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BEREITS ERSCHIENEN

WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2

WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9

WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde
Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5

WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3

WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4

WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7

WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0

WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0

WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals
Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3

WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit
Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4

WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2

WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis
Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3

WARCRAFT Band 1: Der Tag des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1266-6

WARCRAFT Band 2: Der Lord der Clans
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1337-3

WARCRAFT Band 3: Der letzte Wächter
Jeff Grubb – ISBN 978-3-8332-1338-0

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 1: Die Quelle der Ewigkeit
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1092-1

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 2: Die Dämonenseele
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1205-5

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 3: Das Erwachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1202-4

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DER LETZTE WÄCHTER

Jeff Grubb

Ins Deutsche übertragen von Claudia Kern

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek

erhältlich.

German translation copyright © 2016 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „WARCRAFT (3): The Last Guardian“ by Jeff Grubb. © Copyright 2016 Blizzard Entertainment, Inc. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York

No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).

Übersetzung: Claudia Kern

Lektorat: Manfred Weinland, Andreas Kasprzak

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover art by Sam Didier

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDWARC003E

ISBN 978-3-8332-3404-0

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-1338-0

9. Auflage, Oktober 2015

www.paninibooks.de

Für Chris Metzen,
der die Vision behielt

PROLOG

DER EINSAME TURM

Der größere der beiden Monde war an diesem Abend zuerst aufgegangen und hing nun silbrig weiß vor einem klaren, sterngesprenkelten Himmel. In seinem schimmernden Licht erhoben sich die Gipfel des Rotkammgebirges. Bei Tag zauberte die Sonne Magenta- und Rosttöne auf die schroffen Granitspitzen, doch im Mondlicht erhoben sie sich nur als dunkle, grimmige Schatten. Im Westen erstreckte der Wald von Elwynn seinen schweren Baldachin aus Eichen- und Satinholz bis zum weit entfernten Meer. Im Osten breitete sich der trostlose Sumpf des Schwarzen Morasts aus, ein Land der Marschen und niedrigen Hügel, der Moore und toten Wasser, der gescheiterten Siedlungen und lauernden Gefahren. Ein Schatten huschte am bleichen Antlitz des Mondes vorbei, ein Schatten von der Größe eines Raben. Er hielt auf eine Lücke im Herzen der Berge zu.

Hier war ein gewaltiger Brocken aus den Rängen der Rotkammgebirgskette gerissen worden und hatte ein kreisförmiges Tal zurückgelassen. Vor Urzeiten mochte hier einmal ein gewaltiger Himmelskörper niedergestürzt sein, der die Gipfel mit der Macht seines Einschlags zum Beben gebracht hatte, aber die Erinnerung an diese Heimsuchung war lange verblasst, und die Schale des Kraters hatte sich in einen Kreis steilkantiger Anhöhen verwandelt, kleiner Geschwister der gewaltigen Berge, die väterlich zu ihnen herabblickten. Keiner der alten Bäume von Elwynn wagte sich in diese Höhe, und das Innere des Hügelrings lag öde unter dem Auge des Mondes. Nur verfilztes Unkraut fristete hier ein karges Dasein.

Im Zentrum des Rings erhob sich ein nackter Hügel, so kahl wie das Haupt eines Kaufmanns aus Kul Tiras. Tatsächlich erinnerte die Art, wie die Anhöhe jäh aufstieg und sich dann sanft zu einem fast flachen Plateau neigte, an die Form eines menschlichen Schädels. Viele hatten dies im Laufe der Jahre bemerkt, doch nur wenige waren mutig oder mächtig – oder taktlos – genug gewesen, ihre Beobachtung gegenüber dem Herrn des Bühls zu erwähnen.

Auf der abgeflachten Spitze des Hügels erhob sich ein alter Turm, ein riesiger, mahnender Finger aus weißem Stein und dunklem Mörtel, eine von Menschenhand geschaffene Eruption, die stolz in den Himmel schoss und höher kletterte als die sie umstehenden Erhebungen. Der Turm leuchtete bleich im Mondlicht. Eine niedrige Mauer an seinem Fuß umrahmte einen Burghof, in dem die verfallenen Ruinen eines Pferdestalls und einer Schmiede zu erkennen waren. Aber der Turm dominierte alles.

Einst hatte man diesen Ort Karazhan genannt. Einst war er das Domizil des letzten der rätselhaften Wächter von Tirisfal gewesen. Einst hatte dieser Ort gelebt. Jetzt war er nur noch verlassen und vergessen.

Ein Schweigen lag über dem Turm, und doch waren Bewegungen in ihm zu erkennen. In der Umarmung der Nacht huschten stille Gestalten von Fenster zu Fenster. Phantome tanzten auf Balkonen und Brüstungen. Weniger als Geister, doch mehr als bloße Erinnerungen, waren sie Treibgut der Vergangenheit, das vom Fluss der Zeit angeschwemmt worden war. Diese Schatten hatte der Besitzer des Turms in seinem Wahn losgebrochen, und jetzt waren sie verdammt, ihre Theaterstücke, ihre Komödien und Tragödien, immer und immer wieder in der Stille des verlassenen Turms aufzuführen. Verflucht zum Inszenieren, wurde ihnen aber gleichzeitig des Künstlers größter Schatz, ein Publikum, das ihre Possen hätte genießen können, verweigert.

Doch eines Tages brach sich in der Stille das weiche Kratzen eines Stiefels. Es wiederholte sich. Eine Bewegung blitzte im schimmernden Mondlicht auf, ein Schatten vor dem weißen Stein, das Flattern eines zerrissenen, roten Mantels in der kühlen Nachtluft. Eine Gestalt schritt über die oberste Brüstung des Turms, die vor einem Raum lag, der vor Jahren als Observatorium gedient hatte.

