BEREITS ERSCHIENEN:
WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2
WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9
WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde
Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5
WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9
WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7
WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3
WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4
WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7
WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0
WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0
WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit
Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4
WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2
WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis
Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3
WARCRAFT Band 1: Der Tag des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1266-6
WARCRAFT Band 2: Der Lord der Clans
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1337-3
WARCRAFT Band 3: Der letzte Wächter
Jeff Grubb – ISBN 978-3-8332-1338-0
WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 1: Die Quelle der Ewigkeit
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1092-1
WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 2: Die Dämonenseele
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1205-5
WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 3: Das Erwachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1202-4
Jenseits des dunklen Portals
Aaron rosenberg
und Christie golden
Ins Deutsche übertragen von
Mick Schnelle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Amerikanische Originalausgabe: “WORLD OF WARCRAFT: Beyond the Dark Portal” by Aaron Rosenberg and Christie Golden, published by Simon and Schuster, Inc., July 2008.
Deutsche Übersetzung © 2008, 2016 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 2016 Blizzard Entertainment, Inc. All Rights Reserved. “WORLD OF WARCRAFT: Beyond the Dark Portal”, WORLD OF WARCRAFT, Blizzard Entertainment are trademarks or registered trademarks of Blizzard Entertainment in the U.S. and/or other countries. All other trademarks are the property of their respective owners.
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Übersetzung: Mick Schnelle
Lektorat: Manfred Weinland, Dr. Sabine Jansen, Andreas Kasprzak
Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest
Chefredaktion: Jo Löffler
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Cover art by Glenn Rane
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDWARC010E
ISBN 978-3-8332-3408-8
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-1791-3
3. Auflage, März 2015
www.paninibooks.de
Für meine Familie und Freunde und ganz besonders für meine großartige Frau, die mir geholfen hat, den Strom aufzuhalten.
Für David Honigsberg (1958–2007), Musiker, Autor, Computerspieler, Rabbi und ganz besonderer Freund. Zeig dem Himmel, wie man rockt, Amigo.
PROLOG
„Wirf schon!“
„Halt die Klappe!“
„Verdammt, würfle endlich!“
„Gut!“, knurrte Gratar und beugte sich vor. Seine kräftigen Schultern spannten sich an. Er schüttelte die Würfel derart schnell, dass die geschlossene Faust fast schon vor den Augen verschwamm. Dann öffnete er die Hand, und die kleinen Knochenwürfel fielen klackernd heraus.
„Ha!“, lachte Brodog. Seine Hauer stießen aus dem Unterkiefer hervor. „Nur eine Eins!“
„Verdammt!“ Gratar setzte sich wieder schmollend auf den Stein, während er Brodog dabei zusah, wie er die Würfel einsammelte und sie erneut kräftig schüttelte. Er wusste nicht, warum er überhaupt noch mit Brodog spielte. Der Orc gewann praktisch immer. Es war fast schon widernatürlich.
Widernatürlich. Der Begriff war für Gratar fast bedeutungslos geworden. Er blickte zu dem knallroten Himmel auf, der sich bis zum Horizont erstreckte. Die Sonne strahlte in der gleichen Farbe.
Die Welt war nicht immer so gewesen. Gratar war alt genug, um sich daran erinnern zu können, dass der Himmel einst blau gestrahlt hatte. Die Sonne war warm und gelb gewesen und die Felder und Täler von sattem Grün. Er war in tiefen, kühlen Seen und Flüssen geschwommen, nicht ahnend, wie wertvoll Wasser einst werden würde. Der unmittelbare Kontakt mit diesem Element stillte eines der grundlegenden Bedürfnisse des Lebens.
Heutzutage aber wurde unverseuchtes Wasser in Fässern geliefert und war streng rationiert.
Gratar erhob sich. Dabei beobachtete er, wie roter Staub aufwirbelte. Sein Hals war knochentrocken. Er nahm den Wasserschlauch und trank einen Schluck. Der Staub bedeckte seine grüne Haut und hellte sein schwarzes Haar auf. Alles war irgendwie rot, als wäre die Welt in Blut getaucht worden.
Widernatürlich!
Aber der Grund, warum er und Brodog hier stationiert waren und ihre Zeit an diesem staubverhangenen Tag mit Glücksspielen vertrödelten, war das Widernatürlichste überhaupt.
Gratar sah zu dem hoch aufragenden Steinbogen hinüber, zwischen dessen Säulen ein schillernder Vorhang aus Energie glitzerte.
Das Dunkle Portal.
Gratar wusste, dass das merkwürdige Tor in eine andere Welt führte, obwohl er selbst es noch nie passiert hatte. Niemand aus seinem Clan war je hindurchgegangen. Doch er hatte beobachtet, wie stolze Krieger der Horde das Portal betraten, um Ruhm im Kampf gegen die Menschen und deren Verbündete zu ernten.
Ab und zu waren ein paar Orcs zurückgekommen, um vom Erfolg der Horde zu berichten. Aber seit einiger Zeit war niemand mehr erschienen. Keine Nachrichten, keine Kundschafter, nichts.
Gratar furchte die Stirn und ignorierte das klackernde Geräusch von Brodogs Würfeln. Etwas am Portal schien … sich verändert zu haben.
Gratar trat näher an das Tor heran. Die Haare auf seinen Armen und der Brust richteten sich auf.
„Gratar! Du bist dran. Was machst du denn da?“
Gratar ignorierte Brodogs Rufen. Blinzelnd schaute er auf die wirbelnden Schleier aus Energie. Was geschah nur in jener merkwürdigen anderen Welt?
Während er den wabernden Schimmer beobachtete, verstärkte der sich plötzlich. Der eben noch für Blicke undurchdringliche Vorhang wurde durchsichtig. Gratar konnte wie durch schwarzes Wasser hindurchsehen. Er blinzelte, schaute genauer hin … und stolperte, nach Atem ringend, rückwärts.
Direkt vor seinen Augen spielte sich eine wilde und brutale Schlacht ab.
