Der Blaue Stern

Ostfrieslandkrimi

Ulrike Busch


ISBN: 978-3-95573-527-2
1. Auflage 2016, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2016 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

1. Kapitel

»Nun zu den Meldungen aus der Region.«

Inka horchte auf. Sie griff nach der Fernbedienung, die neben ihr auf dem Sofa lag, stellte den Ton lauter und starrte gebannt auf die Stereoanlage. Würden sie die Nachricht endlich bringen?

Die Antwort auf ihre Frage dröhnte aus den Lautsprechern.

»Essen. Wie die Polizeidirektion der Ruhrmetropole heute Morgen mitteilte, wurde der bekannte Juwelier Daniel Kornblum bereits vorgestern in seinen Geschäftsräumen in der Essener City verhaftet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Mittäterschaft im Geldwäschering um Rocco Graubner vor. Zwei langjährig gesuchte Bandenmitglieder wurden ebenfalls festgenommen. Nach dem Clanchef selbst wird weiterhin gefahndet.«

Fahrig fuhr Inka sich durch ihre brünette Mähne. Graubner hatten sie also noch immer nicht gefasst.

»Sollten sich die Vorwürfe gegen Kornblum als stichhaltig erweisen«, fuhr die Moderatorin fort, »muss der Sohn einer traditionsreichen Juweliersfamilie mit einer mehrjährigen Haftstrafe ...«

Wütend schleuderte Inka die Fernbedienung auf den Boden. Die Klappe auf der Rückseite öffnete sich, zwei Batterien kullerten heraus, Stille herrschte im Raum.

Bitterkeit machte sich in Inka breit. Mehrere Jahre im Gefängnis, vergeudetes Leben. Warum war Daniel dieses Risiko eingegangen? Warum hatte er sie und ihre Goldschmiedekunst für diese schmutzigen Geschäfte benutzt? Hatte er ihr seine Liebe etwa nur vorgegaukelt?

Das Klingeln des Telefons riss Inka aus Zorn und Hilflosigkeit heraus. Sie stand auf und ging zum Telefontischchen. Der Anblick der Nummer auf dem Display löste Unbehagen in ihr aus. Sie beschloss, nicht zu Hause zu sein. Nicht jetzt. Sie brauchte endlich Ruhe, um zu sich zu finden. Um zu ergründen, was sie wirklich wollte und wohin ihr Weg sie führen sollte.

Noch bevor sie wieder Platz genommen hatte, klingelte ihr Smartphone. Die gleiche Nummer wie gerade auf dem Festnetz. Inka seufzte. Sie überwand ihren Unwillen und nahm das Gespräch an. »Brook«, meldete sie sich mit leiser Stimme.

»Marion Lutz hier.« Die Hauptkommissarin vom Ressort Organisierte Kriminalität kam ohne Umschweife zum Punkt. »Wir müssen noch mal mit Ihnen reden, Frau Brook. Dringend. Ich muss Sie bitten, noch heute Nachmittag zu uns aufs Polizeipräsidium zu kommen.«

Inka versteifte sich innerlich. »Worum geht es, bitte?«, fragte sie. Sofort breitete sich ein Kloß in ihrem Magen aus.

»Um den Fall Kornblum.«

Inka feuchtete die Kuppe des Zeigefingers an und wischte einen getrockneten Spritzer Putzwasser von der Glasplatte des Couchtischs. »Das ist mir klar.« Sie versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. »Worum geht es konkret?«

»Das werden Sie erfahren, wenn Sie bei uns sind. In einer Stunde, könnten Sie das einrichten?«

Inka zögerte. »Anderthalb?«, fragte sie.

Marion Lutz atmete hörbar durch. »In anderthalb Stunden also. Bis nachher.«

Inka ging zum Sofa zurück, setzte sich auf die Armlehne und blickte hinaus in den Garten. Am Stamm der Eiche, die vor dem Fenster stand, spielten zwei Eichhörnchen Fangen. Amseln flogen zwischen den noch kahlen Ästen umher. Was für ein sorgloses Leben die Tiere hatten! Einen Moment lang sehnte Inka sich danach, mit ihnen zu tauschen. – Was für ein alberner Wunsch! Wollte sie wirklich da draußen leben? Immer auf der Hut vor anderen Tieren und ständig in Gefahr, gefressen zu werden?

Wie in Zeitlupe schlich der Sekundenzeiger der Wanduhr über das Zifferblatt. Inka beschloss, zu Fuß zum Polizeipräsidium zu gehen; ein Spaziergang würde ihr guttun. Noch eine Stunde, bis sie das Haus verlassen musste. Sie ging in die Küche und schmierte sich ein Brot.

Mit dem Teller in der einen und einem Glas Limonade in der anderen Hand setzte sie sich an den Esstisch, schaltete das Notebook ein und googelte nach Daniel Kornblum. Der jüngste Eintrag, den die Suchmaschine fand, war eine Kurzmeldung über seine Festnahme, vor einer halben Stunde veröffentlicht. Inka überflog sie und atmete auf. Der Bericht ging nicht über das wenige hinaus, das vorhin im Radio verbreitet worden war. Ihr Name wurde nirgendwo erwähnt.

Inka hielt beim Kauen inne und runzelte die Stirn. Wenn bekannt wurde, dass sie es gewesen war, die Daniel Kornblum angezeigt hatte, würden die Leute sie verstehen?

Wieder einmal ertappte sie sich dabei, dass sie sich wünschte, die Anzeige zurückziehen zu können. Sie würde Daniel aus dem Untersuchungsgefängnis abholen, er würde Reue zeigen und sie würden all die Träume verwirklichen, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten.

Warum wurden Märchen niemals wahr?

Inka schloss die Meldung über Daniel, stöberte noch ein wenig in den Websites verschiedener Klatschzeitungen und überflog Berichte über Leute, die sie nicht interessierten.