Die Tür zum Observatorium öffnete sich mit kreischenden Scharnieren und stoppte jäh, als Rost und der Lauf der Zeit sie lähmten. Die Gestalt hielt einen Moment lang inne. Dann legte sie einen Finger auf das Scharnier und murmelte ein paar ausgesuchte Worte. Danach schwang die Tür vollends und völlig lautlos auf, die Scharniere waren wie neu. Der Eindringling erlaubte sich ein Lächeln.

Das Observatorium war als solches unbrauchbar geworden. Was an Apparaturen noch übrig war, lag zerschmettert in der Kammer verstreut. Der Eindringling, selbst fast so still wie ein Geist, nahm ein zertrümmertes Astrolabium vom Boden auf, dessen Gradskala in irgendeinem längst vergessenen Wutanfall von starker Hand verbogen worden war. Jetzt war das Gerät nur noch ein Klumpen Gold, schwer und tot.

Plötzlich gab es eine weitere Bewegung in der Kammer, und der Eindringling blickte auf. Jetzt stand eine geisterhafte Gestalt neben einem der vielen Fenster, das Phantom eines breitschultrigen, bärtigen Mannes, dessen einst dunkles Haar an den Rändern vorzeitig ergraut war. Es war eine der Scherben der Vergangenheit. Von ihrem Platz genommen, wiederholte sie ihre Aufgabe immer und immer wieder. Egal ob sie einen Betrachter hatte oder nicht.

Gerade hob der dunkelhaarige Mann das Astrolabium, den noch heilen Zwilling jenes Instruments, das der Eindringling in Händen hielt, und justierte es an einem kleinen Knopf an der Seite. Ein Moment, ein prüfender Blick, eine weitere Drehung des Knopfes … und dunkle Brauen furchten sich über geisterhaften, grünen Augen. Noch ein Moment, noch ein prüfender Blick, noch ein Drehen des Knopfes … Schließlich seufzte die große, beeindruckende Gestalt und stellte das Astrolabium auf einen Tisch, der schon lange nicht mehr existierte. Dann verschwand sie.

Der Eindringling nickte. Solcher Spuk hatte Karazhan schon früher heimgesucht, damals, als der Turm noch bewohnt war. Aber jetzt, aus der Kontrolle (und dem Wahnsinn) ihres Meisters entlassen, waren die Phantome dreist geworden. Nichtsdestotrotz gehörten diese Trümmer der Vergangenheit hierher – im Gegensatz zu ihm. Er war der Störenfried, nicht sie.

Der Eindringling durchquerte den Raum und gelangte an die Treppe, die nach unten führte. Während er die Stufen hinabstieg, flackerte hinter ihm wieder der Spuk des älteren Mannes auf und wiederholte seine Aktion. Er hob das Astrolabium und richtete es auf einen Planeten, der schon vor langer Zeit in andere Bereiche des Himmels aufgebrochen war.

Der Eindringling bewegte sich indes im Turm abwärts, durchquerte Stockwerke und Gänge, um andere Treppen und andere Gänge zu erreichen. Keiner der Räume war ihm verschlossen, auch jene nicht, die hinter festen Riegeln ruhten oder deren Türen Rost und Alter versiegelt hatten. Ein paar gemurmelte Worte, eine Berührung, eine Geste, und die Fesseln flogen auf, Rost sammelte sich in roten Haufen am Boden, Scharniere bewegten sich lautlos. An ein oder zwei Orten glommen Schutzzauber, trotz ihres Alters immer noch mächtig. Der Eindringling blieb für einen Augenblick nachdenklich vor ihnen stehen und suchte in seiner Erinnerung nach dem passenden Gegenzauber. Er sprach das richtige Wort, machte die richtige Handbewegung, zerschmetterte die Magie, die hier noch wirksam war, und schritt unbeeindruckt weiter.

Während er seinen Weg durch den Turm fortsetzte, wurden die Schatten der Vergangenheit stetig unruhiger und aktiver. Jetzt, da sie ein Publikum hatten, schien es, als drängte es die vergessenen Geschichten sich zu erzählen, und sei es auch nur, um sich von diesem Ort zu befreien. Was immer sie einst an Klang besessen haben mochten, war vor langer Zeit verwittert, und nur die Bilder waren zurückgeblieben, wandelten durch die Hallen.

Der Eindringling ging an einem greisen Diener in dunkler Livree vorbei, der langsam über einen leeren Gang schlurfte. Der gebrechliche, alte Mann trug ein silbernes Tablett, und Scheuklappen zierten die Seiten seines Kopfes. Der Störenfried durchquerte die Bibliothek, wo eine grünhäutige junge Frau, ihm den Rücken zugewandt, saß und sich über ein altes Buch beugte. Er durchschritt einen Bankettsaal, an dessen einem Ende eine Gruppe von Musikanten geräuschlos aufspielte, während Tänzer in einer Gavotte wirbelten. Am anderen Ende brannte eine große Stadt, deren Flammen vergeblich gegen die Steinwände und verrotteten Wandteppiche leckten. Der Eindringling ging durch die schweigenden Flammen. Sie konnten ihm nichts anhaben, aber sein Gesicht verzog sich angespannt, als er ein weiteres Mal Zeuge wurde, wie die mächtige Stadt Sturmwind um ihn herum niederbrannte.

