BIRGER P. PRIDDAT
WIR WERDEN ZU TODE GEPRÜFT
Wie man trotz Bachelor, Master & Bologna intelligent studiert
WOZU STUDIEREN?
Wozu studieren? Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: aus vielen guten Gründen natürlich. Es gibt gar keine Alternative, wenn man sich schon die Mühe gemacht hat, das Abitur zu erwerben – gerade jetzt, wo die Oberstufenzeiten noch um ein Jahr verkürzt worden sind. Das Abitur rüstet nicht mehr in ausreichendem Maß für die moderne Welt. Immerhin befinden wir uns bereits im 21. Jahrhundert, am Beginn des dritten Jahrtausends, was insofern bedeutsam ist, als wir damit auch in das neue Zeitalter der Wissensgesellschaft, des digital age, getreten sind.
Muss man künftig mehr wissen? Darum geht es nicht. Es geht auch nicht um mehr Bildung, wie es im 19. und frühen 20. Jahrhundert gefordert wurde.1 Ich komme aus dieser bildungsbürgerlichen Tradition und weiß, welche Qualitäten und welche Abarten damit verbunden wurden. Darauf werden wir ab und zu zurückkommen, um einzuschätzen, worauf es heute tatsächlich ankommt. Aber die Wissensgesellschaft ist kein bloßes Schlagwort oder eine Mode, sondern weist auf den Umstand, dass wir in allen Bereichen der Gesellschaft ständig mit neuen Erkenntnissen, neuen Einschätzungen und neuem Wissen konfrontiert werden – vor allem später, nach der Zeit von Schule und Studium. Wir müssen also lernen, damit umzugehen.
Gehen Sie davon aus, dass Sie einen Gutteil dessen, was heute noch vermittelt wird, vergessen sollten, weil sich künftig viele Sachverhalte und Kenntnisse ändern werden und Sie darauf vorbereitet sein sollten: »Entlernen« wird genauso wichtig, wie Neues aufzunehmen. Es reicht es nicht mehr aus, sich einfach auf das zu verlassen, was man gelernt hat (und nach den Prüfungen zum Großteil ohnehin wieder vergisst). Wichtig ist, sich darin zu trainieren, ständig neues Wissen zu verarbeiten, zu sortieren und nutzlose Kenntnisse zu vergessen – zumindest vorübergehend. Denn wir werden auch lernen müssen, das nicht genutzte Wissen wiederzufinden, wenn wir es doch einmal wieder brauchen.
Aber im Grunde genommen können wir das bereits, insbesondere aber Sie, die jüngere Generation. Sie sind mit dem Internet aufgewachsen, Sie wissen, wie man an Informationen herankommt. Wahrscheinlich stellen Sie längst Ihre Hausarbeiten (in der Schule) oder Seminararbeiten (an der Universität) über Google zusammen, sind versiert in Textmontage (remix).2 Das ist – nur als erster Fingerzeig – eine im Vergleich zur Bildungsvermittlung in Vorinternetzeiten völlig neue Art und Weise, mit Wissen umzugehen, auch mit wissenschaftlichem Wissen. Der Soziologe Dirk Baecker spricht in diesem Zusammenhang vom Computerzeitalter, das das Buchzeitalter ablöst, mit Folgen für unsere Art und Weise, zu denken.3
Ich bin noch mit Büchern groß geworden, habe noch mit Büchern gelernt. Studieren bedeutet eine Jagdstrecke von 1,5 Meter eigener Bücher – the European minimum – das erzähle ich meinen Studenten und bekenne mich damit zu meiner alten Sichtweise. Sie sehen, ich bin noch alte Schule (und Geistes- beziehungsweise Sozialwissenschaftler). Naturwissenschaftler lächeln bereits über diesen Unsinn. Sie lesen nur noch Aufsätze (aus renommierten Zeitschriften). Die Ökonomen ebenfalls. Und die Bibliotheken kaufen diese Zeitschriften nicht mehr, sondern mieten Internetzugänge (über Passwörter). Mittlerweile bieten die wissenschaftlichen Zeitschriften Online-Formate an – bevor die Artikel offiziell veröffentlicht werden (von Gutachtern in referierten Zeitschriften ausgesucht), kann man die Papers bereits im Netz lesen.
