Tanja Meurer
© dead soft verlag, Mettingen 2015
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© the author
Cover: Irene Repp
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1. Auflage
ISBN 978-3-945934-57-9
ISBN 978-3-945934-58-6 (epub)
Als Christoph den jungen Punk Jens als Anhalter in seinem Truck mitnimmt, ahnt er bereits, dass er einen Fehler begangen hat. Sein Verdacht bestätigt sich bald: Jens ist auf der Flucht vor der Polizei. Doch auch Christoph ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Zwischen den beiden gefährlichen Männern entsteht eine explosive Atmosphäre, die droht, sich auf gewalttägige Art zu entladen.
Jens’Atem rasselte durch Hals und Lungen, gab ein Echo mit spürbaren Erschütterungen in seiner Brust wider. Schweiß rann über seine Stirn in die Brauen und tropfte ihm in die Augen, bis sie brannten. Kalt und nass klebte das blutige Shirt an seiner Brust. Jens’ Herz raste. Für einen Moment glaubte er zu ersticken. Seine Lungen waren zu eng, nicht in der Lage Sauerstoff aufzunehmen. Flackerndes Blaulicht zerriss die Nacht. Der kalte Schein reflektierte an schmutzig graubraunen Wänden alter Häuser aus der Vorkriegszeit und zuckte auf den Körpern von Männern und Frauen in Nachthemden, Schlafanzügen und Morgenröcken. Einige wirkten aufgeregt, entsetzt, neugierig, zugleich aber nicht weniger graubraun und unwichtig als ihre Umgebung. Die meisten starrten reglos und dumpf vor sich hin. Unter ihnen stand ein hagerer, gebeugter Mann, dessen Haltung verkrampft und noch lebensfremder wirkte als die der anderen.
War das nicht Marcos Vater?
Ein Schauder rann ihm über den Rücken. Sinnfrei aneinandergereihte Fragmente der letzten Minuten in Marcos Zimmer kehrten zurück.
Das hübsche, braungebrannte Gesicht, das von einem Moment zum anderen seine Form verlor und nur noch ein Brei aus geplatzter Haut, Knochen, Zähnen, Muskeln und Blut war … Der Knall, dessen Erschütterung er zu spüren geglaubt hatte, laute Stimmen, die die nächtliche Stille zerrissen, das Gellen in seinen Ohren, heißes Metall, an dem er sich die Finger verbrannt hatte - Eindrücke ohne Konsistenz und Reihenfolge.
Wie hatte er es überhaupt aus der Wohnung bis hierher geschafft? Er wusste es nicht mehr.
Er schloss die Augen. Bewusst langsam atmete er ein und aus. Zittern durchlief ihn, Kälte kroch aus seinen Knochen und vertrieb die Resthitze der Flucht.
Die schützende Dunkelheit seines Verstecks brach auf, als ein Rollladen im Erdgeschoss des Hinterhauses nach oben gezogen wurde und gelbes Licht ein weiteres Rechteck Helligkeit in die Nacht schnitt. Ein aufmerksamer Beobachter konnte ihn jetzt sehen. Er duckte sich. Weitere Lichter flammten auf.
Sein Mund fühlte sich trocken an. Gleichzeitig brannte sein Hals. Die Zunge klebte am Gaumen.
„Was ist denn passiert?“, rief eine Frau.
„Da ist sicher jemand umgebracht worden“, erwiderte eine andere, „haben Sie den Schuss nicht gehört?“
Für einen Moment glaubte Jens zu fühlen, wie sein Herz aussetzte. Der eine einzelne Schlag tat weh.
Umgebracht … Er kniff die Lider zusammen.
Schräg gegenüber wurde die Tür des Hinterhauses aufgestoßen, fahle Helligkeit erreichte ihn. Mehrere Leute strömten auf den Hof. Jens’ Nerven elektrisierten. Rasch drängte er sich in die lichtgeschützte Ecke der Außenkeller-Treppe und presste sich eng an die Rauputzwand.
Nah, sie sind mir viel zu nah!
Schritte kamen näher, passierten dicht über ihm die Mauer und verklangen in der Entfernung. Er wartete. Niemand entdeckte ihn, keiner ging durch den Hintereingang des Vorderhauses. Nach einer Weile hob Jens den Kopf und spähte die Treppe hinauf. Ein Paar nackter Beine huschte durch sein Sichtfeld. Rasch zog er den Kopf wieder ein und kauerte sich auf die Stufe der Kellertür.
