re­ser­ven an ba­rem Geld in ih­ren Schrän­ken ver­wah­ren. Auch die­ser Um­stand kam Mr. Sted­land sehr ge­le­gen, denn er konn­te im­mer­hin ein­mal in die Lage kom­men, sei­ne Mit­tel in kür­zes­ter Zeit zu­sam­men­raf­fen zu müs­sen.

Der Abend und die Nacht gin­gen vor­über, ohne daß sich un­an­ge­neh­me Zwi­schen­fäl­le er­eig­ne­ten. Nur Mr. Jope hat­te eine et­was hei­se­re Stim­me be­kom­men und mel­de­te sei­nem Herrn, als er ihm am Mor­gen den Tee brach­te, daß es über Nacht sehr kalt in der Kü­che ge­we­sen sei und daß er kaum habe schla­fen kön­nen.

»Nimm dir mehr De­cken«, er­wi­der­te Sted­land kurz.

Nach dem Früh­stück ver­ließ er das Haus und mach­te sich auf den Weg nach sei­nem Büro in der City. Mr. Jope blieb im Haus zu­rück, um die Auf­war­te­frau bei ih­ren Ar­bei­ten zu be­auf­sich­ti­gen. Er teil­te ihr auch im Auf­trag sei­nes Herrn mit, daß ihr Ge­halt hoch ge­nug sei und daß es sehr vie­le gute Auf­war­te­frau­en ohne Be­schäf­ti­gung in der Stadt gäbe. Wenn sie das Ar­beits­zim­mer nicht bes­ser ab­stau­ben wür­de, könn­te es un­an­ge­neh­me Kon­se­quen­zen für sie ha­ben.

Um elf Uhr vor­mit­tags kam ein ge­die­gen aus­se­hen­der, äl­te­rer Herr, der einen Zy­lin­der trug. Jope öff­ne­te ihm die Haus­tür und frag­te nach sei­nen Wün­schen.

»Ich kom­me von der De­po­si­ten­bank«, sag­te der Frem­de.

»Von wel­cher De­po­si­ten­bank?« frag­te Jope arg­wöh­nisch.

»Von der Fet­ter Lane De­po­si­ten­bank. Ich möch­te nur fest­stel­len, ob der Herr nicht das letz­te­mal, als er zu uns kam, sei­nen Schlüs­sel ste­cken­ließ.«

Jope schüt­tel­te den Kopf.

»Wir ha­ben über­haupt nichts mit De­pot­ban­ken zu tun«, sag­te er mit Nach­druck. »Und au­ßer­dem wür­de mein Herr wohl nie­mals einen Schlüs­sel in ei­nem Geld­schrank auf der Bank ste­cken­las­sen.«

»Ent­schul­di­gen Sie, dann bin ich si­cher an ein falsches Haus ge­ra­ten«, mein­te der äl­te­re Herr lä­chelnd. »Ist dies nicht die Woh­nung von Mr. Smit­h­son?«

»Nein«, er­wi­der­te Jope un­lie­bens­wür­dig und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Der Be­su­cher ging die Stu­fen zur Stra­ße wie­der hin­un­ter und traf an der Ecke einen an­de­ren Herrn.

»Sie ha­ben nichts mit De­pot­ban­ken zu tun, Man­fred«, sag­te er.

»Das habe ich kaum an­ge­nom­men«, mein­te der Grö­ße­re von den bei­den. »Ich bin da­von über­zeugt, daß er alle sei­ne Do­ku­men­te und Schrift­stücke auf sei­ner Bank hat. Hast du den Die­ner Jope ge­trof­fen?«

»Ja«, er­wi­der­te Gon­sa­lez nach­denk­lich. »Der Mensch hat ein in­ter­essan­tes Ge­sicht. Schwach ent­wi­ckel­tes Kinn, aber ganz nor­ma­le Ohren. Die Stirn flieht nach hin­ten, und so­weit ich es be­ur­tei­len kann, ist er ein cha­rak­te­ris­ti­scher Spitz­schä­del.«