Das kann man natürlich zu Hause erledigen, aber: Was soll man lesen? Was ist relevant? Dazu brauchen wir Universitäten mit Lehrern, die in Seminaren erklären und mit ihren Studenten erörtern, was als Wissenschaft gilt und was davon für wen relevant ist. Vieles, was in den heutigen Lehrbüchern steht, ist bereits veraltetes Wissen; die Forschungsavantgarde ist längst weiter und hat einiges von dem infrage gestellt, was in der wissenschaftlichen Literatur noch liegen geblieben ist: Sie ist oft nur noch eine Art aktueller Theoriegeschichte.
Ich halte Lehrbücher für eher problematisch; sie sollten nicht zur Grundlage von Seminaren gemacht werden. (Man kann in ihnen einmal nachlesen, wie sich bestimmte Kollegen die Ordnung eines Wissensgebietes vorstellen. Das ist aber auch schon alles.) Universitäten sollten Ort des lebendigen Gesprächs und ausgedehnten Gedankenspiels sein. Nur wenn man »nachdenken« kann, was Wissenschaftler »vor-gedacht« haben, kommt man ins wissenschaftliche Denken. Also: Her mit Originalliteratur. Und gleich von Anfang an. Studierende brauchen Vorlagen, denen »nachzudenken« sich lohnt, nicht kompiliertes, pädagogisch aufbereitetes Zeug.
Noch einmal: Wozu also studieren? Weil es immer weniger Berufe und Jobs geben wird, in denen neues Wissen keine Rolle spielt. Lassen Sie sich nicht verführen von Ratschlägen, schon gleich nach dem Abitur Geld zu verdienen. Was soll das »frühe Geld«, wenn Sie sich damit in Positionen begeben, die von denen, die Universitätsabschlüsse haben, überholt werden? Ihr früher Vorteil erweist sich später als Bremse. Und da Sie – in welchem Beruf auch immer Sie arbeiten werden – gezwungen sein werden, immer weiter zu lernen, ist es besser, das Lernen zuvor gelernt zu haben. Die, die solche Ratschläge erteilen, kommen aus einer alten Welt, in der Wissen noch keine so große Rolle spielte. Es sind Auslaufmodelle.
Aber: Was studieren? Auch hier ist die Antwort einfach: Studieren Sie das, was Sie immer schon interessiert hat. Vergessen Sie die Ermahnungen, etwas »Vernünftiges« zu studieren oder etwas, womit Sie später viel Geld verdienen können. Das Einzige, was Sie interessieren sollte, ist das, was Sie interessiert, das, worauf Sie neugierig sind, das, womit Sie sich beschäftigen wollen. Und wenn es Archäologie ist oder Mikrobiologie oder Philosophie oder Koreanisch. Oder Neuroscience.
Ich sage das mit voller Überzeugung, weil ich so viele junge Menschen erlebt habe, die irgendetwas studiert haben, weil ihre Eltern das wollten, oder weil sie glaubten, das würde später mehr cash bringen. Und die todunglücklich damit waren oder völlig desinteressiert an den Fächern. Da frage ich, warum sie studieren. Um ein Zertifikat zu bekommen? Die Zeit, die sie dafür an der Universität verbracht haben, war sinnlos vertan, vergeudet für das bloße Abarbeiten von Prüfungen. Sie kommen ärmer heraus, als sie hineingegangen sind.
Solche Studierenden sind für Professoren eher wenig anregend, sie interessieren sich nur für das, was prüfungsrelevant ist. Alles andere, das, was vor den Prüfungen passiert – das Gespräch im Seminar, die eigene Lektüre, die eigene intellektuelle Arbeit, eigene Gedanken etc. –, ist für sie nur Mittel zum Zweck, nämlich möglichst schnell durchzukommen. Ich weiß, dass viele Studierende mit dieser Haltung ihr Studium angehen. All diejenigen, die so denken und fühlen, will ich ernsthaft davon abhalten, an die Uni zu gehen. Gehen Sie auf eine Berufsakademie oder Fachhochschule und arbeiten Sie dort Ihren Fächerkanon ab, aber stören Sie nicht die akademische Atmosphäre einer reifen Universität. Und halten Sie nicht die, die mit echtem Interesse und mit Leidenschaft studieren wollen, durch Ihre Lustlosigkeit und Ignoranz vom intellektuellen Zugewinn ab. Auf Studierende, die die intellektuelle Neugier an die Universitäten getrieben hat, wirken die müden Kommilitonen, die lustlos im Seminar oder in der Vorlesung herumhängen, nur demotivierend. Und Professoren, die sich an diese Klientel gewöhnt haben, werden zu Zynikern. Das alles verdirbt die Universität.
