DER GEIST DES OZEANS
Für Micha
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1. Auflage
© 2017 Benevento Publishing, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
Grafik Seite 231: © Andrea Reuter
ISBN 978-3-7109-0019-8
eISBN 978-3-7109-5032-2
Prolog
Kapitel 1
Ein Kind der Tropen
Kapitel 2
Kopffüßer und andere seltsame Wesen
Kapitel 3
Im Kampf mit den Weißaugen
Kapitel 4
Zu Besuch bei den Giganten der Meere
Kapitel 5
Eine Walfamilientragödie
Kapitel 6
Fressen und gefressen werden
Kapitel 7
Des Pottwals größter Feind
Kapitel 8
Auge in Auge mit dem Geist des Ozeans
Kapitel 9
Freudiges Wiedersehen
Kapitel 10
Mediterrane Memoiren
Kapitel 11
Wie Pottwale klauen
Kapitel 12
In den Unterseedschungeln des hohen Nordens
Glossar wissenschaftlicher Namen
Grafik Größenvergleich Wale
Literaturverzeichnis
Danksagung
Das Unglaubliche braucht nicht unbedingt eine spektakuläre Bühne. Es reicht auch eine abgelegene Wiese, ein Bahnhof oder ein schlichtes Vorstadtviertel. Besonders gerne zeigt es sich dort, wo zwei Welten unauffällig aneinander grenzen. Am Rande, sozusagen. Oak Beach an der Südküste von Long Island ist ein solcher Ort. Die Siedlung besteht zu einem großen Teil aus Ferienhäusern mit Blick auf die vorgelagerte Bucht. Flache Dünen prägen das Landschaftsbild. Im Sommer locken die Strände zahlreiche Badegäste an, die Großstadt New York ist nur 60 Kilometer entfernt. Während der kälteren Jahreszeit jedoch herrscht Leere. Und Frieden? Nicht immer. 2010 und 2011 fand man im Umfeld der vorbeiführenden Schnellstraße die verscharrten Überreste von insgesamt zehn Personen, die meisten von ihnen Frauen. Die Polizei geht von einem Serienmörder aus. Gefasst wurde er nie.
Es war nicht das erste Mal, dass Oak Beach in die Schlagzeilen geriet. Dreißig Jahre zuvor hatten Tausende den verschlafenen Flecken aufgesucht, um Teil an etwas Großem zu haben: eine berührende Begegnung zwischen Mensch und Tier. In der Nacht zum 16. April 1981, wenige Tage vor Ostern, spült das Meer einen jungen Pottwal heran. Er ist krank und kann sich nicht mehr richtig orientieren. Die Strömung hat leichtes Spiel. Sie schiebt ihn in den Fire Island Inlet, ein Labyrinth aus Sandbänken und viel zu seichten Rinnen. Im Morgengrauen steckt er fest. Eigentlich wäre die Geschichte hier schon fast zu Ende. Ein Jogger entdeckt den Gestrandeten und ruft die Behörden an. Auch ein paar Fachleute werden verständigt. Tote Wale sollte man untersuchen. Aber dieser hier ist nicht tot, zumindest noch nicht. Das mehr als sieben Meter lange Geschöpf liegt im hüfttiefen Wasser und atmet schwer. Was tun?
Die herbeigeeilten Helfer beschließen einen Rettungsversuch. Zunächst muss das Tier von der Sandbank runter, sonst hat es keine Chance. Es einfach zurück ins Tiefe zu schleppen macht jedoch auch keinen Sinn. Der geschwächte Wal käme nicht weit. Stattdessen bindet man ein Seil an seine Schwanzflosse – im Folgenden »Fluke« genannt – und lässt ihn von einem Kahn zum Robert Moses State Park ziehen. Dort, in dem kleinen Yachthafen, liegt er erst mal sicher. Der Veterinär tippt auf Lungenentzündung. Keine gute Prognose. Die Hilflosigkeit des Wals bewegt die Menschen. Sie wollen ihn nicht aufgeben und entwerfen einen Plan. Massenweise Antibiotika sollen die Krankheit bezwingen, den jungen Riesen wieder fit für die Freiheit machen. Inzwischen bekommt er auch einen Namen: »Physty«, ausgesprochen »Feisty«. Seiner Leibesfülle ist diese Wahl mehr als angemessen. Die Behandlung dagegen fällt nicht so leicht. Leider lassen sich die Medikamente nicht per Spritze verabreichen, also werden tote Tintenfische mit Pillen vollgepackt. Der Patient will die zunächst nicht. Erst nach mehreren Versuchen gelingt es, ihn zum Fressen zu bewegen.
