Helga Schütz wurde 1937 in Falkenhain/Schlesien geboren. 1944 übersiedelte sie nach Dresden. Sie erlernte den Beruf der Gärtnerin, anschließend studierte sie an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg und schloß als Diplom-Dramaturgin ab. Sie schrieb Drehbücher und Szenarien für Spiel- und Dokumentarfilme. Seit 1962 ist sie freie Autorin, 1993 erhielt sie eine Professur für Drehbuchschreiben an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Unter anderem gewann sie den Stadtschreiber-Literaturpreis des ZDF und der Stadt Mainz und den Brandenburgischen Literaturpreis. Helga Schütz lebt in Potsdam.
»Es weiß sowieso niemand, was Liebe ist«
Eine leichte Melancholie liegt über dieser Geschichte, die von einem Abschiednehmen in den Zeiten der Teilung erzählt, den Wendungen des Schicksals und von der einzigen großen Liebe, für die es nie zu spät ist.
»Diese magische Erinnerin erzählt Weltgeschichte, wie sie der Einzelne erfährt.« Christoph Dieckmann, Die Zeit
Thomas Falkenhain ist in dem Alter, in dem man aufräumt und sich erinnert, selbst wenn man sich nicht erinnern will. Zum Beispiel an eine heimliche Studentenliebe in den 60ern, die abrupt endete, als Mela, seine »Kirschendiebin«, mit Mann und Sohn in den Westen fliehen musste. Erst aus den Stasi-Akten weiß er, dass sie ihm später Briefe geschrieben hat.
Unerwartet erhält er ein Stipendium für eine römische Künstlervilla. Kaum dort eingetroffen, ertappt er eine Frau im Park, die eine Orange pflückt und sogleich isst: Mela. Als wären nicht Jahrzehnte vergangen, beginnt die Liebe von neuem. Es ist schön, schwach zu sein und bejahrt. Nur Mela müsste ihm endlich auch von Angst und Ohnmacht erzählen.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Die Kirschendiebin
Eine Erzählung
Inhaltsübersicht
Über Helga Schütz
Informationen zum Buch
Newsletter
Kapitel 1: Wie Zwiesel
Kapitel 2: Ich, Melina
Kapitel 3: Die neuen Seniorengäste
Impressum
»Wir fahren geradeaus, immer weiter geradeaus,
zurück nach La Dorada.«
Gabriel García Márquez
Thomas Falkenhain saß hinter dem Fenster. Er wartete.
Draußen wirtschaftete immer noch der Rasensprenger. Regen, der die Krone der Kiefer streifte und manchmal das Fensterblech traf.
Sonst drehte Leni den Wasserhahn zu, bevor sie ging.
Dann sah Thomas, wie der Regenfächer noch einmal winkte, schließlich niederkniete und im Gras liegenblieb. Das letzte Fächern war wie ein aufmunterndes Augenzwinkern von ihr. Echt Leni. Er wartete auf die Stille, die nach ihrem Abschied eigentlich kommen musste. Die erprobte Einsamkeit am Schreibacker mit ein paar unordentlichen Papieren und verzettelten Sachen. Melancholie und so weiter.
Leni war fort.
Wassersträhnen klopften gegen das Fenster.
Es ratterte im Keller, das war der alte Pumpenmotor. Ein fürchterliches Geräusch. Wenn er Ruhe haben wollte, musste Thomas durch die Küche in den Keller hinuntergehen, er musste im Wasserkeller mit dem schwarzen Bakelitschalter den Saft abdrehen. Es war ein alter Pumpenmotor, achtzig Jahre, so alt wie das Haus, beinahe so alt wie er selber, eine Vorkriegsinstallation. Eigentlich hörte er das Rattern nur in der Küche, am Schreibacker hörte er nichts, nur wenn er das Hörgerät im Ohr stecken hatte.
Doch auch jetzt, ohne das Hörgerät, der Fächer schwenkte, richtete sich auf, spreizte die Strahlen, warf einen Wasserschleier, regnete auf die Wiese und in die welken Azaleen hinein, es war ein lästiges Poltern in der Welt, er musste dem Lärm ein Ende setzen.