»Ar­mer Jope!« sag­te Man­fred, ohne zu lä­cheln. »Aber jetzt wol­len wir auf das Wet­ter ach­ten, Leon. Vom Golf von Bis­ka­ya rückt ein An­ti­zy­klon her­an. In East­bour­ne spürt man sei­ne wohl­tä­ti­gen Wir­kun­gen schon. Wenn er sich in den nächs­ten drei Ta­gen wirk­lich nach Lon­don hin aus­brei­tet, kön­nen wir Mrs. Storr gute Nach­richt brin­gen.«

»Das glau­be ich auch«, stimm­te Gon­sa­lez zu. Sie gin­gen zu ih­rer Woh­nung in der Jer­myn Street zu­rück. »Eine Mög­lich­keit, die­sen Kerl ein­fach zu über­fal­len, gibt es wohl nicht?«

Man­fred schüt­tel­te den Kopf.

»Ich möch­te noch nicht ster­ben«, sag­te er, »und ich wür­de be­stimmt mit mei­nem Le­bens­en­de rech­nen müs­sen, denn Noah Sted­land ist ein un­ge­müt­lich schnel­ler und ge­nau­er Schüt­ze.«

Man­freds Pro­phe­zei­ung ging zwei Tage spä­ter in Er­fül­lung. Der Ein­fluß des An­ti­zy­klons dehn­te sich über Lon­don aus, und ein dün­ner, gel­ber Schlei­er brei­te­te sich über die Stadt. Am Nach­mit­tag hei­ter­te sich das Wet­ter auf, wie Man­fred zu­frie­den fest­stell­te. Doch schi­en es, als ob sich der Ne­bel nicht vor Ein­bruch der Nacht zer­streu­en wür­de.

Mr. Sted­lands Büro in der Re­gent Street war nur klein, aber sehr gut ein­ge­rich­tet. Auf der Glas­tür stand un­ter sei­nem Na­men das be­deu­tungs­vol­le Wort: Finan­zier. Tat­säch­lich war Sted­land auch als Geld­ver­lei­her ins Han­dels­re­gis­ter ein­ge­tra­gen. Die­ses Ge­schäft war sehr ein­träg­lich und vor­teil­haft für ihn, denn was Sted­land, der Geld­ver­lei­her, an Ge­heim­nis­sen er­fuhr, konn­te der Er­pres­ser Sted­land aus­nüt­zen. Es war kei­ne un­ge­wöhn­li­che Er­schei­nung, daß Mr. Sted­land Sum­men zu ho­hen Pro­zent­sät­zen aus­lieh, die zur Zah­lung sei­ner ei­ge­nen er­pres­se­ri­schen For­de­run­gen be­stimmt wa­ren. Auf die­se Wei­se konn­te er einen dop­pel­ten Druck auf sei­ne Op­fer aus­üben.

Nach­mit­tags mel­de­te sein Clerk einen Be­su­cher an.

»Ein Herr oder eine Dame?«

»Ein Herr«, er­wi­der­te der An­ge­stell­te. »Ich glau­be, er ist von der Mol­bu­ry-Bank.«

»Ken­nen Sie ihn?«

»Nein, aber er kam schon ges­tern, als Sie fort­ge­gan­gen wa­ren, und frag­te, ob Sie die Ban­k­ab­rech­nung be­kom­men hät­ten.«

Mr. Sted­land nahm eine Zi­gar­re aus der Kis­te, die auf dem Tisch stand, und zün­de­te sie an.

»Füh­ren Sie ihn her­ein«, sag­te er dann.

Er er­war­te­te nichts Auf­re­gen­de­res, als daß ihm der ni­chtho­no­rier­te Scheck ei­nes sei­ner Kun­den prä­sen­tiert wür­de.

Der Mann, der ins Zim­mer trat, war of­fen­sicht­lich in großer Er­re­gung. Er schloß die Tür hin­ter sich zu und blieb dann ste­hen, wäh­rend er ner­vös mit sei­nem Hut spiel­te.

