Jenny Koch

 

Maer

 

 

 

Fantasy

 

 

© 2016 AAVAA Verlag

 

Alle Rechte vorbehalten

 

1. Auflage 2016

 

Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag

Coverbild: Nina Fuchte

 

Printed in Germany

 

Taschenbuch:  ISBN 978-3-8459-2100-6

Großdruck:     ISBN 978-3-8459-2101-3

eBook epub:   ISBN 978-3-8459-2102-0

eBook PDF:   ISBN 978-3-8459-2103-7

Sonderdruck  Mini-Buch ohne ISBN

 

AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin

www.aavaa-verlag.com

 

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Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Prolog

 

„Hexen und Wölfe werden im Auftrag des Königshauses verfolgt und hingerichtet! - Die königliche Familie, 1805“

Dies waren die Worte, die in großen, schwarzen Lettern auf einer Bekanntmachung geschrieben standen. Das große Plakat, das an einem rostigen Nagel an die Wand geschlagen war, rollte sich an den Ecken bereits auf und der Teil, der regelmäßig der Nachmittagssonne ausgesetzt war, vergilbte allmählich. Diese und ähnliche Warnungen fanden sich in jeder Straße mindestens einmal an irgendeiner Wand oder der Balustrade einer Brücke. Vor sieben Jahren, der König hatte sich gerade eine neue Gemahlin genommen, tauchten die deutlichen Bekanntmachungen dieses Gesetzes allmählich überall in der Hauptstadt auf.

Raudur hatte sie schon etliche Male gesehen, wenn sie in der Stadt war, um Einkäufe oder anderes zu erledigen. Sie übersah sie einfach, genauso wie die Leute, die mit ihr durch die Straßen liefen. Am Anfang waren die Menschen noch vor diesen Schriftstücken stehen geblieben und hatten leise miteinander getuschelt, sodass sich Raudur als kleines Mädchen, das sie damals war, umständlich zwischen die Menge drängen musste. Doch nun waren sie keine Besonderheit mehr. Genauso wie die Wesen, die sie ansprachen, keine allzu große Angst mehr machten. Man hörte nur noch vereinzelt davon, dass irgendwo eine Hexe oder ein Wolf gesichtet worden war. Es gab sie da draußen noch, Raudur wusste das wohl besser als jeder der Städter, der tagtäglich an diesen Schreiben vorüberging. Doch für diese Städter spielten die Bedrohungen keine Rolle mehr. Das Königshaus hatte sich in den letzten Jahren alle Mühe gegeben, dass sie keine mehr spielten. Wenn es noch Hexen irgendwo gab, dann waren sie schon längst aus dem Land geflohen, und die Wölfe versteckten sich im Wald, wo sie von den Leuten des Königs in Schach gehalten wurden. Nur noch wenige von diesen Wesen trauten sich auch nur in die Nähe der Hütten am Waldrand, geschweige denn in die Stadt hinein.

Genau deswegen blieb Raudur an eben dieser Bekanntmachung stehen und wollte ihren Augen nicht trauen, als sie unter ihr ausgerechnet einen Wolf sitzen sah. Sie hatte genug Erfahrung mit ihnen gemacht, dass sie einen erkannte, wenn sie einen sah, während die übrigen Menschen auf der Straße unwissend vorbeigingen. Wie bereits gesagt, solche Wesen spielten in den Köpfen der Stadtbewohner keine Rolle mehr. Doch Raudur konnte nicht verstehen, wieso ein Wolf derart ruhig an der Hauswand auf einer gut besuchten Straße sitzen konnte, direkt unter einem Banner, das ihn zum Tode verurteilte.

Er saß dort in einfachen, abgetragenen Kleidern, die ihm viel zu klein waren. Die langen Beine waren angezogen, der Kopf hing nach unten. Wellige, kastanienbraune Haare hingen ungeordnet über sein Gesicht, sodass Raudur es nicht richtig sehen konnte. Doch sie konnte seine Augen sehen, die unbeweglich auf seine Hände starrten, als wären seine Gedanken gar nicht bei ihm. Vor seinen nackten Füßen lagen ein paar Kupferstücke. Er beachtete sie gar nicht.

Raudur ging langsam auf ihn zu und hockte sich so nahe vor dem Mann hin, dass sie sicher sein konnte, dass keiner der vorbeigehenden Städter ihre Worte zufällig mitbekommen konnte. Ein Wolf in einer Stadt hätte Raudur bis vor Kurzem noch für unmöglich gehalten. Dass dieser sie dann auch noch angreifen würde, hielt das Mädchen für noch unmöglicher, doch wie sicher konnte sie sich schon sein, dass dieses Exemplar nicht lebensmüde war und es trotzdem tun würde?

„Ich weiß, was du bist.“, sagte sie zu dem Wolf. „Warum bist du hier?“ Ihr Gegenüber schien das Mädchen erst zu bemerken, als sie zu ihm gesprochen hatte. Träge richtete er seinen Kopf zu ihr auf. Der Mann schien noch recht jung zu sein. Vermutlich hatte er vor nicht allzu langer Zeit erst sein zwanzigstes Lebensjahr erreicht. Aber seine Augen waren die eines Kindes. Groß und grau schauten sie ihr Gegenüber an, als wüssten sie nicht, was es von ihnen wollte. Raudur wartete geduldig, bis der Wolf ihr endlich antwortete.

„Ich war schon immer hier.“, entgegnete er schließlich verwirrt. Raudur hob ihre Augenbrauen.

„Hier?“, fragte sie. „In der Stadt?“ Verstohlen blickte der Wolf zur Seite, als wolle er die Aufmerksamkeit der vorbeilaufenden Menschen nicht auf sich ziehen.

„Ich glaube schon.“, antwortete er dann unsicher. „In einem Haus.“

„Wie heißt du?“, fragte Raudur, als sie feststellte, mit den kryptischen Äußerungen des offenbar verwirrten Wesens nichts anfangen zu können.

„Grar.“ Raudur musste lächeln. Die seltsamen Namen der Wölfe. Dann schaute Grar sein Gegenüber mit einem plötzlich auffallend wachen Ausdruck in den Augen an.

„Wie heißt du?“ Eine gefährliche Frage. Doch nur durch ihre Beantwortung konnte Raudur herausfinden, mit wem sie es hier wirklich zu tun hatte.

„Raudur.“ Grar nickte bloß leicht. Keinerlei Überraschung oder Unruhe zeigte sich in seiner Miene. Er sagte die Wahrheit. Er kam nicht aus dem Wald. Aber wie war es möglich, dass er schon sein ganzes Leben lang in der Stadt verbringen konnte, ohne dem Strick zum Opfer gefallen zu sein?

„Weißt du nicht, dass es hier gefährlich für dich ist?“

„Meine Mutter sagte mir das ständig.“, antwortete Grar, während er wieder in die Ferne blickte, als hätte dieses Thema Erinnerungen wiedergebracht. „Aber sie hat mir nie erklärt, was eigentlich so gefährlich an der Welt ist.“

„Die Menschen.“ Zumindest für dich, fügte Raudur in Gedanken hinzu. Wieder wanderten die grauen Augen neugierig in das Gesicht des Mädchens.

„Bist du ein Mensch?“ Raudur zog die Augenbrauen zusammen. Immer mehr bekam sie den Eindruck, dass dieser Mann keine Ahnung von der Welt hatte, in der er lebte, wie auch immer das gehen mochte, wenn er wirklich so alt war, wie er aussah.