In einem Raum saßen drei junge Männer um einen Tisch und erzählten sich längst vergessene Lügen. Becher aus Metall lagen auf dem Tisch und darunter. Der Störenfried stand lange vor diesem Bild, bis eine Phantomkellnerin eine neue Runde brachte. Er schüttelte den Kopf und ging weiter.

Fast auf der untersten Ebene angekommen, trat er auf einen niedrigen Balkon hinaus, der unsicher wie ein Wespennest an der Mauer über dem Haupteingang hing. Dort, vor dem Turm, zwischen dem Eingang und dem zerfallenen Pferdestall, stand ein einzelnes, geisterhaftes Bild, einsam und verloren. Es bewegte sich nicht wie die anderen, es stand nur da, unsicher, zögernd, ein Fragment der Vergangenheit, das nicht entlassen worden war. Ein Fragment, das auf ihn wartete.

Das bewegungslose Bild zeigte einen jungen Mann mit schwarzem, unordentlichem Haar, durch das ein breiter, weißer Streifen verlief. Das schüttere Haar eines Bartes, der gerade erst zu sprießen begonnen hatte, tat seinem Gesicht keinen Gefallen. Ein ramponierter Rucksack lag zu Füßen des Jungen, der einen rot versiegelten Brief in der Hand hielt.

Dies war kein Geist, wusste der Eindringling, obwohl der Jüngling inzwischen tot sein mochte, im Kampf unter einer fremden Sonne gefallen. Dies war eine Erinnerung, Treibgut der Vergangenheit, gefangen wie ein Insekt im Bernstein. Sie wartete auf ihre Befreiung. Sie wartete auf ihn.

Der Störenfried legt die Hände auf das steinerne Sims des Balkons und blickte hinaus über den Burghof, über die Anhöhe, über den Hügelring. Schweigen herrschte im Mondlicht, und auch die Berge schienen den Atem anzuhalten und auf ihn zu warten.

Der Eindringling hob eine Hand und intonierte eine Reihe gesungener Worte. Zunächst kamen die Reime und Rhythmen leise, dann lauter, und schließlich wurden sie zu Rufen, zu Schreien. Sie zerschmetterten die Stille. In der Ferne nahmen Wölfe den seltsamen Gesang auf und warfen einen heulenden Kontrapunkt zurück.

Und das Bild des geisterhaften Jungen, dessen Füße im Schlamm gefangen schienen, atmete tief ein. Es packte den mit Geheimnissen beladenen Rucksack auf seine Schultern und schleppte sich auf das Tor von Medivhs Turm zu.

EINS

KARAZHAN

Khadgar umklammerte das rot versiegelte Empfehlungsschreiben und versuchte verzweifelt, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Tagelang war er geritten, hatte verschiedene Karawanen begleitet und sich schließlich allein durch die weiten, dunklen Wälder von Elwynn auf den Weg nach Karazhan gemacht. Dann der beschwerliche Aufstieg in die Berge, bis er diesen ruhigen, einsamen Ort erreicht hatte. Selbst die kalte Luft schien hier von besonderer Art zu sein. Nun stand der junge Mann mit dem dünnen Bart im Hof, wund und müde im schwindenden Licht der Abenddämmerung, versteinert vor Angst angesichts dessen, was er jetzt tun musste: beim mächtigsten Magier von Azeroth vorstellig werden.

Es ist eine große Ehre, hatten die Weisen der Kirin Tor gesagt. Eine Gelegenheit, so versicherten sie ihm und er sich selbst, die man nicht verstreichen lassen durfte. Khadgars Lehrer – ein Konklave einflussreicher Gelehrter und Magier – hatten ihm erzählt, wie sie schon seit Jahren versuchten, ein geneigtes Ohr im Turm von Karazhan zu finden. Die Kirin Tor wollten erfahren, welches Wissen der mächtigste Magier des ganzen Landes in seiner Bibliothek versteckte, welche Forschungen er betrieb. Und vor allem wollten sie, dass dieser geheimnisvolle Einzelgänger endlich begann, für sein Erbe zu planen und einen Nachfolger heranzuziehen.

Der große Medivh und die Kirin Tor stritten offenbar seit Jahren über dies und anderes, und erst jetzt gab der Magus ein paar ihrer flehentlichen Bitten nach. Erst jetzt wollte er einen Schüler annehmen. Ob dies bedeutete, dass das einhelligen Berichten zufolge überaus harte Herz des Magiers endlich weich wurde, ob es nur ein diplomatischer Schachzug war, oder ob der Magier endlich seine Sterblichkeit zu spüren begann, war Khadgars Meistern gleichgültig. Der mächtige, unabhängige (und für Khadgar höchst geheimnisvolle) Magier hatte um einen Assistenten gebeten, und die Kirin Tor, die das magische Königreich von Dalaran regierten, waren überglücklich, dieser Bitte nachkommen zu dürfen.

So wurde der junge Khadgar ausgewählt und losgeschickt – mit einer Liste von Forderungen, Anweisungen, Befehlen, Gegenbefehlen, Bitten, Vorschlägen, Ratschlägen und weiteren Forderungen seiner Meister. Frage Medivh nach den Kämpfen seiner Mutter mit Dämonen, hatte Guzbah, sein Erster Lehrer, gebeten. Durchforste seine Bibliothek nach allem, was du über die Geschichte der Elfen finden kannst, bat Lady Delth. Geh all seine Bestiarien durch, befahl Alonda, der überzeugt war, dass es eine fünfte Trollrasse gab, die in seinen eigenen Büchern bisher noch unerwähnt geblieben war. Sei direkt, offen und ehrlich, riet Norlan, der Hauptkunstwerker – der große Magus Medivh schien solche Charaktereigenschaften zu schätzen. Sei fleißig und tu, was man dir sagt. Zeig immer Interesse. Steh gerade! Und vor allem … halte Augen und Ohren offen.

