Ninon war vierzehn Jahre alt, als sie 1910 an den berühmten Autor des »Peter Camenzind« schrieb – zwanzig Jahre später wurde sie seine Frau.
Nach Jahren der Korrespondenz besucht Ninon – inzwischen von ihrem ersten Mann, dem Wiener Künstler Benedikt Fred Dolbin, getrennt – Hermann Hesse erstmals 1921 im Tessin. Fünf Jahre später bricht sie alle Brücken hinter sich ab, verkauft ihr Elternhaus, verzichtet auf den Abschluß ihrer Doktorarbeit, löst ihren Wiener Hausstand auf, um Hesse aus einer lebensbedrohenden Krise zu retten. Sie wird zu seiner Vertrauten und ist ihm besonders in der krisenhaften Zeit des »Steppenwolf« so unentbehrlich, daß der Schriftsteller das Wagnis einer dritten Ehe eingeht. Auch Ninon übernahm eine schwere Aufgabe, wenn sie dem hochsensiblen Schriftsteller, der für sein Werk einen störungsfreien Raum brauchte, verständnisvoll wartend zur Seite stand. Sie wußte jedoch, daß trotz seiner hart verteidigten Einsamkeit stets ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit in ihm wach war. Es würde dennoch ein langer, schmerzvoller, von immer neuen Rückschlägen und Krisen gezeichneter Prozeß, der aus der »Fern-Nähe« ihrer ersten Ehejahre zu einer dialogischen Gemeinschaft führte, durch die Hesse sich in den gelassenen Glasperlenspieler verwandelte.
Doch wer war diese außergewöhnliche Frau, die Hesse von der Zerrissenheit des mittleren Lebensjahrzehnts zur inneren Stabilisierung und Ausgewogenheit seines Spätwerks führte? Und dabei auch ihre eigenen Forschungsgebiete, Archäologie und Mythologie, nicht vernachlässigte?
Gisela Kleine erzählt fesselnd und einfühlsam die Geschichte dieser Ehe und zeigt, wie Ninon, die Eigenständigkeit mit Hingabe verband, das Werk Hermann Hesses geprägt hat.
Gisela Kleine schloß ihr Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte mit einer Dissertation über Hermann Hesse ab. Da ihm ihre Arbeit gefiel, wurde sie zu ihm nach Montagnola eingeladen und führte danach mit dem Ehepaar Hesse einen Briefwechsel. Im Verlauf ihrer vielseitigen publizistischen Tätigkeit erhielt Gisela Kleine für ihre Frauenforschung den Kulturpreis der Stadt München.
Von ihr liegen im Insel Verlag und im Suhrkamp Verlag u. a. vor:
Ninon Hesse, »Lieber, lieber Vogel«. Briefe an Hermann Hesse, herausgegeben und erläutert von Gisela Kleine
Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares (it 1611)
Gabriele Münter und die Kinderwelt (it 1924)
»Die Dinge sind auf den Künstler angewiesen. Begegnung mit Ninon und Hermann Hesse«, in: Hermann Hesse in Augenzeugenberichten. Hg. von Volker Michels (st 1865)
GISELA KLEINE
Ninon und
Hermann Hesse
Biographie eines Paares
Insel Verlag
Die Ausgabe erschien erstmals 1982 im Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen, unter dem Titel Ninon und Hermann Hesse – Leben als Dialog. Als suhrkamp taschenbuch (st 1384) war sie unter dem Titel Zwischen Welt und Zaubergarten erhältlich.
eBook Insel Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4498.