„Ja.“

„Du bist nicht gefährlich.“ Raudurs Augenbrauen zogen sich noch mehr zusammen. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass ein Wolf so etwas jemals zu ihr sagen würde.

„Du kennst mich nicht.“

„Du hast mir bisher nichts zuleide getan.“ Raudur seufzte in Gedanken. Diese Diskussion würde wohl zu nichts mehr führen. Sie beugte sich noch einmal nahe an Grars Kopf heran.

„Du solltest wirklich von hier verschwinden, wenn dir dein Leben lieb ist.“, riet sie hoffentlich eindringlich und verständlich genug, bevor sie wieder aufstand und, ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, ihres Weges ging.

Im Grunde gingen Raudur Wölfe nichts mehr an. Ob sie blieben, ob sie gingen, ob sie starben oder ob sie lebten. Im Grunde waren sie nicht mehr ihr Problem. Leider schien ein gewisser jemand diese Tatsache vollkommen zu ignorieren. Als Raudur bloß ein paar Schritte gegangen war, spürte sie jemanden sehr nahe hinter sich. Sie blieb stehen und drehte ihren Kopf nach hinten. Mit Unglauben im Gesicht sah sie Grar einige Momente lang an, bis sie die Szene, die sich gerade abspielte, begreifen konnte.

„Was willst du?“, fragte Raudur leicht ungehalten. Um sie herum gingen die geschäftigen Menschen weiter die Straßen entlang. Einige umrundeten die Stehenden, ohne groß auf diese zu achten.

„Nimmst du mich mit?“ Mit einem Impuls des Unwillens drehte sich Raudur nun vollends um. Grar war anderthalb Köpfe größer als sie, aber aus seinem Gesicht starrten noch die grauen Kinderaugen hervor.

„Nein, natürlich nicht.“, entgegnete Raudur. „Hast du mich gerade nicht verstanden?“

„Aber ich weiß gar nicht, wo ich hingehen soll.“

„Mit mir kannst du auf jeden Fall nicht gehen.“, erwiderte Raudur in einem endgültigen Ton, von dem sich Grar leider in keinster Weise beeindrucken ließ.

„Ich habe aber niemanden außer dich.“ Raudurs Augen zogen sich nun beinahe vollends zusammen. Sie konnte ihr Gegenüber beim besten Willen nicht begreifen. Falls er irgendeinen finsteren Wolfsplan verfolgte, war er fast unmöglich gut im Schauspielern. Falls es jedoch nicht so war und er sich wirklich in den Kopf gesetzt hatte, sich an den ersten Menschen zu hängen, der ihn angesprochen hatte, war diese Szene zu unwirklich, als dass Raudur sie begreifen konnte.

„Ich kann mich aber nicht um dich kümmern.“, sagte das Mädchen verwirrt und nicht so drastisch, wie sie gerne gewollt hätte. Schließlich drehte sie sich wieder um und ging weiter, um nach ein paar Schritten wieder stehen zu bleiben. Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch gar nicht erwartet, nun einfach unbehelligt weitergehen zu können. Mit finsterer Miene drehte sich Raudur wieder halb zu ihrem Schatten um.

„Du wirst mich nicht in Ruhe lassen, oder?“, fragte sie.

Der Wolf vor ihr schüttelte den Kopf.

„Selbst nicht, wenn ich dir androhe, dich tot auf der Straße liegen zu lassen, damit du mir nicht mehr folgst?“

Der Wolf vor ihr schüttelte abermals den Kopf. Dieses Schütteln war endgültig. Es war in Stein gemeißelt wie eine Statue, die man nicht umstoßen konnte, egal, was man ihr entgegensetzte. Wenn Grar einer Wildfremden folgen wollte, wo immer sie ihn hinführen mochte, hatte er wohl tatsächlich nicht mehr das Geringste zu verlieren. Raudur seufzte und verdrehte die Augen.

„Na, schön.“, gab sie sich geschlagen. „Dann komm eben mit!“

Welch eine Ironie, dachte Raudur düster. Ein Wolf begibt sich in die Hände eines Mädchens, die noch vor zwei Jahren versucht hatte, seine Rasse vollkommen auszulöschen.

Kapitel 1

 

Askas Leben zog beständig an ihr vorbei wie ein Traum ohne Erwachen. Wie ein Alptraum ohne Erwachen. Wie ein Alptraum ohne Ausweg.

Es war nicht immer so gewesen. Als Askas Mutter noch gelebt hatte, waren ihr Vater, ihre Mutter und sie selbst eine normale, glückliche Familie gewesen, die in einem Kaufmannshaus in der Stadt wohnte. Dann jedoch starb ihre Mutter und Askas Leben änderte sich.

Ihr Leben wurde zu einem Existieren. Die neue Frau ihres Vaters tat alles dafür, dass Askas Lebensmut von Tag zu Tag geringer wurde. Irgendwann kommt eine Gelegenheit, dachte sich Aska immer wieder in ruhigen, dunklen Minuten. Irgendwann kommt die Gelegenheit, an der sie auszubrechen vermochte aus diesem langsam tötenden Spinnennetz, das ihre Stiefmutter um sie gesponnen hatte.

Es war nicht schwer auszumachen, dass sie die Schlinge aus berechnendem Kalkül um Askas Hals gelegt hatte. Ihre beiden Töchter jedoch, die noch aus erster Ehe entstanden waren, labten sich einzig und allein an Askas Leid.

Ihr Vater, wenn er nicht gerade auf einer seiner häufigen Handelsreisen war, ignorierte die Vorgänge seines Hauses, so gut er es konnte. Er hatte wohl die Idee, dass er keine andere Wahl hatte, als es hinzunehmen. In den ersten Jahren empfand Aska die Zurückhaltung ihres Vaters als traurig, verletzender sogar als all die Demütigungen der fremden Familie in ihrem Haus. Sie hatte es damals noch nicht ganz verstehen können, fragte sich, warum er einfach nichts tat, um seine Tochter zu schützen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Aska begriff, dass er es akzeptiert hatte. Einfach so.

Mittlerweile war er Aska gleichgültig. Sechs Jahre waren eine lange Zeit, in der auch Aska lernen konnte, sich damit abzufinden, sodass sie sich am Ende kaum vorstellen konnte, dass es auch einmal anders gewesen war. Sie hatte jegliche Liebe für ihren Vater bereits verloren, langsam und allmählich, so wie man Geldstücke aus einem kleinen Loch im Geldbeutel verliert, ohne dass man es merkt.

Jedoch hatte er seiner Tochter seit dem Tod der Mutter noch einen einzigen großen Dienst erwiesen. Ohne es selbst zu wissen. Er war dabei gewesen, zu einer seiner Reisen aufzubrechen und hatte seine beiden Stieftöchter schon gefragt, was er ihnen mitbringen sollte.

Aska hatte, wie so oft, in der Küche zu arbeiten gehabt. Sie stand vor dem Küchentisch, ein halb ausgeblutetes Huhn lag vor ihr, welches zum Abendessen zubereitet werden sollte.