Das Wunder geschieht tatsächlich. Nach vielen bangen Stunden zeigt Physty die ersten Anzeichen von Genesung. Dass man auf Long Island versucht, einen leidenden Pottwal wieder gesund zu pflegen, hat sich derweil bis nach New York herumgesprochen. Täglich kommen ganze Pilgerscharen zum Krankenbesuch. Neun Tage bleibt er im Hafenbecken, dann geben die Experten grünes Licht. Physty wird entlassen. Es ist Flut, das Wasser steht hoch genug. Dutzende Boote begleiten ihn auf seinem Weg durch den Fire Island Inlet bis ins tiefe Wasser. Er hebt die Fluke und taucht ab. Lebewohl, Kleiner! Alle, die ihm geholfen haben, bleiben verändert zurück. Ihre Mühen haben sich gelohnt, doch da ist mehr. Nie zuvor sind sich diese zwei Spezies so nahe gewesen. Trotz der enormen Unterschiede scheint Verständnis gewachsen zu sein. Der Wal reagierte auf seine Retter, erkannte sie, hatte Vertrauen. Und sie sahen in seine Augen, berührten ihn, und spürten, wie einzigartig das Leben ist. Mitgefühl kann grenzenlos sein, der Mensch wächst über sich hinaus. Nie werden sie es vergessen.
Physty schaffte es. Er wurde später noch einmal gesehen, gesund und in Gesellschaft von Artgenossen. Dieses Buch erzählt seine Geschichte. Natürlich wissen wir nicht wirklich, woher er kam und wohin er gegangen ist. Dennoch basiert das Geschriebene auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Alles im Rahmen des Möglichen also. Die menschliche Fantasie indes wurde schon vor Jahrtausenden von Walen beflügelt. Der biblische Leviathan hatte noch etwas zutiefst Düsteres, ein strafendes Werkzeug Gottes. Aristoteles dagegen beschrieb die Riesen in seiner Historia Animalium mit den nüchternen Worten eines Forschers – was allerdings nicht heißt, er wäre nicht fasziniert gewesen. Viel später, in den Anfangszeiten des kommerziellen Walfangs, erlangte gerade der Pottwal wieder einen Ruf als wüste, gefährliche Kreatur. Moby Dick wurde zum literarischen Symbol für den gnadenlosen Kampf zwischen Mensch und Natur. Macht euch die Erde untertan, mitsamt allem, was darauf lebt! Was für ein Irrsinn!
Wir haben fast alle Kontinente besiedelt und Millionen Hektar Land unseren Stempel aufgedrückt. Am Himmel ziehen Flugzeuge ihre weißen Spuren. Der Ozean jedoch bleibt uns weitgehend verschlossen. Wir können ihn mit Schiffen überqueren, an seinen Ufern planschen und, leider, ihn verschmutzen und ausbeuten. Zu viel mehr reicht es aber nicht. Als Landwesen die wir sind, können wir dort schlichtweg nicht überleben. Dennoch übt das Meer eine enorme Anziehungskraft auf uns aus. Wie gerne stehen wir an der Küste und schauen ins Weite, verzaubert vom Spiel der Elemente! Und da draußen lebt Physeter macrocephalus, der »Bläser mit dem großen Kopf«, zu Deutsch eben der Pottwal, französisch »Cachalot«. In wohl keinem Tier spiegelt sich die Magie des Ozeans so sehr wie in ihm. Dieses unendliche Blau ist seine Heimat, die Tiefsee gar seine Speisekammer. Wanderer in einem unbekannten Universum.
Manche von uns haben das Glück, zu Grenzgängern zu werden. Sie erkunden jenen fremden Kosmos auf der anderen Seite, tauchen in ihn ein und versuchen seine Geheimnisse zu verstehen. Der Umgang mit dem schier Unfassbaren, seiner Größe und Vielfalt, prägen diese Menschen in einer Weise, die für Außenstehende oft nur schwer begreiflich ist. Ihre Perspektive verschiebt sich, sie sehen die Welt mit anderen Augen. Kalliopi Gkikopoulou ist eine von ihnen. Die Griechin wird 1984 auf Rhodos geboren, in der gleichnamigen Stadt an der Nordspitze der Insel. Sie wächst im alten Zentrum auf, das Elternhaus liegt nur ein paar hundert Meter vom Hafen entfernt. »Wir konnten die Signalhörner der großen Schiffe sogar drinnen hören«, erzählt die Wissenschaftlerin heute. Als Mädchen spielt sie mit ihren Freunden in den verwinkelten Altstadtgassen und im Park des nahegelegenen Großmeisterpalasts. Es ist eine glückliche, freie Kindheit. »Oft spazierte ich mit dem Hund an den Kaimauern entlang, sah die Boote und hörte, wie der Wind die Leinen gegen die Masten klappern ließ.« Das Geräusch sollte auch in Zukunft ihr Leben begleiten.
