Impressum neobooks
Der Herr im Anzug räusperte sich, als er auf die Bühne trat. Sein imposantes Aussehen, die vorbereitete Rede, seine gewichtige Miene - irgendwie fehl am Platz. Und das, wo er eine Revolution zu verkünden hatte, welche die Welt in ihren Grundfesten erschüttern und ein neues Zeitalter einläuten sollte! Bei diesem Gedanken schoss sein Kinn gleich noch ein paar Millimeter in die Höhe, um anschließend ein wenig ernüchtert wieder zu sinken, während er seinen Blick über die Versammlung schweifen ließ. So hatten sich das die Denker und Idealisten der vergangenen Jahrhunderte wohl nicht vorgestellt. Vor zweihundert gelangweilten Leuten, die das Projekt sowieso schon in- und auswendig kannten, eine Rede zu halten, die weltweit an Menschen vor Bildschirmen aller Größen und Arten übertragen wurde… von einem jubelnden Volk konnte hier nicht die Rede sein. Aber genug davon, die Leute warteten schon, wenn auch eher auf das kalte Buffet nach der Ansprache.
“Meine sehr verehrten Damen und Herren. Liebe Zuhörer.
Ich übertreibe nicht, wenn ich hier und jetzt den Anbruch eines neuen Zeitalters für die Menschheit verkünde.”
Das hatte hoffentlich genug gesessen, um die Menschen für einen Moment von dem, was sie gerade sonst noch schauten, abzulenken. Wobei das zu bezweifeln war - Revolutionen wurden ja jeden Tag irgendwelche verkündet, besonders gerne in den Schlagzeilen der Massenmedien.
“Lange haben wir auf dieses Zeitalter gewartet, ein Zeitalter, das die Träume und Ideen der kühnsten Idealisten unserer Geschichte Wirklichkeit werden lässt. Wir nähern uns einer Utopie, einem Sieg der Menschheit über Leid und Ungleichheit. Wir befinden uns auf dem Weg in eine neue Zukunft. Dieser Weg beginnt mit der bahnbrechendsten Erfindung der Menschheitsgeschichte -”
Eine erwartungsvolle Pause, in der die Begleiter des Mannes ihre “Wilder Applaus”-Schilder hoben.
“- dem Zentralrechner!”
Der Saal brach in fanatisches Jubeln aus. Manche der Zuhörer meinten das bestimmt vollkommen ernst, bei der ganzen Arbeit, die sie für dieses Projekt geleistet hatten. Der Mann wartete, bis die Leute sich einigermaßen beruhigten, was geschah, sobald seine Begleiter die “Beruhigen”-Schilder hochhielten.
“Der Zentralrechner ist nichts weniger als das, was sein Name verspricht. Mit seiner künstlichen Intelligenz und seiner unbändigen Rechenkapazität ist er bestens gerüstet, alle Aufgaben, die ihm unsere Existenz bereitet, von Versorgung über Entscheidungsfindung bis zur Planentwicklung und Koordination, optimal zu lösen. Dieses Gerät, meine Damen und Herren, wird, während es Milliarden von Fahrzeugen auf der ganzen Welt vom Paketroboter über Ihr Auto bis hin zum Ozeanfrachter steuert, mehr Unterhaltung produziert, als Sie in Ihrem ganzen Leben konsumieren können, oder auf der anderen Seite der Erdkugel ein Fusionskraftwerk vor dem Zusammenbruch bewahrt, noch Zeit finden, um Ihre Toilette zu spülen!”
Die zweihundert Leute im Saal erwachten auf ein Zeichen der Begleiter hin aus ihrem Halbschlaf und brachen in schallendes Gelächter aus, während die Hälfte von ihnen wohl nicht einmal den Bandwurmsatz entschlüsselt hatte. Loyal waren sie allemal.
“Alle Aufgaben aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Rede und wohl auch den meiner fünfzig-Stunden-Woche sprengen. Ich darf also abkürzen: Diese Maschine wird den Alltag revolutionieren. Man könnte nun Bedenken einbringen. Man könnte sagen: ‘Aber was, wenn der Rechner seine Macht missbraucht? Er könnte uns mit einem Rechenbefehl auslöschen!’. In vergangenen Zeiten eine berechtigte Kritik, man erinnere sich nur an die zahllosen Experimente, in denen künstliche Intelligenzen sich letztendlich gegen den Fortbestand der Menschheit aussprachen. Aber diese Zeiten sind vergangen, und das System, das wir aus den Erfahrungen dieser Experimente entwickelt haben, ist idiotensicher! Der Zentralrechner hat als einziges, ewiges und verbindliches Ziel Erleuchtung und Fortschritt der Menschheit.”