„Gersemi wünscht sich Schmuck von mir, Perla Kleider.“, sagte der Mann, als er in den Türrahmen trat. „Was soll ich dir mitbringen, Aska?“ Die Befragte sah zu dem Mann auf. Die Vorstellung, dass sie mit Schmuck oder schönen Kleidern ihre Arbeit verrichtete, war geradezu absurd, doch zu der Zeit war noch ein Stück seines Gewissens der Meinung gewesen, dass er Aska der Fairness halber fragen musste. Hinter ihrem Vater lugte der wie zufällig vorbeihuschende Kopf ihrer Stiefmutter hervor. Sie war eine hagere Frau, der man ihre Strenge im Gesicht ansah. Die dünnen Lippen bogen sich beständig nach unten und mit ihren runden, hervorstehenden Augen, mit denen sie gar nicht anders konnte, als zu starren, schien sie alles und jeden zu überwachen. Ihre dunkelblonden Haare waren immer zu einem Dutt aufgetürmt.  Später am Tag trieb sie ihrem neuen Mann auch noch dieses letzte Gefühl der Fairness aus seinem Gewissen aus.

„Ich hätte gerne, dass du mir einen Haselnusszweig mitbringst.“ Aska versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. Die Reaktion ihrer Eltern war wie erwartet: Verwirrte Gesichtsausdrücke.

„Was willst du denn mit einem Haselnusszweig anfangen?“, fragte der Vater.

„Haselnusssträucher mochte Mutter am liebsten.“, antwortete Aska wahrheitsgemäß. „Ich möchte einen auf ihrem Grab anpflanzen.“ Damit schien der Vater sich zufriedenzugeben. Die Stiefmutter hielt noch die Augenbrauen zusammengezogen, aber auch sie ließ sich von dieser Erklärung abwimmeln.

Zwei Wochen später bekam Aska den Haselzweig. Ihr Vater gab ihn ihr ganz im Geheimen, als überreiche er ihr ein gestohlenes Schmuckstück. Er wollte nicht, dass seine Frau es sah. Ein weiteres Risiko, ihr zu missfallen, ging er seitdem nie mehr ein. Aber Aska reichte das. Der Zweig passte in ihre Handfläche hinein, aber er entwickelte sich noch zu etwas Großem. Aska hatte dafür Sorge getragen.

Die Stiefmutter ließ sie erst nach Einbruch der Dunkelheit nach draußen, damit sie niemand sehen konnte. Im Hinausgehen offenbarte sie der Stieftochter, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie zum Grab ihrer Mutter gehen würde. Aska hörte es und ging weiter.

Irgendwann, sagte sie sich in ihrem Kopf immer wieder vor, um den Drang zu unterdrücken, laut loszuschreien. Irgendwann. Im Dunkeln, vor der Grabstätte ihrer Mutter kniend, sagte Aska einige Worte, während ihre Finger über den Zweig streiften, als wäre er ein verletztes Vogelküken, bevor sie ihn schließlich in der Graberde eingrub. Dann verabschiedete sie sich für eine lange Zeit von ihrer Mutter und sagte zu ihr: Irgendwann.

Dann ging sie zurück zu ihrem Zuhause, wo ihre Stiefmutter sie dafür schlug, dass es schon nach Zehn war. Sie tat es ohne Emotionen, mehr aus Gewohnheit als aus Affekt und um Aska in ihren Schranken zu halten. Perla saß derweil am Wohnzimmertisch und grinste darüber. Dann ging Aska in die Küche, griff mit den Händen in die ausgebrannte Feuerstelle unter dem Ofen und holte die Asche daraus hervor. Das schwarze Pulver ließ Aska in einem Kreis auf den Steinboden herunterrieseln. Am Anfang hatte die neue Frau des Vaters ihr noch gezeigt, wie es ging. Sie hatte es dem Mädchen so lange beigebracht, bis sie es richtig machte. Trotzdem warf sie jeden Abend noch einen Blick durch den Türrahmen und kontrollierte das Aschebett, auf das Aska sich Nacht für Nacht betten musste. In den ersten Monaten nach dem Tod ihrer Mutter wachte Aska mit Schmerzen auf, als hätte ihr das Gewicht eines auf ihr herumtrampelnden Pferdes jeden Knochen in ihrem Körper gebrochen. Sie konnte nach besonders schlimmen Tagen noch nicht einmal richtig einen Besen halten und körperlich anstrengende Arbeiten wie das Holzhacken trieben ihr Tränen in die Augen. Natürlich ignorierte ihre Familie diese Begebenheit, ließ sie weiterarbeiten, ließ sie weiterhin in jeder Nacht auf dem Steinboden in der Küche vor dem Ofen schlafen.

Und Aska legte sich in den Staub, starrte in die Dunkelheit und dachte: Irgendwann.

Und irgendwann kam. In Form eines königlichen Zuges durch die Hauptstadt. Es war eine Parade des Königshauses, die durch das gesamte Reich ging. Auch durch ebenjene Straße, an welcher das Haus ihrer Familie lag. Menschen stürmten von ihren Häusern auf die Straße, um die königliche Familie vorbeireiten zu sehen. An den Häuserfronten bildete sich schon eine Stunde vor Ankunft des Zuges eine Barriere aus Leuten, die ihre Köpfe allesamt in die Richtung wandten, aus der die königlichen Pferde herantraben würden. Aska hatte in der Küche zu tun, kniete sich gerade hin, um den Ofen anzufeuern. Sie hätte den Zug gerne angesehen, doch die Frau im Haus hätte es nicht zugelassen, das wusste sie genau.

Von draußen her hörte man das wirre Reden der Menschen, sogar in der Küche, welche weniger nahe an der Straße lag als das Wohnzimmer. Von dort aus klackerten Perlas Halbschuhe auf dem Holzboden. Sie trug ein Kleid aus dunklem, grünem Samt. Jenes, das ihr Stiefvater ihr damals mitgebracht hatte. Askas Vater war zu diesem Zeitpunkt abermals nicht da.

„Du müsstest ihn sehen, Mutter.“, verkündete Perla, während sie vor dem Wandspiegel im runden Messingrahmen stand und ihr Gesicht begutachtete. „Der Prinz sieht einfach unvergleichlich umwerfend aus.“

„Ich habe ihn gesehen, Liebes.“ Ihre Mutter saß am Tisch und richtete ihren Blick statt auf ihre Tochter auf eine Stickerei, an der sie arbeitete. „Vor zwei Jahren auf dem Marktplatz mit dir und deiner Schwester zusammen.“ Sie hatte nichts von der derzeitigen Aufregung ihrer ältesten Tochter. Gefühlsausbrüche waren rar bei ihr.

„Ja, aber das war von Weitem.“, protestierte Perla, warf einen Seitenblick auf ihre Mutter und wandte sich sogleich wieder ihrem Spiegelbild zu. „Von Nahem sieht er zweifellos noch viel besser aus.“ Sie legte sich eine goldene Kette um ihren schmalen Hals und schüttelte ihre welligen blonden Haare darüber.