„Was ist das?“ Brodog stand mit einem Mal neben ihm, auch er hatte nun das Spiel vergessen und holte tief Luft. Beide schauten eine Sekunde lang tatenlos zu, bevor Gratar sich besann.
„Los!“, rief er Brodog zu. „Berichte, was hier vor sich geht! Mach schon, sag es … dem Kommandanten!“ Brodogs Augen klebten immer noch an der Szene vor ihm. „Oder nein“, zischte Gratar. Er wusste instinktiv, dass sein Kommandant hiermit überfordert sein würde. Ein Orc hingegen war dem gewachsen. „Ner’zhul. Geh zu Ner’zhul … Er weiß gewiss, was zu tun ist.“
Brodog nickte und lief los. Dabei schaute er sich noch ein paarmal um. Gratar hörte, wie sich die Schritte entfernten, doch sein Blick haftete weiter an der Schlacht, die zwar intensiv auf ihn wirkte, nichtsdestotrotz aber sehr fern schien. Er konnte ein paar Orcs sehen. Einige glaubte er zu erkennen. Doch sie kämpften gegen merkwürdige Gestalten, die kleiner und schmächtiger, dafür aber besser gerüstet waren. Die Fremden – sie wurden „Menschen“ genannt, wie Gratar sich erinnerte – waren schnell und so zahlreich wie Mücken. Sie griffen die belagerten Orcs an und überwältigten einen nach dem anderen.
Wie konnten seine Leute solch eine Niederlage verwinden? Wo war Schicksalshammer? Gratar entdeckte keine Spur des massigen, mächtigen Häuptlings. Was war auf der anderen Welt passiert?
Er beobachtete immer noch fasziniert, als sich Schritte näherten. Gratar riss sich mühsam von der Szene los und sah, dass Brodog nicht allein zurückgekehrt war. Einer der Begleiter war größer und stärker als jeder Orc, hatte milchweiße Haut und markante Gesichtszüge. Den Oger-Magier erkannte Gratar am gerissenen Ausdruck in den kleinen Schweinsäuglein.
Wichtiger als dieser ihn überragende Begleiter war der Orc, der auf das Portal zustürmte. Obwohl sein Haar grau war und sein Gesicht schwer gezeichnet, war Ner’zhul der Häuptling des Schattenmondclans. Einst war er der versierteste Schamane gewesen, den die Orcs je hatten. Sein Körper wirkte nach wie vor kräftig und seine braunen Augen scharf. Er starrte in das Portal und das sich undeutlich hinter dem Vorhang abzeichnende Desaster.
„Eine Schlacht also“, sagte Ner’zhul gedankenverloren.
Und zwar eine, die die Horde verliert, dachte Gratar für sich.
„Wie lange hast …“, begann Ner’zhul, kam aber nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Plötzlich veränderte sich der Raum, den das Portal begrenzte, und die Energien darin wirbelten wild. Eine Hand durchdrang den Vorhang, als bestünde er aus Wasser. Licht und Schatten ließen die grüne Haut schimmern, die die Barriere durchbrach. Dann folgte ein Kopf, danach der Leib, und schließlich war der Orc durch. Er hielt seine Axt und wirkte verwirrt, als er an Ner’zhul und den anderen vorbeirannte, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Ihm folgte ein weiterer Orc, dann noch einer … und immer mehr, bis eine wahre Flut aus dem Vorhang quoll. Die Orcs rannten, so schnell ihre Füße sie trugen.
Aber es waren nicht nur Orcs. Gratar sah sieben Oger durchbrechen und eine Gruppe kleinerer, schlankerer Gestalten, die in ihren Gewändern zu versinken schienen.
Ein Krieger erregte Gratars spezielle Aufmerksamkeit. Er war zu groß und massig, um ein richtiger Orc zu sein. Gleichwohl, seine brutalen Gesichtszüge wiesen auf Ogerblut hin. Dieser Streiter war nicht in Panik verfallen wie die anderen, sondern wirkte zielgerichtet, als würde er auf etwas zu-, statt davon weglaufen. Ihm folgte ein riesiger, rabenschwarzer Wolf.
Ein Orc drängelte sich an dem Krieger vorbei, als sie aus dem Portal traten und rief: „Aus dem Weg, Halbblut!“ Doch der Krieger schüttelte nur den Kopf und ignorierte die Beleidigung. Der Wolf aber knurrte den Orc an, bis der Krieger ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen brachte. Augenblicklich gehorchte das Tier und verstummte. Der Krieger legte seine große Hand beruhigend auf den schwarzen Kopf seines Begleiters.
„Was ist geschehen?“, fragte Ner’zhul laut. „Du!“ Der Schamane wies auf eine der unbekannten Gestalten. „Was für eine Art Orc bist du? Warum bedeckst du dein Gesicht? Komm her!“
Die Gestalt blieb stehen, dann zuckte sie mit den Achseln und trat näher an Ner’zhul heran. „Wie du willst“, sagte sie mit kalter Stimme, die ein wenig spöttisch klang. Trotz der Hitze auf der leblosen Erde fröstelte Gratar.
Eine gepanzerte Hand warf die Kapuze zurück, und Gratar schrie erschrocken auf. Vielleicht waren die Gesichtszüge der Kreatur einst angenehm und normal gewesen, das war jedoch lange her. Die Haut war von fahlem Graugrün, und ein Loch klaffte an der Stelle, wo das Ohr auf die Wange traf. Schleim lief daraus hervor. Die aufgedunsenen, aufgeplatzten, violetten Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während die Augen in einem Ausdruck abseitigen Humors und ungezähmter Schläue funkelten.
Dieses Wesen erinnerte an einen Toten.
Selbst Ner’zhul zuckte zurück. Aber er erholte sich rasch. „Wer … bist du?“, fragte er und unterdrückte ein Zittern in seiner Stimme. „Und was willst du hier?“
„Erkennst du mich denn nicht? Ich bin Teron Blutschatten“, antwortete die Gestalt und lachte angesichts des offensichtlichen Unbehagens des Schamanen.