Sie ist noch klein, vier oder fünf Jahre alt, als sie schwimmen lernt. Der Unterricht findet in einem offenen Becken neben der Hafeneinfahrt statt. Ein echtes Schwimmbad wird dort erst später gebaut. Für Kalliopi jedoch ist das Bassin der Zugang zu einer neuen Welt. Dank einer simplen Taucherbrille kann sie zum ersten Mal unter die Wasseroberfläche sehen und ist völlig fasziniert. »Es gab Fische, Felsen und Anker«, erinnert sie sich. »Alles wirkte so ruhig und friedlich.« Die Begeisterung lässt das Mädchen nicht mehr los. Im Fernsehen sieht sie Wale, Haie und andere Ozeanbewohner. Die Naturfilme, vor allem jene des berühmten französischen Forschers Jaques-Yves Cousteau, fachen die kindliche Leidenschaft weiter an. Im Alter von nur sieben Jahren macht Kalliopi ihren ersten Segelkurs. Ihr Bezug zum Wasser wird immer stärker. »Es hängt viel davon ab, wo man aufwächst«, sagt sie. »Bei mir drehte sich alles um das Meer.«
Schon bald regt sich in ihr der Wunsch, selbst Forscherin zu werden. Ein weiteres Erlebnis trägt seinen Teil dazu bei. 1995 macht die Rainbow Warrior im Hafen von Rhodos fest und bleibt einige Tage. Kalliopi besucht das Greenpeace-Schiff. Das Mädchen erfährt mehr über Wale und ihre Schutzbedürftigkeit. Ihr Entschluss steht nun fest: Sie will sich für die Riesen engagieren. In der Schule bekommt sie dafür allerdings nur wenig Inspiration. Natur und Umwelt stehen zwar auf dem Lehrplan, aber der Unterricht ist zu theoretisch, zu trocken. »Mein Lehrer hat mich auch nicht wirklich ermutigt. Er meinte, es sei sehr schwierig, Biologie zu studieren. Vielleicht sagte er das, weil ich nicht die beste Schülerin war.« Der Mann irrt sich. In ihrer Freizeit verschlingt Kalliopi derweil die Bücher von Jules Verne, allen voran natürlich 20.000 Meilen unter dem Meer. »Das ließ mich die abenteuerliche Seite der Biologie erahnen.« Eines Tages bringt ihr ein Onkel einen Zeitungsartikel mit. Im Text wird über eine bemerkenswerte Entdeckung berichtet. Demnach leben im Mittelmeer vor den griechischen Inseln erstaunlich viele Pottwale. Kalliopi kann es kaum glauben. Die Giganten schwimmen praktisch direkt vor ihrer Haustür herum! Der Mann, der die Tiere studiert, heißt Alexandros Frantzis. Den Namen merkt sie sich.
Die Motivation trägt Kalliopi durch die Schulzeit. Nach dem Abschluss bewirbt sie sich 2002 für einen Studienplatz an der Universität von Kreta in Heraklion und wird angenommen. Die Hochschule hat einen guten Ruf, gerade wenn es um Meeresbiologie geht. Das erste Jahr fällt ihr gleichwohl schwer, denn das Studentenleben bietet reichlich Ablenkung. Trotzdem beißt sich die junge Frau durch. »Ich mochte vor allem Zoologie und alles, was mit Fischen zu tun hatte.« Im Urlaub, zuhause auf Rhodos, belegt sie einen Tauchkurs. Der erste Gang in die Tiefe wird zu einem weiteren Schlüsselerlebnis. »Das war ein Gefühl von Freiheit – fast so lange unter Wasser bleiben zu können, wie man wollte.« Endlich kann sie in Ruhe über Seegraswiesen schweben, sich in Fischschwärmen treiben lassen. Wale dagegen spielen in ihren ersten Studienjahren kaum eine Rolle. 2005 ändert sich das. Kalliopis Bruder finanziert ihr die Teilnahme an einer Schiffsexkursion vor der griechischen Küste. Zu den Pottwalen. Der Leiter ist Alexandros Frantzis. Leider wird die Reise nicht von Erfolg gekrönt, kein Pottwal ist zu sehen. Die Studentin freut sich dennoch. Sie mag die Arbeit auf See, die Suche nach den mysteriösen Kreaturen. »Es hat mir geholfen, mich mehr auf meine Ausbildung zu fokussieren.« Frantzis macht Kalliopi zu seiner Assistentin. Ab nun verbringt sie jedes Jahr ein bis zwei Monate auf dem Mittelmeer und begegnet Dutzenden Walen. Einige werden zu Bekannten, die sie immer wieder trifft. Die Kolosse sind offenbar heimattreu.