Bleiben wir aber realistisch: Die Universitäten sind angefüllt mit jungen Menschen, die nicht wissen, welches Geschenk ihnen mit dem Studium gemacht wird. Abgesehen von einigen Ausnahmen hat sich der Großteil der Universitäten dem schlichten Verwertungsdenken längst angepasst und sich, besonders im Bachelor-Studium, in eine Abfertigungsmaschine verwandelt. In diesem Buch lesen Sie, wie man in dieser verschulten und oft lustlosen Umgebung trotzdem intelligent, gleichsam partisanenartig studieren kann.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich male hier nicht das Bild des akademischen Elfenbeinturms. Universitäten sollen ihren eigenen Themen intensiv nachgehen, aber natürlich auch gesellschaftlich und wirtschaftlich relevante Zusammenhänge integrieren. So halte ich es für selbstverständlich, dass Studierende auch praktische Erfahrungen sammeln, Praktika in privaten oder staatlichen Organisationen und Institutionen regulärer Bestandteil des Studiums sind. Und ich halte es für an der Zeit, Seminare in Teilen umzuwandeln in Projekte, die Wissen anwenden auf relevante Themenstellungen, auch in Kooperation mit Unternehmen, Behörden, Verbänden, Non-Profit-Organisationen etc. Und das nicht nur für Wirtschafts- und Politikstudenten, sondern für die Studierenden aller Fakultäten. Nur über den Einblick in praktische Arbeitszusammenhänge können sie sich ein breit gefächertes Bild der Gesellschaft aneignen, das ihnen später hilft, in verantwortlicher Position zu handeln. Mediziner müssen die Krankenhausorganisation früh kennenlernen, Naturwissenschaftler die Laborbetriebe etc. Aber Naturwissenschaftler sollten auch einmal in Abgeordnetenbüros assistieren, um mitzubekommen, wie Gesetze gemacht werden. Und Mediziner sollten in Konzernen Praktika machen, um mitzubekommen, wie man große Organisationen effizient führen kann.
Mein Doktorvater Harald Scherf, ein Mathematiker und Ökonom, hat als Student in einem englischen Bergwerk gearbeitet, ich selbst war auf einer Werft und im Stahlbau. Sie können auch bei Aldi an der Kasse arbeiten, mit Greenpeace Wale auf schnellen Booten schützen oder Bäume fällen in Kanada. Überhaupt halte ich es für gut, wenn Sie vor dem Studium ein Jahr arbeiten, vielleicht sogar eine Lehre machen. Auch wenn diese Arbeiten alles andere als erfüllend sind, es bleiben Ihnen Ihre Erfahrungen, die Sie dort machen, Sie lernen Menschen kennen, die ein Leben lang an solche Arbeitsplätze gefesselt sind: Gehen Sie heraus aus Ihrem Milieu, und lernen Sie die Gesellschaft kennen. Lernen Sie die Welt kennen und verstehen, wie sie ist, und lernen Sie dann aus der Differenz Ihre Milieus kennen und einschätzen.
Am liebsten würde ich sehen, dass jeder, bevor er an einer Universität aufgenommen wird, die Realisierung eines gesellschaftlichen Projektes nachweist – ob als Arbeiter, Angestellter oder als Unternehmer, ist gleich. Das Plus an Erfahrung, das man so an die Universität mitbringt, wirkt sich erfahrungsgemäß für das gesamte Studium positiv aus. Die heutige Gewohnheit, aus der Schule gleich wieder in die Schule zu wechseln, verdirbt die ersten Semester – nicht nur, weil viele erst einmal nur Party machen – und verstellt den Blick auf das intellektuelle Projekt, das gerade beginnt.
