Impressum
Copyright 2017 Gabriela Adam
2. Auflage
Alle Rechte vorbehalten.
www.gabi-adam.ch
Autorin Gabriela Adam
Lektorat/Korrektorat lektorus.ch
Satz Rey Marketing
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
978-3-7345-8534-0 (Paperback)
978-3-7345-8535-7 (Hardcover)
978-3-7345-8536-4 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Gabriela Adam
Wie die Diagnose Brustkrebs eine Familie mit zwei kleinen Kindern, eines davon gehörlos, durcheinanderwirbelt!
Erfahrungsbericht
Hoffnung ersäuft Angst
Ernst Bloch
Für meine Familie in tiefer Liebe
Nicht begreifen können
In den bangen, einsamen Nächten,
in denen der ständige Schmerz
mir den Schlaf raubt,
wenn nichts auf der Welt
meinen Schmerz betäuben kann,
ist die Verzweiflung nahe.
Niemand sieht die stillen Tränen,
die ich in mein Kissen weine,
und niemand, niemand
kann meine Not begreifen.
Annegret Kronenberg
Und plötzlich war alles wieder da, an einem Donnerstag im Januar 2015. Mein Mann Silvano und ich kamen von einem Thailandurlaub zurück, voll mit positiven Gedanken. Die Insel Phuket hatte sich seit unserer ersten Reise vor über dreißig Jahren zwar enorm verändert – nicht gerade zum Vorteil, wie ich fand –, doch die langen weißen Sandstrände, die spektakuläre Kulisse mit den riesigen Kalksteinfelsen, das türkisblaue Wasser und die auffallend zuvorkommende Gastfreundschaft der Einheimischen machten den Tourismusboom wieder wett. Sehr viel ruhiger dagegen war Khao Lak gewesen, mit idyllisch gelegenen Stränden, durch Felsformationen voneinander getrennt, die sich über viele Kilometer erstreckten, dazu Schatten spendende Nadelbäume und Kokospalmen, die zum „Seele baumeln lassen“ einluden. Die Hotels passten sich in ihrer Bauweise behutsam der Landschaft an und der üppige Regenwald, der gleich hinter den Traumständen begann, sorgte für ein durchweg angenehmes Klima. Wir erkundeten die Mangrovenwälder, spazierten zu den herabstürzenden Wasserfällen, schnorchelten und schwammen im tiefblauen Meer oder fuhren mit einem Motorrad durch die herrlich grüne Natur.
Wir waren also gut erholt und ich fühlte mich ausgeruht genug, um kurz nach unserer Rückkehr meinen Tennis-Girls, sechs Frauen ab fünfzig aufwärts, mit denen ich einmal die Woche im Tennisclub Thalwil trainierte, noch ein wenig Gesellschaft zu leisten.
Im Restaurant, wo die Gruppe nach den Spielen einen Drink zu sich nahm, wurde ich mit großem Hallo empfangen. Alle freuten sich, mich zu sehen, und ich erzählte zunächst von der Reise. Bildete ich es mir ein, dass Sonja, eine langjährige Tennisfreundin, mich die ganze Zeit über forschend anblickte? Es schien mir, als ob sie nur auf eine passende Gelegenheit wartete, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Schließlich warf sie zwischen einer Erzählpause ein: „Ach übrigens, Gabriela, du warst im Fernsehen in Kassensturz. Es gab einen Bericht über Doktor Schnetzler und sie haben ein älteres Interview mit dir gesendet.“
Bei ihren Worten wurde mir flau im Magen. Diese vermeintlich harmlosen Worte konfrontierten mich mit der schlimmsten Zeit meines Lebens. Jetzt nur nicht darüber reden müssen und die Sache aufwirbeln. Daher sagte ich so beiläufig wie möglich: „Ah ja!“ Damit war das Thema für mich erledigt, vorerst zumindest, auch wenn ich Sonja ansah, dass sie meine Antwort eher dürftig fand und sie noch eine Menge Fragen hatte.