© Insel Verlag Berlin 2017
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Umschlagabbildung: Ninon und Hermann Hesse während der 50er Jahre
Foto: Privatarchiv Gisela Kleine, München
Umschlag: Schimmelpenninck. Gestaltung, Berlin
Umschlagabbildung: Ninon und Hermann Hesse während der 50er Jahre
eISBN 978-3-458-74935-6
www.insel-verlag.de
Einleitung
Erstes Kapitel
Zwänge und Freiheiten
Kindheit und Jugend in Czernowitz
Zweites Kapitel
Versuche mit der Wirklichkeit
Medizinstudium in Wien
Drittes Kapitel
Übergänge
Das Studium der Kunstgeschichte und die Ehe mit Benedikt Fred Dolbin
Viertes Kapitel
Verlassenheit
Der Tod von Eltern und Schwester
Die Trennung von Dolbin
Fünftes Kapitel
Doppelbindung
Hesse – Schutzgott und Geliebter
Dolbin – Freund und Bruder
Sechstes Kapitel
Fern-Nähe
Gemeinschaft ohne Gegenseitigkeit
Siebtes Kapitel
Geteiltes Leid und produktive Einsamkeit
Wandlung von Hesses Frauenbild
Achtes Kapitel
Zwischen Welt und Zaubergarten
Ehe im Bannkreis des gläsernen Spiels
Neuntes Kapitel
Doppelklang der späten Ehejahre
Hilfe für Verfolgte und Bedrängte
Zehntes Kapitel
Spiegelungen
Dionysos – Apollon – Hera
Elftes Kapitel
Abschied
Dienst an Hesses literarischem Vermächtnis
Zeittafel
Anmerkungen
Verzeichnis der Personennamen und Werktitel
Dank
Wenn ich mir einen Grabspruch
wünschen dürfte,
so wäre es Sophokles, Aias 394:
σϰότος ἐμὸν ϕάος
Dunkel, du mein Licht
Ninon Hesse
Abb. 1: Das Aufgebot vom 16. Oktober 1931
Oktober 1931. Im Gemeindeamt von Montagnola/Tessin und im Rathaus zu Bern hängt ein Aufgebot: das Eheverlöbnis des vierundfünfzigjährigen Schriftstellers Hermann Hesse und der sechsunddreißigjährigen Ninon Dolbin geb. Ausländer aus Czernowitz. Die Hochzeit wird auf den 14. November 1931 festgesetzt. Am Vorabend der Trauung schreibt Hesse an den Publizisten Heinrich Wiegand: »Morgen nachmittag gehe ich aufs Standesamt, um mir den Ring durch die Nase ziehen zu lassen. Es war Ninons Wunsch schon lange, und diesen Sommer wurde ihre Wiener Ehe geschieden, und da sie jetzt das Haus so sehr hat bauen helfen etc., etc., kurz, es geschieht nun also.«
Was Hesse von einer neuen Ehe – es ist seine dritte – zu halten scheint, verdeutlicht auch sein Brief an Alfred Kubin: »Meine Heirat ist nichts anderes, als was bei mir eben eine Heirat sein kann: ein Akt der Ergebung nach langem Sträuben, eine Gebärde des Nachgebens und Fünfe grade sein lassen der Frau gegenüber. Immerhin, ich bin dieser Frau dafür dankbar, daß sie mich an der Grenze des Alters noch einmal in Versuchung geführt und zu Fall gebracht hat, daß sie mein Haus führt und mich mit leichten, bekömmlichen Sachen füttert, da ich meistens krank bin.«
Ähnlich äußert Hesse sich auch gegenüber Hermann Hubacher: »Unter anderem muß ich grade noch vor dem Abfahren in meine Badener Gruft aufs Standesamt und dort Ninon als Ehefrau eintragen lassen. Na, wenigstens macht es ihr Spaß, und eine Hochzeitsreise macht sie auch, nach Rom, sie hat es in den langen Bau-Monaten redlich verdient.«
Am Tag nach der Trauung schreibt Ninon von ihrer »Hochzeitsreise« an Hermann Hesse, der sich in Baden bei Zürich zu seiner alljährlichen Rheumakur aufhält: »Manchmal bist Du gütig wie mein Vater, und ich glaube ihn zu sehen, wenn ich Dich ansehe. Ich liebe Dich immer – Vogel – kleiner Knabe – geheimnisvoller Zauberer. […] Ich bin wieder die kleine Ninon und träume von dem wunderbaren Dichter. Ich bin vierzehn Jahre alt und liege in der Hängematte zwischen dem Nußbaum und der Laube und denke an Dich. Hermann, es sind so viele Jahre seither vergangen, vom Lauscher zum Leo war der Weg weit, ich habe soviel erlebt und auch gelitten und auch Schönes gehabt – aber ich denke an Dich wie damals in der Hängematte – an den wunderbarsten Menschen der Welt! Du bist mir soviel geworden – Geliebter, Beschützer und nun Gatte – und doch bist Du mir ein Wunder geblieben, das beglückendste Wunder meines Lebens.«
Ist es Pose, wenn Hesse das Beiläufige dieser Heirat betont und sie lediglich als eine Gefälligkeit oder Belohnung für Ninon ausweist? Ist es ärgerliche Einsicht, daß ihre Gegenwart ihm in einem seit April 1927 erprobten »getrennten Zusammenleben« unentbehrlich wurde? Ist er gezwungen, seine Bindungsangst und seinen Hang zur werkfördernden Isolation zu überwinden, um sich vor dem Verlust Ninons zu schützen? Braucht er sie, und will er es sich selbst und anderen nicht eingestehen?