Ihre Gedanken schweiften ab zu Rocco Graubner. Sie war ihm begegnet, ein einziges Mal nur, vor ein paar Monaten kurz vor Geschäftsschluss in Daniels Laden. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, wer dieser Mann war. Rocco tauchte plötzlich auf, baute sich im Türrahmen zwischen Verkaufsraum und Werkstatt auf und musterte sie von oben bis unten. Noch heute schauderte es sie bei der Erinnerung an die eiskalten Augen in dem Gesicht mit den schwammigen Zügen.

Daniel hatte nervös gewirkt. Er bat sie, Feierabend zu machen und nach Hause zu gehen; er habe noch eine Besprechung mit dem Kunden.

Warum hatte Daniel sich nur auf diesen Mann eingelassen? Das war doch gar nicht sein Niveau!

Achtlos scrollte Inka weiter durch Seiten, die nichts Neues offenbarten. Ein nutzloser Tag. Genauso verloren, wie sie sich fühlte.

 

***

 

Zögerlich zog Inka den Trenchcoat an, schlang den Gürtel um ihre Taille und verknotete ihn. Sie betrachtete sich in dem hohen Garderobenspiegel. Schmal war sie in den letzten Tagen geworden und blass. So konnte es nicht weitergehen.

Sie wandte sich vom Spiegel ab und verließ ihre Wohnung. Die Schultern hochgezogen und die Hände in den Manteltaschen vergraben, ging sie die Hauptstraßen in Richtung des Polizeipräsidiums entlang. Der Himmel hing voller Wolken. Ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht, ein bunt bedruckter Pappbecher holperte über das Pflaster an ihr vorbei.

Sie verfluchte den Tag, an dem ein Windstoß über Daniels Schreibtisch gefegt war und ihr eine Liste mit merkwürdigen Zahlen vor die Füße geweht hatte. Plötzlich hatte sie verstanden, warum er sie nie dabeihaben wollte, wenn diese schweigsamen Herren mit den Aktenkoffern kamen. Und warum er oft so nervös war, wenn er die Tageseinnahmen zur Bank brachte. Einnahmen, von denen sie heute wusste, dass sie nur zu einem Bruchteil aus seinen Verkäufen stammten.

Der Verkehrslärm schwoll an. Inka näherte sich dem Landgericht, vor dem sich die Hauptstraße gabelte. Das Polizeigebäude lag schräg vor ihr auf der anderen Straßenseite. Der wuchtige alte Bau flößte ihr Respekt ein. Während ihre Nervosität Purzelbäume schlug, spürte sie durch das feine Leder ihrer Handtasche hindurch das Vibrieren ihres Handys, das sie lautlos gestellt hatte. Sie verabscheute Telefongespräche auf offener Straße. Widerwillig zog sie das Mobilgerät hervor. Auf dem Display blinkte die Nummer von Marion Lutz auf.

»Ja?«, sagte Inka, während sie die grüne Ampel im Auge behielt, der sie sich näherte.

»Lutz hier. Wo bleiben Sie denn?«

»Ich stehe fast bei Ihnen vor der Tür.« Inka tippte auf das rote Telefonsymbol, dann schaltete sie ihr Smartphone vollständig stumm. Fahrig verstaute sie es im Seitenfach der Handtasche, während sie ihren Schritt beschleunigte und auf den Fußgängerüberweg trat. Im selben Moment quietschten Reifen. Abrupt blieb Inka stehen.

Aus dem halb heruntergekurbelten Fenster eines Lieferwagens rief der Beifahrer ihr in breitem Ruhrpott-Slang ein paar unflätige Worte zu und zeigte ihr, eine Zigarette zwischen den Fingern, einen Vogel.

Jetzt erkannte Inka, dass die Ampel zwischenzeitlich auf Rot gesprungen war. Eine Hand griff ihren Oberarm und zog sie auf den Gehweg zurück. »Das hätte aber ins Auge gehen können«, raunte eine Männerstimme ihr ins Ohr.

Inka sah in das gutmütige Gesicht eines älteren Herrn, der einen Hut mit breiter Krempe trug. Ohne weiteren Kommentar zeigte er auf das Verkehrslicht. Inka warf dem Mann ein »Danke« zu, das im Lärm der Umgebung unterging, und schob die Hände wieder in die Manteltaschen. Während sie darauf wartete, dass die Ampel auf Grün wechselte, wippte sie auf den Fußspitzen auf und ab.

Plötzlich glaubte sie, in ihrem Rücken bohrende Blicke zu spüren. Sie drehte sich um. Wenige Meter hinter ihr stand ein Mann, ein unscheinbarer, abgerissen wirkender Typ, vermutlich in den Dreißigern. Er schien erschrocken darüber, dass sie seinen stieren Blick bemerkt hatte. Eilig schob er sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt sich die Hand vors Gesicht, als er sich Feuer gab.

»Jetzt dürfen Sie«, sagte der Herr, der sie gerade erst von der Straße fortgezogen hatte. Er zeigte auf das grün leuchtende Männchen und ging voraus.

»Danke«, flüsterte Inka ihm nochmals zu.

Der Druck in ihrem Kopf wich einem flauen Gefühl im Magen, als sie auf das Eingangsportal des Polizeipräsidiums zuging. Bevor sie das Gebäude betrat, warf sie einen Blick in den Himmel. Wieder einmal suchte sie dort oben nach einem Zeichen, nach irgendeinem Hinweis, dass ihr Erik auf irgendeiner Wolke saß und auf sie aufpasste. So, wie er es ihr vor drei Jahren im Hospiz, in den letzten Tagen vor seinem Tod, versprochen hatte. Wie sehr sie ihn vermisste!

2. Kapitel

Kaya Witt legte den Hörer auf und fuhr sich mit beiden Händen durch ihren strohblonden Lockenkopf. Heiße Information, die sie da gerade erhalten hatte. Ihre Spürnase täuschte sie nie, und das hier roch eindeutig nach einem Highlight für die Reportagereihe, an der sie als freie Journalistin für das Nachrichtenmagazin von Wolf Matthiesen arbeitete: ›Im Würgegriff der Mafia – wie seriöse Geschäftsleute in die Fänge des organisierten Verbrechens geraten.‹

Kaya saß in ihrem Büro in der Hamburger Redaktionszentrale, die Augen auf den Monitor geheftet. Da klopfte es an der Tür. Kaya drehte sich um. Olaf stand vor ihr, ein Kollege, der zum Stammpersonal der Redaktion gehörte. Er wirkte immer etwas müde und hilflos, wenn er sich so gegen die Zarge lehnte, das Gewicht auf einen Fuß verlagert und die Arme vor der Brust verschränkt.