„Ich werde ihn von Nahem sehen.“, erwiderte die Kaufmannsfrau und griff zielsicher, auch wenn die Augen noch auf der Stickarbeit ruhten, nach einem Blatt dicken Papieres, welches auf dem Tisch lag. „Hier.“ Das Blatt Papier war einen Tag zuvor angekommen. Es war eine Einladung zu einer mehrtägigen Festlichkeit im Schloss. Das blutrote Wachssiegel mit dem Symbol des Königs darauf leuchtete aus dem beigefarben marmorierten Papier hervor. Die Einladung verriet zeitgleich den Sinn und Zweck des festlichen Umzuges, der sich anbahnte: Der älteste Sohn der Königin wurde bald einundzwanzig und suchte eine Gemahlin für sich. Um seinen Geburtstag herum setzte man die Brautschau an, bei welcher er sich aus den eingeladenen Töchtern eine Frau auswählen konnte. Es machte sich gut, dass die Königsfamilie sich im Volk nach einer Braut für ihren ältesten Sohn umschaute, aber natürlich achtete man dabei darauf, dass nur die angesehensten Familien mit den ansprechendsten Töchtern eine Einladung erhielten.

Perla war ansprechend. Sie kam nach ihrer Mutter, hatte ein spitzes Gesicht und graublaue Augen, aber sie war noch jung, neunzehn Jahre alt, und machte einen weniger verbissenen Eindruck. Sie trug rote Farbe auf ihre vollen Lippen auf und blickte ihr Spiegelbild mit einem Lächeln an, das genau wusste, wie sie aussah.

„Meinst du, ich werde Artur gefallen?“, fragte Perla in einem fast rhetorisch klingenden Ton.

„Oh, jetzt ist er schon Artur.“ Von der Seite aus trat Gersemi zu ihrer Schwester an den Spiegel. „Als wärt ihr schon verlobt.“ Die zweite Tochter drängte sich zu Perla an den Spiegel und tat es ihr nach, sich zurechtzumachen. Gersemi war sechzehn, hatte ein runderes Gesicht und einen Rotstich in ihrem blonden Haar. Womöglich war sie eher nach ihrem Vater geraten. Auch sie trug ein Kleid aus Seide. Ihres war königsblau.

„Bald, kleine Schwester, bald.“, antwortete Perla und zeigte ihre gleichmäßigen Zähne.

„Vielleicht bekomme ich ihn ja auch.“ Gersemi lugte an ihrer Schwester vorbei, um in den Spiegel schauen zu können und befestigte Ohrschmuck. In diesem Moment spürte Aska ein Stechen. Bena hatte von ihrer Stickarbeit aufgesehen und starrte Aska nun mit einem ihrer kontrollierenden Blicke an, der einem durch Mark und Bein fuhr. Schnell wandte Aska den Blick aus dem Wohnzimmer und griff nach einem weiteren Holzscheit, den sie in die halbrunde Öffnung über dem Boden legte.

„Ich bin die Ältere.“, hörte Aska Perla sagen. „Es wäre nur fair, wenn ich zuerst heirate.“

„Hat das Königspaar nicht noch einen zweiten Sohn?“ Auf Gersemis Frage hin brach die Angesprochene in ein solch schrilles Lachen aus, dass Aska wieder ins Wohnzimmer schaute. Sie sah, wie Perla ihren Kopf nach hinten warf und sich ihre feinen Haare vor Lachen schüttelten.

„Nickolaus, den willst du nicht, glaube mir!“, setzte Perla ihrem Lachen hinzu.

„Wieso nicht, er ist doch auch ein Sohn der Königin?“, fragte Gersemi, während sie ihrer Schwester die rote Farbe aus der Hand nahm und ihre eigenen Lippen damit bearbeitete. „Da müsste er doch ebenfalls gut aussehen.“

„Tja.“ Perla sah das Spiegelbild ihrer Schwester vielsagend an. „Dem ist leider nicht so. Er ist entstellt. Man erzählt sich, es käme von einem Reitunfall, den er als Kind hatte.“

„Und was ist da passiert?“ Aska griff nach einem weiteren Holzstück und stocherte damit in dem Feuer herum, sodass das angesenkte Feuerholz zu zerfallen begann und die Glut aufgewirbelt wurde.

„Man sagt, es war in einer Reithalle. Das Pferd, auf dem der Prinz saß, ist durchgegangen und auf die Hallenwand zugaloppiert. Nickolaus' Gesicht schlug dagegen, was ihm die Nase brach. Ein herausstehender Nagel bohrte sich dabei in sein rechtes Auge. Anschließend lief das Pferd weiter und durch die Bewegung riss ebenjener Nagel seine Wange auf.“ Gersemis Gesicht verzog sich mit jedem Wort, das die große Schwester sprach, zu einer angeekelten Fratze.

„Na, danke. Das ist ja widerlich.“ Perla lachte noch einmal schallend.

„Du hast doch gefragt.“, wehrte sie sich. Auf einmal stieg das Raunen auf den Straßen an. Perla und Gersemi standen nun kerzengerade da, als sie das Jubeln der Menge vernahmen. Sogar die Stiefmutter sah auf und Aska beeilte sich, einen weiteren Holzscheit in die Hand zu nehmen. Ein Stich in ihrem Finger veranlasste sie dazu, ihn kurze Zeit später schon wieder fallen zu lassen. Ärgerlich versuchte Aska, den Splitter aus der Wunde zu ziehen, die ihr das Holz beigebracht hatte.

„Los, schnell, sie sind da!“, sagte Gersemi aufgeregt und zog Perla mit sich nach draußen. Für die Zeit, in welcher die Fronttür aufgeschwungen wurde, erhoben sich die Geräusche der Straße und erfüllten das Haus. Als die Tür wieder zufiel, wurden sie wieder ausgesperrt und eine Ruhe, die trotz der immer noch eindringenden Stimmen von draußen erdrückend wirkte, hielt Einzug in das Kaufmannshaus. Obwohl kaum vernehmbar, verdrängte das Geräusch der einstechenden Nadel in Benas Stoff das Stimmengewirr von draußen und drang in Askas Kopf ein, als steche sie geradewegs in ihren Schädel hinein. Vorsichtig schob sie die verbliebenen Holzstücke über den Steinboden unter den Küchentisch, den Blick nicht von ihrer Stiefmutter abwendend, um sicherzugehen, dass sie nicht von ihrer Arbeit aufblicken würde. Dann sagte sie wie beiläufig: „Ich gehe noch mehr Feuerholz holen.“ und stand auf, um die Hintertür zu nehmen. Draußen, nachdem die Hintertür knarzend wieder in ihr Schloss gefallen war, ließ Aska den Haufen Feuerholz, der in ihrem kleinen Garten unter einem Baum lagerte, links liegen und schlich sich stattdessen um die Außenwand des Hauses herum. Sie duckte sich, um unter den Fensterbänken herzugehen und kauerte sich schließlich an die Ecke jener Hauswand, die zur Straße führte.

Perla und Gersemi waren in der Menschenmenge nicht zu sehen, welche Aska den Rücken zuwandte, um der Ankunft der Königsfamilie beizuwohnen. Scheinbar hatten sich die beiden Mädchen nach vorne gedrängt. Einige der Menschen hüpften plötzlich und reckten den Hals zur rechten Seite. Das Stimmengewirr hob noch mehr an und Hände wurden zum Beifall in die Höhe gehoben. Aska versuchte, durch die wenigen Lücken zwischen den Menschen etwas zu erkennen. Auf den Pflastersteinen schritten bunte Schuhe in gleichmäßigem Takt die Straße entlang. Aus den Geräuschen der Menge traten Klänge aus Posaunen heraus, deren Enden Aska über den Köpfen der Umstehenden herausragen sah. Dann das Schnauben eines Pferdes und Hufklappern. Das vorbeistolzierende Pferd wurde von der Menschenmenge verdeckt, doch der Reiter zeigte sich Aska von seiner erhöhten Position aus.