Hesses Lebensweg ist in zahllosen Publikationen getreulich nachgezeichnet worden. Dabei hat man ihn zu einem monomanisch lebenden Einsiedler stilisiert. Ninon blieb neben ihm fast unbeachtet, denn sie störte das Bild vom »Einspänner« und »Eremiten von Montagnola«. So trifft immer noch zu, was diese am 16. Juli 1952 – nach fünfundzwanzigjährigem Zusammenleben mit Hesse – unmutig gegenüber Karl Kerényi äußerte: »Anläßlich des Geburtstages ist viel über den ›einsamen‹ Hesse geschrieben worden, über sein ›Einsiedler‹-, sein ›Eremitenleben‹, ein neu erschienenes Lebensbild hat es fertiggebracht, zwar die Namen der ersten und zweiten Frau von H. H. (wenn auch falsch) anzugeben, die dritte Frau aber überhaupt nicht zu erwähnen – so daß ich manchmal versucht bin, an meiner Existenz zu zweifeln.«
Ohne die geistige und biographische Verflechtung von Ninon und Hermann Hesse einzubeziehen, bleibt jedoch vieles in der Werkgeschichte unverstanden. Hesses Werke kreisen stets um die eigene Befindlichkeit, doch fand er, von Stufe zu Stufe wie auf einer sich weitenden Spirale höher steigend, eine immer umfassendere Lösung seiner Lebensfragen: vom Selbstgenuß des Ästheten Lauscher, über den Aussteiger Camenzind, den in die Innenschau vertieften Demian und den steppenwölfischen Outsider Harry Haller, dem Ninon sich helfend zugesellte, führte sein Weg über die erlösende Freundschaft Narziß' und Goldmunds zum Bund der Gleichgesinnten in der »Morgenlandfahrt« und danach zum Orden der kastalischen Bruderschaft. Der Weg des »Magister Ludi« aus der weltabgekehrten Geisterprovinz Kastalien in die pädagogische Verantwortung, in den Dienst an der nächsten Generation, kennzeichnet Hesses Alterswunsch nach einer Mitgestaltung der Wirklichkeit. Seine Entwicklung von der steppenwölfischen Zerrissenheit und Isolation in die Bindung wird getragen vom gelebten Dialog mit Ninon.
Wer ist Ninon? Als vierzehnjährige Schülerin schreibt sie ihren ersten Brief an Hermann Hesse, weil ihr der Roman-Schluß seines Frühwerkes »Peter Camenzind« unglaubhaft erscheint: der junge Dichter bricht sein Werk unvollendet ab, da er dessen Voraussetzung, das Alleinsein, scheut. Daß Camenzind sich mit der Behaglichkeit eines kleinbürgerlichen Durchschnittsglücks bescheide und sich in die umzäunte Idylle seines Kindheitsdorfes zurückziehe, deutet sie als Verrat an seiner Begabung, seiner »Sendung«. Werkflucht aus Resignation? »Ich kann es nicht glauben!« Da Ninon erkennt, daß der Roman autobiographisch ist, trifft ihre Kritik an Camenzind zugleich Hermann Hesse. In dem nun beginnenden Briefgespräch vertritt die junge Leserin gegenüber dem erfolgreichen Schriftsteller bescheiden und doch selbstbewußt die Meinung, das Glück eines Dichters könne nur am beglückenden Widerhall seines Werkes gemessen werden.