Er ging durch die Küche die Treppe hinunter. Jetzt war er mitten im Chaos. Die Welle ratterte im Eisengehäuse. Auf dem Zementboden stand eine Wasserlache. Der Schalter hing lose am Kabel, Dübel hatten sich aus der Wand gelöst. Durch das jahrelange Geratter war Putz heruntergefallen. Das Pumpwerk arbeitete ungehörig. Nicht mehr so gemächlich wie früher, eine Wasserlache hatte zwar immer im Keller gestanden, jedoch nicht beachtet. Ignoriert, der anhaltende Zerfall.
Immer ein kleines Erdbeben im Keller.
Solange wir hier hausen, hatte Leni ihn beruhigt.
Leni hatte gut reden, sie wohnte nicht mehr bei ihm, aber sie lebte mit ihm, sie kam zu Besuch. Leni, Leonore. Sein Mittagsstern, sie brachte Essen und Streit, also Leben, unser Leben in die morsche Bude. Die trockenen Sträucher, der dürre Rasen konnten sich freuen.
Leni kam immer zur rechten Stunde. Es gab Worte und Widerworte, zum Tee sogar absichtlich Krach, Selbstbeschimpfungen und Trost.
Darauf machte sich Leni wieder auf den Weg, nicht ohne vorher im Keller die Pumpe auf null zu drehen. Der Wasserfächer vor dem Fenster senkte sich zuletzt. Machs gut.
Auf einer Schiefertafel zusätzlich ihre Bitten:
Alter Priester, nach Sonnenuntergang nicht mehr barfuß laufen und niemals im kalten Flur. Und: Nicht vergessen, die Zeitschrift kündigen, damit nicht erst wieder ein Abo daraus wird.
Thomas Falkenhain entfaltete ein gebügeltes Taschentuch. Damit putzte er die Augen, wischte Tränen, kränkliche, die nichts zu sagen hatten.
Leni war fort. Er lächelte erleichtert, denn sie würde nun auch an ihn denken.
Ein Fachmann, ein sogenannter Pumpen-Rudolf, hatte ihm geraten, die alte Pumpe gegen eine neue aus dem Baumarkt auszutauschen, und er wäre beinahe darauf reingefallen. Zum Glück war er auf dem Weg zum Haus des Rundfunks in der Masurenallee an einem Fachgeschäft vorbeigekommen, einem Spezialbetrieb. Im Schaufenster lauter fabrikneue Pumpen. Im Geschäft konnte er eine Sammlung historischer Stücke betrachten, Modellbilder zur Hebetechnik, Einzelteile, eine sah aus wie seine betagte Pumpe im Keller.
Von einem Verkäufer endlich wahrgenommen, konnte er sein Anliegen nur als Ärgernis für seine Ohren beschreiben. Er habe einen Radaubruder im Keller. Marke, Baujahr? Thomas Falkenhain versuchte, den Tumult genauer zu beschreiben. Rasselnd. Schleifend. Kreischend? Als würde der Nachbar ein neues Gerät ausprobieren. Wahrscheinlich eine der ersten Pumpen überhaupt, wahrscheinlich gar eine Ohrenstein? Falkenhain wusste es nicht. Er hatte allerdings im Pumpenfachgeschäft gelernt, dass er sich auf gar keinen Fall von seiner alten Pumpe trennen durfte.
Guter Mann, lassen Sie die Finger vom Baumarktschrott, so der Rat der Fachkraft in der Masurenallee.
Thomas Falkenhain hatte daraufhin mit seinem Handy Fotos von der alten schutzwürdigen Pumpe in seinem Keller gemacht.
Er bewies sich gern, wie nützlich so ein Smartphone war, man hatte als zerstreuter, vergesslicher Typ wichtige Daten bei der Hand, man war nicht mehr aufgeschmissen in den Werkstätten und Geschäften. Er hatte auch Öffnungszeiten und Busfahrpläne fotografiert. Alles auf dem Display, jederzeit lesbar.
Er war aufgeschlossen für neue Funktionen. Eine App, damit konnte er das Handy als Taschenlampe benutzen. Er konnte Radiosendungen nachhören. Lauter Beweise, wie nützlich so ein Gerät war. Obwohl es keiner Nützlichkeitsbeweise bedurfte. Er und Leni hatten sich das Handy aus triftigen Gründen angeschafft. Zuerst die Schiefertafel für den Küchentisch und dann noch das Handy.