„Unmöglich! Der ist tot und kommt nicht wieder. Getötet von Schicksalshammer, zusammen mit dem Rest des Schattenrats!“
„Ich bin in der Tat tot“, stimmte die Kreatur zu. „Und dennoch bin ich hier. Dein alter Schüler Gul’dan hat einen Weg gefunden, uns in diesen verrottenden Kadavern wiederzubeleben.“ Er zuckte mit den Achseln, und Gratar konnte hören, wie das leblose Fleisch protestierend knirschte.
„Gul’dan?“ Den alten Schamanen schockierte die Erwähnung des Namens mehr als der Anblick des lebenden Leichnams. „Dein Herr lebt noch? Dann solltest du zu ihm zurückkehren. Du hast mich und die Pfade eines Schamanen verlassen, bist stattdessen seiner Führung gefolgt und ein Hexenmeister geworden. Das war, als du noch gelebt hast, Missgeburt. Dann diene ihm nun auch im Tode!“
Aber Blutschatten schüttelte den Kopf. „Gul’dan existiert nicht mehr. Und das ist ein Glück. Er hat uns alle verraten und Schicksalshammer dazu gezwungen, ihn zu bekämpfen statt wie geplant eine Stadt der Menschen einzunehmen. Dieser Verrat hat uns den Krieg gekostet.“
„Wir … haben verloren?“, stammelte Ner’zhul. „Aber … wie ist das möglich? Die Horde bedeckte einst die ganze Ebene, und Schicksalshammer würde niemals kampflos aufgeben!“
„Oh, er hat gekämpft“, antwortete Blutschatten. „Aber all seine Stärke reichte am Ende nicht aus. Er tötete den Anführer der Menschen, wurde jedoch im Gegenzug selbst überwältigt.“
Ner’zhul war wie erstarrt. Er schaute sich die keuchenden, blutverschmierten Orcs und Oger an, die noch vor Kurzem durch das Portal gestürmt waren. Dann holte er tief Atem, straffte sich und wandte sich dem Oger zu, der ihn begleitet hatte. „Dentarg … Ruf die Häuptlinge zusammen. Sag ihnen, sie mögen sich augenblicklich hier versammeln und Waffen und Rüstungen mitbringen. Wir …“
Der Stoß trat ohne Vorwarnung aus dem Portal. Ein mächtiger Energieschub strömte hervor, der sie alle zu Boden warf.
Gratar rang nach Atem, weil die Windböe sämtliche Luft aus ihm herausgepresst hatte. Er kam gerade wieder auf die Beine, als ihn die zweite Entladung traf, noch heftiger als die erste. Diesmal wurden Felsbrocken von den Energien aufgewirbelt, die das Portal speisten. Gestein unterschiedlichster Größe flog ihnen entgegen. Der Energievorhang waberte und wurde schließlich wieder undurchsichtig.
„Nein!“ Ner’zhul rannte auf das Portal zu. Er war nur noch ein paar Schritte entfernt, als der leuchtende Vorhang aufflackerte, sich zusammenzog, kurz in jeder Aktivität innehielt … und schließlich explodierte.
Steine und Staub wirbelten auf. Ner’zhul wurde wie ein alter Knochen durch die Luft gewirbelt und krachte schwer zu Boden. Dentarg brüllte laut, eilte an die Seite seines Meisters und hob ihn hoch, als hätte er keinerlei Gewicht. Der alte Schamane bewegte sich nicht mehr, der Kopf hing schlaff herunter, die Augen waren geschlossen, und er blutete leicht.
Einen chaotischen Moment lang tobte um sie herum ein energetisches Inferno. Die frei werdenden Kräfte heulten wie wütende Geister. Genauso abrupt, wie sie aufgetreten waren, erloschen die Lichter dann auch wieder. Der Vorhang verschwand, und nur das leere Steinportal blieb zurück.
Das Dunkle Portal war … zerstört.
Gratar schaute auf den steinernen Bogen und auf die Krieger der Horde, die das Portal ein letztes Mal auf ihrer Flucht passiert hatten.
Schließlich blickte er zu Dentarg und dem alten Schamanen hinüber, den der Oger erstaunlich sanft auf den Armen trug.
Bei den Ahnen – was sollten sie jetzt bloß tun?
KAPITEL EINS
„Ner’zhul!“
Blutschatten und Gaz Seelenreißer betraten das Dorf, als gehörte es ihnen. Eilig stapften sie über den festgetretenen Staub. Neugierige Bewohner streckten die Köpfe aus den Türen oder Fenstern ihrer Hütten, aber nur um sich sofort wieder zurückzuziehen, als die Eindringlinge sie mit einem unheilvollen Blick aus ihren widernatürlich leuchtenden Augen bedachten.
„Ner’zhul!“, rief Blutschatten erneut in schneidendem Befehlston. „Ich will mit dir reden!“
„Ich kenne dich nicht“, knurrte ein Stimme hinter ihm. „Und ich will dich auch nicht kennenlernen. Du befindest dich auf dem Land des Schattenmondclans. Geh – oder stirb.“
„Ich muss mit Ner’zhul reden“, antwortete der Todesritter und wandte sich dem kräftigen Krieger zu, der sich bedrohlich hinter ihm aufgebaut hatte. „Sag ihm, dass Teron Blutschatten da ist.“
Der Orc reagierte bestürzt auf den Namen. „Blutschatten? Du bist ein Todesritter?“ Er verzog das Gesicht und präsentierte, während er Blutschatten und seinen Begleiter musterte, drohend seine Hauer. Dann raffte er offensichtlich allen Mut zusammen. „Ihr seht nicht allzu gefährlich aus.“
„Wir sind gefährlich genug“, antwortete Seelenreißer. Er wandte sich ab und nickte jemandem zu, den der Orc nicht sehen konnte. Mehrere Gestalten, deren Gesichter unter den Kapuzen verhüllt waren, traten mit glühenden Augen aus den Schatten der Dorfhütten und bauten sich neben ihrem Anführer auf. Blutschatten lachte, und der Orc schluckte. „Nun hol deinen Meister, damit dir deine Überheblichkeit nicht zum Verhängnis wird.“
„Ner’zhul empfängt niemanden“, erwiderte der Orc. Er begann zu schwitzen, hatte aber offensichtlich seine Befehle, an die er sich halten wollte.