Universitäten bilden, aber sie bilden nicht aus. Die Berufsorientierung, die jetzt für das Bachelor-Studium propagiert wird, ist eine Farce. Kein Universitätsprofessor oder Assistent kann für einen Beruf ausbilden. Sie haben davon kaum eine Ahnung. Sie sind Lehrer und Wissenschaftler. Immer, wenn sich die Gelegenheit bot, habe ich Manager und Unternehmer gefragt, ob die Studierenden praxisnäher ausgebildet werden sollten. Sofort begeisterte Zustimmung. Meine Rückfrage, was die Studierenden nach einem Studium können sollen, blieb unbeantwortet. Ebenso die Frage, was ich ihnen für die nächsten 30 Jahre mitgeben soll. So weit hat niemand gedacht. Universitäten sind darauf ausgelegt, für das ganze Leben zu bilden und nicht auf eine bestimmte Praxis hin, die im Übrigen in fünf Jahren bereits wieder anders aussehen kann. Als Universitätslehrer kann ich nur bilden, das heißt, Kompetenzen entwickeln helfen, die es den Studierenden später ermöglichen, sich – tendenziell – in jede Praxis einzuarbeiten. Aber ich kann auf keine spezifische Praxis hin ausbilden! In Fachhochschulen dürfte das anders gesehen werden, da dort häufig Praktiker unterrichten.
Als ich 1969 zu studieren begann, stellte sich die Frage nach dem Beruf für uns nicht. Es war einfach klar, dass wir etwas werden. Uns blieb gar nichts anderes übrig, als bloß zu studieren. Die Idee, das Studium auf einen Beruf auszurichten, wäre uns eher merkwürdig vorgekommen. Deswegen studierte man doch, um nicht für einen Beruf ausgebildet zu werden. Das Studium stand für Freiheit des Denkens und der Intellektualität. Es ging nicht darum, sich Wissen effizient anzueignen, sondern darum, zu verstehen, wie die Dinge zusammenspielen. »Das richtige ›Wissen-Müssen‹ kann heute weniger denn je in der optimierenden Ansammlung von Kenntnissen liegen. Es muss die Reflexion der Beschränktheit menschlicher Erkenntnisse umfassen. Wir müssen nicht nur wissen, sondern verstehen – und dabei auch verstehen, dass wir oft entscheiden müssen, ohne zu wissen. Nur das kann uns zu verantwortlichem Handeln befreien.«4
Jost Stollmann (der in Schröders Schattenkabinett 1998 für den Wirtschaftsminister vorgesehen war, dann aber zurücktrat; er galt damals als der Top-Unternehmer der BRD) antwortete 1998 bei einer Veranstaltung vor Wirtschaftsstudenten auf die Frage, wie man studieren sollte: Studieren Sie Philosophie in Paris, gehen Sie dann für drei Jahre zu einer Unternehmensberatung, machen anschließend Ihren MBA in Harvard und leihen Sie sich schließlich Geld von Ihren Verwandten, um das eigene Unternehmen zu gründen.
Nun will nicht jeder Unternehmer werden, aber die Freiheit, das zu tun, worauf man neugierig ist, um sich dann schnell die Fähigkeiten anzueignen, die man braucht, um dann wieder das zu tun, worauf man neugierig ist und bei dem man sein eigener Herr ist, ist bestechend – ein Modell für freie Geister. Vergleichen Sie es mit den faden Vorschlägen, die Sie so häufig zu hören bekommen: Studiere schnell und zielbewusst, damit du erfolgreich Karriere machen kannst. Wie aber soll man sich für etwas entscheiden, was man noch gar nicht kennt? Und – eine Nuance bei Stollmann – warum soll man studieren, um dann Angestellter zu werden? Warum nicht gleich ein freier Mensch, ein Unternehmer werden? Das betrifft nicht nur Wirtschaftsstudenten. Gerade Naturwissenschaftler, aber auch Philosophen, Soziologen, Indologen, Agrarwissenschaftler etc. können dieses Ziel anvisieren. Warum nicht? Die Frage, ob Sie mit Ihrem Studienfach später auch eine Arbeit, bekommen, stellt sich so dann gar nicht. Als Unternehmer nehmen Sie sie sich.