Das Gerät war Bedingung, eigentlich Voraussetzung. Man kann sagen, es war ein Unterpfand. Leni hatte die Gemeinsamkeit unter einem Dach aufgegeben, um mit ihm per Smartphone in ständiger, ja inständiger Verbindung zu bleiben. Räumlich fern, mündlich nah und stets, wo auch immer, vernehmbar. Leni erklärte, so noch viel besser als je zuvor mit ihm zusammenleben zu können. Fürsorglich, liebevoll, intim.
Sie hatten zwei Handys gekauft, zwei Verträge gemacht. Einmal für Herrn Thomas Falkenhain und einmal für Leonore Rose. Beide Geräte programmiert, mit E-Mail und WhatsApp, Kalender, Wetterbericht und so weiter.
Eine silikonene Hochzeit.
Mit dem Apparat konnte ein neuer Lebensabschnitt beginnen.
Sie hatten viele Jahrzehnte ohne offizielles Jawort in dem Alt Glienicker Massivsommerhaus mit der lebhaften Pumpe zwischen hilfsbereiten, man kann sagen in jeder Weise, also manchmal auch unanständig aufmerksamen Nachbarn gelebt. Anfangs rund ums Jahr, später, in der Nachwendezeit, hatten sie einige Frühlings- und Herbstmonate in einer von Lenis Onkel geerbten Berghütte bei Ravon verbracht, von dort aus konnte man in eine Felsenkirche gehen oder an Rainer Maria Rilkes Grab. Die allerschönsten Wochen schenkte ihnen aber bald nach ihrer Bekanntschaft in kargsten Unterkünften die Insel Hiddensee.
Das Haus in den Schweizer Bergen hatten sie verkauft. Leni konnte auf die Felsenkirche verzichten. Rilkes Grab war früher einmal ein Traumziel gewesen. Eigentlich hatten sie geplant, von dem Berghüttengeld eine Sicherheit für das Alter anzuschaffen, eine praktische Eigentumswohnung in Deutschland, was sonst, wo sonst. Für eventuelle Mieteinnahmen. Leni hatte die Sache in die Hand genommen, verkaufen und kaufen. Sie musste nicht lange suchen. Und dann hatte Leni gemeint, in dieser praktischen Eigentumswohnung sollte niemand anderer drin wohnen als sie. Als Leni allein. Fußläufig entfernt, um fünf Ecken, nur in zwei bis drei Kilometer Abstand vom alten Haus mit Garten, Keller und alter Wasserpumpe und dem alten liebwerten Thomas Falkenhain.
Alles einvernehmlich. Klaglos. Aber doch eigentlich schmerzlich. Es ratterte im Keller.
Der Regen vor dem Fenster, seit den Tagen des separaten Lebens ein Zeichen, dass Leni im Haus war. Sie kam in diesen heißen Tagen durch die äußere Kellertür. Er sah sie nicht, er beobachtete den Wasserfächer vom Schreibacker aus, an dem er hockte, wo er grub, wühlte, las, schrieb. Versunken in den dunklen Humus seiner Gedanken.
Der muntere Sprenger, das Rattern im Keller, kein Beweis mehr. Es regnete, aber der vertraute Kumpan war gegangen. Leni kam und verschwand.
Thomas ackerte an einem beinahe fertigen Prosatext, der erste Ausdruck lag vor ihm, zweiunddreißig Seiten, Zeilenabstand 1,5. Er würde den Schluss noch verändern, wahrscheinlich ohne das Ende enden. Würde den Anfang des Abenteuers hintenhin schieben. Die Germanisten, Rezensenten, Lektoren der Zeitschriftenverlage, die ihn achteten, nannten seine Texte Novellen, er nicht, er verzichtete auf Gattungsnamen. Wo wäre denn in seinen Texten das Dingsymbol, der zentrale Konflikt, der den Hergang zur Novelle machte, dieser sogenannte Falke. Vielleicht könnte im extrem Zeitgenössischen ein Handy die Funktion des Falken übernehmen. Oder ein Rasensprenger! Darüber wollte er nachdenken, später, wenn das andere gerichtet wäre.
Thomas Falkenhain setzte sich an den Küchentisch. Oft fand er noch Spuren. Wachteleier, die hatte Leni gekocht. Die am schönsten gesprenkelten waren übriggeblieben, einvernehmlich, zum Ansehen, weil auf den Schalen lauter Rätselzeichen waren. Sie hatten gegen Mittag gefrühstückt. Wachteleier und Brot von ihrem Bäcker.