»Einer meiner Professoren hat mir mal gesagt, ich werde dorthin gehen, wohin der Wind mich bläst.« Eher ist es die Liebe zum Meer und seinen Bewohnern. Ende 2008 wechselt Kalliopi an die University of St. Andrews, berühmt für ihre Walforschung. Vom mediterranen Blau an die graue Nordsee, in das harsche schottische Klima. Doch der Wechsel lohnt sich. Zusammen mit dem renommierten Experten Jonathan Gordon und seinem Team nimmt sie 2009 an einer Untersuchung vor der neuseeländischen Küste teil. Dort liegen die Jagdreviere großer Pottwal-Männchen. Die Nachwuchswissenschaftlerin entwickelt sich immer mehr zu einer Expertin für Bioakustik, der Aufnahme und Analyse von Tiergeräuschen. Drei Jahre später beginnt sie ihre Doktorarbeit. Vom Boot aus Daten zu sammeln macht zwar Freude, kostet allerdings auch viel Zeit und Geld. Könnte man für bestimmte Erhebungen nicht die moderne Technik nutzen? Kalliopi experimentiert mit Tauchrobotern, sogenannten Glidern. Diese autonomen Mini-U-Boote können wochenlang auf hoher See bleiben und selbstständig Daten sammeln. Mit ihrer Hilfe will sie Walsignale aufnehmen und herausfinden, wo sich die Tiere wann aufhalten. Fest installierte Lauschbojen sollen in griechischen Gewässern demselben Zweck dienen. Es ist wie die Suche nach Nadeln im Heuhaufen. Ein Wal mag groß sein, aber das Meer ist noch so unendlich viel größer.
Forschung, erklärt Kalliopi, hat ihre ganz eigene Magie. Erkenntnis bedeutet keinesfalls Entzauberung. Ganz im Gegenteil. Mit der Beobachtung kommen die Fragen, denn schließlich ist Neugierde ein menschlicher Urtrieb: »Wir Wissenschaftler sind gierig.« Hinter jeder Antwort wartet doch schon die nächste Frage. Die ganze Welt als unendliches Puzzle voller Überraschungen: Wenn das keine Leidenschaft entfachen soll, was dann? Man ergründet die atemberaubende Komplexität des Lebendigen, seine Anpassung an die Umwelt, und wie alles irgendwie ineinandergreift. »Je mehr man darüber lernt, desto mehr versteht man, und das hebt einem das Herz.« Aus dem Wissen erwächst zudem Respekt, Bewunderung für eine Perfektion, die aus Jahrmillionen langer Evolution erwächst. Jede Pflanze, jedes Tier ist das Ergebnis ständiger Optimierung, deren Produkt wir auch selbst sind. Der Prozess ist keinesfalls abgeschlossen.
Homo sapiens indes hat sich in letzter Zeit übermäßig stark breit gemacht. Seine Mitgeschöpfe geraten immer mehr in Bedrängnis. Für die meisten Biologen ist es geradezu unerträglich mit ansehen zu müssen, in welchem Tempo Arten dezimiert oder gar ausgerottet werden. Die Schatzkammern der Natur brennen, und sie stehen daneben, haben zum Löschen höchstens Eimer in der Hand. »Man will etwas beschützen, was sich nicht selber helfen kann«, sagt Kalliopi. Aber wie soll das gelingen, ohne zu wissen, wie es lebt und was es braucht? Ohne Forschung keine Zukunft. Die Ozeane mögen uns wie fremde Universen vorkommen, sie sind trotzdem die größten zusammenhängenden Ökosysteme des Planeten und bestimmen tagtäglich sein Geschick. Unser aller Geschick. Die Riesen dort draußen sind auch keine Außerirdischen, sondern Säuger mit einer vermutlich hoch entwickelten Kommunikationsfähigkeit. Ihre Jungen trinken Milch. Sie wachsen in Familien auf und schließen Freundschaften. Wir sind nicht alleine.
