Aline Valangin, 1889 bis 1986, aufgewachsen in Bern. Ausbildung als Pianistin. Verheiratet mit dem Juristen Wladimir Rosenbaum. Im Zürich der Dreißigerjahre empfing und betreute sie in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Sie war mit Ignazio Silone und dem Komponisten Wladimir Vogel befreundet. Seit 1936 lebte sie im Tessin. Tätigkeit als Psychoanalytikerin, Publizistin und Schriftstellerin.
Aline Valangin
Mutter
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Liliane Studer
Limmat Verlag
Zürich
Mutter – Mutter –. Meine Mutter ist gestorben. Ich habe keine Mutter mehr. Meine Mutter ist tot.
Was ist das: tot sein?
Ich spür noch ganz genau ihre Stirn, wie ich sie stundenlang gestreichelt, als sie starb, in meiner Handfläche. Ich rieche noch ihre Haut, ich fühle sie unter meinen Lippen, glatt und warm und etwa so, wie nur die Mutter eine Haut hat. Ich sehe sie lächeln, so mühsam, denn das Gesicht wollte nicht mehr gehorchen, also so unendlich gütig, wie nur eine Mutter lächeln kann. Dieses Lächeln hat meine Härte und Bosheit geschmolzen. An ihm ist mein ganzer Stolz zusammengebrochen. Welche Tiefe, Güte, welch seltsames Verstehen braucht es, um so lächeln zu können.
Meine Selbstsucht und meine Eitelkeit, die mich von der Mutter getrennt hatten, standen nun vor mir in ihrer ganzen dummen Hässlichkeit. Ach, könnte ich je wieder gut machen, was ich aus trägem Herzen an der Mutter verfehlt, könnte ich büßen! Ich möchte hinknien in heißem Sand und beten, bitten, es soll mir einmal verziehen werden. Aber kann es?
Während ich dies schreibe, scheint mir, Mutter schaut mir über die Achsel zu. Sie hat ein junges Gesicht, fast wie sie auf ihren Mädchenphotographien hat, und lacht mich an. In der Hand hält sie einen seltsamen grauwollenen Sack, an dem sie eifrig strickte, seit sie gestorben ist, und in diesem Sack stecke ich. Und zwar kopfvoran stecke ich darin, aber nur ein gewichtloser Körper von mir, irgend ein Teil, der vielleicht in diesem grauen Sack büßt. – Ich selbst sitze hier am Schreibtisch bei der gelben Lampe, in einem grau und gelb gestreiften Kleid, über das die Leute draußen sich heute wunderten. Ich weiß gar nicht recht, was ich schreibe. Eigentlich wollte ich erzählen, wie Mutter gestorben ist. Schon oft wollte ich das niederschreiben, aber immer brech ich in Tränen und Verzweiflung aus, wenn ich beginnen sollte. Meine Sünde stand dann so unfassbar groß vor mir, dass ich den Mut verlor, ihr je mit Worten beizukommen. Und doch will ich das: ich muss es geschrieben vor mir sehen, wie alles gekommen ist und was ich ihr, meiner Mutter, getan habe.
Jetzt sehe ich sie, wie sie, ein ganz junges Mädchen, durch den Mittelweg in Großmutters Garten wandert, zwischen den Buchsträgern durch, dem Rasenplatz zu. Droben im Saal macht ihr Bruder Musik. Am Fenster steht sein Freund, ein junger Student wie er, und schaut in den Garten hinunter, der Gehenden nach. Er hat dunkle Locken und einen sehr weichen Mund. Sie setzt sich nun auf die alte Bank und sinnt. Viel lieber würde sie heiraten, als wieder als Erzieherin nach England fahren. Aber wen heiraten? Den blondwimprigen, faseligen Busenfreund des großen Bruders gewiss nicht. Viel eher jenen dunkellockigen mit dem weichen Mund, oben am Fenster … Und bald darauf war sie seine Braut. – Ich glaube, sie war eine glückliche, fröhliche Braut. Sie konnte lachen wie keine und zwitschern wie ein Vogel. Sie war hübsch und ihr Schwiegervater zeichnete sie aus durch etwas altmodische, aber durchaus betonte Galanterie. Dieser Schwiegervater – mein Großvater – war ein überaus geistreicher und kluger Mann, der französische Leichtigkeit mit einer calvinistischen Strenge zu verbinden wusste und es verstand, seinen ausgeprägten Willen in eine weiche Form zu kleiden, so dass er keinen verletzte und doch überall als äußerst bestimmt galt. Im Kreise meines Großvaters – alles ältere, aber lebendig gebliebene Männer – lebte sie auf, lernte, hörte und freute sich. Wohl war da die Schwiegermutter, und diese galt bei ihrem einzigen Sohne sehr viel, ja – sehr viel – doch dieses würde sich machen, dachte sie.
Es machte sich aber nicht. Schon 2 Wochen nach der Heirat kam die Schwiegermutter auf Besuch, und alle Zärtlichkeit des Mannes strömte auf diese. Sie war allein – und sie blieb allein. Der Mann, eine träge Natur, begriff ihre große Jugend nicht. Er bremste, in jeder Hinsicht bremste er. So wurde meine Mutter aus einem frohen Wesen eine gedrückte Frau. Als nicht sogleich Kinder kamen, brach sie eines Tages auf die Knie nieder und flehte ihren Gott unter Tränenströmen an, er möchte ihr ein Kind schenken, sonst könne sie das Leben nicht tragen.