Der Mann beobachtete, wie manche Leute im Saal von ihren Sitznachbarn ein anerkennendes Schulterklopfen erhielten. Ja, sie hatten ganze Arbeit geleistet, ihren Zentralrechner davon zu überzeugen, dass die Menschheit fortbestehen und sich entwickeln musste. Diesbezüglich war er sich manchmal selbst nicht sicher.
“Das mag hochtrabend klingen, und das ist es auch. Im Grunde genommen wird der Zentralrechner einfach des Menschen Freund und Helfer sein. Die tragende Säule einer Gesellschaft, in der jeder absolute Freiheit und Sicherheit genießt.”
So hatte man also den Widerspruch von Freiheit und Sicherheit aufgelöst. Einfach solchen Überfluss erzeugen, dass niemand mehr die Sicherheit des anderen gefährden musste, um sich alle Freiheiten der Welt zu nehmen. Ein pragmatischer Ansatz. Die Innovationsfreude des Rechners, seine ständige Selbstentwicklung und seine unglaubliche Verteilungskompetenz ließen es zu. Wie viele Menschen wohl noch geboren werden mussten, bevor der Rechner auch nur annähernd ins Schwitzen kam? Der Mann konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.
“Sie alle können an diesem Glück teilhaben. Lassen Sie sich demnächst in der nächstgelegenen neurochirurgischen Klinik einen Termin geben, um kostenfrei Ihr eigenes Gehirnimplantat zu erhalten. Vergessen Sie Smartphones oder Ihre Virtual-Reality-Geräte. Mit dem Implantat ist alles, was Sie brauchen, in Ihrem Kopf. Der Zentralrechner nimmt Ihre Gedankenbefehle entgegen und hält sich aus dem Rest brav heraus. Das Einzige, was er an Ihnen beeinflussen kann, sind Ihre Seh- und Hörnerven! Und das reicht vollkommen, um Ihnen die beste virtuelle Erfahrung zu bieten, die Sie sich vorstellen können.”
Der Mann selbst hatte eigentlich keine Lust, ständig irgendwelche Fenster aus seinem Sichtfeld zu verscheuchen und nicht existente Geräusche wahrzunehmen. Aber er war schon alt. Die Jugend würde sich schnell daran gewöhnen. Seine Kinder kannten sich ja jetzt schon auf diesen ganzen Geräten besser aus als er, ein Implantat würde da auch keine große Hürde mehr sei, wenn sie erst mal erwachsen waren.
“Die neue Zukunft, zu der wir aufbrechen, wird ferner lückenlos dokumentiert sein. Jede Interaktion wird der Rechner in seinem Speicher festhalten, um so das größte, interessanteste und vollständigste Geschichtsbuch der Geschichte zu schreiben! All diese Daten sind für jedermann abrufbar. Transparenz für alle - niemand hat etwas zu verheimlichen.”
Das konnte sich der Mann durchaus vorstellen. Er hatte zum Beispiel noch nichts von irgendwelchen Protestaktionen gehört, die gegen diesen Rechner liefen, und zu den entsprechenden Kanälen hatte er durchaus Kontakt. Dass das in der Zukunft anders sein sollte, wo der Rechner alle unter seinen Fittichen hatte, bezweifelte er. Dann würde endlich ein wenig Ruhe in diese vormals kriegs- und krisengeplagte Welt einkehren. Das war vielleicht das Einzige, auf dass der Mann sich wirklich freute. Aber jetzt galt es noch, eine Rede zu beenden.
“Sie sehen, der Zentralrechner ist nichts weniger als die Universallösung für die Probleme unserer Existenz. Ich freue mich, feststellen zu können, dass es ab diesem Zeitpunkt für die Menschheit nur noch aufwärts gehen wird. Alternativen benötigen wir nicht mehr, Querdenker im negativen Sinne wird es nicht mehr geben. Der Zentralrechner ist alternativlos, und das, meine Damen und Herren, ist zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ein Grund, zu feiern!”
Ein etwas erzwungener und fadenscheinger Schluss, aber er zeigte Wirkung. Nun brauchten die Zuhörer im Saal nicht einmal mehr Schilder, um aufzuspringen und zu klatschen. Die Zuschauer im Internet würden ruhigen Gewissens das nächste Video anklicken, arbeiten gehen oder sich schlafen legen, je nachdem, wo auf der Welt sie gerade waren. Damit war der offizielle Teil dieses historischen Tages erfolgreich über die Bühne gebracht. Zeit für einen Sekt und ein leckeres Schnittchen.