Blutschatten seufzte, ein merkwürdig pfeifendes Geräusch entströmte seinen toten Lungen.
„Dann eben das Verhängnis“, sagte er. Bevor der Orc auch nur eine Antwort geben konnte, schnellte Blutschattens gepanzerte Hand vor, dazu murmelte er etwas.
Der Krieger schnappte nach Luft und fiel auf die Knie. Blutschatten machte eine Faust, und plötzlich lief Blut aus Nase, Augen und Mund des unglücklichen Orcs. Blutschatten hatte sich bereits abgewandt und sein Interesse an der Folterung des unbedeutenden Individuums verloren.
„Schwarze Magie!“, rief einer der Schattenmondkrieger und griff zu seiner Axt. „Tötet die Hexenmeister, bevor sie uns alle umbringen!“
Seine Mitstreiter machten sich bereit.
Blutschatten wirbelte herum, und seine leuchtenden Augen zogen sich zusammen. „Wenn ihr alle sterben wollt, dann sei es so. Aber ich werde mit Ner’zhul sprechen!“ Dieses Mal streckte er beide Hände aus, und Finsternis umwirbelte seine Fingerspitzen. Sie dehnte sich wie eine schwarze Flamme aus. Der Orc, der die Axt gezogen hatte, und seine Kameraden wurden umgeworfen. Sie wanden sich auf dem Boden und brüllten vor Schmerz.
„Aufhören! Es hat bereits genug Tote gegeben!“
Die Stimme des alten Orcs war voller Autorität. Blutschatten senkte die Arme. Seine Begleiter taten es ihm gleich und beobachteten ihren Anführer.
„Da bist du ja, Ner’zhul“, sagte Blutschatten betont. „Ich hatte mir schon gedacht, dass ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise erringen kann.“ Er wandte sich Ner’zhul zu und war ein wenig überrascht, als er bemerkte, dass das Gesicht des alten Orcs weiß bemalt war. Es wirkte fast wie ein Totenschädel. Als sich ihre Blicke kreuzten, weiteten sich Ner’zhuls Augen.
„Ich … habe von dir geträumt“, murmelte er. „Ich hatte Visionen vom Tod, und jetzt bist du hier.“ Seine langen, grünen Finger berührten den Totenschädel, zu dem sein Gesicht geschminkt war. „Zwei Jahre lang habe ich davon geträumt. Und jetzt bist du zu mir gekommen. Zu uns allen. Du bist hier, um meine Seele zu holen!“
„Absolut nicht. Ich bin hier, um dich zu retten. Aber … du hast teilweise recht. Ich bin deinetwegen hier, allerdings aus anderen Gründen, als du glaubst. Ich will dich zum Anführer machen.“
Ner’zhul war verwirrt. „Anführer? Warum? Damit ich der Horde noch mehr Schaden zufügen kann? Habe ich nicht schon genug angerichtet?“ Der Blick des alten Schamanen wirkte gehetzt. „Nein, so etwas mache ich nicht mehr. Ich habe unser Volk einst direkt in Gul’dans Arme getrieben – und unsere Welt in den Untergang. Die Horde führte ich in eine Schlacht, die uns beinahe vernichtet hätte. Such dir deinen Anführer woanders.“
Blutschatten furchte die Stirn. Es lief nicht wie erwartet, und er konnte Ner’zhul nicht – so wie dessen Clanbrüder – einfach umbringen. Er versuchte es erneut. „Die Horde braucht dich.“
„Die Horde ist tot!“, zischte Ner’zhul. „Die Hälfte unseres Volkes ist fort, gefangen auf dieser schrecklichen Welt und für immer verloren! Wen also sollte ich anführen?“
„Sie sind nicht für immer verloren“, antwortete Blutschatten, und die kühle Sicherheit in seiner Stimme ließ Ner’zhul aufhorchen. „Das Portal ist zerstört, aber es kann repariert werden.“
Das sicherte ihm Ner’zhuls Aufmerksamkeit. „Was? Wie?“
„Ein kleiner Riss ist in Azeroth geblieben“, erklärte Blutschatten. „Und diese Seite ist immer noch intakt. Ich habe beim Bau des Dunklen Portals geholfen, ich kann es noch spüren. Ich vermag dir dabei zu helfen, den Riss so zu erweitern, dass die Horde in der Lage ist, ihn zu passieren.“
Der Schamane schien das einen Moment lang in Betracht zu ziehen, dann aber schüttelte er den Kopf und fiel sichtbar in sich zusammen. „Was hätten wir davon? Die Allianz ist ein zu mächtiger Gegner. Die Horde wird nie gegen sie gewinnen. Unser Volk ist schon so gut wie tot. Alles, was uns bleibt, ist die Wahl der Todesart.“ Wieder berührten seine Finger unbewusst das aufgemalte Gesicht.
Seine Schwäche ekelte Blutschatten an. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Wrack, besessen vom eigenen Tod und dem der anderen, einst so geachtet gewesen war.
Doch bedauerlicherweise brauchte er ihn.