Mediziner, Zahnärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Architekten etc. – viele von ihnen werden Unternehmer: in ihrer eigenen Praxis, in ihrer Apotheke etc. Aber keiner sagt es ihnen vorher. Sie werden in Fragen der Betriebsführung schlicht nicht ausgebildet in ihren Fakultäten (mit leichten Änderungen jetzt, wo die Gesundheitsökonomie aufzublühen beginnt. Aber dann wird gleich wieder ein spezieller Studiengang entworfen. Aber darum geht es hier nicht: Es geht darum, dass diese Betriebswirtschaftslehre in den gewöhnlichen Studiengängen mit gelehrt wird. Natürlich dann von Praktikern). Was heißt hier praxisnahe Ausbildung (wie sie das Bologna-Programm für den Bachelor vorgibt)? Wenn Sie eines dieser Fächer anpeilen, studieren Sie Betriebswirtschaft gleich parallel (oder einen MBA) dazu. Sie müssen Kostenrechnung, Führung, Personalwesen, Finanzen etc. ebenso beherrschen wie Ihre Fachkenntnisse, denn eine Arztpraxis, ein Architekturbüro, eine Rechtsanwaltskanzlei – das sind auch Unternehmen. Wenn also schon teure Ausbildung, dann richtig.
Vielleicht wissen Sie nach abgeschlossener Schulausbildung noch gar nicht – und für viele trifft das ganz sicher zu –, was Sie alles wollen könnten. Der Horizont ist womöglich einfach nicht weit genug geöffnet. Dann testen Sie, machen Sie Experimente. Studieren Sie Universität! Suchen Sie sich Seminare in den Fächern aus, die Sie neugierig machen. Und gehen Sie hin – notfalls fragen Sie höflich, ob Sie mitmachen dürfen. Suchen Sie sich dafür eine Universität aus, an der solche Besuche möglich und sinnvoll sind und die solche Anfragen nicht wegen chronischer Überfüllung der Hörsäle ablehnen muss.
Universität studieren – nehmen Sie alles mit an geistigem Reichtum, was Sie interessiert und Sie verkraften. Bewegen Sie sich wie ein Fisch im Meer des Geistes. Sie lernen möglicherweise Dinge kennen, von denen Sie nichts wussten, die Sie aber plötzlich mehr interessieren als die, die Sie bisher verfolgt haben. Lassen Sie sich also überraschen: Eine Universität ist eine Universität, mit einem großen Angebot an Themen, Fächern, Ideen und Sichtweisen. Nutzen Sie die Chance, so viel wie möglich davon kennenzulernen. Sie bekommen sie so nur einmal in Ihrem Leben.
Sie werden in einer Weise gebildet, die völlig neu ist für Sie, und Sie lernen unbekannte Welten kennen – und neue Menschen.
Und wo soll das Ganze stattfinden? Wo also studieren? Manche überlegen, fürs Studium gleich ins Ausland zu gehen. Dass Sie – beziehungsweise Ihre Eltern – gehörig dafür in die Tasche greifen müssen, ist Ihnen klar. Ob es Ihre Berufsaussichten verbessert, bleibt indessen unklar. Wahrscheinlich steigen Ihre Berufschancen in dem Land, in dem Sie studieren. Die Alternative Ausland oder Deutschland bleibt eine abstrakte Überlegung, solange Sie sie nicht mit Ihren Wünschen und Erwartungen abgleichen. Viele ausländische Universitäten sind strenger reglementiert als die deutschen, und es gibt große Qualitätsunterschiede. Was erwarten Sie also von einem Auslandsstudium?
Nutzen Sie den Bologna-Prozess: Fangen Sie in Deutschland mit einem Bachelor an und überlegen Sie, Ihren Master im Ausland zu machen. Sie wissen dann genauer, was Sie brauchen und was Sie interessiert. Und Sie haben inzwischen ein paar Informationen mehr über andere Universitäten. Aber: Wenn Ihnen klar ist, dass Sie nur an der Georgetown University Theologie oder Physik am MIT studieren wollen, dann nichts wie hin! Suchen Sie sich in jedem Fall eine Universität, von der Sie erwarten dürfen, dass Sie sich dort bilden und nicht nur »ausbilden« können. Das ist keine einfache Angelegenheit – zumal als Studienanfänger.