Warten – verdammt! Wie lang noch?
Jens schluckte hart. Ihm wurde kalt und heiß zugleich. Er zitterte, ungeachtet der Sommerhitze, die Asphalt und Mauern noch ausatmeten.
Weg von hier! Offensichtlich riegelten sie die ganze Gegend ab. Erneut reckte er sich.
In ihm ballte sich die Leere, zog sich zusammen und drängte in seine Kehle. Was war das? Hatte er Angst?
Die Stiefel der Uniformierten hallten auf dem Asphalt nach.
Das Geräusch rann durch seine Adern, kroch die Wirbel hinauf und sammelte sich als eisiger Druck in seiner Schädelbasis. Hier, zwischen den Wohnblöcken, gab es keine Sicherheit. Er musste weg, aber mit dem klebrig nassen Blutfleck auf seinem T-Shirt fiel er auf. Rasch öffnete er die Bänder seines Rucksacks und holte ein Kapuzenshirt heraus. Dabei berührte er das Metall der Pistole. Vor Kurzem war sie noch warm gewesen. Die Kälte, die jetzt davon ausging, verbrannte ihn fast. Instinktiv zog er die Hand zurück. Warum hatte er sie mitgenommen? Er hätte sie nie berühren sollen. Nun waren seine Fingerabdrücke darauf.
Scheiß Waffe … Weg damit, vielleicht in die Isar?
Halt, nein, was wenn er sie brauchte? Für die Polizei war er der perfekte Verdächtige, der potenzielle Mörder. Auch wenn niemand seinen Namen kannte, so hatten ihn doch viele gesehen; besonders Marcos Vater. Wahrscheinlich hatten sie ihn innerhalb von kürzester Zeit identifiziert.
Verdammt!
Jens schüttelte den Gedanken ab. Jetzt war nicht die Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Er streifte sein Shirt über. Langsam hob er den Rucksack auf seinen Rücken und machte sich bereit. Stufe um Stufe schob er sich hinauf.
Flucht!
Nein, langsam! Wenn er rannte, bemerkte man ihn. Er musste ruhig bleiben, vielleicht kurz zusehen, was geschah. Großer Gott, das konnte in die Hose gehen. Hoffentlich erkannte ihn niemand. Hoffentlich …
Christoph blieb noch einen Moment im Eingang des Rasthofes stehen und sah Dariusz nach, der aus dem Lichtkegel der Laterne in den Schatten zwischen den LKWs trat.
Der Arbeitsalltag begann. Auch für ihn wurde es Zeit, sich auf den Weg zu machen. So früh am Morgen würde der Verkehr Richtung Berlin sicher gut laufen. Hier unten, in der Nähe von München, hielt ihn nichts mehr.
Er schnippte den Zigarettenstummel auf den Asphalt und trat ihn aus. Nachdenklich sah er zu Dariusz hinüber, der in seine Zugmaschine kletterte und die Tür hinter sich zuwarf. Sein Partner saß im blassen Schein der Innenbeleuchtung, zündete sich eine Zigarette an und sog daran. Die Helligkeit wich, nur das orange-rote Glühen hinter dem Lenker blieb. Dann erwachten Scheinwerfer und Armaturenlicht. Dariusz‘ flächiges Gesicht bekam durch den fahl grünen Schein etwas Geisterhaftes. Er startete den Motor seines Actros. Die kraftvollen Erschütterungen setzten sich im Asphalt des Parkplatzes fort. Langsam rollte der Sattelzug aus der Lücke. Dariusz schlug den Lenker ein und nickte Christoph zum Gruß zu.
Einen Moment später versank die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite in der Tür. Dariusz lehnte sich nach drüben.
„Treffen wir uns zum Frühstück am Rasthof Nürnberg Feucht?“
Christoph nickte, obwohl er keinen Appetit hatte und Dariusz ungern beim Essen zusah. Vielleicht konnte er sich noch ein wenig mehr Zeit verschaffen. Er hob die Hände. „Ich gehe trotzdem erst mal duschen, kann also sein, dass ich etwas später da bin.“
Dariusz winkte ab, setzte dazu an, etwas zu sagen, verkniff sich den Kommentar aber. Kopfschüttelnd fuhr er das Fenster wieder hoch und rollte langsam über die Zufahrt zur Autobahn. Zum Gruß ließ er noch einmal die Warnblinkanlage aufflackern, bevor er Gas gab.