Die Ambitionen der Kirin Tor bereiteten Khadgar kein großes Kopfzerbrechen – seine Erziehung in Dalaran und seine Lehrzeit beim Konklave hatten ihm klar gemacht, dass seine Mentoren von einer unstillbaren Neugier auf Magie in all ihren Formen und Gestalten beherrscht waren. Ständig sammelten, katalogisierten und definierten sie Magie und lehrten ihre Schüler die gleiche Besessenheit. Khadgar unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von den anderen.

Tatsächlich, so hatte er klar erkannt, war es wahrscheinlich gerade seine eigene nimmersatte Neugierde, die ihn erst in seine jetzige missliche Lage gebracht hatte. Seine nächtlichen Streifzüge durch die Hallen der Violetten Zitadelle von Dalaran hatten mehr als nur ein paar Geheimnisse enthüllt, die das Konklave lieber nicht an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollte.

Die leidenschaftliche Liebe des Hauptkunstwerkers zum Flammenwein beispielsweise; oder Lady Delths Neigung zu jungen Kavalieren, die kaum halb so alt waren wie sie selbst; oder die heimliche Sammlung des Bibliothekars Korrigan, der Dutzende von Pamphleten versteckt hielt, die in reißerischer und ausführlicher Manier die Praktiken historischer Dämonenanbeter beschrieben.

Und da war die Geschichte mit dem ehrwürdigen Arrexis, einem der größten Weisen von Dalaran, einer Grauen Eminenz, die selbst die anderen respektierten. Er war verschwunden oder gestorben oder etwas noch Schrecklicheres, und die anderen hatten sich entschlossen, darüber zu schweigen, wobei sie sogar so weit gingen, Arrexis’ Namen aus ihren Annalen zu streichen. Nie wurde von ihm gesprochen, doch Khadgar hatte trotzdem herausgefunden, dass etwas mit ihm geschehen war – nur was genau, das blieb selbst seinen Nachforschungen verborgen. Khadgar besaß ein Talent dafür, den beiläufigen Hinweis zu finden, die nötige Verbindung herzustellen oder zur richtigen Zeit mit der richtigen Person zu sprechen. Es war eine Gabe, die sich noch einmal als Fluch erweisen mochte.

Jede dieser Entdeckungen konnte dazu geführt haben, dass er diese ehrenvolle (und trotz aller Planungen und Warnungen möglicherweise tödliche) Mission übertragen bekommen hatte. Vielleicht waren seine Meister zu der Ansicht gelangt, der junge Khadgar sei ein wenig zu gut darin, Geheimnissen nachzuspüren, und es wäre besser für das Konklave, wenn man ihn an einen Ort schickte, wo seine Neugier etwas Vorteilhaftes für die Kirin Tor bewirken konnte – oder wo er zumindest so weit von der Violetten Zitadelle entfernt war, dass er nicht noch mehr Indiskretionen über seine Meister ans Licht brachte.

Also machte sich der junge Mann mit einem Rucksack voller Notizen und einem Herzen voller Geheimnisse – und einem Kopf voller klarer Forderungen und nutzloser Ratschläge – auf den Weg. In der letzten Woche vor seiner Abreise aus Dalaran hatte ihn fast jedes Mitglied des Konklaves mindestens einmal zu sich gerufen, und keiner dieser Magier war nicht brennend an Medivh interessiert gewesen. Für einen Magier, der im entlegendsten Winkel des Nirgendwo hauste, umgeben von Bäumen und ominösen Bergen, widmeten die Kirin Tor ihm erstaunlich große – und erstaunlich brennende – Neugierde.

Khadgar sog tief den Atem durch die Nase ein – was ihn daran erinnerte, dass er sich noch immer zu nahe bei den Pferdeställen aufhielt – und schritt auf den Turm zu. Seine Füße fühlten sich an, als zöge er sein Lastpony an einem Seil hinter sich her, das an seinen Knöcheln festgebunden war.

Vor ihm gähnte der Haupteingang wie eine Höhle. Er besaß weder Tor noch Fallgatter. Das machte Sinn, denn welche Armee würde sich durch den Wald von Elwynn kämpfen und die steilen Wände des Kraters erklimmen, nur um sich dann dem Magus Medivh stellen zu müssen? Es existierten keinerlei Aufzeichnungen, dass irgendjemand oder irgendetwas jemals versucht hätte, Karazhan zu belagern.

Der im Schatten liegende Eingang war so hoch, dass ein Elefant ihn hätte passieren können. Darüber hing ein breiter Balkon mit einer Balustrade aus weißem Stein. Von dort aus musste man auf einer Ebene mit den Hügeln sein, die die Anhöhe wachsam umstanden, und sogar einen Zipfel der dahinterliegenden Berge erkennen können.

Etwas huschte über die Balustrade, eine winzige Bewegung, die Khadgar eher fühlte als sah. Vielleicht eine in ein weites Gewand gehüllte Gestalt, die vom Balkon zurück in den Turm trat. Beobachtete man ihn? Jedenfalls gab es niemanden, der kam, um ihn zu begrüßen. Wurde erwartet, dass er sich allein in den Turm begab?

„Du … bist … der … Neue?“, fragte schleppend eine sanfte, dunkle Stimme.

Khadgar, der den Kopf noch immer hoch zum Balkon gereckt hatte, schrie beinahe vor Schreck auf. Vor ihm war eine gebeugte, dürre Gestalt aus den Schatten des Eingangs herausgetreten.