»Ist schon wieder Mittag?«, fragte sie ihn.

»Kantinenbratwurst?«, fragte er zurück.

Kaya zog die Nase kraus. »Nee, lieber was mit Flossen.«

»Also Fischstäbchen.« Wenn Olaf so frech grinste, reichten seine Mundwinkel von einem Ohr bis zum anderen.

»Pfff!«, machte Kaya und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. In Windeseile tippte sie noch ein paar Worte ins Keyboard und speicherte die Datei. »Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich heute Bock hab, in der Kantine zu sitzen und mit den Jungs aus der Wirtschaftsredaktion über Aufstieg und Fall des DAX zu diskutieren. Ich hab wirklich Aufregenderes auf dem Zettel.«

»Mal wieder ’ne heiße Spur aufgetan?« Olaf streckte den Rücken durch und trat einen Schritt näher an Kaya heran.

Kaya zögerte nur zum Schein. Olaf war ihr engster Verbündeter, seit sie vor drei Jahren in das Team um Wolf Matthiesen eingestiegen war. »Mach mal die Tür zu«, flüsterte sie.

Olaf ließ sich nicht zweimal bitten. Er zog den schwarzen Plastikklappstuhl heran, der in einer Ecke stand. Vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, wartete er auf das Geheimnis, das Kaya ihm anvertrauen wollte.

»Einer meiner Undercover-Informanten hat mir ziemlich spannenden Input für meine Serie geliefert.«

Olaf verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Hm, über die wollte ich sowieso nachher mit dir reden.«

Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch Kaya brannte darauf, ihre Neuigkeit an den Mann zu bringen. »In Essen ist ein Krieg um den Blauen Stern entbrannt.«

»Den Blauen Stern?«

»Kennst du nicht?«

Olaf schüttelte den Kopf.

»Einer der wertvollsten Diamanten, die jemals gefunden wurden. Fünfhundertfünfzig Karat schwer.«

»Was wäre das auf Deutsch?«

»Hundertzehn Gramm.«

Olaf überlegte kurz. »Also ungefähr so viel wie ’ne Tafel Schokolade mit Papier drum rum.« Er zog die Stirn in Falten. »Und wer führt den Krieg gegen wen?«

»Rocco Graubner gegen den Rest der Welt. Von Graubner hast du aber schon gehört?«

Olaf nickte. »Der Ruhrpott-Al-Capone, wer kennt den nicht?«

»Er hat den Diamanten einem Juwelier anvertraut. Das heißt: nicht irgendeinem Juwelier, sondern Kornblum.«

Olaf pfiff durch die Zähne. »Daniel Kornblum?«

Kaya nickte. »Der Mann wurde kurz darauf eingebuchtet, weil er seit einiger Zeit mit Graubner Geschäfte macht. Sein Haus wurde durchsucht, aber der Blaue Stern ist futsch. Wie vom Erdboden verschluckt. Und Kornblum sagt, er weiß von nichts. Graubner tobt natürlich. Der wird eher die Welt aus den Angeln heben, als sich damit abzufinden, dass ihm das gute Stück abhandengekommen ist.«

Olaf schien in seinem Gedächtnis zu kramen. »Hatte der Kornblum nicht seit ein paar Monaten erst ’ne neue Flamme?«

»Ich glaube ja. Die beiden waren kürzlich in irgendeinem Boulevardblatt abgebildet.«

»Hat die Frau was mit der Sache zu tun?«

Kaya sah sich suchend um. »Siehst du ’ne Glaskugel auf meinem Schreibtisch?«

»Aber du willst dich jetzt nicht auf die Suche nach dem Diamanten machen und von Graubner Finderlohn kassieren?«

Kaya lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und stützte den Kopf lässig in eine Hand. Ihre typische Haltung, wenn sie einem Traum nachhing, von dem sie wusste, dass sie alles tun würde, um ihn zu verwirklichen. Ihre Augen leuchteten. »Ich muss unbedingt nach Essen. Ich will wissen, wie der Juwelier an Graubner geraten ist und was er mit dem Blauen Stern gemacht hat. Ich seh schon die Schlagzeile: ›Juwelier trickst Mafia aus.‹ Wäre doch mal ganz was Neues.«

Olaf rieb sich das Kinn. »Wozu die ganze Mühe? Vermutlich ist der Stein längst zerhackt und in hundert Schmuckstücken weiterverarbeitet worden.«

»Nee, den Blauen Stern würde niemand in Bröckchen zerlegen.« Kaya machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Der Legende nach steht derjenige, der ihn besitzt, unter dem Schutz des Universums.«

»Ha! Und den Quatsch glaubst du?«

Kaya beugte sich vor, stellte einen Fuß auf den Papierkorb und stützte sich auf dem Oberschenkel ab. »Niemand glaubt daran. Aber mit so ’ner Legende ist es wie mit einem Gerücht: Wer es einmal gehört hat, denkt, ein Körnchen Wahrheit ist dran. Auf jeden Fall ist diese Geschichte für viele Menschen Anreiz genug, den Diamanten in ihren Besitz zu bringen.«

»Was macht man denn mit so einem Klumpen? Den hängt man sich doch nicht um den Hals.«

»Es gibt Leute, die sammeln geraubte Bilder von Picasso und van Gogh oder eben solche Diamanten, um damit ihren atombombensicheren Keller zu dekorieren. Die sitzen stundenlang davor, schlürfen ein Glas Whiskey und berauschen sich am Anblick ihrer Beute. Allein der Gedanke, dass sie ein Stück von unschätzbarem Wert besitzen, nach dem auf der ganzen Welt gefahndet wird, gibt ihnen das Gefühl von Macht.«