Christoph wandte sich ab. Er wollte den Dreck der unruhigen, warmen Nacht und den Gestank der Koje in seinem Truck abspülen. Langsam ging er über den Parkplatz und blieb auf der Beifahrerseite stehen. Er griff in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Allein bei der geringsten Berührung der Tasten öffnete sich die Zentralverriegelung. Christoph hasste diese Empfindlichkeit der neuen Elektronik seines MAN. Wie oft hatte er auf diesem Weg seinen Truck schon unverschlossen zurückgelassen, weil sich die Türen entriegelten, sobald er den Schlüssel einsteckte, und wie oft hätte es schief gehen können … Er wollte sich über die Konsequenzen gar keine Gedanken machen.
Rasch kletterte er ins Führerhaus, suchte er seine Sachen zusammen und schob sie mit Rasierzeug, Duschgel und Handtüchern in seinen Reisesack.
Draußen quietschte ein Zahnriemen. Das Geräusch näherte sich von der Tankstelle und wurde lauter. Er hob kurz den Blick. Ein altersschwacher, schmuddeliger Lada Niva, vermutlich aus den beginnenden 90ern, kroch heran und bog auf den PKW-Parkplatz ein. Lang würde es der Motor nicht mehr machen, bis er hinüber war. Christoph schüttelte den Kopf und sprang aus seinem Truck. Vorsichtshalber überprüfte er, ob die Zugmaschine verschlossen war, umrundete den Trailer und sah sich die Plombe an der Hecktür an. Alles schien gut zu sein; Zeit, duschen zu gehen.
Als Christoph aus dem Rasthof in die laue Luft trat, fröstelte er. Aus seinem Zopf rann ein stetiger Bach Wasser und sickerte in sein Shirt. Er sah er zu dem alten Lada hinüber. Der Wagen stand verlassen da. Ob das Fahrzeug überhaupt noch einmal startete? Christoph bezweifelte es fast.
Er ging zu seinem Truck, zog die Schlüssel und öffnete. Die Blinker flammten synchron auf. Er öffnete die Tür. Gerade als er sich hochzog, knirschten Steinchen unter Schuhen. In Christophs Nacken richteten sich die Härchen auf.
„Hallo?“, rief eine jung klingende Männerstimme aus dem Schatten.
Christoph biss die Zähne aufeinander. Zwischen den Zügen stand jemand; gerade noch außerhalb der Reichweite der Innenbeleuchtung und der Laterne. Berechnung oder Zufall?
Christoph spürte die Kälte seines nassen Hemdes noch stärker. Hatte er in München vielleicht mit seinen Fragen die falschen Leute auf sich aufmerksam gemacht?
Er kniff die Lider zusammen und versuchte den Mann zu erkennen. Der Kerl hielt einen Rucksack in der Hand. Da er den Blick auf den Boden richtete und einen Hoody trug, unter dessen Kapuze der steife Schirm eines Basecaps herausragte, konnte Christoph kaum mehr als den rot stoppeligen, spitzen Kiefer des Fremden sehen.
Verdächtig war kein Ausdruck. Wenn das nicht nach Ärger roch! Andererseits waren solche Kleider typisch für Hip Hopper und Skater; vielleicht doch nur ein ganz normaler Typ? Mühsam verdrängte Christoph das schlechte Gefühl. Überzureagieren war genauso unklug wie die Vorsicht außer Acht zu lassen.
„Was ist?“, fragte Christoph. Glücklicherweise spiegelte sich in seiner Stimme nichts von seiner Unsicherheit wider.
Der Mann reagierte nicht. Er hielt den Kopf gesenkt.
Ärger! Wie zur Warnung zog die Schussnarbe auf seiner Brust und die runde Brandverletzung an seiner Schläfe kribbelte. Prickelnd schoss ihm das Blut in die Wangen. Instinktiv griff er in seinen Hosenbund – nichts. Seine Waffe lag in der Sporttasche unter der Koje.
Mist, Dariusz war bereits unterwegs!