Wie ein zweiter beherzter Zugriff auf den Autor wirkt Ninons Entschluß im April 1927, in Hesses Nähe zu ziehen. Wieder geht es um die Glücksferne und den Lebensverzicht des Künstlers für sein Werk, um die »tiefe böse Verdrossenheit, diese Dreckhölle der Herzensleere und Verzweiflung«, die Hesse in seinem 1926 verfaßten Roman »Der Steppenwolf« darstellt. »Ich habe mein Leben lang die Unabhängigkeit gesucht und habe sie nun so gründlich, daß ich daran ersticke«, schreibt er im Mai 1925 an Martha Ringier, und kündigt an, sich an seinem fünfzigsten Geburtstag aufzuhängen. Zum Jahresschluß 1926 hofft er in einem Brief an Emmy Ball-Hennings, die Courage zu finden und sich »den Hals durchzuschneiden, denn das Leben ist mir unerträglich«.
Ninon erkennt, daß Hesses depressive Lebensstimmung diesmal bedrohlicher, sein Zerfall mit der Wirklichkeit radikaler ist, entsprechend krasser klingen die Signale seiner Not. Hier nützt kein brieflicher Zuspruch mehr! Sie verständigt ihren Mann, den Karikaturisten B. F. Dolbin, von ihrem Entschluß, Hesses »Martyrium« durch behutsame Zuwendung abzumildern: »Hesse lebt ein so martervolles Leben, er quält sich so fürchterlich, er leidet so unter dem Leben und liebt es doch, er braucht die Einsamkeit und leidet doch auch unter ihr – das ist alles ein solcher Komplex von Tragik – aber meine Rolle ist die entsagungsvollste in dem Drama von uns Dreien: H., der Mensch, der sich hat fallen lassen – Du, dem es freisteht, zu handeln, und ich, ich schwebe in der Luft. Ich bin allein.«
In der ihr eigenen Zähigkeit durchbricht sie die Abkapselung des Steppenwolfs. Dadurch verschafft sie nach langem »Dahinwehen« auch ihrem eigenen Leben Ausrichtung und Halt.
Bei meinen Besuchen erlebte ich Hermann und Ninon Hesse in ihrer wechselseitigen Zuordnung. Danach versuchte ich, über Ninons Biographie eine neue Perspektive auf Hesses schriftstellerische Arbeit zu gewinnen. Ich sichtete ihren Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und sammelte ihre Tagebücher, autobiographischen Romanentwürfe, Kurzgeschichten, Gedichte, Reiseniederschriften, wissenschaftlichen Arbeiten über die griechische Mythologie und ihre Briefwechsel. Ich befragte Verwandte und Freunde des Ehepaars, das Hauspersonal und die Dorfbewohner Montagnolas. Ninons Weg aus Czernowitz, der Provinzhauptstadt im östlichsten Kronland der Habsburgischen Monarchie, über das gärende und völkervermischende Wien des Ersten Weltkriegs, über Paris und Berlin in Hesses Tessiner Dorf kennzeichnet zugleich die geistige Spannweite ihrer Entwicklung.
In ihren Selbstzeugnissen vibriert die Unrast begabter Frauen. Sie fürchtete ein Leben aus zweiter Hand und teilte ihre Zeit ein in die Pflicht für Hesse und die Verpflichtung gegenüber ihrer eigenen Begabung. »Lernen Sie nicht Aufopferung als Postulat an das Weibliche«, schrieb sie mir wohlmeinend warnend. »Gefährte-Sein ist eine Forderung, die für den Mann ebenso gilt wie für die Frau, beides aber ist ein Nebenziel, nicht die Hauptsache.« In einer aus Widerspruch und Einklang wachsenden Zusammengehörigkeit verbanden Ninon und Hermann Hesse die Qual des Sich-Ertragens mit dem Glück des Sich-Brauchens.