Es war König Isak, der in erhabener Haltung auf seine Untertanen herabsah. Sein Aussehen war von Natur aus würdevoll. Ein schwarzer Vollbart bedeckte den Kiefer unter einer auffälligen, aristokratisch geschliffenen Nase. Sein Blick aus den dunklen, braunen Augen, die unter breiten Augenbrauen lagen, war immer etwas unergründlich. Aska hatte ihn bereits gesehen, damals, als sie noch das Haus verlassen konnte, wann sie wollte. Sie hatte ihn mit ihrer Mutter bei öffentlichen Auftritten angeschaut. Das war jedoch, bevor er geheiratet hatte, weshalb ihr der Anblick der folgenden Person neu war.

Es war zweifellos die Königin. Sie saß im Damensitz und trug ein Kleid aus schwarzem Samt. Die Frau des Königs war eine betörende Erscheinung. Hohe Wangenknochen, die mit weißer Haut überzogen waren. Grüne Augen, so fein geschnitten, als hätten Pinselstriche ihre Umrisse gezogen und dichte, leuchtend rote Haare, die sachte hochgesteckt waren. Es war nicht schwer, zu verstehen, warum der König sich nach dem Tod seiner ersten Frau aus allen wohlhabenden Frauen seines Reiches gerade diese verwitwete Frau eines Grafen aussuchte, um sie zu ehelichen.

Das Pferd der Königin trabte vorbei und nach ihr trat ein junger Mann in Askas Sicht hinein. Dies musste der erste Sohn der Königin sein. Daran bestand kein Zweifel. Mit kerzengeradem Oberkörper ritt er auf seinem Pferd, leichtfertig, als befände er sich auf einem Sonntagsausritt auf dem Feldweg. Im Gegensatz zu seinen Eltern lachte Artur in die Menge, sodass auch Aska einen genaueren Blick in sein Gesicht werfen konnte. Seine grünen Augen wirkten im Gegensatz zu denen seiner Mutter weniger steif. Sie leuchteten und sie schienen jedem, den sie mit einem Blick bedachten, etwas von diesem Leuchten abzugeben. Schwarzes Haar fiel ihm in eleganten Strähnen in die Stirn. Dann drehte Artur seinen Kopf wieder zum Verlauf der Straße und nahm das Leuchten in seinen Augen mit sich. Im Profil konnte Aska seine grade, lange Nase erkennen. Dann ritt er so weit fort, dass Aska nur noch seinen stattlichen Rücken vor sich hatte.

Aska starrte dem Ältesten noch hinterher, als ein weiterer junger Mann die Bühne betrat. Dies musste Nickolaus sein. Er saß etwas hängend auf dem Rappen, bemühte sich nicht gerade darum, Haltung zu bewahren. Ob er tatsächlich ein entstelltes Gesicht hatte, so wie Perla es behauptet hatte, konnte Aska nicht sagen. Über die rechte Seite seines Gesichts ließ er seine kupferroten, schulterlangen Haare hängen. Aska sah nur, dass er eine auffallend schiefe Nase besaß. Womöglich war sie nach dem Bruch nicht mehr richtig zusammengewachsen. Die Hälfte seines Gesichtes, die er ihr zuwandte jedenfalls, sah vollkommen normal aus. Sein linkes, ebenfalls grünes Auge blickte kurz nach hinten. Er ließ sein Pferd zurückfallen, bis es neben einem anderen stand, auf welchem ein Mädchen ritt. Aska erkannte sie sogar. Wenngleich sie bei dem öffentlichen Auftritt, an dem Aska sie an der Seite des Königs gesehen hatte, noch so klein gewesen war wie Aska.

Ihvit war das einzige Kind des Königs und seiner verstorbenen ersten Frau. Sie war bloß ein Jahr jünger als Aska.

Der junge Mann, der neben ihr ritt, flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr und die Jüngste der Familie lächelte. Aska hatte niemals jemand Schöneren gesehen als die Prinzessin. Selbst Perlas Antlitz verblasste im Angesicht Ihvits. Ihre schwarzen Haare fielen wie ein glänzender Teppich aus Pech an ihrem Rücken hinunter. Ihre elfenbeinfarbene Haut war makellos und die großen, braunen Augen waren von dichten Wimpern umgeben.

Ein Zischen war durch die Menge zu hören. Es war die Königin und es galt ihrem zweiten Sohn. Mit einem strengen Kopfnicken forderte sie ihn dazu auf, wieder auf seinen Platz zu reiten. Dieser gehorchte, scheinbar aber nur widerwillig. Auch Artur hatte sich umgedreht und zeigte angesichts dessen ein halbes Lächeln.

Artur.

Er würde in zwei Wochen heiraten und diejenige, die er heiratete, würde Einzug in den Palast halten. Weg von ihrem ursprünglichen Zuhause und weg von ihrer Familie.

Dabei hatte niemand, keiner aus dem gesamten Reich es so verzweifelt nötig, zu entkommen. So verzweifelt wie Aska. Und was, wenn sie ihn bekommen würde? Was, wenn dies die Gelegenheit war, auf die sie seit sechs Jahren gewartet hatte? Artur schaute noch ein letztes Mal in die Menge, dann wandte er seinen Kopf nach vorne und verschwand außerhalb von Askas Sichtfeld. Ein paar bunt bekleidete Menschen bildeten noch die Nachhut, dann war der Umzug vorbei.

Aska starrte dem Prinzen noch hinterher, als sie ihn gar nicht mehr sehen konnte. Er war ihr Mirakel, auf das sie so lange gewartet hatte. Niemand würde sie retten können, wenn er es nicht jetzt tat und sie heiratete. Dies hier war ihr 'Irgendwann', an dem sie sich nachts auf der Asche liegend festgehalten hatte. Und Artur war derjenige, mit dem sie ihr 'Irgendwann' beginnen würde.

Auf einmal fuhr ein reißender Schmerz durch Askas Schädel, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie wurde an ihren Haaren nach oben gezogen und um weitere Schmerzen zu verhindern, stand Aska auf, sodass sie wieder auf eigenen Beinen stand.

„Was denkst du dir eigentlich?“ Perla ließ endlich ihre Haare los und stemmte die Fäuste stattdessen in ihre Hüfte. „Glaubst du, du darfst einfach hier draußen sitzen unter all den anderen Menschen?!“ Perla war weniger wütend, als sie tat. Aber sie genoss diese Momente, in denen sie Aska demütigen konnte und deswegen kostete sie jeden einzelnen davon in dieser Weise aus. Ihre Augen sprühten vor Schadenfreude und Aska hätte sie ihr in diesem Moment am liebsten ausgekratzt.

„Du weißt, was ich mit dir machen könnte...“ Es war ein dahingehauchtes Zischen, doch es reichte, um Perlas selbstsicheres Lächeln hinfortzufegen und ihre Augen in Aufregung aufreißen zu lassen. Aska hatte in den letzten Jahren gelernt, die Behandlungen ihrer Stiefschwestern auszublenden, Wut und Tränen herunterzuschlucken und sich darauf zu konzentrieren, weiterzumachen. Doch das Abbild Arturs noch vor ihrem geistigen Auge bildete eine Kraft in ihrem Inneren, die Aska dazu veranlasste, Perlas Anfeindung anzunehmen.