Zu Hause setzte ich mich sofort an den Computer, suchte nach der Seite des SRF und loggte mich klopfenden Herzens in die archivierte Sendung ein. Was um Gottes willen hatten sie von mir gebracht? Das Schicksal des neunzehnjährigen Mädchens, mit dem der Bericht begann, rührte mich. Und auch wenn die junge Frau völlig andere Probleme hatte, als ich zu jener Zeit, waren deutliche Parallelen zu erkennen. Es fielen Worte wie: Ergebnis inakzeptabel … eklatante Entstellung … lebenslang gezeichnet … ungenügende Nachbehandlung … offene schwarze Stelle …
Dann sah ich mich in der Sendung aus dem Jahre 1993. Zuerst konnte man sehen, wie ich mit unserer kleinen Tochter auf dem Teppichboden spielte und mit ihr ein Bild malte. Anschließend sah man mich auf dem Sofa sitzen, üppige Grünpflanzen hinter mir, und wie ich aus meinem Leben erzählte, das zu jener Zeit an einem Tiefpunkt angelangt war. Als ein Foto meiner linken Brust eingeblendet wurde, die nach der ich weiß nicht wievielten Operation nicht mehr als solche zu erkennen war, lief der komplette Katastrophenfilm einer Leidensgeschichte, die mit der Diagnose Brustkrebs begann, und die mich mit den „Tipptopp, alles wird gut“-Behandlungsmethoden eines prominenten Schönheitschirurgen geradewegs an die Pforte der Hölle brachte.
Doch wo genau fängt meine Geschichte an? Nein, nicht bei einem Teufel und seinem boshaften Schabernack, sondern vielmehr bei dem attraktivsten Mann, der mir bis dahin begegnet war.
Er hatte schwarze gewellte Haare, wunderschöne grüne Augen und einen so warmen innigen Blick, dass ich glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Ein begehrenswerter Mann, umwerfend sympathisch, mit einer sanften, liebenswerten Art, die mich sofort in den Bann zog. Ohne darüber nachzudenken, wusste ich, dass er zu mir Energiebündel passte – immer schwatzend, immer in Bewegung und meistens ziemlich ungeduldig. Hier stand mein Traummann, der Mann fürs Leben!
Der Tag, an dem ich ihm begegnete und mich unsterblich verliebte, war ein Samstag und mein vierundzwanzigster Geburtstag. Ich saß am späten Nachmittag in einer Bar in der Innenstadt Zürichs, trank ein Glas Prosecco und wartete auf eine Freundin, die längst da sein sollte. Immer wieder fiel mein Blick Richtung Tür. Da kam plötzlich mein Bruder Pietro herein, mit einem tollen Kerl im Schlepptau. Ihn zu sehen, ihm vorgestellt zu werden, ließ ein erstauntes „Wow“ über meine Lippen fahren. Ich hatte einige Verehrer, doch die waren mir egal. Diesem interessanten Typen dagegen wollte ich gefallen.
„Mach dir keine falschen Hoffnungen“, meinte mein Bruder später grinsend. „Der Silvano ist in festen Händen.“
Klar. Warum sollte so ein Mann ohne Freundin sein? Ich schluckte die Antwort schweren Herzens, versuchte das Thema abzuhaken, auch wenn mich die Erinnerung an ihn die nächsten Tage und Nächte verfolgte.
Während der Tour de Suisse, der größten Radrundfahrt der Schweiz, die jedes Jahr Mitte Juni stattfindet, durfte ich als Hostess im Werbetross mitfahren, Durchsagen machen und Werbematerial verteilen. Zu jener Zeit arbeitete ich als Kassiererin bei der Credit Suisse. Die Bank war Hauptsponsor und beteiligte sich mit zehn, zwölf Autos, die der Mannschaft vorausfuhren oder folgten. Meine Kolleginnen und ich saßen abends mit den Betreuern und der Crew zusammen. So viele neue Leute kennenzulernen, war spannend, und ich kam der Faszination Radsport sehr nah: Körperliche Bewegung an der frischen Luft, Rausch nach Geschwindigkeit und das Trimmen zu immer neuen Höchstleistungen. Bei der Siegerehrung am Ende der neunten Etappe überreichte ich Blumen und verschenkte Küsschen an den Gesamtsieger. 1985 war es der Australier Phil Anderson.