Seine gefalteten Hände zitterten, das machte das Nachdenken und vom Nacken her ein überspannter Nerv.
Thomas hatte Leni vom letzten Stand seiner Rundfunkcollage erzählt, seinem Ackerwerk, das, laut Regisseur, ein systemischer Entwurf der Welt war. Zunächst, so hatte Thomas ihr erklärt, wollte der Rundfunkregisseur mit einer akustischen Spurensuche beginnen, die Teile, Texte, Geräusche, Musik, würden sich schließlich verflechten, verdichten. Bis sich das Einzelne zum polyphonen Porträt fügen würde. Alles schrecklich, aber wahrscheinlich die Wahrheit. Die Wahrheit darf nicht gut sein.
Leni hatte ihm zugestimmt und auch von einer nächstliegenden Sache berichtet, von einer Erdgastankstelle, wo man zur Druckerzeugung das Gefälle zwischen dem minus 160 Grad kalten Flüssiggas und der Umgebungstemperatur ausnutzen würde, eine Neuerung, die sie nicht brauchten, weil sie kein Auto hatten.
Ich komme erst am Sonntag wieder, hatte Leni gesagt.
Und er: Aber melde dich zwischendurch, per Mail, am besten per Mail.
So war er jedes Mal schnell wieder allein. Am Schreibacker, am Küchentisch, im Keller und draußen vor der Haustür.
Die Kiefern an der Gartengrenze knisterten. Die Sonne stand hoch in den Kronen. Hoch in den kupfernen Spiegelmänteln. Es war ein richtiges Wort, eine wiederkehrende Erinnerung. Spiegelmäntel.
Vielleicht war es tröstlich, zu wissen, dass Leni, bevor sie verschwand, am Fenster immer noch einmal winkte, meist hob sie beide Hände, sie schüttelte spöttisch den Kopf. Das Zeichen. Ich vergesse dich nicht. Ich habe die Pumpe nicht vergessen. Er lächelte gerührt. Er neigte den Kopf zur Seite. Er spitzte die Lippen, als wollte er ein Baby küssen. Die beiden Wasserfächer fielen langsam in sich zusammen. Er hatte die Stille gehört. Er war zufrieden. Kupferne Spiegelmäntel.
Leni ging zu Fuß. Sie war erleichtert, dass sie Thomas wieder so heiter, so zuverlässig vorgefunden hatte. Er kam zurecht ohne sie, ohne ihren alltäglichen Beistand. Ihre kleinen Verrichtungen waren weniger Notwendigkeiten als vielmehr Liebeszeichen. Kaffee kochen, die Fliederbüsche bändigen, zurückschneiden. Obst mitbringen. Leni war eine erfreuliche Zutat, gebraucht wurde sie eigentlich nicht. Aber eigentlich war es schön, gebraucht zu werden. In gewisser Weise. Und in Maßen.
Sie erschrak. Hatte sie das Gartenwasser im Keller wirklich abgestellt? Es wäre kein Beinbruch, sie hätte ein Gerät, um ihrem Ferngesellen einen Wink zu geben. Aber hatte sie das Handy geladen?
Handy aufladen, nicht vergessen.
Sie lief durch ein Wäldchen, dann unter Kastanien- und Lindenbäumen an Gärten entlang, zwei Straßenbahnhaltestellen, an der Sparkasse, am Kino vorbei, Richtung große Kreuzung. Sie war in ihren zierlichen Schuhen ziemlich flott gegangen. Eine leichtgewichtige alte Dame in modisch taillierter Filzjacke, Leggins mit Seidenschleifen an den Fesseln, die bequemen Laufschuhe standen zu Hause. Zu Hause? Da oder dort. Es gab unterdes verwirrende Möglichkeiten. Fast alle Bücher hatte Leni in den Flurregalen zurückgelassen. Sie sollten ihre Heimat nicht verlieren. Das Haus beherbergte viele Bücher, manche doppelt, denn Leni und Thomas hatten oft gleichzeitig das gleiche Buch gelesen. Nur so war das Leben gut, die Zeit einvernehmlich.
Die Hochsommerkleider steckten in einer Kleiderkiste.