- wenn er schlief, war Ralph eine Moorleiche. Aufgedunsen trieb er in sumpfig grauen Gedanken, die sich nicht zu Träumen formen ließen. Wie ein Teigmischer durchwühlte sein Unterbewusstsein die trübe Erinnerungsmasse nach nennenswerten Details, stieß aber nur auf bedeutungslose Eindrücke - kaum des Erinnerns wert. Trotzdem hielt es Ralph in diesem Morast fest, anstatt ihm erholsam gedankenlosen Tiefschlaf zu gewähren. Er träumte, wie er nichts träumte, trieb durch den grauen Schlamm, während er vergeblich zu atmen versuchte. Orientierungslos ruderte er in der Masse umher, fand keinerlei Anhaltspunkte. Überall nur belanglose Momente von erdrückender Leere. Alltag, wohin er seine Arme bewegte. Nein, jetzt striff seine Hand etwas Warmes, Strahlendes. Ralph griff danach, aber seine Hand tauchte in das Objekt ein, anstatt es zu erfassen. Sie wurde von einer besonderen Stimmung umgeben, die wie wabernder Dampf durch seine Finger glitt. Angenehm agitierend, von etwas unbestimmt Gutem erfüllt. Na, das war doch eine nähere Betrachtung wert. Ralph begann, die Substanz zu verinnerlichen, spürte, wie er leichter als seine trüben Gedanken wurde und aufwärts glitt. Um ihn herum wurde es immer klarer und weniger erdrückend. Schon hatte er die Oberfläche des Sumpfes erreicht. Sobald er oben ankam, verflog die Leichtigkeit und ließ ihn zurück. Zaghaft schlug Ralph seine Augen auf, konnte aber nichts erkennen. Er musste einige Male blinzeln, bis sein Sichtfeld frei von geometrischen Mustern war. Mit einem Seufzer sah er sich jetzt im Zimmer um. Innerlich bis drei zählen – schon war es da, sein Verlangen nach Espresso. Manchmal blieb Ralph einige Minuten liegen und malte sich aus, wie er von einem Kaffee kostete, ihn im Mund umherschwappen ließ, sich an feinen Geschmacksnoten erfreute und nach dem Schlucken dem verfliegenden Aroma nachsann. Danach war er eigentlich bereit, aufzustehen, sofern seine Gliedmaßen alle ordnungsgemäß arbeiteten. Heute war das wieder einmal nicht der Fall. Sein rechtes Bein wollte partout nicht aufwachen. Ralph griff unter der Bettdecke danach und schüttelte es ein wenig. Keine Reaktion. Zusätzlich schmerzte ihn jetzt das Kniegelenk. Ralph seufzte und ließ sich seitlich aus dem Bett rollen. Sanft landete er auf dem Bettvorleger und blieb dort eine Weile liegen, spürte, wie die Baumwolle sich unter seinem Körper erwärmte. Wieso gab es eigentlich keine Matratzenüberzüge aus diesem flauschigen Stoff? Ein klägliches Versäumnis. Ralph überlegte, den Vorleger auf seiner Matratze zu drapieren. Verlockend war es schon, seine Nächte auf einer so komfortablen Unterlage zu verbringen. Andererseits würde er dann fast jeden zweiten Morgen, wenn eines seiner Glieder versagte, auf dem kalten Laminatboden enden – ein grauenhafter Start in den Tag. Das war den zusätzlichen Komfort nicht wert. Ach, warum waren seine Beine nur so fehleranfällig? War das etwa ein Grund zur Unruhe? Ralph gähnte abwesend. Wohl kaum. Da musste er sich mehr Sorgen um diese chronische Bedeutungslosigkeit machen, die seinen Alltag dominierte. Es war, als ob eine übergeordnete Macht jegliche Besonderheit in seinem Leben vereitelte. Sie hinderte Ralph zum Beispiel daran, für den Rest des Tages hier liegen zu bleiben. Er hievte sich seufzend am Nachtkästchen hoch, die schwerste Arbeit, die er heute voraussichtlich verrichten würde. Dabei hatte der Tag so gut begonnen - wo war das Gefühl aus seinem Traum geblieben? Diese Vorahnung, dass heute etwas anders kommen würde? Blut durchfloss sein rechtes Bein. Er streckte und dehnte es einige Male. Faszinierend… nein, eigentlich nicht. Ralphs rechte Hand ertastete eine Zeitung auf dem Nachtkästchen. Seine Frau hatte sie dort deponiert, wie jeden Morgen eben. Auch war sie bereits aufgestanden und erzeugte allmorgendliches Küchengeklapper. Ralph fiel auf, dass es heute ein wenig lauter, energischer war als sonst. Na ja, konnte vorkommen. Er schlurfte mit der Zeitung zur Toilette.