Der Ozean empfängt ihn ungerührt. Eine runzelige Kreatur, eine unter Milliarden, geboren in einer Wolke aus Blut, deren alarmierende Farbe sich bald im endlosen Blau verliert: kein Grund zur Aufregung. Die Verwandtschaft sieht das gleichwohl anders. Seine Mutter hat sich zuvor etwas abgesondert. Sie spürte ihre Wehen und wusste, was bevorstand. Er ist nicht ihr Erstes. Es dauert nur ein paar Minuten, dann treibt er benommen in der sanft wogenden Dünung. Mama schiebt ihre Flanke unter ihn. Sein Kopf durchbricht die Wasseroberfläche. Der erste Atemzug. Luft füllt seine Lungen. Nun kommen auch die anderen herbeigeschwommen. Seine Tante legt ihre riesige Nase unter seinen Bauch, schubst ihn hoch und wirft ihn zur Seite. Ihm wird schwindelig. Eine alte Freundin der Tante ist jetzt auch da. Die beiden Waldamen nehmen den Kleinen in ihre Mitte. Fast scheint er zwischen den Leibern zerquetscht zu werden, doch da ist keine Spur von böser Absicht. Die Familie freut sich einfach nur über den Neuzugang. Seine ältere Schwester schlägt vor lauter Aufregung mit der Fluke auf das Wasser. Das mächtige Platschen tost in seinen Ohren. Verwirrt und erschöpft reibt er sich an seiner Mutter. Der Instinkt schreit »Hunger«. So leicht ist es aber nicht die Zitzen zu finden – und saugen schon gar nicht, mit so einem Maul. Doch die dickflüssige Milch, eine Paste eher, quillt ihm förmlich entgegen. Ein wohliges Gefühl durchfährt seinen Körper. Angekommen, irgendwie.
An Land schreibt man das Jahr 1975. Die Menschheit durchlebt mal wieder unruhige Zeiten. Während die Weltwirtschaft noch immer unter den Nachwirkungen der Ölpreiskrise leidet, halten terroristische Gruppierungen wie die RAF Europa in Atem. In Vietnam ziehen die US-Truppen endgültig ab, ihre Gegner aus dem Norden rücken siegreich in Saigon ein. Der Krieg ist endlich vorbei. Im Nachbarland Kambodscha dagegen beginnt mit der Eroberung der Hauptstadt Phnom Penh durch die Roten Khmer eine vierjährige Schreckensherrschaft. Wie eh und je begnügt sich Homo sapiens allerdings nicht damit, seinen eigenen Artgenossen abzuschlachten. Auch unter den großen Meeresbewohnern fordert er einen enormen Blutzoll. Kommerzielle Waljagd ist in den Siebzigern noch weit verbreitet. Allein unter den Pottwalen fallen jährlich tausende Tiere den Harpunen zum Opfer. Es wird noch bis 1985 dauern, bis man die Art international unter Schutz stellt. Der kleine Physty hätte also jeden Grund, besorgt in die Zukunft zu blicken. Zum Glück ahnt er von alldem nichts. Er ist nur ein Baby, mit Flossen und Fluke statt Ärmchen und Beinchen. Ein wehrloses, schwimmendes Wunder.
Es gibt nur ganz wenige Menschen, die je Zeuge einer Pottwalgeburt wurden, erzählt Kalliopi Gkikopoulou. Sie selbst sah einmal ein Neugeborenes im Mittelmeer, vom Boot aus. Die Entfernung war allerdings ziemlich groß. Kalliopis kanadische Kollegin Lindy Weilgart hatte dagegen mehr Glück. Im Oktober 1983 kreuzte die Biologin zusammen mit anderen Wissenschaftlern in einem Segelboot vor der Küste Sri Lankas auf dem Indischen Ozean umher. Man untersuchte die dortige Walpopulation und folgte gerade einem Trupp. Am nächsten Morgen beobachteten die Forscher aus nur 25 Metern Entfernung, wie ein Weibchen ihr Junges zur Welt brachte. Wenige Minuten nach dem Ereignis wurde das Walkind in ruppiger Weise von seinen Artgenossen begrüßt. »Die ganze Gruppe ging richtig aufgedreht mit dem Neugeborenen um«, erzählt Weilgart. In diesem Verhalten ähneln Cachalots offenbar Elefanten, mit denen sie auch sonst so manches gemeinsam haben.