Olaf bog die Schultern zurück; sein Blick suchte nach einem Halt. »Kaya, lassen wir mal all die schönen Mythen beiseite, die sich um den Diamanten ranken. Mit deiner Serie über die Mafiabosse gibt es ein kleines Problem.«

»Ein Problem?«

»Ich wollt’s dir eigentlich erst beim Espresso nach der Kantinenbratwurst erzählen.« Olaf räusperte sich angestrengt. »Wolf Matthiesen hat kalte Füße bekommen.«

Kaya stutzte. »Der Wolf hat kalte Füße? Wie kommt denn das?«

»Er sagt, eine Kiezgröße hat ihm am Wochenende in einer Kneipe auf St. Pauli auf die Schulter getippt und ihm zu verstehen gegeben, dass das Thema für die Öffentlichkeit nicht geeignet ist.«

Kaya blies die Backen auf. »Glaubst du das etwa? Wolf posaunt doch nicht in einer düsteren Spelunke aus, an welchen Themen seine Leute gerade arbeiten.«

Olaf zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du deine Nase zu tief in die Unterwelt gesteckt, die Paten haben von deinen Recherchen Wind bekommen und jetzt machen sie Druck auf Wolf.«

»Kann ich mir kaum vorstellen. Und seit wann geht unser schnieker Chefredakteur dahin, wo sich die Kiezgrößen tummeln? Der treibt sich doch nicht in Locations rum, in denen er riskiert, dass sein Anzug Schneespuren oder Spermaflecken abbekommt.«

Olaf schmunzelte. »Vielleicht braucht er ab und zu mal’n Ausgleich zu dem piekfeinen Ambiente, in dem er sich sonst bewegt. Golfplätze, Segelklubs ...«

Kaya tippte sich an die Stirn.

»Jedenfalls war ich dabei«, fuhr Olaf fort und sein Gesicht wurde wieder ernst, »als Wolf heute Morgen in der kleinen Redaktionsbesprechung verkündet hat, dass er die Mafiaserie kippt. Ein Ersatzthema steht schon fest und auch, wer es macht.«

Kaya sah ihren Kollegen mit zusammengekniffenen Augen an. »Erst die Personalie, dann das Thema, bitte.«

»Die Personalie?« Olaf senkte die Stimme. »Die neue Volontärin.«

»Ahaaa.« Kaya trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Und was, bitte schön, soll die Volontärin ... Ist das die, die aussieht wie Aschenputtel, als es noch auf den Prinzen wartete?«

Olaf nickte.

»Worüber soll die schreiben?«

Olaf verzog das Gesicht. »Über Börsenspekulationen und Hedgefonds.«

»Hatten wir doch erst letztes Jahr. Warum denn jetzt schon wieder?« Zwei tiefe senkrechte Falten bildeten sich über Kayas Nasenwurzel. »Und außerdem: Was glaubt dieses Miezemäuschen denn, von dem Thema zu verstehen? Wie eine Finanzexpertin sieht die nicht gerade aus.«

Olaf stöhnte. »Kaya, lass die Sache mit den Mafiosi sein und such dir erst mal ein anderes Thema. Was du bisher zusammengetragen hast, spar dir auf für später.«

Kaya hob das Kinn. »Was heißt ›erst mal‹ und wann ist ›später‹?«

»Ich weiß es nicht.« Olaf wand sich, stand auf und schob den Plastikstuhl in die Ecke. »Lass uns jetzt was essen gehen. Mein Magen knurrt.«

»Essen gehen ja, Thema aufsparen nein, dass das klar ist.« Kaya wandte sich ihrem Bildschirm zu. »Lass mich nur noch schnell drei Sätze schreiben, damit ich wenigstens den Gedanken abgeschlossen hab.«

 

***

 

Nach der Mittagspause erweckte Kaya ihren Bildschirm wieder zum Leben und googelte nach dem Fall Kornblum. Das Internet gab dazu noch nicht viel her, doch nach einer guten Stunde hatte sie eine Reihe von Daten recherchiert, die ihr weiterhelfen würden.

Plötzlich stürmte Wolf Matthiesen in ihr Büro. Er schob den Notizzettelwürfel, der auf Kayas Schreibtisch lag, zur Seite und setzte sich mit einer Pobacke auf die Tischkante. Demonstrativ schob Kaya den Zettelblock wieder zurück, soweit Matthiesens Hinterteil das zuließ, und wies auf den Plastikstuhl, auf dem Olaf vorhin gesessen hatte. Matthiesen übersah die Geste.

»Ich hab mal überflogen, was du bisher zu deiner Krimiserie geschrieben hast«, sagte er.

Kaya rümpfte die Nase. »Krimiserie?«

Matthiesen stierte über Kayas Kopf hinweg auf einen Punkt an der Wand. »Sieh zu, dass der Schmarrn vom Redaktionsserver verschwindet. Lösch es. Komplett.« Er schnippte mit dem Finger.

Kayas Augen funkelten wie eine Supernova. »Wie bitte? Bisher warst du derjenige, der das Thema gepusht hat. Als ich es dir vor zwei Monaten vorgeschlagen habe, warst du Feuer und Flamme. Du kannst es doch nicht einfach sterben lassen bei all dem Geld und der Zeit, die es bisher verschlungen hat.«

»Wir bringen es nicht.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Meine Güte, du bist doch sonst nicht so blond!« Wolf Matthiesen sprang auf und bohrte die Hände in seine Hosentaschen.

Kaya schob den Zettelwürfel zurück an seinen Platz. »Ich bin gerade dabei, für die Serie eine richtig heiße Geschichte aufzutun. Andere Magazine würden sich die Finger danach lecken.«

»Wir bringen es nicht«, sagte Matthiesen noch einmal und fuhr sich mit der Hand durch die grau melierten Locken, die sich wie eine Krone um seine Halbglatze rankten. »Schreib was anderes. Es gibt doch genug hübsche Storys.«

Mit den Informationen im Hinterstübchen, die sie von Olaf hatte, versuchte Kaya, Matthiesen zu provozieren. »Gib’s zu, du hast bloß Schiss vor den Hamburger Kiezgrößen. Wenn meine Serie gestartet ist und die laufen dir in deiner Stammkneipe übern Weg ...« Sie zwinkerte ihm zu.