Ich fühlte mich in meinem Element, wurde gebraucht und konnte mich auf charmante Art und Weise nützlich machen. Umso bedrückender empfand ich nach all dem Trubel die Stille in meiner Wohnung, auch wenn sie vis-à-vis des Fußballstadions Letzigrund lag. Niemand war da, der sich auf mich freute. Keine Action. Einfach nichts los.
Ich war mit siebzehn von zu Hause ausgezogen, weil ich mich mit meinem Vater nicht verstand. Nach einem sechsmonatigen Auslandsaufenthalt in London hatte ich es noch einmal für ein paar Wochen versucht, doch die Konflikte mit ihm hielten an, steigerten sich gar ins Unerträgliche. Seitdem lebte ich alleine und sah meine drei Geschwister und unsere Eltern nicht mehr so oft.
Bevor ich mich der traurigen Stimmung, die aufkommen wollte, völlig hingab, rief ich meinen Bruder Pietro an, um ihn zu fragen, ob er mir sein Auto leihen würde, ich wollte zu einer Freundin fahren.
Pietro hatte nichts dagegen. Er würde am Abend sowieso mit Freunden im Niederdörfli um die Häuser ziehen, da brauche er es nicht. Ich sollte um siebzehn Uhr an der Waffenplatzstraße sein.
Mein Bruder war pünktlich. Er übergab mir den Wagen und stieg dann in das Fahrzeug eines Freundes ein, das ihm gefolgt war. Unter Winken und Hupen fuhr die Clique davon, einem feuchtfröhlichen Abend entgegen.
Es war nicht so, dass ich die Person nicht aus den Augenwinkeln registriert hätte, doch jetzt erst, nachdem ich das Steuer übernommen hatte, sah ich, wer es war. Auf dem Beifahrersitz wartete mein Traummann aus der Bar!
Wow, dachte ich, jetzt der schon wieder. Warum ist er jetzt hier?
Silvano, den alle nur Silva nannten, strahlte mich an, fragte, ob ich ihn ins Bermudadreieck fahren könne. Er sei dort mit Freunden zum Apéro verabredet, Herrenabend.
„Klar, selbstverständlich.“ Offen gesagt tat ich nichts lieber als das. Ich hätte ihn überall hingefahren, nicht nur in die Gegend zwischen Hohl- und Langstraße. Die Gegend galt als das verrückteste Quartier der Schweiz. Ein Viertel mit unkonventionellen Leuten, heißen Klubs und zahlreichen Bars und Cafés.
Während der Fahrt war ich ziemlich nervös. Ich plapperte drauflos, erzählte von der Verabredung, die ich gleich hatte, und machte mir dabei gleichzeitig so meine Gedanken: War das jetzt Zufall oder hatte er das Treffen gemeinsam mit meinem Bruder eingefädelt? War er wirklich so fest liiert, wie Pietro behauptet hatte, und …
„Wir sind da. Könntest du hier bitte halten.“
Wie schade, dass die Fahrt nur so kurz war.
Er schien etwas Ähnliches zu denken, denn er zögerte beim Aussteigen. Bei halb geöffneter Tür beugte er sich noch einmal zu mir: „Komm doch noch auf einen Drink mit in die Bar. Ich bin viel zu früh und von den Jungs ist sicher noch keiner da.“
Statt einer Antwort lächelte ich ihn an, suchte eine Parklücke und folgte ihm.