Die Frage ist also: Wie kommen Sie zu Ihrer Entscheidung? Über das Internet? Einen ersten Einblick werden Sie sich verschaffen können. Aber eine Internetsuche lohnt sich erst dann wirklich, wenn Sie schon wissen, was Sie suchen. Und ob das, was Sie dort lesen, stimmt, wissen Sie immer noch nicht. Deshalb: Wenn irgend möglich, fahren Sie hin.
Ich habe Studenten kennengelernt, die nach dem Abitur zunächst eine »Bildungsreise« unternommen haben. Ich gebe zu, das waren sehr wenige. Aber es gibt ein bestechendes Konzept: Viele machen nach dem Abitur ohnehin eine große Reise. Die wäre doch ganz einfach mit Abstechern zu interessant erscheinenden Universitäten zu verbinden. Gehen Sie in »Ihre« Fakultäten und reden Sie mit allen, die Sie dort finden: Studenten vor allem, Professoren, Assistenten. Fragen Sie sich durch. Wenn Sie merken, dass Sie nicht weiterkommen, weil die Leute blocken, wird das nicht Ihre Universität werden. So gehen die dann auch später mit Ihnen um. Meistens aber werden solche Initiativen sehr begrüßt, und die Leute reden offen über ihre Universität.
Gehen Sie pragmatisch vor. Suchen Sie sich sechs Universitäten aus und reisen Sie dorthin. Sie glauben gar nicht, was Sie alles erfahren werden. Und Sie können prüfen, ob Ihnen die Atmosphäre gefällt, der Duktus, der Geist. Nehmen Sie auch Privatuniversitäten ins Visier. Manche von ihnen haben einen besonderen Esprit, der Ihnen gut gefallen könnte.
Vor langer Zeit haben sich Studenten die Universitäten danach ausgesucht, welche berühmten Professoren dort lehrten, weil sie genau bei denen in die Vorlesung gehen wollten. Und sie haben die Universität gewechselt, um andere berühmte Professoren zu hören. Man studierte ad personam, ging als Physikstudent auch zu den Philosophen etc. Ich weiß, diese Zeiten sind längst vorbei, aber vielleicht lässt sich diese Anbindung über Personen wieder reaktivieren: Schreiben Sie Professoren an; Sie werden sich wundern, wie viele positiven Rückmeldungen Sie bekommen werden. Da das heute kaum einer mehr tut, werden Sie schon mal entsprechend Aufmerksamkeit erregen.
Wenn Sie dabei zunächst an die Bürokratien der Universitäten geraten, die Sie nicht an die Professoren heranlassen, machen Sie trotzdem weiter. Arbeiten Sie wie ein Partisan. Wenn Sie bei einem Hochschullehrer studieren wollen, den Sie aus der Literatur kennen und hervorragend finden, versuchen Sie, mit ihm zusammen die Regelungen auszuhebeln. Manchmal gelingt das. Notfalls mit einem »Touristenvisum«. Sie gehen einfach ins Seminar und arbeiten dort mit, auch wenn Sie keinen Schein, kein Zertifikat dafür bekommen. Aber Sie haben dort studiert, wo Sie wollten. Zumindest ein privates Zertifikat des jeweiligen Professors können Sie bekommen, das Sie ohne Weiteres später Ihrem Lebenslauf beilegen können als etwas, das zeigt, dass Sie Ihre eigenen Wege zu gehen verstehen.
Es ist verrückt, wie beschränkt Universitäten heute in ihrem Handlungsspielraum sind. Früher hatten Sie nahezu jede Freiheit, die akademische Freiheit. Heute müssen Sie die Lücken in den Regularien finden, um eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Ignorieren Sie die Universität als Verwaltungseinheit und nehmen Sie sie als Universität sans phrase. Helfen Sie mit, die »post Universität« (ein Wort, das Markus Giesler erfunden hat) zu gründen, betrachten Sie alle Universitäten der Welt als Knoten in einem großen Netzwerk, in dem Sie sich bewegen. Seien Sie dabei, Muster mit auszubilden, die andere kopieren können.