Unter dem Aspekt eines gelebten Dialoges möchte ich diese vielschichtige und wandlungsreiche Beziehung darstellen. Da ein Zitat lebendiger charakterisiert als viele erzählende Worte, habe ich alle Gestalten aus ihren Selbstzeugnissen aufgebaut. Die neu erschlossenen Quellen geben Auskunft über Hesses Frauenbild, seine überaus starke Mutterbindung, seine zwanghaften Verweigerungen, seinen Selbstgenuß im Leiden. Aus Ninons Tagebüchern erschließt sich der Zusammenhang zwischen Leidensdruck – seiner oft bezeugten »Lebensqual« – und dichterischer Produktion; Hesses Klagen über depressive Verdüsterungen und die hypochondrische Betonung der kleinen Leiden mußten von seiner Umgebung als seelische Voraussetzung seiner schöpferischen Arbeit akzeptiert werden, bis wieder ein Werk, eine neue »Leidverarbeitung« entstand. Während Hesse der fernöstlichen Geisteswelt zugewandt war, fand Ninon ihre Wahlheimat in Griechenland. Während er den Weg nach innen ging, war sie weltgeöffnet. Glück bestand für sie darin, das ihr Auferlegte mit Sinn zu füllen, es zu wollen; so verwandelten sich Zwänge für sie in Freiheiten. Mehr als alle Träume und Utopien galt ihr die Würde des Konkreten.
Ninons Briefe und Tagebücher werfen ein Licht auf das Zwiespältige im Wesen Hermann Hesses. Sie hatte schon bei ihrer ersten Hesse-Lektüre erkannt, daß dem jungen Dichter Camenzind, der im Trotz einer verzweifelten Selbstbehauptung gegen jede Anpassung protestierte, nichts willkommener gewesen wäre als eine familiäre oder soziale Geborgenheit. Sie spürte von Anfang an den Widerspruch zwischen Hesses Selbstdarstellung als Außenseiter und seinem wahren Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Hesse erscheint neben Ninon als der Sich-Versagende, der dennoch von der Liebe der anderen abhängig ist, als der Trotzig-Alleinbleibende, der stets gesucht werden will, als der Aufbegehrende, der immer versöhnungsbereit bleibt, als der Eigensinnige, der seinen Eigensinn schrittweise zurücknimmt. Er nennt sich »winzig kleiner Vogel«, aber sein Lieblingstier ist der Elefant. Er tritt als ein »Wanderer« ins Bild, der im Umgrenzten Heimat sucht, als »Zölibatär«, der dreimal heiratet, als zeitkritischer Bürgerfeind, der auf die Reputation eines Schriftstellers seiner Zeit nicht verzichten kann, als Außenseiter, der sich als Repräsentant seiner Zeitgenossen versteht, als Introvertierter, der den Dialog braucht.
Trotz aller Widersprüche und Vieldeutigkeiten, trotz aller Brüche und Sprünge in seiner Entwicklung bleibt eine Grundüberzeugung für ihn konstant: die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben. Er sieht darin zwei Mächte, die einander verzehren und die von ihm eine klare Entscheidung verlangen: Gemeinschaft oder werkbezogene Konzentration, Familie und Ehe oder Schriftstellerberuf? Im Spannungsfeld zwischen diesen für ihn zwingenden, aber nicht lebbaren Gegensätzen wird er zeitlebens hin- und hergerissen, und wo Eindeutigkeit ihm versagt bleibt, entwickelt er sein literarisches Ich zur ausgleichenden Komponente.