Das krumme Geschöpf sah nur vage menschlich aus, und einen Augenblick lang fragte sich Khadgar, ob Medivh Waldtiere verwandelte, um sie als Diener für sich arbeiten zu lassen. Diese Kreatur hier erinnerte ihn an ein haarloses Wiesel, dessen langes Gesicht von etwas eingerahmt wurde, das aussah wie ein Paar schwarzer Rechtecke.

Die Wieselgestalt trat weiter aus den Schatten heraus und wiederholte ihre Frage. „Du … bist … der … Neue?“ Jedes Wort wurde mit einem eigenen Atemzug artikuliert, eingeschlossen in eine eigene kleine Kiste, isoliert von den anderen. Die Kreatur trat nun vollkommen ans Licht und gab sich als nicht mehr und nicht weniger Bedrohliches zu erkennen als einen peitschendürren alten Mann in einer dunklen Kammgarn-Livree. Ein Diener – aber zweifellos wohl doch ein Mensch. Er trug noch immer die dunklen Rechtecke an den Seiten seines Kopfes, wie einen Satz Ohrenschützer, die sich nach vorne bis zu seiner weit vorstehenden Nase hin erstreckten.

Der Besucher bemerkte, dass er den alten Mann anstarrte. „Khadgar“, sagte er. Dann, einen Augenblick später, hielt er das Empfehlungsschreiben hoch. „Von Dalaran. Khadgar von Dalaran, im Königreich von Lordaeron. Ich bin von den Kirin Tor gesandt. Von der Violetten Zitadelle. Von Dalaran. In Lordaeron.“ Ihm war, als werfe er kleine Wortsteine in einen großen, leeren Brunnen, und er hoffte, der alte Mann werde auf irgendeines dieser Wurfgeschosse reagieren.

„Natürlich bist du Khadgar“, entgegnete der alte Mann. „Von den Kirin Tor. Von der Violetten Zitadelle. Von Dalaran. Von Lordaeron.“ Der Diener nahm den ihm dargebotenen Brief, als sei das Dokument ein lebendiges Reptil, und nachdem er die zerknitterten Ecken glattgestrichen hatte, steckte er es in die Weste seiner Livree, ohne es geöffnet zu haben. Nachdem Khadgar den Brief so viele Meilen getragen und beschützt hatte, fühlte er einen seltsamen Verlustschmerz. Dieses Schreiben stellte seine Zukunft dar, und er sah es ungern verschwinden, sei es auch nur für kurze Zeit.

„Die Kirin Tor schicken mich, um Medivh zu assistieren. Lord Medivh. Der Magier Medivh. Medivh von Karazhan.“ Khadgar wurde klar, dass er nur einen halben Schritt davon entfernt war, in einem vollkommenen Gestammel zusammenzubrechen, und mit einer entschlossenen Anstrengung schloss er fest den Mund.

„Da bin ich mir sicher“, sagte der Diener. „Dass die Kirin Tor dich geschickt haben, meine ich.“ Er klopfte auf das Siegel des Briefes, der aus seiner Weste hervorschaute. Dann tauchte eine dünne Hand unter die andere Seite seiner Weste und zog ein Paar schwarze Rechtecke hervor, das durch ein dünnes Metallband miteinander verbunden war. „Scheuklappen?“

Khadgar blinzelte. „Nein. Ich meine, nein, danke.“

„Moroes“, sagte der Diener.

Khadgar schüttelte den Kopf.

„Ich bin Moroes“, sagte der Diener. „Verwalter des Turms. Medivhs Kastellan. Scheuklappen?“ Wieder hob er die schwarzen Rechtecke, die wie Zwillinge jenen glichen, die sein eigenes, schmales Gesicht umrahmten.

„Nein, danke … Moroes“, sagte Khadgar, dessen Gesicht vor Neugier zu zucken begann.

Der Diener drehte sich um und gab Khadgar mit einem schwachen Wink seines Armes zu verstehen, ihm zu folgen.

Khadgar nahm seinen Rucksack auf und musste sich sputen, um den Diener einzuholen, der schon weit vor ihm ging und in den Schatten kaum mehr zu erkennen war. Obwohl er sehr gebrechlich wirkte, bewegte sich der Verwalter mit einem erstaunlichen Tempo.

„Seid Ihr allein im Turm?“, fragte Khadgar, als sie begannen, eine geschwungene Treppe mit breiten, niedrigen Stufen empor zu steigen. Der Stein senkte sich in der Mitte, wo ihn Myriaden von Diener- und Gästefüßen abgeschliffen hatten.

„Häh?“, machte der Diener.

„Seid Ihr allein?“, wiederholte Khadgar seine Worte und fragte sich, ob er gezwungen sein würde, wie Moroes zu sprechen, um verstanden zu werden. „Lebt Ihr hier allein?“

„Der Magus ist hier“, antwortete Moroes mit einer keuchenden Stimme, die so dünn und so tot wie Grabesstaub klang.

„Ja, natürlich“, sagte Khadgar.

„Würde nicht viel Sinn machen, dass du hierher kommst, wenn er es nicht wäre“, fuhr der Diener fort. „Hier, meine ich.“

Khadgar überlegte, dass die Stimme des Alten so düster klang, weil sie nicht oft benutzt wurde. „Natürlich“, stimmte er zu. „Sonst noch jemand?“

„Du. Jetzt“, fuhr Moroes fort. „Mehr Arbeit, sich um zwei zu kümmern, als um einen. Nicht, dass man mich fragte.“

„Also nur Ihr und der Magier dann, normalerweise?“, sagte Khadgar. War der Verwalter wegen seiner Wortkargheit angestellt (oder geschaffen) worden?