Weilgart war soeben erst aufgestanden. Eine kurze Absprache mit den Teamgenossen, und sie durfte ins Wasser. Es war noch trüb vom Blut, erinnert sie sich. Dann geschah Atemberaubendes: »Das Walkalb schwamm direkt auf mich zu.« Die Wissenschaftlerin hätte es berühren können, hielt sich aber zurück. Sie blickte in eines der Augen. Das Tier sah sie an. »Was ich niemals vergessen werde, ist, wieviel Emotion dieses Auge zeigte. Es leuchtete tiefblau und war voller Neugierde, gemischt mit ein wenig Angst.« Einmal versuchte die Mutter kurz, ihr Kalb von Weilgart fortzuschieben. Vergeblich. Das Kleine schien vollkommen fasziniert zu sein von diesem langgliedrigen, fremdartigen Wesen.
Die Begegnung dauerte eine Dreiviertelstunde. Während dieser Phase verbrachte das Neugeborene vielleicht mehr Zeit mit Lindy Weilgart als mit seiner Mama. Danach kletterte die Biologin wieder an Bord, völlig verzaubert und glücklich. Wenige Minuten später jedoch begann das Team, sich Sorgen zu machen. Das Kalb war alleine, die Mutter und die anderen offenbar abgetaucht. Über das Hydrophon hörte man in der Tiefe ihre Klicksignale. Waren etwa alle auf Futtersuche? Die Forscher staunten. »Das Junge konnte sich kaum bewegen«, berichtet Weilgart. Einem potenziellen Feind wäre es völlig ausgeliefert gewesen. Zuvor hatten die Wissenschaftler den Waltrupp allerdings schon einen Tag lang begleitet. Die Tiere erkannten wohl, dass vom Boot und seinen Insassen keine Gefahr ausging. Womöglich sahen sie in ihnen sogar eine freundliche Begleitung, die zumindest kurzzeitig auf den Kleinen aufpassen würde. »Sie könnten uns vertraut haben«, meint Weilgart. Normalerweise tauchen in einem Pottwalverband mit frischem Nachwuchs nicht alle Erwachsenen gleichzeitig ab. Mindestens einer bleibt oben und macht den Babysitter.
Die Kälber indes bleiben nicht lange träge. Schon nach wenigen Stunden müssen sie mit der Gruppe mithalten können, denn die will meist weiter. Vier Tage lang folgten Lindy Weilgart und ihre Kollegen der Familie des Neugeborenen.1 Die Tiere legten dabei eine Strecke von insgesamt 290 Kilometern zurück. Eine gewaltige Leistung für einen Säugling!
Seine ersten Lebensmonate sind voller überwältigender Eindrücke. Die Welt scheint unendlich zu sein. Unter ihm das Nichts. Mama, ihre Gefährtinnen und die Schwester verschwinden darin, kommen aber immer wieder zurück. Er kann sie deutlich hören. Und da gibt es noch viele andere Geräusche. Leises Knistern und das Fiepen dieser seltsamen, schnellen Schwimmer zum Beispiel. Sie sind nicht wie er und seine Familie, kleiner, doch nicht ganz fremd. Einmal nähert sich ein monotones Brummen. Er hebt seinen Kopf aus dem Wasser und sieht etwas Großes vorbeiziehen. Bunt ist es, und laut. Der gleißend helle Ball hoch oben fasziniert ihn. »Das ist die Sonne«, sagt Mama. Sie wandert im Draußen, am Himmel über dem Meer, jeden Tag dieselbe Bahn, bis sie rot am Horizont versinkt. Nachts wird alles schwarz. Man sieht nichts mehr, außer diesen winzigen leuchtenden Punkten oben. Wenn Mama unten ist, schwimmt er neben seiner Tante. Auch sie hat Milch für ihn. Satt wird er immer. Eines Morgens, gerade erkennbar im ersten Licht, liegt in der Ferne plötzlich eine dunkle Masse. Das, meint seine Mutter, ist das Andere, ist Land.