„Der Tod ist nicht die einzige Wahl. Nicht, wenn wir das Portal neu errichten und benutzen“, konterte Blutschatten und zwang sich zur Ruhe. „Wir müssen gar nicht gewinnen, wir müssen nicht einmal gegen die Allianz kämpfen. Ich habe einen anderen Plan für die Horde. Wenn ich bestimmte Artefakte in die Hände bekäme … Nun, ich habe ein paar Dinge bei Gul’dan gelernt, die …“
„Gul’dan und seine verqueren Pläne. Die reichen sogar über den Tod hinaus und vernichten weiter Leben!“ Ner’zhul starrte Blutschatten finster an. „Du und deine Pläne! Und wie viel Macht erhältst du, wenn du Erfolg hast? Denn Macht ist doch das Einzige, wonach ihr Bastarde vom Schattenrat strebt!“
Blutschattens Geduld, ohnehin noch nie sehr groß, war am Ende. Er packte den alten Schamanen an den Armen und schüttelte ihn wild. „Zwei Jahre sind seit der Zerstörung des Portals vergangen, und du hast dich in deinem Dorf versteckt, während sich die Clans gegenseitig abgeschlachtet haben. Sie bedürfen nur der Führung, dann sind sie wieder mächtig! Mit deinen Anhängern und meinen Todesrittern können wir die Clans dazu zwingen, dass sie dir gehorchen. Nachdem Schicksalshammer tot oder gefangen ist, bist du der Einzige, der sie führen kann. Ich habe das Portal untersucht, den Schaden abgeschätzt, und wie ich bereits sagte, habe ich eine Lösung. Ich habe einige Todesritter dorthin geschickt. Während wir uns hier unterhalten, arbeiten sie an Zaubern, um das Tor wieder zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass es gelingt.“
„Und wie sieht die Lösung aus?“, spie Ner’zhul bitter hervor. „Ist dir ein Weg eingefallen, wie wir nach Azeroth zurückkehren und den Krieg gewinnen können, den wir vor zwei Jahren verloren haben? Ich glaube nicht. Wir werden niemals gewinnen.“ Er wandte sich ab und machte einen Schritt auf seine Hütte zu.
„Vergiss den Krieg! Hör mir zu, alter Mann!“, rief ihm der Todesritter nach. „Wir müssen die Allianz nicht besiegen, weil wir Azeroth nicht erobern müssen!“
Ner’zhul blieb stehen und sah ihn an. „Aber du hast gesagt, du könntest das Portal wieder öffnen. Wenn wir nicht nach Azeroth wollen, ist das doch völlig überflüssig.“
„Wir werden dorthin zurückkehren. Allerdings nicht, um zu kämpfen.“ Blutschatten trat neben ihn. „Wir müssen nur ein paar Artefakte suchen und herbringen. Wenn wir sie erst haben, verlassen wir Azeroth und kehren niemals zurück.“
„Und bleiben hier?“ Ner’zhul wies mit seiner Hand auf das ausgedörrte Land, das sie umgab. „Du weißt so gut wie ich, dass Draenor stirbt. Bald schon wird es uns Zurückgebliebene nicht mehr ernähren können.“
Blutschatten konnte sich nicht daran erinnern, dass der Schamane früher derart langsam von Begriff gewesen war. „Das muss es auch nicht“, versicherte er ihm. Dabei sprach er langsam, wie zu einem Kind. „Wenn wir diese Artefakte haben, können wir sowohl Azeroth als auch Draenor verlassen und anderswohin gehen. Wo es besser ist.“
Jetzt hatte er Ner’zhuls volle Aufmerksamkeit. Ein Hauch von Hoffnung breitete sich über dessen weiß bemaltes Gesicht. Einen langen Moment lang überlegte Ner’zhul, ob er sich lieber in die Abgeschiedenheit des Selbstmitleids zurückziehen … oder die neuen Möglichkeiten akzeptieren sollte.
„Hast du einen Plan?“, fragte ihn der alte Schamane schließlich.
„Allerdings.“
Es folgte eine lange Pause. Blutschatten wartete.
„Ich werde dir zuhören.“ Ner’zhul wandte sich ab und ging zurück in seine Hütte.
Aber diesmal folgten ihm Teron Blutschatten, die Hexenmeister und die Todesritter.
KAPITEL ZWEI
„Schaut euch diesen Ort an!“
Genn Graumähne, König von Gilneas, wies auf die vor ihnen aufragende Zitadelle, durch deren Tore sie gerade gingen. Obwohl er ein großer, stämmiger Mann war, wirkte Graumähne gegen die Burg wie ein Zwerg. Der Bogen des Tores war zweimal so groß wie er selbst. Die anderen Könige nickten, als sie ebenfalls darunter hindurchgingen, und bewunderten die dicken Außenmauern, die aus schweren Blöcken errichtet worden waren. Aber Graumähne schnaubte, und sein Stirnrunzeln bewies, dass er ihre Begeisterung nicht teilte.
„Eine Mauer, ein Turm und eine Burg“, polterte er laut und schaute auf die halb fertigen Gebäude hinter ihm. „Dafür haben wir unser Geld ausgegeben?“
„Sie ist groß“, bemerkte Thoras Trollbann, der Herrscher von Stromgarde, und verschwendete wie üblich so wenig Worte wie möglich. „Groß ist beeindruckend.“
Die anderen Könige murmelten zustimmend. Sie alle bedauerten die Kosten. Vor allen Dingen, weil die Anführer der Allianz sie zu gleichen Teilen tragen mussten.
„Wie viel ist dir deine Sicherheit wert?“, meinte ein großer, schlanker Mann ganz vorne. „Qualität hat nun mal ihren Preis.“
Das Murmeln der anderen verstummte angesichts der unterschwelligen Zurechtweisung. Varian, der neu gekrönte König von Sturmwind, wusste, wie es war, wenn man der Sicherheit beraubt wurde. Seine Reich hatte während des ersten Krieges massiv unter den Orcs gelitten. Der größte Teil der Hauptstadt war verwüstet worden.
„In der Tat. Wie geht es mit dem Wiederaufbau voran, Eure Majestät?“, fragte ein in Marinegrün gekleideter dünner Mann höflich.