„Das wird Mutter erfahren, dass du mir gedroht hast!“, zischte diese zurück. Ihre Oberlippe zuckte. Aska genoss die Aufregung in Perlas Gesicht.

„Solltest du das wirklich tun?“ In Askas ruhiger Stimme verbarg sich eine offene Warnung.

„Jetzt reicht es!“, schaltete sich Gersemi mit schriller, zitternder Stimme ein. „Geh jetzt sofort wieder rein!“ Die Aufregung der jüngeren Schwester löste keine solche Genugtuung in Aska aus wie bei Perla. Aufregung, beizeiten sogar gesteigert bis hin zu panischer Hysterie waren mittlerweile zu einem bestimmenden Wesenszug in Gersemis Verhalten geworden.

„Jetzt geh schon!“, schrie sie noch einmal mit kratziger Stimme, die fast wegzubrechen drohte und wedelte mit einem Arm in Richtung Garten.

„Gersemi!“ Perla rüttelte ihre Schwester unsanft an der Schulter, den Blick auf die Straße gerichtet. Aska drehte den Kopf. Einige Leute, die noch auf der Straße standen, nachdem die Parade vorbei war, waren durch Gersemis Geschrei aufmerksam geworden.

Aska wand sich durch ihre Stiefschwestern hindurch, die von dem ungewollten Interesse abgelenkt waren, holte noch schnell ein paar Scheite Feuerholz aus dem Garten und ging dann wieder in die Küche. Bena saß immer noch an ihrer Stickarbeit, sie sah auch nicht auf, als Aska hereinkam und die mitgebrachten Holzstücke zu den anderen legte.

Nach kurzer Zeit kamen auch Perla und Gersemi durch den Haupteingang hinein. Sie verschwendeten ebenfalls keinen einzigen Blick an Aska und erzählten ihrer Mutter auch nicht von dem Vorfall nach dem königlichen Aufmarsch.

Die nächsten Tage waren ereignisreich. Für Perla und Gersemi mussten Kleider angepasst werden. Jeweils drei an der Zahl. Sie konnten schließlich nicht mit ein und demselben Kleid an allen drei Abenden des Festes auftreten. Des Weiteren musste entschieden werden, wie die Haare bereitet werden sollten, welcher Schmuck angelegt werden würde und welche Kosmetika benutzt werden mochten. Die richtige Auswahl dieser Dinge war entscheidend. Es konnte den Ausschlag dafür geben, einen sozialen Aufstieg ohne Vergleich zu erreichen. Jede Mutter des Reiches war zweifellos mit demselben beschäftigt wie Bena: Ihrem Kind die bestmöglichen Chancen zu bieten.

Kein Mädchen des Reiches war vermutlich mit dem beschäftigt, worüber Aska sich in jenen Tagen Gedanken machte. In einer Nacht schließlich wartete sie darauf, dass die Uhr Zwölf schlug und hielt die Dauer aus, in der sie in der Asche liegen musste. Anschließend setzte sich Aska langsam auf. Ihre Stiefmutter schlief gleich nebenan. Man konnte sogar noch ihren Atem hören. Jetzt ging er gleichmäßig. Sie schlief noch. Bisher war Aska der Überzeugung gewesen, dass ihre ständige Beobachterin sofort aufwachen würde, sobald Aska auch nur den kleinen Finger von ihrem Aschebett nehmen würde. Doch jetzt erkannte sie, dass dem nicht so war. Sie konnte sich bewegen. Mit leicht zitternden Beinen und Armen richtete sich Aska allmählich auf, ohne dass der Atem ihrer Stiefmutter sich veränderte. Ihre schweißnassen Hände versuchten, den Türknauf so leise wie möglich zu drehen und die Hintertür zu öffnen.

Aska schluckte, bevor sie den Fuß über die Schwelle ins Freie setzte. Sie hatte Angst, die Türe wieder hinter sich zu schließen, so als würden augenblicklich innerhalb des Hauses alle aufwachen, sobald Aska nicht mehr kontrollieren konnte, ob sie noch schliefen. Doch als dies geschehen war, setzte die Entkommene einen Fuß vor den anderen, immer schneller, bis sie schließlich vom Grundstück rannte.

Der Friedhof der Stadt befand sich nicht weit davon entfernt.  Auf den Straßen war es dunkel, bis auf ein paar Lichtpunkte, die von einigen Öllampen herstammten, welche ab und zu an den Häuserfassaden angebracht waren. Niemand befand sich auf den Straßen. Askas Schritte waren die einzig vernehmbaren menschlichen Geräusche. Auch in den Fenstern brannte kein Licht mehr. Dann durchschritt sie das Tor zum Friedhof. War es auf den Straßen schon dunkel gewesen, so konnte man hier fast nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Steine wurden zu Gras und Askas Schritte wurden vollkommen lautlos. Der Weg führte durch zwei Reihen von dicken Bäumen hindurch, dessen Kronen so weit hervorragten, dass sie auch das Mondlicht verdeckten. Am Ende des Weges lagen schließlich die vielen Reihen von Gräbern. Auf manchen leuchteten rote Grablichter. Auf vielen waren Blumen und Sträucher eingepflanzt, die im Sonnenlicht wohl ihre Farben preisgeben würden, in der Schwärze der Nacht für Aska aber nur grau waren. Am Wegesrand stand ein Wasserbecken, aus dem man seine Eimer befüllen konnte, um die Pflanzen zu bewässern. Das gebrochene Mondlicht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Aska lenkte ihre Schritte auf den steinernen Behälter zu, um ihren Oberkörper darüberzubeugen. Die dunkle Silhouette ihrer Büste durchbrach das weiße Abbild des Mondscheins. Braune Haare hingen verfilzt und wild von dem Kopf aus über dem Wasser. Das herzförmige Gesicht war übersät mit schwarzen Flecken, die aus Ruß und Staub bestanden. Aus dem dunklen Spiegelbild stachen bloß die hellen, blauen Augen heraus, mit denen sie sich selbst betrachtete. Ein müder Blick von einer traurig aussehenden Gestalt. Aska brachte ihr Gesicht so nahe an die Wasseroberfläche heran, dass ihre Nasenspitze beinahe darin eintauchte. Dann durchbrach sie das Spiegelbild mit ihren eigenen Händen, um sich den Schmutz von ihrem Gesicht zu waschen. Als ihr Spiegelbild sich das nächste Mal formte, waren die schwarzen Flecken weißer Haut gewichen.

Das war immerhin ein Anfang.

Die einzige Besucherin des Friedhofes ging durch die Reihen der Gräber hindurch, bis sie fast an der gegenüberliegenden Mauer ankam, die den Friedhof eingrenzte. Hier hatten ihr die Grabsteine schon den Rücken gekehrt und die Bäume nahmen wieder überhand, ließen ihre Blätter auf den alten Wackersteinen ruhen, mit denen die Friedhofsmauer errichtet worden war. Efeu hatte schon längst Besitz von den maroden Steinen ergriffen und Unkraut gesellte sich zu dem Gras am Boden. Aska steuerte auf eine Baumgruppe zu, die dort stand, wo zwei Mauern sich trafen. Es waren große Trauerweiden, die über das obere Ende der Friedhofsmauer hinausgingen. Aska schob die Äste beiseite und betrat durch eine schmale Eisentür ein Stück des Friedhofes, um das sich kein Mensch mehr kümmerte. Das Gras hier war kniehoch. Die Äste der Bäume wucherten umeinander herum, wuchsen in alle Richtungen. Hier waren keine Gräber angelegt. Hier standen keine Grabsteine. Bloß unzählige kleine Holzkreuze. Halb verwittert, sodass man auf einigen schon nicht mehr die Buchstaben lesen konnte, die darauf eingeritzt worden waren.