Matthiesen ging über den Einwurf hinweg, ohne eine Miene zu verziehen. Er wirbelte mit einer Hand in der Luft herum. »Besser wäre was mit Regionalbezug zu Norddeutschland.«

Kaya kniff die Augen zusammen. »Ach ja? An was denkst du da so?«

Matthiesen zögerte einen Moment. Er drehte Kaya den Rücken zu, blickte zum Fenster hinaus und beobachtete scheinbar interessiert ein Containerschiff, das gerade den Hafen verließ. »Es gibt einen neuen Biobauern in Süderbrarup«, sagte er. »Ehemaliger Mathelehrer aus Flensburg. Jetzt züchtet er Hühner.« Matthiesen wandte sich wieder Kaya zu. »Fahr hin, schreib darüber. Wo gibt’s das heute noch, dass einer seinen sicheren Beamtenjob gegen eine Ökofarm eintauscht? Wo man nie weiß, wie die Preise für Bioeier sich entwickeln.«

Kaya krallte die Hände um die Armlehnen ihres Bürostuhls. »Willst du mich veräppeln? Ich bin Detektivjournalistin, keine Heile-grüne-Welt-Märchentante.«

Wolf Matthiesen tippte sich an die Stirn und prustete. »Detektivjournalistin! Tolle Erfindung.« Schließlich hob er die Augenbrauen, und sein Zeigefinger schoss auf Kaya zu wie ein Speer, erst kurz vor ihrer Brust machte er halt. »Die Entscheidung steht«, sagte er. »Du lässt die Finger von der Geschichte.« Mit großen Schritten verließ er das Büro.

Kaya schlug die Tür mit einem lauten Knall zu. Sie brauchte keinen Wimpernschlag Bedenkzeit, um zu wissen, was sie zu tun hatte. Mit wenigen Handgriffen kopierte sie alle Texte, die sie während der Recherchen für ihre Serie geschrieben hatte, auf einen USB-Stick. Danach löschte sie gewissenhaft sämtliche Dateien vom Redaktionsserver, wie Matthiesen es verlangt hatte. Schließlich leerte sie ihre Schreibtischschubladen und verstaute alles in ihrer großen Tasche.

Bevor sie das Büro verließ, tippte sie Olafs Durchwahl in die Tastatur des Telefons ein, das auf ihrem Schreibtisch stand.

»Kaya?« Olafs Stimme lag irgendwo zwischen Zuneigung und böser Vorahnung.

»Du hast recht behalten, Olaf. Wolf kippt die Serie. Ich bin dann mal weg.«

»Kaya!«

»Kannst mich ab morgen zu Hause erreichen, wenn du magst. In Bensersiel.« Sie legte auf.

Der Weg zum Treppenhaus führte sie an Matthiesens Büro vorbei. Ohne Vorwarnung riss sie die Tür auf, die normalerweise offen stand. Matthiesen saß etwas vom Schreibtisch abgerückt, den Arm um die Hüften der neuen Volontärin geschlungen, die neben ihm stand und sich an ihn schmiegte. Die farblose, blutjunge Frau, die gerade noch kokett gelächelt hatte, schrak zusammen und hielt sich die Hände vors Gesicht. Matthiesen starrte Kaya mit offenem Mund an.

»Den Bericht über die frei laufenden Eier in Süderbrarup überlass ich dir. Ich zieh mein Ding durch, alleine. Ich mach ’ne Story, die wird heißer als die Straßenköterblondine auf deinem Schoß. Deine Konkurrenz wird sich die Finger danach lecken. Tschüs denn auch.«

Kaya ließ die Tür zu Wolfs Büro sperrangelweit offen stehen und stampfte aus dem Verlagsgebäude.

3. Kapitel

Inka stieg die breiten, ausgetretenen Steintreppen in den ersten Stock des Polizeipräsidiums hinauf und bog in den Gang ein, in dem das Büro von Marion Lutz lag. Ihre Kieferknochen mahlten. Sie stellte sich vor, wie die Kommissarin am Schreibtisch saß und sich ihre Fragen zurechtlegte, das Gesicht zu einer spöttischen Fratze verzogen. Lutz hatte die Angewohnheit, bei ihren Frage-und-Antwort-Spielchen den rechten Mundwinkel nach oben zu ziehen und mit der Augenbraue zu zucken.

Inka blieb vor der Tür stehen und hob die Hand, zögerte dann aber; ihr Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, man müsse es auf der ganzen Etage hören. Sie atmete tief durch. Schließlich pochte sie zweimal gegen die Tür. »Herein«, rief die harte Stimme der Kommissarin und Inka betrat den Raum.

Den Oberkörper vornübergebeugt, steckte Marion Lutz in einem Aktenschrank, dessen Türen weit geöffnet waren, und durchsuchte die Hängeregistratur. »Bin gleich bei Ihnen. Setzen Sie sich schon mal«, ertönte es dumpf aus dem Schrank.

Die Aufforderung erübrigte sich, Inka saß bereits. Ihr Trenchcoat raschelte leise, als sie aus den Ärmeln schlüpfte und das Oberteil des Mantels über die Rückenlehne gleiten ließ. Sie stellte die Handtasche auf den Boden, schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Arme vor der Brust.

Marion Lutz schien gefunden zu haben, wonach sie suchte. Ohne hinzusehen, warf sie eine prall gefüllte Hängemappe auf den Schreibtisch, der in Reichweite hinter ihr stand. Dann richtete sie sich auf, schloss den Aktenschrank und reichte Inka flüchtig die Hand.

»Was gibt’s denn noch?«, fragte Inka und schluckte. »Ich dachte, es wäre alles gesagt?«

»Mein Gott, was haben Sie kalte Finger!«, sagte Marion Lutz. Sie setzte sich auf ihren Bürostuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs und schob sich einen halben Meter zurück. Den Blick auf Inka gerichtet, griff sie nach ihrer Handtasche, die in einer Ecke auf der Fensterbank hinter dem blassgelben Vorhang verborgen war. Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es ein polizeiübliches Ritual zur Vorbereitung auf das Gespräch mit einer Zeugin, kramte sie Taschenspiegel und Lippenstift hervor und zog sich die Lippen nach.