Es war Streikzeit, deswegen fuhren die Straßenbahnen nicht, es verkehrten nicht einmal Busse. Viele Einrichtungen hatten geschlossen. Die Stadt hatte sich seit drei Tagen daran gewöhnt. Die Leute liefen schneller oder langsamer. Sie warteten, ob die Gewerkschaften ihre Maßnahmen aufgehoben oder die Kämpfe verlängert hatten. Vor der Commerzbank hielt ein Geldauto. Der Chauffeur verteilte grüne Aufklärungszettel aus dem Fenster.
Auch wir streiken ab heute. Wer wir? Die Geldfahrer. Die Nachricht zog hurtig vom Bäckerladen zu den Bauarbeitern unter der Brücke.
Leni in Slingbacks, Schuhen, spitz, hinten offen, mit leichtem Stilettoabsatz, in Leggins mit Schleifen an den Fesseln. Hatte sie in dieser Aufmachung den alten Thomas beeindrucken wollen? Er war, solange sie miteinander lebten, weder alt noch jung, er war wie sie selber jetzt inzwischen irgendwo zwischen siebzig und achtzig Jahren, und sie beide glaubten während der hellen Stunden des Tages an das ewige Leben. Scheinheilig, froh erschrocken über diese kindische Denkungsart. So war es in den schnell verflossenen Jahren gewesen, und so gingen die noch schnelleren Mobilphone-Tage.
Melancholie ist das Spazieren zwischen zwei Hoffnungen. Das war erst einmal nur ein Zitat.
Leni schwamm gern in seinen Gedanken. Sie stimmte selbstbewusst zu und hatte Humor.
Hoffnung entsteht aus Interesse am Sonntagsbier.
Vom vielen Meinen und Dafürhalten blieb schließlich als Rest eine Notiz unter dem Arbeitstitel: Suche für eine Ewigkeit für jegliches. Er schrieb den stolzen Satz: Hoffnung entsteht aus Interesse am Leben.
Einvernehmen herrschte auf heitere Art.
Aber Sex hatten sie selten miteinander. Sie hatten über die Jahre in den altmodischen Ehebetten, die noch von den Erstbewohnern des Sommerhauses stammten, beieinandergelegen, es war genug, dass sie sich atmen hörten, wachend, wenn der andere schlief, wenn der Schlafende im Traum stöhnte oder mit den Zähnen knirschte, dann suchte der Schlaflose mit seiner Hand die Schulter auf der anderen Seite. Es war gut, wenn der andere Ruhe fand. So entstand doppelter Frieden.
Leonore hatte kein schlechtes Gewissen, sie war nicht davongelaufen, sie war nur eine lange Strecke sehr schnell gegangen. In Schuhen mit höherem Absatz. Zum Unterwegssein ungeeignete Gürkchen.
Die Fußsohlen brannten, rechts im Schuh war es wieder so, als habe sich die Einlegesohle zusammengerollt, aber das war immer nur ein Gefühl, ein falsches. Rebellische Nerven, vielleicht hatte sich in der Hüfte oder in der Wirbelsäule etwas verklemmt, das nun strahlte. Sie hatte sich einen Augenblick auf der Bank vor der Apotheke niedergelassen, einen Augenblick die Schuhe ausgezogen, um auszuruhen.
Schräg gegenüber in der anderen, der frischrenovierten Apotheke gingen die Leute aus und ein. Hier wurde nicht gestreikt. Im Gegenteil. Es gab Luftballons und kostenlose Taschentücher. Die Schaufenster glänzten. Aber über dem Chrom waren die Mauern noch alt und grau, kriegsgeschädigt, das Dach mit Zeltbahnen geflickt, die Schornsteine schief, und wie zur Krönung hing vom hohen Erker herab eine dunkelrote zerknitterte Fahne, genau im Winkel, groß und richtig, Hammer und Sichel.
Die geputzte Apotheke verkehrte die Szene, sonst stimmte der Ort. Die Fahne war echt.
Jemand hatte dort oben über der Apotheke ein Kapitel im Geschichtsbuch aufgeschlagen. Pünktlich in der Woche um den 8. Mai, korrekt zum siebzigsten Jahrestag.
Die Fahne war echt. Ein Überbleibsel.
Leni hatte auch noch die Socken ausgezogen, barfuß, blaue Knöchel, die Fersen aufgerieben. Sie kühlte die Fußsohlen auf dem Pflaster. Sie war gewiss die Einzige unter den Streikenden und Nichtstreikenden hier auf dem Platz, die wissen, erkennen oder fühlen konnte, was da aus dem Fenster hing. Kein Theater, keine Schlagzeile. Ein Überbleibsel.