Das Muster mag »post Universität« (also die Universität nach der Universität), next university oder virtuelle Universität heißen. Suchen Sie sich einen Begriff aus. Sie studieren Universität – und nicht nur, wie ich oben schrieb, auf Ihre unmittelbar vorhandene Universität bezogen, sondern universeller. Schauen Sie sich in Ihrer Universität um, was noch zu studieren lohnt, worauf Sie neugierig sind. Schauen Sie sich in Ihren Nachbaruniversitäten um, und schauen Sie sich national/international um. Die Frage heißt für Sie, bei wem Sie studieren wollen, und nicht, an welcher Universität. Die Universitäten sind nur so gut wie die Leute, die dort lehren. Suchen Sie sich die richtigen Leute aus. Gegebenenfalls wechseln Sie.
Studieren Sie in diesem Netzwerk. Vieles werden Sie erst im Laufe Ihres Studiums kennenlernen. Ob die Angebote Ihrer lokalen Universität zum Austauschstudium etwas taugen, müssen Sie selber prüfen – nach Ihren Kriterien. Meist sind es einfach konventionelle Angebote, weil man heute in Deutschland glaubt, im Ausland studiert zu haben, sei schon eine besondere Qualität. Nein. Zeigen Sie, dass Sie Ihr eigenes Studium organisiert haben. Das lässt sich später herzeigen als quasi unternehmerische Initiative. Es ist bereits eine Kompetenz, das selber geleistet zu haben. No delivery! Lassen Sie sich nichts liefern, was Sie nicht selbst, nach Ihren Kriterien, geprüft haben.
Überhaupt: Sie sind es, der studiert, also entscheidet. Lassen Sie sich keine Lehrpläne, Programme oder ähnlichen Quark vorsetzen. No delivery! Finden Sie heraus, wie Sie die Vorgaben jeweils intelligent unterlaufen. Kooperieren Sie mit klugen Professoren (die das sofort verstehen werden!). Suchen Sie sich die Universität danach aus, welche Freiheit sie in dieser Hinsicht bietet. Es gibt erhebliche Unterschiede. Immer dort, wo sich alle streng an Programme halten, ist der Geist der Universität bereits untergraben. Nehmen Sie das als einen Indikator für Ihre Wahl.
Im Übrigen sind die deutschen Universitäten viel besser als ihr Ruf. Man muss nur die Professoren finden, die tatsächlich exzellent sind. Und die Assistenten, manchmal extrem kluge Köpfe und hilfsbereite Kollegen. In den USA werden deutsche Wissenschaftler mit Kusshand genommen – weil sie so gut sind. Trauen Sie sich also, in Deutschland zu studieren – Ihre Wahl hier zu treffen.
Das Studium ist ein Wagnis. Gehen Sie also am besten auch unternehmerisch an die Sache heran. Es ist ein großes Erlebnis. Sie werden sich selber entdecken in dem, was Sie können und was Sie wollen. Aber auch in dem, was Sie nicht können. Auch eine wichtige Erkenntnis!
So hält Henry Mintzberg, der grand old man der Organisationswissenschaft, die Managerausbildung beispielsweise generell für problematisch; sie qualifiziere nicht für das, was sie ausbilde: Management und Führung.5 Die jungen Studenten seien für diese Ausbildung noch gar nicht geeignet. Es sei sehr viel sinnvoller, wenn man sich für das Studium gar nicht selber bewerben dürfte, sondern von der Firma, bei der man bereits arbeitet, dafür ausgewählt würde – nur andere könnten das Führungspotenzial eines Bewerbers richtig einschätzen. Und um dafür ausgewählt zu werden, müsste man mindestens 35 Jahre alt sein. Auf die Frage, was man studieren solle, bevor man arbeite, um sich auf diesem Weg für die Managementausbildung auszuzeichnen, antwortete er: »Fangen Sie beispielsweise mit Philosophie an. Irgendetwas, was Sie zum Denken bringt.«6
Das ist ein Wort! Auch wenn Sie nicht Management studieren wollen! Studieren Sie Universität, nicht Bologna!
1 Priddat 2014b.
2 Vgl. Priddat 2012a, Kap. 1.
3 Baecker 2007b.
4 Masing 2011.
5 Vgl. Mintzberg 2005.
6 Mintzberg 2009.