Wenn es zu einer Prügelei kam, standen Christophs Chancen gut. Er war größer, massiger und – hoffentlich – kampferprobter. Christoph zog sich bewusst ruhig auf den Sitz und ließ den Rucksack neben sich fallen. Er nahm das Handy aus der Gesäßtasche. Hatte er zuletzt mit Dariusz oder Jürgen telefoniert? Egal wen, einen Notruf absetzen …
„Wohin fährst du?“, fragte der Mann unvermittelt. Seine Stimme klang rau. Christoph verlor den Gedanken. Er sah hinunter. Der Fremde trat in das schwache Licht des Wagens. Der Mützenschirm überschattete noch immer seine Züge. „Berlin“, entgegnete er.
„Nimmst du mich mit?“ In der Stimme lag ein unterschwelliges Flehen. Jetzt hob der Mann den Kopf. Jung traf zu. Er konnte höchstens Anfang, Mitte zwanzig sein. Seine Wangen waren eingefallen und grau, die großen, runden Augen lagen tief in den Höhlen. Dunklen Schatten hatten sich darunter eingegraben. Seine Lippen wirkten voll, aber sehr trocken und spröde, sodass sich Hautschüppchen unter den Snakebites hochgeschoben hatten. Anhand der Bridge in der Nasenwurzel und anderen Piercings in Nase und Braue war er kein Hip Hopper, sondern eher ein Punk. Der rot-schwarze Kommunistenstern auf seiner Brust unterstrich seinen Eindruck. Jung und fertig, der typische Punk, der auf Daumentaxi weiter kam. Er machte den Eindruck, übernächtigt zu sein.
Langsam senkte der junge Mann den Blick wieder. „Sorry, dass ich dich angequatscht habe, okay?“ Er klang enttäuscht.
Chris knurrte ärgerlich. Was konnte ihm jemand antun, der rund zwanzig Jahre jünger war? In einem ernst gemeinten Kampf würde er definitiv unterliegen.
Christoph atmete tief ein und deutete zur Beifahrertür.
„Auf, rein mit dir!“
Jens entspannte sich erst, als der Motor des schwarzen MAN-Trucks startete. Er ließ sich tiefer in das noch neu riechende Polster sinken. Unter ihm rieb der glatte Kunststoffbezug gegen Pulli, Hose und Kettengürtel. Ein angenehmes Gefühl ging davon aus, das sich nicht richtig einordnen ließ. Sicherheit? Nein, nicht wirklich. Aber es hatte etwas von der Erinnerung an Zuhause. So roch und fühlte sich damals auch der neue Wagen seines Vaters an. Damals, als sie noch eine Familie waren. Paradox. Das war ewig lang her, in einem anderen Leben. Aber in dieser Zeit war die Welt noch in Ordnung gewesen.
Er schüttelte den Gedanken ab und schob den schmuddeligen Rucksack zurecht, der zwischen seinen Füßen stand. Obwohl der Typ gesagt hatte, er solle ihn nach hinten werfen, konnte Jens es nicht. Darin war alles Wichtige, auch die Waffe.
Als sie von der schmalen Lücke auf den Weg rollten, sah er nach draußen. Er konnte er den schmuddelig braunen Lada nicht mehr erkennen. Vielleicht war es ganz gut, dass die Karre hier verreckt war. Besser so, als dass die Bullen ihn mit dem geklauten Wagen anhielten. Das hätte bitterböse ins Auge gehen können. Obwohl … wahrscheinlich vermisste keiner die alte Kiste. Der Lada hatte mindestens 25 oder 30 Jahre auf dem Buckel.
Die Vibrationen des Motors unter ihm fühlten sich gut an. Es ging voran, weg von München, weg von Marcos Leiche, weg von der toten Polizistin. Er wollte damit nichts mehr zu tun haben.
Unter dem Pulli klebte das blutige T-Shirt an seiner Brust.
Jens schwitzte. So würde das Zeug nie trocknen. Warum hatte er das scheiß Hemd nicht einfach ausgezogen und weggeworfen?
Ekelhaft! Allein die Vorstellung, dass das Blut auf seiner Haut trocknete, rief tiefe Abneigung hervor. Am liebsten wollte er sich das Shirt über den Kopf ziehen und von sich schleudern.
Nachdem der Lada sein Leben ausgehaucht hatte, war es wichtiger, sich eine andere Möglichkeit abzuhauen zu suchen. Er musste schnell weg, je weiter desto besser.
Scheiße eigentlich. Er warf dem Fahrer einen Blick zu. Wenn die Karre nicht extrem gut klimatisiert war, würde es elend heiß werden, und der Typ würde sich wundern, weshalb er den Pulli nicht auszog … ach verdammt!