Niemand nahm Notiz von dem Lappen.
Leni war damals sechs Jahre alt.
Jemand hatte die Fahne aus einem dunklen Winkel hervorgeholt. Sie passte an das Eckhaus mit dem hohen Erker, so war damals der Krieg zu Ende gegangen.
Die Russen kletterten mit ihren roten Fahnen auf Balkone und Türme, auf die kaputte Reichstagskuppel zum Beispiel, dann schlugen sie mit dem Gewehrkolben die Türen auf. Frieden, keine Bomben mehr, nur noch Hunger und Kälte und Todesurteile. Am rechten Fuß drei erfrorene Zehen, Unterkommen in einer Kaserne, ausgebombte Frauen und Kinder, Trecks aus dem Osten, ebenfalls Frauen und Kinder. Wer lebte dort in der Wohnung mit dem Erker? Jemand, der so alt war wie Thomas Falkenhain und Leonore Rose, so alt geworden, ein Mitwisser, jemand, dem man nicht erklären musste, was Himmel und Hölle ist. Ein Straßenspiel. Oder Schraps hat seinen Hut verloren. Leni hat ihn! Leni hat ihn nicht, Schraps hat ihn! Oben über der Apotheke, wo die Fahne hing, wohnte Schraps, der hatte wieder seinen Hut verloren.
Leni zwängte sich in die Schuhe.
So viele Jahrzehnte waren gewiss einen Seufzer wert und eine richtige Rast, eine Einkehr in der Zillestube, die hatte guten Kaffee, dazu einen geselligen Kater zum Streicheln, Zeitungen, Werbebroschüren. Taschenbücher. Gott für Einsteiger, solche Sachen.
Schnell hatte sich das Spinnrad gedreht, die Spindel war voll. Im Garn viele schlechte Knoten, so viele verschlungene, auch manchmal dünne Läufe. Dazwischen ein hängender Faden, manche Strecke dagegen zum Zerreißen gespannt.
Die Spindel war voll, noch drehte sich das Rad.
Man müsste alle Überbleibsel vom Krieg zusammentun, alles auf einen Haufen. Die Luftschutztaschen, die Mörtelhämmer, die Klapphocker der Trümmerfrauen, die umgepressten Hüte, aus zwei mach eins, die Puppenstubenmöbel aus Zigarrenkisten, die Rezeptzettel, man nehme 1 Kilo geschälte Eicheln, dazu das Schlesierlied, den Hamsterrucksack, die Frisierzangen für die Wasserwellen, das Heft zum Erlernen der russischen Sprache. Eine Fibel für Anfänge. Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone. 1945. Druck von Oswald Schmidt, Leipzig. Erstes Kapitel: Familie Petrow. Mama, Papa, Anna und Mischa. Merkt euch: Der Russe schreibt gewöhnlich alle Wörter klein. Wahrscheinlich kam von daher der Mut und gleichzeitig die Verzagtheit. Was man in der Kindheit lernt, das bleibt. Nächstenliebe ist nicht angeboren.
Thomas und Leonore, oder Leni, wie man sie unter Freunden nannte, hatten sich wohl nicht ineinander verliebt. Aber sie waren hocherfreut, als sie sich dermaleinst in Leipzig während der Nacht zwischen Silvester und Neujahr endlich gegenseitig erobert hatten. Alles war gut. Größe, Geruch, Esprit. Ein Ja, ein Nein, eine grade Linie. Ein Glück. Den Freunden gefiel das eigenwillige Paar, seine Lust, miteinander zu streiten, sein friedliches Einvernehmen. Sie reichten sich zärtlich die Hände, wenn sie kräftig gestritten hatten. Sie lachten einstimmig, leise, mit glänzenden Augen. Die Freunde lachten laut.