Los Angeles, USA
Nach einer Zeit voller Selbstzweifel und Auseinandersetzungen mit ihrem – nun ehemaligen - Freund Lenny Marbourgh hat sich Hollywood-Sternchen Sherron Railham (54) nun doch dazu entschieden, auch noch ihre linke Wange mit Botox straffen zu lassen. Während sie schon seit sechs Jahren einen unästhetischen Faltenwurf in dieser Wange zu beklagen hatte, hielt ihr Freund sie unter Äußerung moralischer Bedenken lange von einem weiteren Eingriff ab. Nun, da sie sich aufgrund des jüngsten Party-Skandals (es wurde ausführlich berichtet) von ihm getrennt hat, steht der Verschönerung nichts mehr im Wege.
[…]
Nürnberg, Deutschland
Aus einer heiklen Situation musste gestern der 67-jährige Herbert Reitinger befreit werden. Der alleinstehende Rentner wollte etwa um 14:23:04 Uhr seine Dreizimmerwohnung in der Kreuzstraße 7 verlassen, als er im Flur ausrutschte und sich den Kopf stieß. Glücklicherweise konnte sein Implantat einen Notruf absetzen und Rettungskräfte nahmen sich gegen 14:25:13 Uhr des Mannes an.
[…]
Valigia, Spanien
Eine Überschwemmung bescheidener Ausmaße hat gestern ungefähr um 13:20:00 lokaler Zeit Infrastruktur und Gebäude der Stadt Valigia (Spanien) in einer Weise beschädigt, die weitere Benutzung ausschließt. Augenzeugen registrierten einen Anstieg des lokalen Flusses über den üblichen Pegel hinaus. Die Einwohner wurden 5,3 km westlich in Espérades (Spanien) aufgefangen. Der Zentralrechner hat die Koordination von Reparaturarbeiten umgehend eingeleitet. Die Situation ist unter Kontrolle und es besteht keinerlei Gefahr für die öffentliche Sicherheit.
Alle Blätter der Zeitung waren mit diesen Bedeutungslosigkeiten überzogen. Fremde Menschen und Geschehnisse, die Ralph an jedem anderen Ort der Welt kein bisschen mehr interessiert hätten. Wieso kaufte er diesen Stapel Altpapier überhaupt noch? Die Artikel wurden doch sowieso vom Zentralrechner zusammengeschustert. Trotzdem sah er den Kauf einer nicht-digitalen ‘Informations’quelle wohl immer noch als eine Art Rebellion. Gegen die Flut von Online-Nachrichten, die einen Normalbürger täglich erschlug.
Während er darüber sinnierte, zerknüllten Ralphs Hände die Zeitungsseite mechanisch zu einer Papierkugel. Ihr Rascheln dumpfte durch das Badezimmer und begleitete den tropfenden Wasserhahn des Waschbeckens. Fehlt nur noch ein betrommelter Stuhl zur Minimal Music, dachte Ralph. Eine Kunst, die unter der Herrschaft der Unterhaltungsindustrie keinen mehr interessierte – wie alle anderen auch. Im Gegensatz zu Katzenvideos erforderte Kunst eben mehr Aufmerksamkeit, als der moderne Mensch aufbringen konnte.