Inka versuchte es noch einmal. »Ich hab doch schon alles zu Protokoll gegeben.«

Lutz presste die Lippen aufeinander und rollte sie ab, um die Farbe zu verteilen. Ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden, zog sie mit einer Hand ein Papiertuch aus der Box, die neben dem Bildschirm stand, und tupfte sorgfältig die Mundwinkel ab.

Warum kam Lutz nicht zur Sache?

Die Kommissarin steckte ihre Kosmetikutensilien wieder weg und sah auf die Uhr. »Ich warte noch auf meinen Kollegen. Er müsste jeden Moment hier sein.«

Nur mit Mühe hielt Inka dem Blick von Marion Lutz stand. Aus einem Grund, den sie nicht hätte benennen können, war ihr nach Flucht zumute. Doch da platzte Andreas Greif herein. Inka spürte den Windhauch im Nacken, als er die Tür mit einem Schwung aufstieß. Statt auf dem dritten, noch freien Stuhl im Raum Platz zu nehmen, preschte der Kommissar an ihr vorbei, baute sich neben seiner Kollegin hinter dem Schreibtisch auf und nickte Inka kurz zu.

Sie nickte wortlos zurück.

Greif lehnte sich gegen die Fensterbank und musterte Inka, während er sich mit nervtötender Pedanterie die Hemdsärmel aufkrempelte.

Der Anblick der muskulösen, leicht gebräunten Unterarme ließ Bilder in Inka aufsteigen, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Momentaufnahmen aus ihrem Leben mit Daniel, der nicht nur ihr erster Partner nach dem Tod ihres Mannes gewesen war, sondern auch die zweite große Liebe ihres Lebens.

Wie sehr sehnte sie sich nach Daniel, der ihr all das gab, was sie seit Eriks Tod vermisst hatte. Nach diesem Körper, der so viel Wärme ausstrahlte. Der sonoren Stimme, die so gut trösten und so schöne Träume zeichnen konnte. Den Armen, die sie umfingen, ohne sie besitzen zu wollen, und die sie immer und überall beschützten.

Beschützt hatten!, fiel Inka ein und der Romantik-Film riss. Sie stöhnte innerlich über sich selbst, zog sich aus Daniels imaginären Armen zurück und zwang sich zum unzähligsten Mal dazu, die Realität zu akzeptieren. Daniel war ein Irrtum gewesen, ein einziger riesengroßer Irrtum, seine Liebe nichts als ein Trugschluss, die Romanze eine Illusion. Er hat dich nicht geliebt, hämmerte ihr Verstand auf ihre Seele ein, er hat dich nur benutzt.

»Frau Brook?« Greifs Stimme knarzte wie eine Eiche im Sturm.

»Ja?« Inka beäugte die Kommissare. Greif gaffte sie von oben herab an. Inka wandte sich an Marion Lutz. »Darf ich endlich erfahren, warum Sie mich herbestellt haben?«

»Sie dürfen, Frau Brook«, antwortete Greif, bevor die Hauptkommissarin den Mund aufmachen konnte. »Wir haben noch eine Sache zu klären.« Er drückte das Kinn auf die Brust.

»Als da wäre?«

Greif gönnte sich noch eine Kunstpause, dann schob er den Kopf ein wenig vor und sagte wie selbstverständlich: »Der Verbleib der zwei Millionen Euro aus dem Tresor im Haus von Daniel Kornblum. Des Weiteren der Verbleib eines winzig kleinen Schmucktresors.« Er deutete mit den Händen die Ausmaße des Safes an. »Stahl, unkaputtbar und gut verschlossen. Und ja: Der zugehörige Schlüssel wird auch vermisst. Vom Inhalt ganz zu schweigen.«

»Zwei Millionen? In Daniels privatem Tresor?« Inka richtete sich mit einem Ruck kerzengerade auf.

Lutz’ Augen durchdrangen sie wie Röntgenstrahlen.

»Sie haben richtig gehört.« Greif schob eine Hand in die Jeanstasche und nickte.

Inka konnte nur mit Mühe einen hysterischen Lachanfall unterdrücken. Langsam verlagerte sie ihr Gewicht auf eine Seite, stützte sich auf die Armlehne und faltete ihre Hände zusammen. Einmal, zweimal atmete sie durch. Dann versuchte sie, ihre Fassung wiederzufinden. »Und Sie gehen allen Ernstes davon aus, dass ich Ihnen dazu einen Tipp geben kann?«

»Hätten wir Sie sonst hierhergebeten?«, fragte Marion Lutz. Sie schob mit dem Kugelschreiber eine Haarsträhne hinters Ohr.

Inka sah Lutz aus dem Augenwinkel an. »Wenn es diese zwei Millionen wirklich gäbe und wenn ich wüsste, wo sie sind, glauben Sie, dann säße ich jetzt hier?«

Greif legte einen Finger an die Nasenspitze. »Das Merkwürdige ist: Wir wissen definitiv, dass es diese zwei Millionen gegeben hat, aber niemand kann uns erklären, wo sie abgeblieben sind. Herr Kornblum kann sich nicht einmal mehr daran erinnern, das Geld überhaupt entgegengenommen zu haben. Das Kästchen übrigens auch nicht.« Er legte eine Pause ein, schob nun auch die andere Hand in die Hosentasche und zuckte betont lässig mit den Schultern. »Offenbar haben die Scheinchen ganz allein den Weg nach Nirgendwo angetreten.«

»Wenn selbst Herr Kornblum nichts von dem Geld weiß«, fragte Inka, »wie wollen Sie dann so sicher sein, dass es überhaupt bei ihm angekommen ist? Und dieses Schmuckkästchen, was soll denn da drin gewesen sein?«

»Ein Diamant«, sagte Marion Lutz.

»Der Blaue Stern«, ergänzte Greif.