Wir setzten uns an die Theke und er bestellte mir einen trockenen Weißwein. Und während ich in viel zu großen Schlucken trank und dabei von ich weiß nicht was erzählte, hielten mich seine Augen mit einer Wärme fest, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte.
„Können wir uns später treffen, so gegen elf?“, fragte er, als ich kurz auf meine Armbanduhr schaute. Er hatte noch immer diesen Blick.
„Ja, das können wir machen, gerne!“ Dabei überlegte ich: Es waren zwanzig Minuten nach Gockhausen, die gleiche Zeit brauchte ich zurück. Wie lange konnte ich also bei Simone bleiben? Würde sie wohl böse sein, wenn ich früher ging?
„Du kennst doch bestimmt die Americano-Bar im Niederdörfli.“ Silvanos warme Stimme holte mich aus meinen Gedanken zurück. Ich nickte.
„Dann sehen wir uns dort …“
Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, um meine Gefühle damals zu beschreiben. Sagen wir, ich war ziemlich von der Rolle, innerlich völlig aufgekratzt. Und als ich in Gockhausen bei meiner Freundin ankam, platzte ich gleich an der Tür heraus: „Du, ich rauch nur schnell eine. Ich muss bald wieder los. Ich habe einen kennengelernt. Der gefällt mir! Den habe ich schon einmal gesehen. Der ist super!“ Während ich mir eine Zigarette anzündete, erzählte ich von der ersten Begegnung mit Silvano. Simone hörte mir aufmerksam zu, dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Du willst mir doch nicht erklären, dass du dich verliebt hast. Ernsthaft, meine ich.“
Ich nickte mehrmals zustimmend und spürte meinen Herzschlag. „Ich kann es nicht anders sagen, aber … es war Liebe auf den ersten Blick!“
Um Viertel nach elf traf ich in der Americano-Bar ein, heute Wüste-Bar: klein, kultig und irgendwie anders! Silvano entdeckte mich sofort und winkte mir von einem Barhocker aus zu. Einer seiner Freunde saß neben ihm, ich glaube, er hieß Luca. Um diese Zeit war das Lokal ziemlich voll. Silvano bot mir seinen Platz an und stellte sich neben mich. Trotz des Trubels und der jazzigen Musik fühlte ich mich, als wären er und ich die einzigen Gäste. Ich blendete die Bar-Geräusche völlig aus.
Ich mochte es, dass Silvano nicht ständig redete, dass er zuhören konnte. Und während er einfach so dastand, fühlte ich seine Ausstrahlung dermaßen stark, dass es mich innerlich fast schmerzte. Ich zwang mich, dieses Gefühl zu ignorieren, doch es überkam mich immer wieder. Ich betrachtete seine Hände, seinen Hals, seine Ohren, den Haaransatz, so als hätte ich so etwas noch nie gesehen. Dabei schwatzte und schwatzte ich und dachte entzückt: Was für ein toller Mann!
Dieser Mann fragte nun, ob wir noch tanzen gehen wollten, es gebe da einen super Klub ganz in der Nähe. Luca, der mittlerweile hinter mir stand, schaltete sich ein. Ja, der Vorschlag sei echt gut. Er würde mitkommen.
Wir unterhielten uns über die Musikszene, Nachtlokale und Klubs und dabei registrierte ich, dass Luca versuchte, mit mir zu flirten. Natürlich hatte er bemerkt, dass Silvano und ich uns mochten. Doch ein Mann lässt sich durch solche Augenfälligkeiten nicht gerne in seine Schranken verweisen, oder? Und als wir gemeinsam die Bar verließen, fragte er, ob ich bei ihm mitfahren wolle.
„Nein danke, Silva und ich fahren zusammen.“ Das war eine klare Ansage und Luca hielt sich ab da zurück. Später, im Klub, verlor ich ihn aus den Augen. Ich hatte sowieso nur Augen für Silvano. Wenn er mit der Bedienung sprach oder ein paar Worte mit einem Gast wechselte, sah ich ihn von der Seite an, ohne dass er es merkte. Und wenn er lachte und seine herrlich weißen Zähne zeigte, hatte ich ein seltsames Kribbeln im Bauch.