„Und die Köchin“, sagte Moroes. „Obwohl die Köchin nicht viel redet. Aber danke der Nachfrage.“

Khadgar versuchte verzweifelt, sich zurückzuhalten und nicht mit den Augen zu rollen, aber er schaffte es nicht. Möglicherweise verhinderten jedoch die Scheuklappen zu beiden Seiten von Moroes’ Kopf, dass der Verwalter sein despektierliches Verhalten bemerkte.

Sie erreichten ein erstes Stockwerk und kreuzten einen ersten Gang, der von Fackeln beleuchtet wurde. Moroes schritt sofort munter auf einen weiteren Aufgang in der Mitte abgewetzter, geschwungener Stufen zu, doch Khadgar blieb einen Augenblick stehen, um die Fackeln zu betrachten. Er hielt eine Hand bis auf wenige Zoll an die flackernde Flamme, aber er fühlte keine Hitze. Khadgar fragte sich, ob die kalten Flammen im gesamten Turm zu finden waren. In Dalaran benutzte man phosphoreszierende Kristalle, die ein gleichmäßiges, konstantes Glühen ausstrahlten, doch bei seinen Nachforschungen war er auf Berichte von reflektierenden Spiegeln gestoßen und auf Elementargeister, die in Laternen gefangen gehalten wurden – und ein Buch sprach von riesigen gefangenen Glühwürmchen. Doch diese Feuer schienen wie festgefroren zu sein.

Moroes, der schon halb die nächste Treppe hinauf war, drehte sich langsam um und gab ein keuchendes Husten von sich. Khadgar beeilte sich, ihm zu folgen. Offenbar behinderten die Scheuklappen den alten Verwalter nicht sonderlich.

„Warum die Klappen?“, fragte Khadgar.

„Häh?“, machte Moroes.

Khadgar berührte die Seiten seines eigenen Kopfes. „Die Scheuklappen. Warum?“

Moroes verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, von der Khadgar nur annehmen konnte, dass sie ein Lächeln darstellen sollte. „Magie ist stark hier. Stark. Und falsch. Manchmal. Man sieht … hier … Dinge. Wenn man nicht vorsichtig ist. Ich bin vorsichtig. Andere Besucher, deine Vorgänger, waren das weniger. Sie sind jetzt nicht mehr hier.“

Khadgar dachte an das Phantom, das er auf dem überhängenden Balkon gesehen oder nicht gesehen hatte, und nickte.

„Die Köchin trägt eine Brille aus Rosenquarzlinsen“, fügte Moroes hinzu. „Schwört darauf.“ Er machte eine kleine Pause, dann fügte er hinzu: „Die Köchin ist in dieser Hinsicht etwas töricht.“

Khadgar hoffte, Moroes würde etwas gesprächiger werden, sobald er sich an ihn gewöhnt hatte. „Also, Ihr seid schon lange im Haushalt des Magiers?“

„Häh?“, machte Moroes wieder.

„Ihr seid schon lange bei Medivh?“, fragte Khadgar und hoffte, dass man seiner Stimme die Ungeduld nicht anhörte.

„Lange genug“, sagte der Verwalter. „Zu lange. Scheint mir wie Jahre. Die Zeit ist hier so.“ Der verwitterte Diener ließ seine Stimme verklingen, und die beiden gingen weiter schweigend die Treppe hinauf.

„Was wisst Ihr über ihn?“, wagte Khadgar schließlich zu äußern. „Den Magus, meine ich.“

„Die Frage lautet wohl eher“, sagte Moroes und öffnete noch eine Tür, die eine weitere Treppe enthüllte. „Was weißt du über ihn?“

Khadgars eigene Nachforschungen in dieser Angelegenheit waren erstaunlich unproduktiv gewesen und seine Ergebnisse enttäuschend dürftig. In der Großen Bibliothek der Violetten Zitadelle (und in ein paar Privatbibliotheken und geheimen Sammlungen) fand sich wenig über den großen und mächtigen Medivh. Dies war doppelt seltsam angesichts der Tatsache, dass jeder Magier in Dalaran Ehrfurcht vor Medivh zu empfinden und die eine oder andere Sache von ihm zu wünschen schien. Einen Gefallen, eine Gunst, eine kleine Information.

Medivh war offenbar ein ziemlich junger Mann – nach den Maßstäben von Magiern. Er war erst in seinen Vierzigern, und während eines Großteils seines Lebens schien er keinerlei Wirkung auf seine Umgebung besessen zu haben. Das war eine Überraschung für Khadgar. Die meisten Berichte, die er gehört und gelesen hatte, beschrieben unabhängige Magier als extrem angeberisch, furchtlos im Spiel mit Geheimnissen, die nicht für Menschen bestimmt sind, und normalerweise tot, verkrüppelt oder verdammt, weil sie sich mit Mächten einließen, die ihre eigenen Kräfte überstiegen. Die meisten Geschichten, die er als Kind über nicht dalaranische Magier gehört hatte, endeten mit der gleichen Moral: Ohne Zurückhaltung, Kontrolle und Vernunft nehmen die wilden, untrainierten und autodidaktischen Magier stets ein böses Ende (und manchmal, aber nicht oft, zerstören sie dabei noch einen Großteil des Landes).