„Sehr gut, Herr Admiral“, antwortete Varian. Obwohl Daelin Prachtmeer der Herrscher von Kul Tiras war, bevorzugte er den Marinetitel. „Die Steinmetzgilde leistet exzellente Arbeit, und mein Volk und ich sind ihr zu Dank verpflichtet. Das sind gute Handwerker, die es mit den Zwergen aufnehmen können, und die Stadt wird mit jedem Tag größer.“ Er grinste Graumähne an. „Das ist jedes einzelne Kupferstück wert, würde ich sagen.“
Die anderen Könige lachten, und einer von ihnen, groß und breit mit ergrauendem blondem Haar und blaugrünen Augen, erwiderte Trollbanns Blick und nickte zustimmend. Terenas, Herrscher von Lordaeron, hatte den jungen Varian unterstützt, als der Prinz und sein Volk auf der Suche nach Zuflucht vor der Horde waren. Er hatte den jungen Mann in seinem Heim aufgenommen, bis Varian den Thron seines Vaters besteigen konnte. Jetzt war diese Zeit gekommen, und Terenas und sein alter Freund Trollbann waren mit dem Ergebnis hochzufrieden.
Varian war schlau, charmant, ein ehrenhafter junger Mann, der geborene Anführer und für jemanden, der noch so jung war, bereits ein begabter Diplomat. Terenas betrachtete ihn beinahe wie einen eigenen Sohn, und es erfüllte ihn fast mit väterlichem Stolz, wie es dem jungen Mann gelungen war, das Gespräch zu kontrollieren und die anderen Herrscher von den anfänglichen Beschwerden abzulenken.
„Und dort“, fuhr Varian fort und erhob seine Stimme ein wenig, „steht der Mann, der dieses Wunder wahr gemacht hat.“ Der König wies auf einen großen, kräftig gebauten Mann, der sich angeregt mit einigen staubigen Arbeitern unterhielt. Er hatte schwarzes Haar und dunkelgrüne Augen, die funkelten, als er ihnen einen Blick zuwarf. Offensichtlich hatte er die Worte gehört. Terenas erkannte Edwin Van Cleef, den Kopf der Steinmetzgilde und Verantwortlichen sowohl für Sturmwinds Wiederaufbau als auch den Bau der Burg von Nethergarde.
Varian lächelte und winkte ihn zu sich. „Meister Van Cleef, ich gehe davon aus, dass der Bau gut vorankommt?“
„Das tut er, Euer Majestät, danke“, antwortete Van Cleef zuversichtlich. Er schlug mit der Faust gegen die dicke Außenmauer und nickte stolz. „Die hält jedem Ansturm stand, Sire, das kann ich Euch versprechen.“
„Das weiß ich, Meister Van Cleef“, stimmte Sturmwinds König zu. „Ihr habt Euch hier selbst übertroffen, und das will schon etwas heißen.“
Van Cleef nickte dankend und wandte sich dann ab, als ein anderer Mann bei einem der unvollendeten Gebäude nach ihm rief. „Ich gehe mal besser zurück an die Arbeit, Eure Majestäten.“ Er verneigte sich vor den versammelten Herrschern und entfernte sich dann.
„Schön gemacht“, sagte Terenas leise zu Varian, als sie nebeneinander hergingen. „Graumähne ruhiggestellt und Van Cleef gleichzeitig gelobt.“
Der jüngere König nickte. „Es war ein ehrliches Kompliment, und er wird deswegen noch härter arbeiten“, antwortete er ebenso leise. „Und Graumähne beschwert sich doch nur, weil er sich so gerne reden hört.“
„Du bist für dein Alter schon ganz schön weise“, sagte Terenas lachend. „Eigentlich sogar richtig schlau.“
Natürlich konnte Varians versteckter Tadel Graumähne nicht lange ruhigstellen. Als sie den weiten Innenhof überquerten, begann der König von Gilneas erneut zu murren. Und bald schon sprudelten aus seinem dichten schwarzen Bart neue Vorwürfe hervor. „Ich weiß, dass die Männer hart arbeiten“, gab er knurrend zu. Dabei schaute er Varian an, der zurücklächelte. „Aber wozu dienen all diese Bauten?“ Er wies mit seiner Hand über das einzige vollendete Gebäude, als sie das Falltor passierten. „Warum halsen wir uns soviel Ärger und Kosten auf, um eine so große Burg zu bauen? Sie soll nur das Tal, in dem das Portal einst stand, bewachen, oder nicht? Warum hat dafür eine einfache Burg nicht ausgereicht?“
Khadgar, Erzmagier von Dalaran, tauschte müde, aber leicht amüsierte Blicke mit seinem Magierkollegen aus. Sie vernahmen Graumähnes Stimme, noch bevor sie den großen Raum betraten.
„Schön zu hören, dass Graumähne immer noch der Alte ist“, meinte Antonidas, der Herrscher der Kirin Tor, trocken.
„Ja, manche Dinge ändern sich nie“, antwortete Khadgar und strich sich durch den weißen Bart. Er sah den König an. Die jugendliche Schnelligkeit strafte sein altes, zerfurchtes Gesicht Lügen. „Ihr wollt wissen, was Ihr für Euer Geld bekommen habt?“, sagte er an die Könige gewandt und nickte ihnen grüßend zu, behandelte sie aber ansonsten wie Gleichrangige. Das waren sie auch, denn Khadgar, ein Mitglied der Kirin Tor, war ein Herrscher von eigenen Gnaden.
„Nun, ich verrate es Euch. Die Burg von Nethergarde ist groß. Das muss sie auch sein. Denn eine Menge Leute werden hier leben. Die Magier aus Dalaran und die Soldaten, die sich um weltlichere Bedrohungen kümmern werden. Im Tal unter uns stand einst das Dunkle Portal, der Zugang der Horde in unsere Welt. Wenn sie jemals zurückkehrt, sind wir bereit.“
„Das erklärt die Krieger“, stimmte Prachtmeer zu. „Aber was machen die Magier hier? Ein Einziger davon reicht doch sicher aus, um alles zu beobachten und uns über Gefahren zu informieren.“
„Wenn das alles wäre, hättet Ihr recht“, stimmte Khadgar zu und durchquerte den Raum. Seine Schritte waren die eines jungen Mannes, der er ja auch war. Khadgar war nur ein paar Jahre älter als Varian, aber er war durch Medivhs Magie, kurz vor dem Tod des Magiers, vorzeitig gealtert. „Aber Nethergarde wird schnell mehr als nur ein Wachtposten sein. Ihr könnt unmöglich den Grund für unsere Besorgnis gesehen haben, als Ihr hierherkamt. Etwas hat das Leben aus Draenor abgesaugt. Als das Dunkle Portal geöffnet wurde, hat diese Leblosigkeit auch unsere Welt berührt, das Land rundherum abgetötet und sich ausgebreitet. Nachdem wir das Portal zerstört hatten, dachten wir, dass sich das Land von selbst heilen würde. Das hat es nicht getan. Tatsächlich breitete sich die Verödung weiter aus.“
Die Könige runzelten die Stirn und sahen einander an. Das war ihnen neu.