Das Paar hatte keine Kinder. Wie verhielt es sich damit? Ein wunder Punkt. Man vermied oder wechselte das Thema. Einmal hatte Leonore die Ferien auf Hiddensee in der Vorsaison erstaunlich sachlich kommentiert. Leute, wir konnten immer fahren, wenn es noch leer war, weil wir keine Kinder hatten. Man spürte, wie sie jetzt unerschrocken sein wollte, aber nicht das richtige Wort fand. Wir konnten immer – kein Vorzug, nur eine mutig eingestandene Tatsache, man spürte gleich auch, wie die Freunde und Bekannten, die das Problem längst unter sich beredet hatten, nach überraschtem Schweigen so ein stilles halbes Leben gelten ließen. Sogar ein bisschen priesen. Verwunderlich bleibt aber, warf einer ein, warum habt ihr euch nicht wenigstens beizeiten eins angenommen. Eine Anmerkung, die sich nicht gehörte und durch den Zusatz nicht besser wurde. Das war doch auch im Osten erlaubt. Adoptionen oder Annahmen an Kindes statt.
Früher, in der Schreibzirkelzeit, hatte Thomas einen Text zu einem Bilderbuch geschrieben. Danach war noch ein Band mit Gute-Nacht-Geschichten erschienen. Der Verlag wartete auf Weiteres. Zum Beispiel auf die angekündigte Story über den Mond, der ins Wasser gefallen war.
Thomas Falkenhain rückte einfach nichts heraus.
Er verwies auf das Interview im Bienenstock. Darin hatte er auf die Frage, ob es anders sei, für Kinder als für Erwachsene zu schreiben, geantwortet: Ja, es sei anders, ganz bestimmt anders. Und auf Nachfrage hatte er hinzugefügt: Für Kinder sei selten ein Text gut genug.
Und außerdem, der Mond sei in einen Grenzsee gefallen. Durch den See verliefen Ländergrenzen. Todeszonen. Es bestünde Gefahr, der Mond könne gegen eine Wassermine krachen.
Ach so, na dann. So was braucht Zeit.
Wenn Kinder in seiner Nähe waren, fühlte sich Falkenhain in ihren Kreis gezogen. In der Straßenbahn machte er hinter der Hand Grimassen, die nur für die Kleinen deutbar waren. Er blickte aus dem Fenster, wusste, dass die Kinderaugen ihm folgten. So führte er im Fensterspiegel stumme Dialoge, so wurde er Gespenst, war Schatten, war Geist, ein guter oder einer mit Hörnern, eine komische alte Fratze. Er lauschte dem Gedöns der Großen mit ihren bunten kaputten Taschen, in der Neuen Zeit mit ihren handtellergroßen elektronischen Himmelsleitern.
Einmal war er auf dem Hinterperron der Straßenbahn ins ohrenbetäubende Schulschlusschaos von Teenies geraten. Es dauerte eine Weile, ehe er kapiert hatte, dass er in seinem Clownsalter wieder einer der Ihren geworden war.
Äh, Bruder, keine Ahnung, oder? Mann, bist du taub, das ist dein Teil in der Hosentasche. Eh, du Nerd, komm zu dir, Greis, oder bist du tot? Steig aus der Furche, alte Kartoffel.
Es hatte tatsächlich bei ihm an der Hüfte gezirpt und auch noch gerüttelt.
Kartoffel dankt!, hatte er zu den munteren Burschen gesagt und ihnen erklärt: Ich höre das Handy wahrscheinlich im öffentlichen Verkehrslärm nicht, und noch opagerecht hinzugefügt, dass er den Krach, ihr Geschrei, die laute Streiterei bescheuert finde. Muss denn immer gestritten werden.
Schon gut, alter Sack. Nimms nicht tragisch und merk dir, du Kasper, wir streiten nicht, wir erzählen uns was.
Eine rätselhafte Welt – schwer zu erkunden.
Faul, aber immer in Bewegung. Er stand gern mittendrin oder wenigstens in der Nähe.
Das Leben von Thomas und Leonore verlief in einer graden Rückwärts-Vorwärts-Bahn, weil es keine Kinder gab, die auf einer Spirale bunte Daten streuten. Geburt, Laufenlernen, Schuleinführung, eine Zeit vor dem Beinbruch und der Wechsel in die anderen Schulen.
Sie schwammen mit ihrer Generation. Das Kriegsende steckte ihnen in den Knochen, sie erinnerten sich daran, was vorher war, Hakenkreuze und Marschmusik, und was danach kam, nämlich der Bau der Mauer samt Koexistenz, darauf, nach Jahrzehnten, der Mauerfall.