Wir tranken …, keine Ahnung mehr was, und dann tanzten wir auf die Hits von Bananarama, Lionel Richie und Chris Norman. Als Eros Ramazotti gespielt wurde, schmiegte ich mich in Silvanos Arme und sang leise den Refrain mit: „E ci sei adesso tu, a dare un senso ai giorni miei, va tutto bene …“ Und jetzt bist du da, meinen Tagen einen Sinn zu geben, alles geht gut, ab dem Zeitpunkt, seit du bei mir bist …
Ich hatte Lust, glücklich zu sein, und ich war es. Wir tanzten, redeten und tranken, bis alle Lokale geschlossen hatten. Draußen auf der Straße im aufkommenden Dämmerlicht, während wir Richtung Auto liefen und ich fröstelnd meine Strickjacke umlegte, nahm er meine Hand. „Du gefällst mir“, sagte er in einem Ton, der einschmeichelnd klang, aber nichts Gutes verhieß. „Es gibt nur ein Problem.“
Ein Problem, was für ein Problem, dachte ich, was kommt da jetzt wieder?
„Ich habe eine Freundin und lebe mit ihr zusammen!“
Dieses Geständnis war keine Überraschung für mich. Es von ihm zu hören, gab dieser Tatsache nur eine andere Nuance. Vor allem, weil er es mit einem traurigen, um nicht zu sagen, leidenden Gesichtsausdruck sagte.
Ich zuckte die Achseln, so als könne man da nichts machen. Es war mir in dem Moment auch egal. Wenn ich ihn schon nicht haben konnte, wollte ich wenigstens jede Minute mit ihm genießen.
Bei der Fahrt nach Hause dachte ich mit leichter Ironie an die Kummerkästen in den Journalen, bei denen es oft hieß: Ich liebe einen Mann, aber er ist nicht frei. Als ob es wirklich ungebundene Männer gäbe. Wenn sie nicht mit einer Frau zusammenlebten, waren es andere Fesseln, die sie hatten. Nein, ich wollte mich nicht in diese Beziehung drängen. Durch meinen Bruder hatte Silvano eine Ahnung davon, wer ich war. Wenn er es wollte, würde er einen Weg finden, Kontakt zu mir aufzunehmen.
Vor seinem Haus angekommen, hielten mich seine Augen fest. Er nahm meine Hand, zog mich zu sich heran und ich ließ es geschehen. Sein Kuss war vorsichtig, zart, seine Berührungen liebevoll. Als es fast hell geworden war und sich der Morgen zeigte, sagte er leise „Tschüss“ und stieg aus. Er beugte sich noch einmal durch die geöffnete Tür zu mir. „An diesem Wochenende findet in der Brauerei Hürlimann ein Grümpelturnier statt. Vielleicht hast du Lust, vorbeizukommen?“
Ich lächelte, was „Ja“, aber auch „Nein“ heißen konnte, warf ihm eine Kusshand zu und fuhr davon. Er hatte uns also eine Brücke gebaut. Gleichzeitig dachte ich an das Gerede der Mannschaft, in der mein Bruder und Silvano spielten. Ich muss jemanden mitnehmen, nur wen? Doch darüber wollte ich jetzt wirklich nicht nachdenken. Ich war müde und viel zu glücklich, um mich mit dieser Frage zu belasten.
Nachdem ich einige Stunden geschlafen hatte, ging ich in den Migros, um einzukaufen. Und als ich zurückkam, bepackt mit Lebensmitteln, lag ein herrlich bunter Blumenstrauß vor der Tür. Oh nein, ärgerte ich mich. Jetzt ist er da gewesen, während ich unterwegs war!