»Neh­men Sie Platz«, sag­te Sted­land. »Neh­men Sie auch eine Zi­gar­re, Mr. –«

»Cur­tis«, er­wi­der­te der an­de­re hei­ser. »Dan­ke sehr, ich bin Nicht­rau­cher.«

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

»Ich möch­te Sie kurz in ei­ner pri­va­ten An­ge­le­gen­heit spre­chen.« Bei die­sen Wor­ten schau­te er ängst­lich auf die Glas­tür, die Mr. Sted­lands Büro von dem klei­nen Raum trenn­te, in dem sei­ne An­ge­stell­ten ar­bei­te­ten.

»Sie kön­nen ganz un­be­sorgt sein«, mein­te Sted­land be­lus­tigt. »Ich kann Ih­nen da­für ga­ran­tie­ren, daß die Schei­de­wand schall­si­cher ist. Was ha­ben Sie denn für Sor­gen?«

Er ver­mu­te­te, daß der Mann in ei­ner au­gen­blick­li­chen Geld­ver­le­gen­heit steck­te, und ein Bank­be­am­ter in sol­cher Lage konn­te sehr nütz­lich für die Zu­kunft sein.

»Ich weiß kaum, wie ich an­fan­gen soll, Mr. Sted­land«, sag­te der Mann und setz­te sich schüch­tern auf die Ecke ei­nes Stuh­les. Sein Ge­sicht zuck­te ner­vös. »Es ist eine schreck­li­che Ge­schich­te, ein­fach furcht­bar.«

Sted­land hat­te schon oft von sol­chen furcht­ba­ren Din­gen ge­hört. Manch­mal be­deu­te­ten sie nicht mehr, als daß sein Be­su­cher vom Ge­richts­voll­zie­her be­droht und ängst­lich be­müht war, sei­nen Ar­beit­ge­ber nichts da­von er­fah­ren zu las­sen. Zu­wei­len wa­ren die Ge­ständ­nis­se auch schwe­re­rer Art.

»Er­zäh­len Sie mir nur al­les«, sag­te er auf­mun­ternd. »Mich kön­nen Sie nicht so leicht aus der Fas­sung brin­gen!«

Die­se Äu­ße­rung war je­doch ein we­nig vor­ei­lig.

»Ich bin nicht mei­net­we­gen so in Sor­ge, son­dern we­gen mei­nes Bru­ders John Cur­tis, der seit zwan­zig Jah­ren Kas­sie­rer bei der Bank ist«, er­wi­der­te der Mann auf­ge­regt. »Ich hat­te nicht die ge­rings­te Ah­nung, daß er in Schwie­rig­kei­ten war, aber er hat an der Bör­se spe­ku­liert und hat es mir erst heu­te ge­sagt. Es ist ent­setz­lich – ich fürch­te, er wird sich das Le­ben neh­men. Er ist ganz zu­sam­men­ge­bro­chen.«

»Was hat er denn ge­tan?« Sted­land wur­de un­ge­dul­dig.

»Er hat sich an den Gel­dern der Bank ver­grif­fen, mein Herr«, sag­te Cur­tis hei­ser. »Wäre das vor zwei Jah­ren pas­siert, so wäre es nicht so schlimm ge­we­sen, aber ge­ra­de jetzt, wo die Ge­schäf­te so schlecht ge­hen und wir uns die größ­te Mühe ge­ben müs­sen, un­se­re Bilanz in Ord­nung zu brin­gen ich darf nicht dar­an den­ken, wel­che Fol­gen das noch ha­ben wird.«

»Wie­viel hat er denn ge­nom­men?« frag­te Sted­land schnell.

»Hun­dert­fünf­zig­tau­send Pfund!«

Sted­land sprang er­regt auf.

»Hun­dert­fünf­zig­tau­send Pfund?« rief er un­gläu­big.

»Ja­wohl, mein Herr. Ich kam zu Ih­nen, um Sie zu bit­ten, ein gu­­­­­­­