Doch Medivh hatte weder eine Burg über sich zum Einsturz gebracht, noch seine Atome über den Wirbelnden Nether verteilt und auch keinen Drachen beschworen, ohne zu wissen, wie man einen solchen Feuerspeier kontrolliert. Das ließ entweder große Zurückhaltung oder große Macht vermuten. Angesichts des Rummels, den die Gelehrten um Khadgars Mission gemacht hatten, und der endlosen Liste von Anweisungen, die man ihm mitgegeben hatte, entschied der Junge, dass Letzteres der Fall sein musste.

Doch trotz all seiner Nachforschungen konnte Khadgar nicht herausfinden, was diesem Medivh den enormen Respekt eingetragen hatte, den er genoss. Nichts wies auf irgendwelche großen Leistungen des Magiers hin, auf wichtige Forschungen oder eine einzigartige Entdeckung – was die offensichtliche Ehrfurcht erklärt hätte, mit der die Kirin Tor diesem unabhängigen Magus begegneten. Keine gewaltigen Kriege, keine großen Eroberungen, keine mächtigen Schlachten. Die Barden wurden merklich einsilbig, wenn es um Dinge ging, die Medivh betrafen, und ansonsten geschwätzige Boten wussten nichts beizusteuern, wenn es an der Zeit war, die Verdienste des Magiers zu diskutieren.

Und doch, so erkannte Khadgar, gab es hier etwas Wichtiges, etwas, das in den Gelehrten der Violetten Zitadelle eine Mischung aus Furcht, Respekt und Neid weckte. Die Kirin Tor erachteten in der magischen Wissenschaft normalerweise keine Magier außerhalb ihres Zirkels als gleichwertigen; tatsächlich versuchten sie sogar oft, jene Magier, die der Violetten Zitadelle nicht die Treue geschworen hatten, in ihrem Tun zu behindern. Und doch verneigten sie sich in tiefster Ehrfurcht vor Medivh. Warum?

Khadgar besaß nur ein paar Wissensfetzen – lückenhafte Informationen über die Eltern (Guzbah war besonders interessiert an Medivhs Mutter), ein paar an den Rand eines Zauberbuchs gekritzelte Notizen, in denen der Name Medivhs auftauchte, und die Erwähnung gelegentlicher Besuche in Dalaran. All diese Besuche hatten innerhalb der letzten fünf Jahre stattgefunden, und offenbar traf sich Medivh nur mit älteren Magiern, wie beispielsweise jenem inzwischen verschollenen Arrexis.

Um es zusammenzufassen: Khadgar wusste so gut wie gar nichts über diesen angeblich so mächtigen Magier, dem er zugewiesen worden war. Und da er Wissen als seine Rüstung und sein Schwert betrachtete, fühlte er sich jämmerlich schlecht gewappnet für die Begegnung, die ihm nun bevorstand.

Laut sagte er: „Nicht viel.“

„Häh?“, keuchte Moroes und drehte sich halb auf der Treppe um.

„Ich sagte, ich weiß nicht viel“, sagte Khadgar lauter, als er es eigentlich wollte. Seine Stimme hallte von den nackten Wänden wider. Die Treppe war jetzt geschwungen, und Khadgar fragte sich, ob der Turm tatsächlich so hoch war, wie er von außen schien.

„Natürlich weißt du nichts“, sagte Moroes. „Junge Leute wissen nie viel. Das ist es, was sie jung macht, nehme ich an.“

„Ich meine …“, begann Khadgar irritiert. Er machte eine Pause und atmete tief ein. „Ich meine, ich weiß nicht viel über Medivh. Ihr habt mich gefragt.“

Moroes hielt für einen Moment inne. Sein Fuß schwebte mehrere Zoll über der nächsten Stufe. „Ich nehme an, das habe ich getan“, sagte er schließlich und begann, weiter die Treppe hinauf zu steigen.

„Wie ist er?“, fragte Khadgar mit fast flehender Stimme.

„Wie alle anderen auch, nehme ich an“, sagte Moroes. „Gibt Sachen, die er mag. Gibt Sachen, die er hasst. Hat seine Launen. Gute Tage und schlechte. Wie alle anderen auch.“

„Und zieht sich erst ein Hosenbein an und dann das andere“, seufzte Khadgar.

„Nein. Er schwebt in seine Hosen hinein“, erklärte Moroes. Der alte Diener blickte sich zu Khadgar um, und der Junge erkannte die flüchtige Andeutung eines Lächelns auf dem Gesicht des Greises. „Noch eine Treppe.“

Die letzte Treppe wand sich sehr eng um sich selbst, und Khadgar nahm an, dass sie sich der Turmspitze näherten. Der alte Diener ging weiter voran.

Die Treppe öffnete sich in einen kreisförmigen Bereich, der von einer breiten Brüstung umgeben war. Khadgar hatte richtig vermutet, sie befanden sich ganz oben im Turm, in einem großen Observatorium. Wände und die Decke wurden von kristallenen Fenstern durchbrochen, die klar und sauber waren.

Während er und Moroes den Turm hinaufgestiegen waren, hatte sich die Nacht vollkommen herabgesenkt, und draußen wölbte sich der Himmel dunkel und mit Sternen übersät.

Im Observatorium selbst herrschte Dämmerlicht. Ein paar Fackeln verströmten das gleiche kalte Licht, das Khadgar schon zuvor bemerkt hatte. Doch diese hier waren teilweise abgedeckt, damit man den Nachthimmel betrachten konnte. Ein nicht entzündetes Kohlebecken befand sich in der Mitte des Raumes, wahrscheinlich vorbereitet für später, da die Temperatur bis zum Morgen sicherlich fallen würde.