An dieser Stelle müssen wir die Geschichte kurz verlassen und uns mit einer vorerst unlösbaren Frage befassen: Können Pottwale sprechen? Natürlich nicht so wie wir Menschen, aber sind sie zu komplexer Kommunikation fähig? Wir wissen es nicht. Die Giganten verfügen über ein vielfältiges vokales Repertoire. Es gibt die regulären Klicks, die im Prinzip wie Sonare (Verfahren zur Ortung von Gegenständen unter Wasser mittels ausgesandter Schallimpulse) funktionieren und vor allem zum Aufspüren von Beutetieren dienen, und die sogenannten Codas mit einer wesentlich komplexeren Struktur.2 Codas bestehen aus mehreren Klicktönen in einer bestimmten rhythmischen Abfolge. Man könnte sie mit Morsesignalen vergleichen, doch wie viel Information die Wale damit übermitteln können, hat sich der Wissenschaft noch nicht mal ansatzweise erschlossen. Dennoch dürfte es zwischen den Tieren zu allerlei Austausch kommen. Forschern gelang es vor einigen Jahren, die Lautäußerungen von Mitgliedern einer Pottwalgruppe den einzelnen Individuen zuzuordnen.3 Die Auswertungen zeigten: Ein Weibchen und ihr Kalb kommunizierten über Töne, welche sich deutlich von den Codas der anderen Gruppenmitglieder unterschieden. Die Mutter nutzte eine Art Babysprache, und das Kleine antwortete entsprechend. Pottwale sind offenbar akustisch begabt. Möglicherweise wird sogar Wissen »verbal« überliefert. Wir werden also so tun, als ob wir Physty und seine Artgenossen belauschen und verstehen können. Vielleicht gelingt das unseren Enkeln irgendwann wirklich.
In Landnähe gibt es wieder Neues zu entdecken. In der Luft schwimmen jetzt weiße Wesen herum. Sie fliegen, sagt Mama, es sind Vögel. Ab und zu kreischen sie. Viel interessanter sind aber die vielen Kreaturen im Wasser. Mit manchen kann man gut spielen. Die kleinen Silbrigen wirbeln lustig herum, wenn man schnell auf sie zuschießt. Sie wollen immer nah beieinander bleiben. Die Wabbeligen dagegen sind träge und langweilig. Die lassen sich noch nicht mal richtig herumschubsen. Viel besser geht das mit diesen harten, langen Teilen. Lebendig sind die wohl nicht. Er nimmt eines auf die Fluke und schleudert es aus dem Wasser. Es klatscht auf und bleibt reglos liegen. Etwas später schwimmt ein Tier mit langen Flossen in seine Richtung. Dieser Meeresbewohner ist gar nicht so viel kleiner als er. Auf dem breiten, grauen Rücken flimmert das Sonnenlicht. Der Fremde schaut ihn teilnahmslos an und frisst eines dieser Wabbeldinger. Schmecken die? Mal probieren. Bah, nein!
Sie sind zu fünft: er, Mama, die fünfjährige Schwester, die Tante und die Alte, die wohl schon sehr lange bei der Familie ist und die seine Schwester Oma nennt. Sie hat viele Narben und weiß viel. Im Moment ist sie mürrisch. Oma mag das Land nicht, und noch weniger mag sie diejenigen, die dort leben. Menschen. Das sind grausame Tiere, meint sie. Genauso schlimm wie die Weißaugen, aber noch gefährlicher. Durch die Menschen hat die Alte Fürchterliches erleiden müssen. Irgendwann wird sie dem Kleinen davon erzählen. Wenn er alt genug ist.
Er will nach unten, auch tauchen, mitkommen. Versuch’s, meint seine Mutter, und lacht leise. Das lässt er sich kein zweites Mal sagen. Ein paar Mal tief Luft holen, Rücken krümmen, und los. Die Fluke wedelt kurz ins Leere, dann bekommt er Schwung. Mit kräftigen Schlägen geht es erstaunlich schnell voran. Mama folgt ihm. Schon bald wird das Blau dunkler. Ach ja, beim Tauchen muss man klicken, so wie das alle machen. Er spürt, wie ihn etwas am Kopf und am Bauch drückt. »Was ist das?« »Das macht das Wasser«, antwortet Mutter von hinten. »Je tiefer Du kommst, desto fester presst es.« Unheimlich fühlt sich das an. Und es wird auch immer finsterer. Unten sieht man gar nichts mehr, hat Mama gesagt, noch weniger als nachts. Man kann nur noch hören. Aber wie weit wohl, und was ist mit diesen Riesenviechern, von denen die Schwester erzählt hat? Er bekommt Angst. »Mama, ich möchte wieder zurück nach oben, ich habe Hunger.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, dreht er ab und schwimmt zum Licht. Wie schön, die Wellen wieder zu spüren! Nein, sie können ihm viel erzählen: Wenn er groß ist, bleibt er trotzdem oben. Hier findet man bestimmt auch genug zu fressen.