Auf dieser abgelegenen Fläche, unkenntlich für die Besucher der übrigen Gräber, verstreute man die Asche der auf dem Scheiterhaufen verbrannten Hexen. Hexen, die vom Königshaus innerhalb der letzten sieben Jahre zum Tode verurteilt worden waren. Inmitten des Feldes aus Holzkreuzen ragte ein einzelner, knochiger Baum in die Höhe. Er hatte keine Blätter. Sein mit schwarzer Rinde überzogener Stamm krümmte sich und streckte seine nackten Äste in die Höhe, sodass er aussah wie ein sich in Schmerzen windender Mensch. Unter einer der Wurzeln lugte ein schiefes Kreuz heraus. Der Baum hatte es in seine Umarmung gerissen, als er daneben gewachsen war. Er hatte es so eingenommen, dass man den Schriftzug nicht mehr lesen konnte, doch Aska wusste, dass es der Name ihrer Mutter war, der dort geschrieben stand.

Das hohe Gras raschelte, als Aska auf den Baum zuging. Mit jedem Schritt, den sie sich näherte, fühlte sie die dunkle Kraft, den er ausstrahlte. Die gleiche Kraft schien auch aus Askas Innerem zu steigen, krabbelte beständig weiter, bis sie in jedes ihrer Glieder eingedrungen war. Aska stand nun direkt unter dem schwarzen Naturgebilde. Es machte den Eindruck, als könne es jederzeit auf das vor ihm stehende Mädchen herunterstürzen und es verschlingen. Doch Aska betrachtete ihn nicht mit Angst, sondern mit Faszination. Sie selbst war es, die ihn vor drei Jahren mit eigenen Händen ausgesät hatte, aus einer einzelnen verzauberten Haselnuss, die sie aus dem mitgebrachten Haselnusszweig gewonnen hatte.

Sie hatte es ihr beigebracht, Askas Mutter. Als sie noch ein Kind war, hatte ihre Mutter der Kaufmannstochter beigebracht, wie sie die Magie benutzte, welche an sie vererbt worden war. Sie war sehr freigiebig mit ihren Künsten gewesen, nicht nur innerhalb ihrer eigenen Familie. Wenn Nachbarns Gemüse nicht wachsen wollte, sprach ihre Mutter einen Zauber, wenn die Tiere krank waren, braute sie Medizin. Man wusste, an wen man sich zu wenden hatte bei Problemen, die mehr als das Können normaler Menschen bedurften. Am Ende wurde sie dafür verbrannt, als eine der Ersten. Natürlich wollte es sich niemand mit den Machthabern verscherzen, indem er eine Hexe schützte und damit selbst Gefahr lief, bestraft zu werden.

So hatte ein zwölfjähriges Mädchen ihre Mutter verloren.

Seitdem hatte Aska nur noch ein einziges Mal Magie benutzt. Das Ergebnis war dieser Baum auf dem Grab ihrer Mutter. Jetzt würde das zweite Mal sein. Aska spürte, wie ihre hellen Augen sich verfärbten, dunkler wurden, bis aus ihnen zwei schwarze Bälle geworden waren, so als seien sie in Sekundenschnelle in ihren Augenhöhlen verfault.

Aus der Ferne erklang das Flattern von Federflügeln in der Totenstille des Friedhofs. Irgendwo dröhnte das Krächzen eines Raben durch die Nacht. Dann wurde das Schlagen der Flügel lauter, als ein Vogel am Himmel erschien, so schwarz, dass sogar die Schwärze der Nacht hinter ihm verblasste. Er ließ noch ein Krächzen hören, als seine Krallen einen der Äste umfasste, die aus dem schwarzen Baum erwuchsen. Nun saß der große Rabenvogel dort, putzte mit dem langen Schnabel sein Gefieder und schaute mit roten Augen auf Aska herunter. Zu ihm gesellten sich immer mehr Vögel, Dohlen, Krähen, Tauben mit schwarzem Gefieder setzten sich auf den Baum, vor dem Aska stand, gurrten, krähten vor sich hin, sodass ein Gewirr aus Vogellauten Askas Ohren erfüllte. Sie ließ sich von den Geräuschen einlullen, bis ihr Geist fast vollkommen davon eingenommen war, ohne die Umgebung, in der er sich befand, ganz wahrzunehmen.

Der große Rabe, der als erstes einen Ast des Baumes besetzt hatte, fiel Aska ins Auge. Wie rot glühende Kohlen waren seine Augen und genauso wie jene schien ihr Blick sich in Askas Inneres zu brennen. Fast unwillkürlich bewegten sich die Füße des Mädchens auf den Vogel zu, bis sie genau unter dem Ast stand, auf dem das schwarze Tier sich niedergesetzt hatte. Der lange Schnabel bewegte sich und aus ihm fiel etwas hinunter. Aska hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihre Hand geöffnet hingehalten hatte. Erst als sie in ihre Handfläche etwas hineinfallen spürte, schaute sie hinunter. Auf ihrer Hand lag etwas kleines Rundes. Sie schaute genauer hin. Es war eine Linse. Eine ganz normale grüne Linse.

Aska schaute wieder nach oben. Der Rabe putze sein Gefieder. Die übrigen Vögel verstummten allmählich und einige flogen wieder so abrupt davon, wie sie aufgetaucht waren. Aska schloss ihre Hand, fühlte die kleine Hülsenfrucht beruhigend in ihrem Griff, als sie wieder einige Schritte von dem Baum zurücktrat. Je weiter ihre Schritte sie fortführten, desto mehr schwand die Kraft aus Askas Körper, die sich bei ihrer Ankunft aufgebaut hatte.

Einen letzten Blick noch warf sie dem krummen Baum auf der Grabstätte der Hexen zu und flüsterte: „Danke, Mutter!“ Dann flogen auch die letzten Vögel hoch in die Luft und verschwanden wieder in der Nacht.

Kapitel 2

 

Die Mittagssonne brannte vom Himmel herab, doch hier unter dem Vordach der Treppe, an der Nick sich an einem kleinen Gartentisch niedergelassen hatte, konnte sie ihn nicht mehr erreichen. Es herrschte eine angenehme Ruhe. Nur die Spatzen, die im Baum inmitten des Innenhofes saßen, zwitscherten leise den Tag an. Nick legte ein grün eingebundenes Buch über Botanik auf den weißen Marmortisch vor sich, um die Seite umzublättern. Neben dem Text war ein Bild eines Haselnussbusches aufgezeichnet, der seine Wurzeln bis weit unter die Erdoberfläche ausstreckte.