„Wir begannen die Lage zu analysieren und entdeckten, dass nach der Zerstörung des Portals ein kleiner Dimensionsriss geblieben ist.“
Die versammelten Herrscher schnappten nach Luft.
„Habt ihr einen Weg gefunden, diese Verödung aufzuhalten?“, fragte Prachtmeer.
„Ja, haben wir. Allerdings mussten mehrere von uns zusammenarbeiten.“ Er furchte die Stirn. „Unglücklicherweise konnten wir das bereits beschädigte Land nicht mehr regenerieren. Diese Gegend war einst der Schwarze Morast, und wir haben es geschafft, den nördlichen Teil zu schützen und in seinem ursprünglichen Zustand zu bewahren. Aber den südlichen Teil konnten wir aus unerklärlichen Gründen nicht neu begrünen.“ Er schüttelte den Kopf. „Jemand nannte es die Verwüsteten Lande, und irgendwie ist der Name hängen geblieben. Ich bezweifle, dass je wieder etwas darauf wächst.“
„Immerhin habt ihr die Verödung aufgehalten und die restliche Welt gerettet“, meinte Varian. „Das ist erstaunlich genug, wenn man bedenkt, wie schnell der Effekt sich ausgebreitet hat.“
Khadgar neigte den Kopf und nahm das Lob an. „Wir haben mehr geschafft, als ich zu hoffen wagte“, stimmte er zu. „Aber weniger, als mir lieb gewesen wäre. Doch ein Kontingent von Magiern muss ständig hier stationiert sein, um den Bereich zu überwachen und sicherzustellen, dass wir kein Stück von Azeroth mehr an diese merkwürdige Verödung verlieren. Die Magier beobachten währenddessen den Riss. Und das, werte Majestäten, ist der Grund, warum Nethergarde so groß sein muss und warum es so viel kostet.“
„Besteht wirklich die Gefahr, dass sich der Riss erneut öffnet?“, fragte Trollbann. Die anderen wandten sich erneut Khadgar zu und erwarteten eine Antwort, aber sie fürchteten, wie sie ausfallen würde.
Er konnte die Sorge auf ihren Gesichtern ablesen – die Sorge, wieder neu zu erleben, was vor acht Jahren geschehen war, als sich das Portal geöffnet hatte und die Orcs hindurchgeströmt waren, beunruhigte sie alle.
Khadgar setzte zu einer Antwort an, wurde aber von einem schrillen Schrei unterbrochen. „Ich glaube, das letzte Mitglied ist mit seinem Greif eingetroffen und auf dem Wehrgang gelandet“, sagte er.
Die Frau, die kurz darauf den Saal betrat, war groß und unglaublich schön. Abgewetztes grünbraunes Leder umhüllte ihre schlanke Gestalt. Ihr goldenes Haar war zerzaust, und sie schob es unbewusst hinter ihre langen, spitzen Ohren. So anmutig und grazil sie auch wirkte, war Alleria Windläufer doch eine ausgezeichnete Waldläuferin, Kundschafterin und Kämpferin. Und eine Expertin, was das Überleben in der Wildnis anging. Viele der Anwesenden hatten mit ihr zusammen gekämpft. Und sie verdankten ihr Leben ihren scharfen Augen, ihren schnellen Reaktionen und den starken Nerven.
„Khadgar“, sagte sie laut vernehmlich, als sie neben ihn trat. Sie war so groß, dass sie ihm beinahe auf Augenhöhe entgegentreten konnte.
„Alleria“, antwortete er. Liebevolle Erinnerungen erwärmten das Wort. Sie waren noch vor gar nicht so langer Zeit Waffengefährten gewesen, gute Freunde, die einen großen Kampf bestritten hatten. Aber in ihrem grünäugigen Blick lag keine Wärme, genauso wenig in dem Gesicht, das zwar schön, aber ausdruckslos war, wie aus Stein gemeißelt. Alleria war höflich, mehr nicht. Innerlich seufzte Khadgar, als er durch die Tür schritt und ihr bedeutete, ihm zu folgen.
„Ich hoffe, es geht um etwas Wichtiges“, sagte sie beim Eintreten und grüßte die versammelten Herrscher. Trotz ihres gertenschlanken Körpers und dem jugendlich goldenen Haar, war sie deutlich älter als die menschlichen Herrscher, was sie immun gegen ihr majestätenhaftes Auftreten machte. Sie spottete gern darüber. „Ich habe Orcs gejagt.“
„Du jagst immer Orcs“, konterte Khadgar, schärfer als beabsichtigt. „Deshalb wollte ich dich ja unter anderem auch hier haben.“
Er wartete, bis er ihre volle Aufmerksamkeit und die der Könige hatte. „Ich habe gerade erklärt, dass wir einen Dimensionsriss im Dunklen Portal entdeckt haben, Alleria. Und seit Neuestem sind die Energien, die dort durchströmen, dramatisch angestiegen.“
„Was soll das bedeuten?“, wollte Graumähne wissen. „Wollt Ihr uns sagen, dass es stärker wird?“
Der junge, aber alt wirkende Erzmagier nickte. „Ja. Wir glauben, dass sich der Riss ausdehnt.“
„Hat die Horde einen Weg gefunden, das Portal zu reaktivieren?“, fragte Terenas, der genauso schockiert war wie die anderen.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, antwortete Khadgar. „Aber selbst, wenn sie kein stabiles Portal errichten können, werden die Orcs, sobald der Riss groß genug ist, wieder Zugang zu unserer Welt haben.“
„Ich wusste, dass das passieren würde!“, brüllte Graumähne. „Ich wusste, dass wir diese grünhäutigen Monster noch nicht los sind!“
Neben ihm verzog sich Allerias Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen voller … Anteilnahme?