»Der Blaue ...?« Inka riss die Augen auf und rutschte auf die Kante ihres Stuhls vor. »Der ist doch seit Jahren verschollen. Irgendwo in Südafrika, soweit ich weiß.«

»Er war verschollen«, sagte Greif. »Bis Rocco Graubner ihn aufgetrieben und an sich genommen hat, fürsorglich, wie er in solchen Dingen ist.« Er verzog das Gesicht zu einer ironischen Grimasse. »Dann hat er ihn bei Kornblum deponiert, damit Sie«, er zeigte mit dem Finger auf Inka, »dem Steinchen einen angemessenen Rahmen verpassen. Von so einer Art Pokal soll die Rede gewesen sein. Ein hoher, geschwungener Pokalkörper, auf dem der Blaue Stern thronen sollte.« Greif zeichnete die Form des Pokals mit den Händen in der Luft nach, und Inka fragte sich, ob er nicht eher die Konturen einer üppig gebauten Frau vor seinem geistigen Auge modelliert hatte.

»Das glaub ich nicht«, sagte sie. »Entweder war Graubners Stein ein Fake oder Sie tischen mir ein Märchen auf.«

»Frau Brook, wir müssen darüber nicht diskutieren.« Marion Lutz wühlte in der Hängemappe, die sie vorhin aus dem Aktenschrank geholt hatte. Sie zog ein Blatt hervor und schob ihre Lesebrille auf die Nase. »Letzte Woche Montag um acht Uhr dreißig haben zwei Männer aus dem Graubner-Clan einen Aktenkoffer mit dem Geld und dem Diamanten in Kornblums Haus gebracht. Einer der beiden Ganoven hat gestanden.« Ein scharfer Blick von Lutz traf Inka. »Sie selbst waren zu der Zeit auch im Haus.«

»Stimmt, die Männer waren bei uns. Ich wusste aber nicht, wer sie waren und was sich in dem Aktenkoffer befand.« Inka sah auf ihre Hände. »An dem Morgen war die Welt für mich noch in Ordnung. Ein paar Stunden später nicht mehr.« Sie presste die Lippen zusammen.

Lutz und Greif schwiegen.

»Daniel hatte nicht viel Zeit«, fuhr Inka fort. »Er wollte an dem Tag nach Antwerpen. Kurz nachdem die beiden Besucher wieder gegangen sind, ist er los.«

»Hat er den Aktenkoffer mitgenommen?«

»Nein, den hatten die Männer wieder dabei, als sie das Haus verlassen haben. Daniel hat nur seinen Trolley mitgenommen, mit ein bisschen Kleidung drin. Ich hab ihn selbst gepackt. Daniel wollte ja über Nacht in Belgien bleiben.«

Marion Lutz nickte, um dann weiter aus den Aufzeichnungen zu zitieren. »Sie waren also einen Tag und eine Nacht, bis zu Kornblums Rückkehr, allein in seinem Haus.«

»War ich nicht! Ich bin ins Geschäft gefahren, als Daniel weg war. Es gibt Kunden, die das bezeugen können. Und am Abend hab ich stundenlang heulend bei Ihnen gesessen, das wissen Sie doch genau. Danach bin ich zu meiner besten Freundin gefahren. Die hat mich gegen Mitternacht nach Hause gebracht. Ich bin die ganze Nacht in meiner Wohnung geblieben, auch wenn an Schlaf nicht zu denken war nach dem Schock.« Inka sah die Kommissare verzweifelt an. »Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie Daniels Haus und den Laden nicht sofort bewacht haben, nachdem ich Ihnen von der Geldwäsche erzählt hab. Und was weiß ich, vielleicht haben Sie sogar mich beschatten lassen. Dann muss ich Ihnen doch nicht mehr beweisen, wo ich war.«

Greif konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Er übernahm das Gespräch wieder. »Sie bestreiten aber nicht, dass Sie an besagtem Montagmorgen eine Zeit lang, auch wenn es nur ein paar Minuten waren, allein in Kornblums Haus waren.«

Inka schüttelte unsicher den Kopf. Sie hatte die Hände verschränkt und drehte die Daumen umeinander. »Nein.«

»Die Geheimzahl des elektronischen Tresorschlosses dürfte Ihnen bekannt gewesen sein.« Der Kommissar lehnte sich zurück und griff sich ans Kinn. »Nach allem, was Herr Kornblum Ihnen angetan hat, wäre es doch denkbar, ja geradezu logisch und verständlich, dass Sie eine ziemlich gute Kenntnis davon haben, wo der Blaue Stern und die Milliönchen sich in genau diesem Augenblick versteckt halten«, sagte er und lächelte schlitzohrig auf Inka herab.

Inka hob die Hände und wurde laut: »Ich wusste ja bis vor drei Minuten nicht einmal, dass es dieses Geld überhaupt gibt!«

»Gab«, korrigierte Greif sie seelenruhig.

Inka sprang auf. »Wissen Sie was?«, rief sie aus. »Mir wird das hier wirklich zu bunt! Ständig diese Unterstellungen! Erst glauben Sie mir nicht, dass ich Ihnen ein Verbrechen melde. Ich sehe Ihr Gesicht noch genau vor mir, Frau Lutz, als ich hier gesessen hab.« Inka ahmte die Kommissarin nach: »›Herr Kornblum ist ein angesehener Mann, Frau Brook. Hatten Sie Streit mit ihm oder will er Sie verlassen? Unterstellen Sie ihm deshalb illegale Geschäfte? Wollen Sie ihm eins auswischen?‹«

Marion Lutz wechselte die Gesichtsfarbe.

»Und jetzt soll ich mir auch noch ein paar Millionen unter den Nagel gerissen haben. Und den Blauen Stern dazu. Mir reicht’s!« Inka zeigte mit dem Finger auf die beiden Kommissare. »Ich gehe jetzt. Und wenn Sie noch irgendetwas von mir wollen, dann nehm ich mir einen Anwalt.« Sie griff nach Mantel und Handtasche und stürzte zur Tür.