Und dann erwartete sie mich. Nun war sie glücklich. Der Mann konnte tun und nicht tun, was ihm gut schien, sie brauchte ihn nicht mehr, sie hatte ja das Kind. Nun brauchte sie nicht mehr zu lechzen nach einer andern Seele, die ihr in letzter Liebe zugetan, nun hatte sie ja das Kind. Nun konnte wer wollte den Mann in Beschlag nehmen, sie hatte das Kind.
Das Kind würde ein schöner Knabe werden, klug und rasch und in allem ganz anders als der Vater. Es würde ihr Freund werden und alles ersetzen, was sie in Brüche gehen sah. Ja, das Kind.
Fast ist sie daran gestorben. Der Mann hatte sich nicht die Mühe genommen, in seiner großen Trägheit nachzudenken, dass die Geburt eine schwere schwere Stunde für die Frau ist. Die erste beste Hebamme wurde bestellt. Sie erschien betrunken. Die Geburt dauerte zwei Tage und drei Nächte, und die ganze Zeit über war die trinkende und ständig angeheiterte Frauensperson um meine Mutter als einzige Hülfe. Sie schrie, in größerer seelischer Not noch als in körperlicher, obschon die physische Qual längst unerträglich war; sie schrie zum Himmel, er möge das Kind [unleserliches Wort] aus ihrem Leibe erlösen; sie schrie, sie brüllte, als die Schmerzen stiegen und unendlich sich ausdehnten, dass nichts als eine Hölle der Pein um sie war, das Kind möge unverletzt bleiben, es möge leben. Sie bäumte sich gegen die Schatten, die nach ihr griffen, gegen die Schwäche, die überhand nahm, und immer wieder schrie sie ihre Bitte um Erlösung. Langsam fing sie an, in Nacht zu tauchen. Seltsam war das. Sie wollte doch leben, aber etwas wollte nicht, dass sie lebe. Sie staunte. Müsste sie vielleicht sterben? Und ein Nein in ihr geschrien als Antwort. Und wieder beginnt der Kampf. Aber lahmer. Und wieder so eine Nacht und daraus eine Frage behalten: Wohl muss sie sterben? Oh, das schöne Leben. War es schön? Ja früher und jetzt … das Kind. Schrei um Schrei. Das Kind darf nicht sterben, auch nicht allein bleiben; also muss auch sie leben. Leben. Nicht dein Wille geschehe, nein, oh, bitte nein, nicht der deine. –
Und das Kind wurde geboren, mit ganz verschobenen Schädeldecken und einem Schopf braunen Haares. Es war ein braunes Mädchen. Ich.
War sie nun glücklich? Ich glaube nein. Ich war viel krank. An meinem Vater hatte sie wenig Stütze in schweren Stunden. Sie ging ihrer Wege, er die seinen. Aber allein war sie nicht mehr: sie hatte mich.
Wenn sie mich im Hof badete, standen die anderen Frauen vom Haus um uns herum und bewunderten meine starken, schlanken Glieder. Die Prinzessin, die im ersten Stock wohnte, richtete sich so ein, meine Badestunde auf dem Hofbalkon zu verbringen, und dann sprach sie oft freundlich mit meiner Mutter. Auf dem Spaziergang guckte ich mir sehr bald schon die Welt an und Mutter fand, kein Kind sei so frühreif wie ich. Mit 10 Monaten ging ich an ihrem Finger und damals ist sie wohl sehr glücklich gewesen.
Wenn ich versuche, meine ersten Erinnerungen an Mutter zu finden, so kommen Töne, einzigartige Töne von schöner Süße – und begleitet von einem eben so einzigartigen, mir eben so süßen Geruch. – Mutter. Spätere Erinnerungen: Mutters weiche Wangen, das lange schwarze glatte Haar und Lider. Noch später ernste Augen, ein Mund, der spricht, Laute wie aab und laad, die meinen Sinn in eine bestimmte geliebte und gefürchtete Richtung ziehen, die mich sanft dort anbinden, und immer deutlicher diese Süße, die keine irdische Süße ist. Wie Brot schmeckt Mutter, so köstlich wie gutes braunes Brot. Das wusste ich bald. Dann wieder: etwas unendlich Gutes beugt sich über mein Bettchen: Mutter. Riesenhaft groß ist sie – nur sie ist da, dunkel und süß. Die Vorhänge mit den bunten Blumen darauf, der rote Betthimmel dehnen und weiten sich, rund wie der Himmel, und Mutter ist darin. Oder: Nacht. Ich bin allein und die Luft knistert. Gleich wird ein Wolf durch die Vorhangspalte hineinspringen; er steht sicher schon davor und wartet nur auf den Augenblick, wo ich meine Augen schließe. Dann geht unten eine Tür. Mutters Stimme ertönt. Sie sagt dem Dienstmädchen etwas für den andern Tag. Und glatt wird rings die krause Luft. Der Wolf ist weg – war er je da. Nun kommt Mutter hinauf und mit ihr die Süße, die stets da ist, wo sie ist, und ohne die ich nicht sein kann.