„Wie bald?“, fragte Trollbann. „Und wie viele?“
„Ich weiß nicht, wie viele“, antwortete Khadgar kopfschüttelnd. „Wie bald? Sehr bald. Vielleicht schon in wenigen Tagen.“
„Was braucht Ihr?“, fragte Terenas leise.
„Ich brauche die Armee der Allianz“, antwortete Khadgar. „Ich brauche die ganze Armee hier, für den Fall, dass der Riss sich ausdehnt. Es ist gut möglich, dass eine zweite Horde in dieses Tal strömt.“ Er lächelte plötzlich. „Die Söhne Lothars werden erneut gebraucht.“
Die Söhne Lothars. So hatten sie sich selbst genannt, die Veteranen des Zweiten Kriegs. Der Sieg hatte einen hohen Preis gefordert: den Tod des Löwen von Azeroth, Anduin Lothar. Der Mann, dem alle willig gefolgt waren. Khadgar war dabei gewesen, als er fiel. Erschlagen vom Orc-Häuptling Orgrim Schicksalshammer. Und er war dabei gewesen, als sein Freund Turalyon, jetzt General der Allianz-Armee, Lothar rächte, indem er Schicksalshammer gefangen nahm. Lothars Schützling war aus seinem Schatten getreten und setzte das heldenhafte Vermächtnis fort. Und so waren die Söhne Lothars entstanden.
„Seid Ihr Euch sicher wegen des Risses?“, fragte Terenas vorsichtig, bemüht, den Magier nicht zu beleidigen. Was, wie Khadgar fand, eine gute Idee war. Aber in diesem Fall fühlte er sich nicht angegriffen.
„Ich wünschte, ich wäre es nicht. Der Energiepegel steigt definitiv an. Bald schon wird die Kraft ausreichen, um den Riss auszuweiten, sodass die Orcs von Draenor in unsere Welt gelangen können.“ Er fühlte sich plötzlich müde, als hätte ihn die Nachricht irgendwie ausgezehrt. Er schaute wieder zu Alleria hinüber, die den Blick bemerkte und eine Augenbraue hob, sonst aber nicht reagierte.
„Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen“, erklärte Varian. „Ich sage, wir sammeln die Armee der Allianz und machen sie bereit für den Krieg, für alle Fälle.“
„Abgemacht“, sagte Terenas, und die anderen nickten zustimmend.
„Wir müssen General Turalyon informieren“, fuhr Varian fort.
Alleria versteifte sich ein wenig, ein undeutbares Gefühl blitzte über ihr Gesicht, und Khadgars Augen zogen sich zusammen.
Einst waren die elfische Waldläuferin und der menschliche Paladin mehr als bloße Waffengefährten gewesen. Sie taten einander gut, hatte Khadgar immer gedacht. Allerias Alter und Weisheit stärkten Turalyons Geist. Und seine Jugend und Unschuld machten die erschöpfte Elfe sanfter.
Aber etwas war passiert. Khadgar hatte nie erfahren, was, und war höflich genug, um nicht nachzufragen. Eine alarmierend kühle Distanz war zwischen Turalyon und Alleria entstanden.
Sie hatten Khadgar leidgetan, nun fragte er sich, ob sie dadurch Probleme hatten.
Varian schien die subtile Veränderung an Alleria nicht bemerkt zu haben. Er fuhr fort: „Als Oberkommandant der Allianz-Armee ist es seine Aufgabe, die Soldaten zu sammeln und sie auf das hier vorzubereiten. Er befindet sich derzeit in Sturmwind und hilft uns, die Verteidigung aufzubauen und unsere Männer auszubilden.“
Khadgar hatte eine Idee, die zwei Probleme auf einmal löste. „Alleria, du kannst schneller als jeder andere zu Turalyon reisen. Nimm den Greif und flieg nach Sturmwind. Berichte ihm, was geschehen ist, und teil ihm mit, dass er die Allianz-Armee sofort zusammenrufen muss.“
Die elfische Waldläuferin schaute Khadgar an, ihre grünen Augen blitzten wütend. „Sicherlich kann auch jemand anders diese Aufgabe übernehmen“, sagte sie scharf.
Aber Khadgar schüttelte den Kopf. „Die Wildhammerzwerge kennen dich und vertrauen dir“, antwortete er. „Und diese Burschen müssen ihre eigenen Arrangements treffen.“ Er seufzte. „Bitte, Alleria, um Himmels Willen, finde ihn, berichte ihm, was geschehen ist, und hol ihn her.“
Und vielleicht könnt ihr beide eure Differenzen beilegen … oder euch zumindest entscheiden, zusammenzuarbeiten, dachte er.
Allerias Miene verhärtete sich zu einer unerbittlichen, ausdruckslosen Maske. „Ich tue, was du verlangst.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ die Halle.
„Khadgar hat recht“, sagte Terenas, als er sie weggehen sah. „Wir alle müssen unsere Truppen zusammenrufen und Vorräte herbeibeschaffen, und das sofort.“
Die anderen Könige nickten. Selbst Graumähne war einverstanden. Der Gedanke an eine zurückkehrende Horde hatte ihn massiv erschreckt. Gemeinsam gingen sie zur Tür, zurück in den Schlosshof und von da aus durch die großen Tore, die sie erst vor gerade mal einer Stunde durchschritten hatten.
„Auf geht’s“, flüsterte Khadgar, als er die Könige abziehen sah. „Geht und sammelt die Söhne Lothars. Ich bete nur, dass es nicht schon zu spät ist.“