Ein hohes Auflachen übertönte das gediegene Zwitschern der Vögel und ließ Nick von seinem Buch aufsehen. Aus der oberen linken Tür kamen gerade zwei junge Mädchen heraus, die nicht mehr als sechzehn Jahre zählten. Zwischen ihnen ging Artur und redete, während die zwei vor Kurzem erst eingetroffenen Kammerjungfern lächelten und mit ihren Fächern vor ihren Gesichtern herumwedelten. Aus dem Reflex heraus holte Nick seine Haare hinter dem rechten Ohr hervor und ließ sie über seine Gesichtshälfte fallen. Dann wandte er seinen Blick wieder auf die Buchstaben, die ihm aus dem Buch in seiner Hand entgegenblickten. Schritte von Damenschuhen erklangen leise vom anderen Ende des Schlosshofes her. Wahrscheinlich verschwand die Gruppe um seinen Bruder herum gerade aus dem Haupttor hinaus. Nick konzentrierte sich wieder auf sein Buch.

Dann wurden die Schritte schnell lauter, aber es waren nicht mehr die Geräusche der Damenschuhe. Einen Augenblick später setzte Artur sich auf den Tisch, vor dem Nick saß, sodass dieser gezwungen war, von seiner Lektüre aufzublicken. Sein Bruder wurde von der Sonne umstrahlt und biss genüsslich in einen Apfel hinein. Jetzt war es wohl vorbei mit Nicks Ruhe.

„Ich sage dir, die neuen Mädchen sind ziemlich süß.“, sagte Artur, die Augen noch auf die davonschlendernden Mädchen gerichtet, als sei sein Blick auf ihre Leiber angenäht worden.

„Du hast aber nicht vergessen, dass du bald heiraten wirst, ja?“, entgegnete Nick und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Artur grinste, bevor er seinen Blick von den sich entfernenden Mädchen loseiste und seinem jüngeren Bruder zuwandte.

„Ein Grund mehr, die verbleibende Zeit, so gut es geht, zu nutzen.“, verkündete Artur feierlich. Dann beugte er sich zu Nick hinunter, um einen vermeintlich brüderlichen Rat zu erteilen. „Das solltest du vielleicht auch tun. Mutter wird dich auch irgendwann verheiraten.“ Nick zog das grüne Buch unter Arturs vorgebeugten Oberkörper hervor und hielt es demonstrativ vor seine Nase. Konversationen mit Artur zählten nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Sie gingen immerzu in dieselbe Richtung.

„Nicht, wenn ich es verhindern kann.“, murmelte Nick in die Seiten des Buches hinein. Er hörte Arturs belustigtes Lachen, als dieser erneut in den Apfel in seiner Hand biss. Auch wenn er das bedächtige Kauen seines Bruders ausblendete, konnte sich Nick in seiner Nähe nicht mehr auf das Buch konzentrieren. Irgendwann konnte er es nicht einmal mehr sehen. Der Grund dafür waren zwei Hände, die sich über sein Gesicht gelegt hatten. Nick kannte nur eine Person, der sie gehören konnten.

„Ihvit...“, sagte er und wartete darauf, bis die Person hinter ihm sich zu erkennen gab. Die Seiten des Botanikbuches erschienen wieder und zu Nicks Seite tauchte seine Schwester auf. Ihvit lehnte sich auf die Lehne des zweiten Stuhls und lächelte verschmitzt.

„Ich hab dir doch schon gesagt, dass du das nur mit einer Hand zu machen brauchst.“ Auf Nicks Einwand hin zog Ihvit ihre roten Lippen zu einer Schnute wie ein kleines Mädchen.

„Man macht es aber nun einmal mit zwei Händen.“, entgegnete sie trotzig und wippte mit dem Stuhl nach hinten. „Ich habe die Regeln nicht gemacht.“

„Was denn? Dazu gibt es Regeln?“, mischte sich Artur mit vollem Mund ein. Ihvit schaute ihn an und musste wieder lachen. Dann ließ sie den Stuhl auf seine vier Beine zurückschnellen und legte dem ältesten Bruder ihre Unterarme auf die Schulter.

„Bist du schon nervös wegen deiner herannahenden Hochzeit?“, fragte sie mit vor Vorfreude leuchtenden Augen.

„Warum sollte ich?“, erwiderte Artur. „Die hübschesten Frauen des Reiches werden da sein. Da kann doch gar nicht so viel schiefgehen.“ Ihvit presste etwas unzufrieden die Lippen aufeinander. Scheinbar war das nicht die romantische Antwort, die sie erwartet hatte. Nick wunderte sich, dass das Mädchen immer noch nicht begriffen hatte, dass sie auf derlei aus Arturs Munde noch lange warten konnte. Sie beschloss, die Antwort ihres älteren Stiefbruders zu ignorieren.

„Ich frage mich, ob drei Tage nicht zu wenig Zeit sind, um die Liebe seines Lebens zu finden.“, sagte sie, den Blick auf Nick gerichtet. Dieser hatte gerade wieder sein Buch in die Höhe gehoben. Scheinbar wollte die kleine Schwester ihn unbedingt in diese Unterhaltung einbinden.

„Ein ganzes Leben ist zu wenig Zeit, um die Liebe seines Lebens zu finden.“, entgegnete er wegwerfend, senkte sein Buch aber nicht. Das glockenhelle Kichern Ihvits ließ ihn wieder aufblicken.

„Ooooh.“, machte sie anerkennend. „Das war wieder eine typische Nick-Antwort.“ Artur teilte Ihvits Begeisterung nicht, verdrehte nur kauend die Augen.

„Ja, mit ein Grund, warum er kein Mädchen bekommt.“, murmelte er dann zu Ihvit, zweifellos aber darauf bedacht, dass Nick es hören konnte. Dafür erntete er gleich einen Schulterstoß von dem Mädchen, das an seiner Seite stand. Nick empfand im Gegensatz zu seiner Schwester schon lange keine Notwendigkeit mehr, sich an Arturs kleinen Seitenhieben aufzuhalten. Ihvit war jedoch eine unerschütterliche Frohnatur, die mit allen Dingen in Harmonie leben wollte und ihr Möglichstes versuchte, dass die Menschen in ihrer Umgebung es ihr gleichtaten. Das Klackern von Absätzen erklang über ihren Köpfen, als jemand die Treppe zum Hof hinunterlief.

„Ihvit?“, rief eine streng klingende Frauenstimme. Das in Missstimmung verzogene Gesicht der Gerufenen veränderte plötzlich seinen Ausdruck. Ihr schien etwas Alarmierendes eingefallen zu sein.

„Oh je!“, rief sie aus und entfernte sich von Arturs Seite. „Der Nachmittagsunterricht ruft.“ Hinter dem Absatz der Treppe tauchte die Gestalt von Nicks und Arturs Mutter auf. Sie trug ein schweres Samtkleid. Selbst an einem so heißen Tag, an dem auch keine offiziellen Veranstaltungen abgehalten wurden, warf sie sich ausnahmslos in feine Kleider. Ihre Frisur allerdings war durch die ausgiebige Suche nach ihrer Stieftochter etwas in Mitleidenschaft geraten.

„Ihvit.“, sagte sie mit drohendem Unterton, als ihre Suche endlich Erfolg zeigte. „Pünktlichkeit ist die Tugend einer Dame, die du noch zu lernen hast.“ Ihvit senkte beschämt ihren Kopf und setzte ihr entschuldigendes Lächeln auf, mit dem sie jeden um den Finger wickeln konnte, bis auf ihre Stiefmutter. Diese legte bloß den Kopf schief und scheuchte sie dann mit einer dahingeworfenen Handbewegung fort.

„Na, geh!“, befahl sie dabei. „Zeig mir wenigstens, dass Fleiß dir mehr liegt! Ich komme gleich nach.“