Zur Unterordnung des Lebens unter die Kunst war Hesse entschlossen, seit er als Dreizehnjähriger entweder ein Dichter oder sonst gar nichts werden wollte. Die Hartnäckigkeit, mit der er dieses Ziel verfolgt, wurzelt in früher Kindheit. Sein Wunsch nach Elternliebe und -nähe wird bald durch die Bitterkeit verdrängt, in seiner Eigenart nicht angenommen zu sein. Darum möchte er sich eine widerstandslose Ersatzwelt zaubern und darin auch ein unverletzbares, autonomes Zweites Ich. Durch Einbildungskraft genährt, wächst es zum Kontrast-Ich, zum Ich-Ideal eines Künstlers, dessen Lebensverzicht und familiäre und soziale Bindungslosigkeit er in allen Werken als Notwendigkeit und Forderung an sich selbst thematisiert. Die Kluft zwischen Wollen und Vollbringen bleibt sichtbar, wenn in vielen Erzählungen sein »Doppel-Ich« auftritt oder seine »Ich-Spaltung« in der polaren Veranlagung seiner Protagonisten veranschaulicht wird. Sein Ziel aber ist und bleibt ein exemplarisches Dichterleben.
In der Metapher eines einsam herumschweifenden Wolfes zeichnet er 1926 ein Selbstbild, das eine seiner Entwicklungsstufen ausschnitthaft beleuchtet, das jedoch in seiner Einprägsamkeit für die Hesse-Rezeption maßgeblich bleibt. Durch das Gleichnis dieses sardonischen, unbehausten Menschentieres gerät er ins Bewußtsein seiner Leser als ein Autor, der am Rande der von ihm geächteten Gesellschaft unzähmbar seiner schriftstellerischen Arbeit nachgeht. Diese steppenwölfischen Züge haben sein literarisches Ich nachhaltig geprägt; zum Stereotyp verfestigt, wird es auch nicht aufgesprengt, als Hesses Weg zu Bindung und Gemeinschaft führt. Darum fand die Opferthematik seines Spätwerkes nicht die gebührende Beachtung, die er auch handelnd ins eigene Leben übertrug. Bedrängt durch die zahllosen Leserbriefe, übernahm er eine weit über sein literarisches Wirken hinausreichende Rolle: er opferte nach dem Krieg für die Wegweisung Rat suchender Menschen täglich viele Stunden, indem er die Leserpost gewissenhaft beantwortete und dabei jeder ernsthaften Anfrage aufs persönlichste entsprach. Dieses moralische Amt eines Lebenshelfers betrachtete er als seinen Dienst an der Gemeinschaft.
Doch als Einsamer und Außenseiter hat Hesse in drei aufeinanderfolgenden Generationen seine Leserschaft gewonnen. Die einen suchen in ihm ein bestärkendes Vorbild; sie sehen in ihm einen Verteidiger des Eigensinns gegen die Norm, der Erlebniskraft gegen die Manipulation durch Massenmedien, des freien Spiels gegen die Vorherrschaft des Zweckmäßigen und des Privaten gegen die Macht des Kollektivs. Die anderen beziehen von ihm den formenzersprengenden Mut, sich von Regelhaftigkeit und hemmender Autorität zu lösen und eine dynamische Sicht vom Leben zu gewinnen. Darüber hinaus wurde er zur einladenden Identifikationsfigur für alternative Gruppen, von San Franciscos Blumenkindern über die Erziehungsreformer bis zu den Ökologen. Solche auf Legitimation bedachten Gesinnungskreise werten Hesses Erzählungen oft wortwörtlich wie Rezeptbücher aus, um sie in den Dienst ihrer weltanschaulichen Ziele zu stellen. Diese Teilaspekte müssen den Leser irritieren, der die Geschlossenheit des Gesamtwerkes vor Augen hat und darin die dichterische Verwandlung des Gelebten sucht, dessen Überhöhung zur künstlerischen Gestalt – die »Verdichtung«.