Mehrere große, geschwungene Tische zogen sich an der äußeren Wand des Observatoriums entlang und waren mit allen möglichen Apparaten vollgestellt. Silberne Waagen und goldene Astrolabien dienten als Beschwerer für Papiere oder als Lesezeichen, die alte Bücher auf bestimmten Seiten offen hielten. Ein Modell, das die planetaren Bewegungen am Himmelsgewölbe darstellte, stand halb auseinandergenommen auf einem Tisch. Dünne Drähte und zusätzliche Planeten-, Sonnen- und Mondperlen lagen neben den empfindlichen Werkzeugen. Ein Dutzend Notizbücher stapelte sich an einer Wand, und weitere lagen in Kisten, die unter die Tische gequetscht worden waren. Eine Karte des Kontinents war über einen Rahmen gezogen und zeigte die südlichen Länder von Azeroth und Khadgars Heimat Lordaeron ebenso wie die einsiedlerischen Zwergen- und Elfen-Königreiche von Khaz Modan und Quel’Thalas. Zahlreiche kleine Nadeln bedeckten die Karte, doch Khadgar erkannte nicht, wofür die Markierungen standen.

Und Medivh war hier. Denn der Mann dort in mittleren Jahren, der sein langes Haar auf dem Rücken zu einem Zopf zusammengeflochten trug, konnte unmöglich jemand anderes sein. In seiner Jugend war sein Haar wahrscheinlich ebenholzschwarz gewesen, doch jetzt ergraute es bereits langsam an den Schläfen und entlang des Bartes. Khadgar wusste, dass viele Magier frühzeitig alterten, da die Kontrolle der magischen Kräfte, die sie zu nutzen verstanden, großer Anstrengungen bedurfte.

Medivhs Gewänder waren für einen Magier sehr schlicht, aber dennoch elegant und auf seine große Gestalt abgestimmt. Eine kurz Kasel, das nicht mit Verzierungen geschmückt war, hing an der Taille über das Beinkleid, das in riesigen Stiefeln endete. Ein schwerer, kastanienbrauner Mantel lag um seine breiten Schultern. Die Kapuze war zurückgeworfen.

Nachdem sich Khadgars Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, musste er feststellen, dass sein erster Eindruck, die Kleidung des Magiers sei schmucklos, falsch gewesen war. Tatsächlich war sie mit so feinem Silberfiligran durchsetzt, dass es auf den ersten Blick unsichtbar war. Khadgar blickte auf den Rücken des Magiers und erkannte das stilisierte Gesicht irgendeiner alten Dämonenlegende. Er blinzelte, und das Muster verwandelte sich in einen zusammengerollten Drachen, dann in einen Nachthimmel.

Medivh hatte dem alten Diener und dem jungen Mann den Rücken zugewandt und ignorierte sie vollkommen. Er stand an einem der Tische, ein goldenes Astrolabium in der einen Hand, ein Notizbuch in der anderen. Er war in Gedanken versunken, und Khadgar fragte sich, ob dies eines der „Dinge“ war, vor denen Moroes ihn gewarnt hatte.

Khadgar räusperte sich und trat einen Schritt nach vorne, aber Moroes hob eine Hand. Khadgar erstarrte auf der Stelle. Ein magischer Spruch hätte ihn nicht wirksamer bannen können.

Stattdessen trat der greise Diener leise an die Seite des Meistermagiers und wartete darauf, dass Medivh seine Gegenwart wahrnahm. Eine Minute verging. Eine zweite. Am Ende hätte Khadgar schwören können, dass eine Ewigkeit verstrichen war.

Der Magus setzte das Astrolabium ab und kritzelte ein paar Zeichen in sein Notizbuch. Er schloss es mit einem scharfen Schnappen und blickte zu Moroes.

Als er das Gesicht des Magiers nun erstmals betrachten konnte, dachte Khadgar, Medivh sei viel älter als seine angeblichen Vierziger. Das Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und verwittert. Khadgar fragte sich, welche Magie Medivh praktizierte, die solch ausgeprägte Spuren auf seinen Zügen hinterließ.

Moroes griff in seine Weste und holte das zerknitterte Empfehlungsschreiben heraus, dessen Siegel hier im Fackelschein wie geronnenes Blut aussah. Medivh wandte sich um und betrachtete den Jungen.

Die Augen des Magiers lagen tief unter dunklen, schweren Brauen, aber Khadgar erkannte sofort die Kraft darin. Etwas tanzte und flackerte in diesen tiefgründigen, grünen Augen, etwas Mächtiges, etwas möglicherweise Unkontrolliertes. Etwas Gefährliches. Der Meistermagier blickte zu ihm, und nach einem Moment fühlte sich Khadgar, als habe der Magier sein gesamtes Leben betrachtet und es für nicht interessanter befunden als das eines Käfers oder das einer Fliege.

Medivh wandte den Blick von Khadgar ab und widmete seine Aufmerksamkeit dem noch immer versiegelten Brief. Khadgar entspannte sich sofort, als sei ein großes, hungriges Raubtier an ihm vorbeigegangen, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen.

Seine Erleichterung dauerte nicht lange. Medivh ließ den Brief ungeöffnet. Stattdessen zogen sich seine Brauen leicht zusammen, und das Pergament ging rauschend in Flammen auf. Das Feuer sammelte sich an dem von Medivh abgewandten Ende des Dokuments und flackerte in intensivem Blau.

Als Medivh sprach, klang seine Stimme sowohl tief als auch amüsiert.

„So“, sagte der Magier und ignorierte den Umstand, dass Khadgars Zukunft in seinen Händen loderte. „Es scheint also, als sei unser kleiner Spion endlich eingetroffen.“