Ereignisse hatten sich vor oder nach dem Mauerfall zugetragen. Das Datum war einschneidend, bezeichnend, bestimmend, selbst wenn es eigentlich bedeutungslos war, zum Beispiel dafür, dass sich Leni kurz nach der Wende nicht mehr die Haare färbte. Ich bin jetzt grau, hatte sie beschlossen. Thomas war nicht froh darüber, er sagte aber nichts.
Zu Mauerzeiten ging Leni oft zum Friseur. Sie hatte schönes Haar. Wunderbar leicht in Form zu bringen. Naturwellen über den Schläfen und am Hinterkopf, also genau an den richtigen Stellen. Das Tönen besorgte sie vor dem Haarschneiden zu Hause mit Henna, einem grünlichen Pulver, das ein Filmeinkäufer vom ungarischen Fernsehen nicht zu knapp für die Kolleginnen in Adlershof mitbrachte.
Es war eine langwierige Prozedur. Der Kopf wie unter einem Kuhfladen. Mit dem schwachen Durchlauferhitzer brauchte es lange, die moosgrüne Pampe auszuspülen. Aber dann, ein strahlendes Fuchsrot wie sonst nur noch bei den anderen Mitarbeiterinnen der Sandmanntruppe und bei Herrn Fuchs höchstselbst, dem beliebtesten negativen Helden der Abendgrußgeschichten. Dank Pan Katletz. Das Fuchsrot leuchtete. Es loderte in Fluren und Schneideräumen, aber nach Feierabend verteilten sich die roten Frisuren, das Fuchsrot verschwand in Ostberlin, Königs Wusterhausen, Potsdam.
Leonores roter Schopf war, wenn sie zu Hause die Vorstadtwege und die Brache querte, eine Provokation.
Der Nachbar konnte nur staunen.
Was waren denn das für Leute? So was wie früher die Zigeuner.
Dieser Frau fehlte nur noch der Besen, man konnte sich vorstellen, wie sie in wehendem Kittel über das Birkenwäldchen flog, die Hände steuernd am Besenstiel, die Mähne wie Flammen. Und der Mann den ganzen Tag in schwarzem Oberhemd oder einer Art Russenkittel, immer zu Hause. Ein Langschläfer. Allerdings in letzter Zeit trieb er sich manchmal schon in den Morgenstunden im Wald herum.
Was waren denn das für Leute? Freundlich, eigentlich, aber aufgepasst.
MfS HA XX ZMA
Nr. 20135. Es wurde festgelegt og. in einem operativen Vorgang gemäß § 219 (2) StGB zu bearbeiten.
Der Nachbar machte das nach Ermessen mit Kugelschreiber und Schreibblock. Korrekte Uhrzeit. Aktivitäten. Spaziergänge am Kanal.
7:30 – Th. Falkenhain verlässt das Haus. Trägt leeren Spankorb, Küchenmesser, sog. Schnitzer.
11:00 Th. F. kehrt zurück. Spankorb halbvoll, mit Gras bedeckt. Noch Pfifferlinge? Schon Maronen? Später ganz oben auf dem Kompost: Teebeutel sowie einige Küchenabfälle, darunter eindeutig Rückstände von Fliegenpilzen.
Sonst keine Erkenntnisse.
Das Unabänderliche, die Zeit verging, dazwischen lange, stille Wochenenden. Für schwarze Gedanken gab es Gründe genug. Der Homo sapiens hatte sowieso keine Lebenschancen, weil die Fische starben, die Luft nichts mehr taugte, Aids die nächsten Generationen töten würde. Das traf heftiger die Völker, die frei in der Welt herumzogen, die Sesshaften vernichteten die Chemie und Tschernobyl. Kinderlosigkeit, sollte das gar ein Trost sein? Leni stieß das Gartentor mit der Schuhspitze auf, mit dem Absatz trat sie es zu. In den Händen die Einkaufsbeutel, die Tasche mit den Schnellheftern. Sie verschwand schnell ins Haus.
Die Tage waren finster geworden.
Thomas durchstreifte die Kiefernwälder, nicht weit vom Krampnitzer Schießplatz entfernt. Zu bestimmten Zeiten knatterten Übungspatronen. Schrott lag am Weg, mitten im Wald sogar ein vergammelter Panzer. Das war ein beruhigendes Bild. Krieg würde es wahrscheinlich nicht geben. Nicht direkt hier. Vielleicht woanders. An der chinesisch-russischen Grenze.