Und die biographische Wahrheit? Wer will schon wahrnehmen, daß Hesses Leben peinlich geordnet verlief, in sorgfältig geplanter Regelmäßigkeit und Tageseinteilung? Auch war er keineswegs weltfremd und hielt viel von Zettelkästen und fehlerloser Buchführung. Es gab wenig Rausch und kaum Anarchisch-Lustvolles in seinem auf Askese und Sparsamkeit bedachten Hausstand. Hesse disziplinierte sich lebenslang für sein Werk, das gegenüber dem in strenger Pflichttreue verlaufenden Alltag die blühendste Kontrastfärbung aufweist. Im Privaten sah Hesse einen Schlupfwinkel, den er vor fremden Blicken verschloß. Die persönlichen Dokumente beweisen, wie weit die Auslegung seiner Werke sich oft von den biographischen Tatsachen entfernt hat.
Daß Hermann Hesse sich im Rollenspiel der von ihm so oft geschmähten zeitgenössischen Gesellschaft selbst einen festen Platz zubilligte, verrät seine Betrachtung »Ausflug in die Stadt« vom Dezember 1925: »Daß Eremitentum kein Beruf sei oder ein minderwertiger, ebenso wie das Betteln, ist eine europäische Modemeinung, […] welche niemand ernst nehmen wird. Einsiedler ist ein Beruf ebenso wie Schuster.« Er schilderte dann, wie er hin und wieder »aus seinem Beruf, aus seiner Maske und Rolle herausfällt«.
Hermann Hesse war im Erleben immer zugleich der selbstbeobachtende Registrator. Es gab bei ihm keinen Satz, keine Regung, keine Geste, denen er nicht mit ironischer Distanz zusehen konnte, und er hat seinen Lesern ein wohlabgestimmtes Bild seiner selbst geliefert und es konsequent beibehalten. Seine Biographen haben ihn auf dieses literarische Selbstporträt festgelegt. Sie gingen davon aus, daß seine Romane das unmittelbare Zeugnis seines gelebten Lebens darstellten, darum leiteten sie seine Biographie aus der Werkanalyse ab. Doch das Leben ist nie deckungsgleich mit der dichterischen Selbstaussage. Trotz aller dokumentarischen Züge, trotz der erkennbaren Schauplätze und Ereignisse ist Hesses Dichtung immer auch Lebensersatz für ein Leben, das er gerade nicht zu führen vermochte.
Da Ninon und Hermann Hesse in gegenseitiger Entsprechung jenseits von »Maske und Rolle« lebten, wird von ihrer Gemeinschaft her sichtbar, wo sich die autobiographische Darstellung vom biographischen Hintergrund löst.
In einem Brief vom August 1929 klagt Hesse, daß die Dichtung sein Leben ausgezehrt habe. Der Dichterberuf sei nicht der gewünschte Hilfsweg zu dem ersehnten »wirklichen, persönlichen intensiven, nicht normierten und mechanisierten Leben« geworden, sondern Selbstzweck. »Ich bin ein Dichter geworden, aber ein Mensch bin ich nicht geworden!« Da stand die ausgleichende Gefährtin schon an seiner Seite, geistvoll, vital und weltoffen – Hingabe gepaart mit Eigensinn. »Mein Lebenskamerad Ninon«, nannte Hesse sie, und auch »Schülerin des Aristoteles«, nicht nur, weil sie dessen Abhandlung »Von der Seele« aus dem Altgriechischen ins Deutsche übersetzt hatte, sondern weil sie im Sinne dieses Philosophen ihr Leben gestaltete: Der Weg zur Erkenntnis führt durch diese Welt.
Wenn ihr indirekter Dienst an Hesses Werk auch Verzicht und Selbstrücknahme verlangte und mancher Unmut beim Mittragen seiner Lebensqual in ihr aufstieg, wenn sie in Schweigen und Einsamkeit neben ihm auf ein neues Werk wartete und für den alternden Dichter den unliebsamen Dienst als abschreckende Türhüterin übernahm, wenn sie vor allem keine Gelegenheit fand, ihre Forschungsarbeit über die griechische Mythologie fertig zu stellen, dann bezeugte sie dennoch in ihrem Tagebuch das bleibende Einverständnis mit ihrer 1926 getroffenen Entscheidung, hilfsbereit in die Nähe Hesses zu ziehen: »Ich produzierte nicht Kunst, nur mein Leben, das war mein Werk.«