»Setzen Sie sich!«, rief Andreas Greif ihr scharf zu. Dann wurde sein Ton sanfter. »Wir sind noch nicht fertig.«

Inka drehte sich zu ihm um. Der Ausdruck seiner Augen sagte ihr, dass es besser wäre, zu bleiben. Einen Moment lang befürchtete sie, Lutz und Greif würden auch sie verhaften, wenn sie jetzt wegliefe. Sie stellte sich hinter den Besucherstuhl. Die Tasche über die Schulter gehängt und den Trenchcoat überm Arm, stützte sie sich mit einer Hand auf die Rückenlehne. »Durchsuchen Sie doch einfach meine Wohnung«, sagte sie zaghaft. »Jetzt sofort.«

Lutz schüttelte kaum merklich den Kopf, ohne Inka anzusehen. Dann gab sie ihrem Kollegen einen Wink, mit der Befragung fortzufahren.

»Wer außer Ihnen hatte noch einen Schlüssel zu dem Haus von Herrn Kornblum?«, fragte Greif. »Gibt es Familienmitglieder, die Zugang hatten?«

»Ich war ein halbes Jahr mit Daniel zusammen«, stöhnte Inka und verfluchte den dauerskeptischen Blick des Kommissars. »Woher soll ich wissen, wem er in den mehr als zwei Jahrzehnten, die er dieses Haus besitzt, einen Schlüssel gegeben hat?«

»Ist ein Hausschlüssel bei einem Nachbarn deponiert?«, fragte Lutz. »Es gibt doch sicher jemanden, der die Blumen gegossen und nach dem Briefkasten gesehen hat, wenn Herr Kornblum im Urlaub war.«

»Ich weiß es nicht.« Inka schüttelte hilflos den Kopf. »Warum gehen Sie nicht einfach hin und klappern die ganze Straße ab? Durchsuchen Sie die Häuser, gucken Sie in jeder Hundehütte nach. Vielleicht finden Sie das Geld ja irgendwo. Ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen.«

Wieder ging Inka zur Tür. Doch bevor Lutz und Greif sie nochmals zurückpfeifen konnten, blieb sie von sich aus stehen und wandte sich zu ihnen um. »Die Männer, die Daniel die Millionen gebracht haben wollen«, fragte sie, »was ist, wenn sie ihm das Geld gar nicht ausgehändigt haben? Wenn es gar nicht im Koffer war? Vielleicht hat Rocco Graubner es ihnen gegeben, damit Daniel es wäscht, und dann haben diese Typen es sich in die eigene Tasche gesteckt und den Diamanten auch?«

Andreas Greif schüttelte den Kopf. »Dann wären sie doch gleich damit über alle Berge entschwunden und nicht erst zu Kornblum gegangen«, sagte er. »Außerdem weiß doch jedes Kind: Einen Rocco Graubner legt man nicht rein, ohne ernsthaft um sein Leben fürchten zu müssen.«

Lutz runzelte die Stirn, nagte an ihrer Unterlippe und sortierte das Blatt, von dem sie vorhin abgelesen hatte, wieder in die Hängemappe ein. Sie schob die Akte an den Rand des Schreibtischs. »Setzen Sie sich noch mal«, sagte sie, ohne Inka anzusehen, und wies mit dem Kopf auf den Besucherstuhl.

Inka verzog den Mund, trottete wieder zu dem Stuhl zurück und hockte sich demonstrativ nur auf die Kante.

»Frau Brook.« Lutz lehnte sich zurück. Ihre Hände spielten mit dem Kugelschreiber. »Wenn die Millionen und der Blaue Stern nicht bald auftauchen, könnte es gefährlich für Sie werden.«

»Für mich? Wieso das denn?«

»Weil Rocco Graubner nicht daran zweifeln wird, dass einzig und allein Sie die Person sein können, die seine Spielsachen einkassiert hat«, sagte Andreas Greif. Er sprach ruhig und langsam, doch seine Stimme verriet, dass er die Geduld verlor.

»Dann heben Sie den Schatz am besten noch heute, wo auch immer«, sagte Inka trocken. Scheinbar seelenruhig zog sie ihren Mantel an und verließ das Büro. Mit gesenktem Kopf ging sie durchs Treppenhaus.

Alles in ihr zog sich zusammen. Da war es wieder, dieses Gefühl, ihr Leben nicht mehr selbst steuern zu können. Ausgeliefert zu sein. Abwarten zu müssen, was mit ihr geschah.

 

***

 

»... und entschwand aus dem Raum wie die Weiße Dame um Mitternacht aus dem Salon des Jagdschlosses«, sagte Andreas Greif. In seinem Grinsen lag ein Anflug von Spott. Dann versteinerte sein Gesicht. Er griff nach einem Döschen Büroklammern, das auf dem Schreibtisch seiner Kollegin lag, schleuderte es so fest gegen die Wand, dass es zerbrach, und stieß einen Fluch aus.

»Die sammelst du aber wieder ein«, sagte Marion Lutz und zeigte auf die bunten Klammern, die sich über den Linoleumboden verteilt hatten. »Zweihundert Stück.«

»Warum hast du sie gehen lassen?«, fragte Greif. Er angelte sich einen Apfel aus der Obstschale, die auf der Fensterbank stand. Mit lautem Krachen biss er hinein. Wie immer schüttelte Lutz sich bei dem Geräusch, doch Greif ignorierte ihren vorwurfsvollen Blick. Hastig knabberte er Stücke von dem Apfel ab und schluckte sie kaum zerkaut hinunter.

»Hätte ich sie denn einsperren sollen?«, fragte Lutz.

Greif stierte vor sich hin und dachte nach. »Auf jeden Fall sollten wir sie im Auge behalten.«

»Sie hat das Geld nicht und sie hat den Diamanten nicht. Das hab ich dir gleich gesagt. Die Frau hat gar nicht das Zeug dafür, so eine riskante Nummer durchzuziehen.«

»Ich glaube, du unterschätzt sie!« Greif warf die Apfelkitsche in den Eimer und wischte sich die Hand an der Jeans ab. »Wollen wir wetten?«