In der Ferne sind auf einmal andere Klicks zu hören, nicht die seiner Familie. »Wir bekommen Besuch«, sagt die Schwester. Etwas später tauchen sechs andere Wale auf. Mama, Oma und die Tante begrüßen sie herzlich. Die müssen sich kennen. Alle brabbeln durcheinander, zwei der anderen springen aus dem Wasser. Er mag gar nicht hingehen, aber seine Mutter ruft ihn. Na gut. »Das ist mein Jüngster.« Die Fremden klicken ihn an. Sie sind freundlich, doch ihre Aufmerksamkeit ist ihm unangenehm. Seine Schwester bleibt auch hinter den Erwachsenen. »Wer sind die?«, fragt er sie. »Verwandte von Oma. Wir haben sie schon mal getroffen, bevor du geboren wurdest. Das ist schon lange her.«
Die anderen bleiben bis abends. Sie und Oma haben sich viel zu erzählen, auch Mama und Tante gesellen sich ständig dazu. Keiner beachtet ihn. Die Großen bekommen Hunger, tauchen gemeinsam ab und lassen ihn sogar mit der Schwester alleine oben. Danach liegen wieder alle nebeneinander und quatschen. Es ist schon dunkel, als der Besuch endlich weiterzieht. Er döst längst, hört nur im Halbschlaf, wie sich alle verabschieden. Hoffentlich kommen die nicht so bald wieder.
Am nächsten Morgen jagen dicke graue Wolken über den Himmel. Der Wind zischt und lässt das Wasser aufspritzen. »Es kommt ein Sturm«, meint Oma. »Wir sollten weiterziehen.« Stürme, erklärt sie, sind schlecht für kleine Wale. Das Meer tobe dann manchmal so stark, dass man sich verirren kann. Ein schrecklicher Gedanke. Ohne Mama und die anderen wäre er ja ganz alleine. »Keine Sorge, wir gehen hier fort«, sagt seine Mutter. Die Familie nimmt ohne weitere Unterbrechungen Kurs in den Süden, weg vom schlechten Wetter. Das Land lassen sie ebenfalls hinter sich. Stundenlang schwimmen sie nur geradeaus. Er wird müde und ihm ist langweilig. »Wie lange dauert es noch?« »Bis die Sonne untergeht«, antwortet seine Tante. »Aber ich sehe die Sonne gar nicht.« »Wenn es dunkel wird. Dann können wir alle fressen.« Blöder Sturm.
Endlich kann er ruhig neben Mama liegen, erschöpft zwar, aber mit vollem Bauch. Auch bei Tante durfte er lange trinken. Die Wolken sind alle verschwunden, die Nachtsonne ist aufgegangen. »Den nennt man Mond«, hat seine Schwester erklärt. Weiß immer alles besser. Vorhin wollte sie ihm wieder von den gefährlichen Monstern erzählen, die Wale in ihre riesigen Mäuler ziehen, aber Mama verbot es ihr. Trotzdem, was ist, wenn die kommen? »Wir werden dich immer beschützen«, sagt seine Mutter, und Oma stimmt zu. Er nimmt den Kopf hoch. Dieser Mond scheint ganz schön hell. Mamas Rücken glänzt wie das Wasser. In der Ferne hört er wieder die Schnellen pfeifen. Delfine heißen die. Hört mal her, denkt er, spannt seine Brust und klickt einmal so laut wie er kann nach unten. Kein Echo, nichts. »Schlaf jetzt«, murmelt Mama.
Der Wissenschaft ist bislang leider nur sehr wenig über die Kindheit von Pottwalen bekannt. Sie wachsen mit nur sehr wenigen Geschwistern auf – wenn überhaupt welche da sind. Zwillinge scheinen extrem selten zu sein. Früheren Erhebungen der Internationalen Walfangkommission zufolge dürften erwachsene Weibchen ungefähr alle fünf Jahre ein Kalb zur Welt bringen. Die Tragzeit beträgt ganze 15 Monate. Es gibt gleichwohl auch Hinweise auf deutlich geringere Geburtenraten. Im Südostpazifik, wo die Pottwalpopulationen von Walfängern besonders stark dezimiert wurden, gebären die Muttertiere anscheinend nur einmal in 20 Jahren! Dies könnte schlichtweg die Folge eines Männermangels sein, meinen Experten. Pottwalbullen werden wesentlich größer als ihre Artgenossinnen und bis zu dreimal so schwer. Die Jäger hatten es besonders auf sie abgesehen. Mehr Gewicht, mehr Öl pro gefangenem Tier. So einfach war das.