Er knäulte sich auf dem Sitz zusammen. Dort wo sich der Fleck befand, hatte er das Gefühl, dass seine Haut kribbelte, heiß wurde, sich entzündete und … Nur nicht daran denken!
Was war jetzt wichtiger? Weit weg von Bayern sein, mindestens zwei, drei Bundesländer zwischen sich und die Leichen bringen. Die Klamotten konnte er auf einem Rasthof-Klo loswerden. Gänsehaut bildete sich. Die Härchen auf seinen Unterarmen richteten sich auf. Mit dem Schauder kehrte der Widerwille zurück, die innere Wand aus dunstigen, abweisenden Emotionen.
Der Typ fährt nach Berlin. Jens drängte seine Gefühle in eine andere Ecke. Denken half. Berlin – das war an sich gut. Vor einigen Monaten kamen Briefe und Karten mit dem Berliner Poststempel von seinem Bruder Till - Zottel. Bei dem konnte er hoffentlich für eine Weile bleiben. Blieb die Frage, ob Till sich dort noch herumtrieb. Vielleicht war er auch weiter gezogen, nach Potsdam, Frankfurt an der Oder, Schwerin, Rostock oder über die Grenze nach Polen. Scheiße, selbst das wusste Jens nicht wirklich. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, mit Till zu sprechen. Sein Bruder besaß kein Handy. Er konnte es nirgends aufladen; nicht in seiner Bauwagen-Bude, die weder Strom noch warmes Wasser hatte. Wie konnte er ihn erreichen? Vielleicht über die Punks am Alex? Sicher war diese Informationsquelle nicht.
Ach verdammt! Alles Mist!
Er schob seine Kapuze zurück und lockerte das hässliche Basecap, das er in seiner Panik von Marco mitgenommen hatte. Unter dem Schweißband juckte seine Haut. Bis hierhin hatte es ihm trotz allem gute Dienste geleistet.
„Nimm die Füße vom Sitz!“
Was? Jens sah irritiert zu dem Fahrer. Erst jetzt merkte er, dass er beide Beine angezogen und auf die Sitzkante gestellt hatte. Der Typ warf ihm einen pissigen Blick zu. Wenigstens wirkte es im Licht der Armaturen so. Scheiße, ist der mies drauf!
„Ja. Okay.“ Jens gehorchte und streckte beide Beine in den weiten Fußraum des Trucks. „Besser?“
Der Typ antwortete nicht, sondern starrte auf die dunkle, leere Autobahn.
Ach fuck! Er verdrehte sich für diese Flucht. Normalerweise wäre es Jens egal gewesen. Er hätte eher noch mehr gemacht, um aufzufallen, aber unter den gegebenen Umständen käme jede unnötige Aufmerksamkeit einem Genickbruch gleich. Wenn er es übertrieb, konnte er sich gleich der Polizei stellen. Der Typ war sein Ticket in die Freiheit und er musste nicht mal was dafür zahlen.
Jens’ Blick strich über die wuchtige, bullige Gestalt. Eigentlich sah der Kerl nicht aus wie die Trucker, mit denen er oft von Hamburg aus nach Frankreich, Italien, Tunesien oder Spanien gefahren war. Dafür hatte der Typ eine zu gute Figur: groß, muskulös, trainiert, auf eine kantige, grobe Art anziehend. Außerdem war er tätowiert, trug Hornohrringe, Piercings, hatte einen Sidecut und einseitig langes, helles Haar. Wasser rann aus den einzelnen Strähnen und durchweichte das Muscle-Shirt. Anscheinend hatte er die Gothic- oder Metallerzeiten der Endachtziger und Neunziger vollständig mitgenommen. Gerade weil er nicht mehr so jung sein konnte, wirkte er markant, grimmig, einfach nur sehr geil. Andererseits vermittelte der Typ eine deutlich wahrnehmbare Anspannung, die sich in seiner Haltung und seinen Zügen abzeichnete. Sein breiter Kiefer mahlte. Er wirkte wütend. Wahrscheinlich bemerkte er es nicht. Das machte ihn umso heißer. Was, wenn er mit sich rang, den nächsten Parkplatz ansteuerte und …
Marco. Erneut fühlte Jens tiefen Ekel; dieses Mal auch vor seinen Überlegungen. Marco war tot. Trotz allem blieb der Wunsch nach etwas mehr Sicherheit zurück. Dieser große Kerl vermittelte sie, warum auch immer. Vielleicht lag es daran, dass er den Eindruck machte, nichts könne ihn erschüttern. Einen solchen Mann bekam man nicht als One-Night-Stand in einem Club ab, anders als Marco. Er war schon das Beste im Candy Club an der roten Sonne. Ach Scheiße, er hätte sich einfach nicht von Marco abschleppen lassen sollen! Jens schloss die Augen. Abweisen konnte er ihn nicht. Sie wollten es beide, sofort. Dieser hübsche Kerl war so offen und heiß gewesen. Für Marco gab es keine Tabus. Er machte es überall, wo er wollte, und er schämte sich für nichts. Es gefiel ihm, beobachtet zu werden. Er war durch und durch ein Exhibitionist. Allein das war unglaublich.