Hätte es damals schon Mobiltelefone gegeben, hätte ich ihm eine SMS geschickt, um mich zu bedanken. So war die Sache komplizierter, und auf seinem Festnetz anrufen wollte ich nicht, schließlich wohnte er mit seiner Freundin zusammen. Ich musste also unbedingt zum Turnier.
Ich telefonierte mit meiner Mutter, fragte, ob sie mich dorthin begleiten würde. Wir waren eine fußballverrückte Familie, meine beiden Brüder spielten in Vereinen und ich war oft auf dem Fußballplatz. Trotzdem sagte sie: „Ich dachte, dir hätte es mittlerweile mehr der Radsport angetan …“
Jetzt kam es darauf an. Jetzt musste ich das Richtige sagen, eine einleuchtende Erklärung finden, einen Satz, der alles ins rechte Licht rückte. „Klar, der Radsport natürlich auch“, antwortete ich stockend. „Das Fußballspiel … es ist nur so ein Spiel unter Amateuren. Du weißt schon, so eines, wie es jedes Jahr auf dem Trainingsgelände der Brauerei stattfindet.“
Ich spürte selbst, dass das keine wirklich gute Erklärung war, und ergänzte, wenn auch widerstrebend: „Außerdem habe ich jemanden kennengelernt …“
Ich weiß nicht mehr, inwieweit ich Details preisgab, doch auch ohne große Erklärungen wusste meine Mutter wohl, was mit mir los war, und versprach, mitzukommen.
Gleich beim Eintreffen kam uns Silva entgegen. Ich nannte ihn in Gedanken manchmal bei seinem Spitznamen, fühlte mich ihm seit unserem „um die Häuser ziehen“ vertraut. Er rief mir zu, er müsse schnell nach Hause, seiner Freundin etwas bringen, sie sei krank. Er käme gleich wieder.
Ja, eigentlich ist das gut, überlegte ich, dann kommen bei meinem Erscheinen nicht gleich Gerüchte auf. Dabei waren das unnötige Gedanken, denn mein Bruder Pietro spielte in derselben Mannschaft, und so dachte sich sowieso niemand etwas dabei, wenn Familienmitglieder die Jungs anfeuerten.
Nach einer halben Stunde war Silvano zurück. Meine Mutter schaute mich von der Seite an, nachdem er uns offiziell begrüßt und ich beide vorgestellt hatte, und raunte: „Aha, um den geht es also!“
Von dem Fußballspiel selbst ist mir nicht allzu viel in Erinnerung geblieben, bis auf einen Moment. Da stand Silvano, der als Stürmer spielte, im Fußballdress vor mir, sah mich eindringlich an, nahm meine Hand und malte mir mit einem Kugelschreiber ein Herz in die Hand-Innenfläche. Eine diskrete Geste, die ausdrücken sollte, was er nicht zu sagen wagte. Auch er hatte sich unsterblich verliebt.
Unsere heimlichen Treffen danach in meiner Wohnung bestanden aus Zärtlichkeiten, tiefen Blicken und langen Gesprächen. Das war prickelnd und wunderschön. Ich wollte alles über ihn wissen, wollte erfahren, wie er über seine Zukunft dachte, wohin er am liebsten in Urlaub fuhr, wo und was er beruflich machte … Sein Beruf war ein eher heikles Thema, denn er arbeitete ebenfalls für die Credit Suisse, wenn auch in einer anderen Abteilung. Und wenn ich seine Freundin erwähnte, spürte ich sogleich, dass das Gespräch auf vermintes Gebiet zusteuerte. Immerhin erfuhr ich, dass Vreni älter war als er, Kinder nicht besonders mochte und auch nicht plante, eigene zu bekommen.
„Und du, willst du einmal Kinder?“, fragte ich mit leichter Besorgnis in der Stimme.
„Ja, sicher, später irgendwann.“
„Ich auch“, sagte ich erleichtert und behielt für mich, dass ich mir ihn als Vater wirklich gut vorstellen konnte.