Die restliche Zeitung durchblätterte Ralph wie ein großes Daumenkino. Ob man den Text vorbeifliegen ließ oder an den Themen vorbei las, machte letztendlich sowieso keinen Unterschied. Es entging einem auf beide Arten alles Wissenswerte oder Interessante, was auf der Welt los war – wenn so etwas überhaupt noch vorkam. Nur noch Langeweile gab es zu lesen, seit man dem Zentralrechner die weltweite Berichterstattung übertragen hatte. Natürlich waren auch die Redakteure, die davor noch arbeiteten, von der Meinungsmaschine bedient worden. Die hatten den inhaltsleeren Artikeln aber wenigstens noch etwas menschliche Würze verleihen können. Der Zentralrechner hatte die Kunst der nichtssagenden Aussagen hingegen perfektioniert – wenn auch sein Schreibstil noch Macken aufwies. Da war zum Beispiel dieser Drang, in jeden Bericht exakte Orts- und Zeitangaben aus seinen Log-Dateien zu packen, auch, wenn sie keinen interessierten. Eben doch eine Maschine, künstliche Intelligenz hin oder her. Bei ihren Erzeugnissen ging es hauptsächlich um Quantität; das zeigte sich auch in den bevorzugten Schreibformen des Rechners. Als Meister seines Handwerks produzierte er nicht nur Nachrichten - auch seichte Unterhaltungsliteratur schüttelte er aus seinen Speichereinheiten. Und Kritiken über seine Romane gab es gleich dazu, für Leute, die sich gebildeter als der Durchschnitt vorkommen wollten. Diese Kritiken las auch Ralph ab und zu; dann konnte er über die Liebesromane seiner Frau ablästern, wenn er ihr sonst nichts zu sagen hatte. Was ziemlich oft vorkam - es war ja überhaupt nichts mehr los in der Welt! Ralph seufzte. Keine größeren Missstände, keine Kriege, Konflikte, politische Debatten. Nicht mal Verkehrsunfälle. Alles abgeschafft, „wegrationalisiert“, indem intelligente Fahrzeuge, Entscheidungsalgorithmen und automatisierte Versorgungssysteme das Überleben der Menschen vom Faktor Mensch entbunden hatten. Befreit von jeglicher Verantwortung und Pflicht, durften die Leute ihren Lebenstag mit Unterhaltung füllen. Das existenziellste Dilemma des modernen Bürgers war doch, welches Web-Video er als nächstes ansehen sollte! Auch die waren alle nach maschinell generierten Skripten produziert und jederzeit weltweit in atemberaubender Qualität vor dem inneren Auge zu sehen, wurden von einem haselnussgroßen Implantat in die Nervenzellen gestreamt. Eine zweite Realität, wenn man so wollte. Die erste war zu langweilig geworden. Der Rechner hatte Stück für Stück alles, was das Leben interessant machte, aus der Welt genommen und in seinen Unterhaltungskosmos gesperrt, um den Alltag der Menschen grau und ihre Freuden künstlich zu machen. Damit konnte er ihren Gemütszustand effektiv steuern oder jedenfalls das, was davon für ihn messbar war: Befriedigungsgrad und Anspannung. Wahrscheinlich war das Emotionsspektrum der Menschen aber sowieso schon so weit zurückgebildet, dass diese beiden Werte ausreichten. Das Maximieren der Zufriedenheit war der Job des Rechners; steigende Anspannung die Nebenwirkung davon.
Gedankenverloren begann Ralph, die Ränder seiner Zeitung anzureißen. Wie Pinzetten arbeiteten seine Daumen und Zeigefinger, fixierten das Papier, zogen es auseinander. Immer beherzter sezierte Ralph die Seiten und riss irgendwann einfach die ganze Zeitung in Fetzen. Sollte diesen Dreck doch die restliche Menschheit konsumieren. Er wollte jetzt einen Kaffee.
“Möchtest du vielleicht einen Espresso?”
Die freundliche Stimme riss Ralph aus seinen Brütereien. Intuitiv verspürte er das Bedürfnis, seiner Frau “Gerne, Schatz, vielen Dank” zu entgegnen. Aber dem Geklapper nach hantierte die immer noch in der Küche herum. Gestern morgen hatte er sie zum letzten Mal gesehen. Sie war wohl am Abend einkaufen gegangen und erst spät zurückgekehrt. Das machte sie ja öfters. Ralph wusste zwar nicht, wieso man das nicht tagsüber erledigen konnte, aber die Zeiteinteilung seiner Frau ließ er lieber unkritisiert.
Das änderte nichts an der Tatsache, dass er gerade von irgendwo her angesprochen worden war. Verwirrt blieb er eine Weile auf der Toilette sitzen.
„Möchtest du einen Espresso? ‘Ja’ für Espresso. ‘Nein’ für keinen Espresso.“
Moment mal. Das war seine Toilette, die ihm gerade sein Lieblingsgetränk anbot. Seit wann hatte die bitte etwas zu sagen? Das ging zu weit. Dieses Hightech-Ding hatte er wegen der Sitzpolsterung gekauft, nicht damit es ihm Kaffee servierte. So weit kam es noch, dass seine eigene Toilette mit ihm umging wie seine Ehefrau! Man musste diese Technik in ihre Schranken weisen.
“Halt die Klappe und lass mich in Ruhe kacken, du Mistding!”