Ihr Fick im Hausflur einer schmuddeligen Klitsche aus der Weimarer Republik – Marco hatte es scharf gemacht, weil sich die Leute darüber lautstark aufregten. Es war total geil gewesen. Aber alles danach …
Jens vergrub das Gesicht in den Händen.
Fuck, echt …
Er fühlte sich elend.
Immerhin quasselte sein Fahrer ihn nicht voll, wie es andere gern taten. Der Typ hielt das Maul und fuhr nur. Selbst die Mucke ging, auch wenn Jens Metal nicht sonderlich mochte. Zumindest lief kein Hit- oder Schlager-Radio.
Radio?! Der Gedanke ließ ihn zusammenfahren. Sicher hatte die Polizei eine Suchmeldung zu ihm rausgegeben. Es würde bedeuten, dass alle Stadtausgänge, Bahnhöfe und der Flughafen in München überwacht wurden; wenigstens machten es die Fernseh-Kommissare so. Blieb nur zu hoffen, dass nach erfolgloser Suche nicht auch die Autobahnen gecheckt wurden. Das wäre richtig Scheiße.
Jens ließ die Hände sinken, blinzelte und sank wieder in die Polster zurück. Hoffentlich ging alles gut.
Er wandte den Kopf, starrte zum Beifahrerfenster und wartete auf die nächste Abfahrt. Danach kam bekanntlich immer eine Entfernungstafel. Als sie einen Moment später Pfaffenhofen passierten, kroch dumpfe Angst in seine Glieder und setzte sich in seiner Brust fest. Immer noch so dicht an München! Warum konnte der Kerl nicht mit einem BMW unterwegs sein? Auf dem phosphoreszierenden Schild stand Berlin – 550 km bis Berlin … Verdammter Mist.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Christoph.
Der junge Mann schrak zusammen. „Jens Di…“ Er biss sich auf die Unterlippe, als wolle er sich dafür bestrafen, seinen Namen genannt zu haben.
„Jens“, wiederholte Christoph und nickte langsam. „Wenn du Wasser brauchst, hinter deinem Sitz steht ein Sixpack mit Flaschen.“
Vorsichtig, beinahe lauernd nickte Jens. „Cool.“ Er zögerte, bevor er sich ein „Danke“ abrang.
Freundlichkeit war nicht sein Ding, auch gut. Sicher hatte der Punk Dreck am Stecken. Drogen vielleicht, oder er war zu Hause rausgeflogen, auf Bewährung, irgendetwas in der Art.
Wenn Christoph Zeit fand, würde er Dariusz Jens’ Beschreibung geben. Vielleicht konnte er etwas über ihn herausrecherchieren. Jens schien zumindest sein richtiger Name zu sein, denn die Antwort kam ungefiltert, ohne zu zögern, bevor er sich bei seinem Nachnamen unterbrochen hatte. Kurz warf Christoph ihm einen Blick zu. Jens fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Er zögerte. Schließlich schien der Durst zu überwiegen.
Er schnallte sich ab und riss das Paket auf. Nachdem er einen guten Teil der Flasche geleert hatte, fragte er nach einem tiefen Rülpsen: „Wie heißt du?“
„Christoph.“
„Christoph“, wiederholte Jens und lehnte sich zurück. „Ich dachte, du bist eher von der stillen, unpersönlichen Sorte. Kommen jetzt doch noch lauter Fragen?“
In seiner Stimme lag eine leichte Herausforderung.
Ich kann dich auch einfach an der nächsten Tanke wieder rauswerfen