Wir redeten und redeten. Neben all den vielen Worten, die zwischen uns hin- und herflogen, gab es immer wieder diese Momente der Vertrautheit. Augenblicke, in denen keiner etwas sagte. Er küsste mich mit weichen Lippen, suchend und fordernd zugleich, und als wir uns liebten, schien die Welt um uns herum zu versinken. Es gab nur noch unsere beiden Körper und das Gefühl einer tiefen Verbundenheit.
Nach etwa zehn Tagen gestand Silvano seiner Freundin, dass es mich gab. Er bat sie, auszuziehen, sobald sie eine eigene Wohnung gefunden habe. Sie könne mitnehmen, was sie wolle. Er versuchte, die Trennung so fair wie möglich durchzuziehen. Doch es ist immer der Verlassene, der leidet, und glaubt, sich an glücklichen Momenten festhalten zu können.
Vreni sperrte sich, wollte nicht so recht, meinte, er müsse sich die Hörner ein wenig abstoßen, die Beziehung käme wieder ins Lot. Das war aber nicht so, auch wenn Silvano es sich nicht leicht machte, diese langjährige Freundschaft aufzugeben. Eine Garantie, dass ich ihn auch noch in zwei oder drei Jahren lieben würde, konnte ich ihm nicht geben. Da war nur mein tiefes Gefühl für ihn und die Gewissheit, keinen anderen zu wollen.
Vreni zog irgendwann aus, hatte aber noch recht lange einen Wohnungsschlüssel. Eines Morgens, ich hatte bei Silvano übernachtet und war gerade im Badezimmer, da hörte ich ein Geräusch an der Wohnungstür. Nachdem mein Freund zur Arbeit gegangen war, hatte ich hinter ihm abgeschlossen und den Schlüssel stecken lassen. Wer konnte das sein? Ich lief auf Zehenspitzen in den Flur, schaute durch den Spion – und sah Vreni. Sie zog gerade ihren Schlüssel heraus, betrachtete ihn prüfend und steckte ihn noch einmal in das Schloss.
Ich reagierte nicht, sondern schlich ins Badezimmer zurück. Mit solch unerwarteten Besuchen musste endlich Schluss sein! Ich hatte Schichtdienst und noch genügend Zeit. Kurzerhand holte ich eine Umzugskiste aus dem Keller, ging damit ins Schlafzimmer und räumte Vrenis Kleider hinein.
Als Silvano abends den fast leeren Schrank sah, stellte er erleichtert fest: „Ah, Vreni hat ihre Sachen geholt.“
„Nein“, sagte ich, „es steht nur alles abholbereit im Keller. Und bitte sag ihr, sie soll den Schlüssel abgeben.“
In diese turbulente Zeit hinein hatten wir unsere Sommerurlaube gebucht, lange bevor wir uns kannten. Silvano flog nach Ibiza, ich nach Mallorca. Seltsam, dass wir fast zur selben Zeit verreisten.
Ich verbrachte die Ferien mit meiner Freundin Patricia in der Finca ihres Chefs. Das Anwesen lag idyllisch inmitten eines Pinienwaldes und das Meer war nicht weit. Gleich bei der Ankunft hatte ich mir eine Telefonzelle ausgeguckt, und von dort aus telefonierte ich mit Silvano, nachdem er wieder zu Hause war. Endlich. Ich erzählte von den Olivenplantagen und Weingütern in der Nähe, den Ausflügen nach Palma, dem Hafen, der Kathedrale und der wunderschönen Küstenstraße. Silvano dagegen schwärmte von der stillen Schönheit Ibizas, ihren blumenübersäten Tälern, den herrlichen Mandel-, Oliven- und Zitronenbäumen, beladen mit saftigen reifen Früchten. Seine Stimme hatte dabei einen warmen, zärtlichen Ton, und zwischen den Zeilen spürte ich, dass er mich vermisste.