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Helmut Clahsen

Und danach, David?
Ist Goliath wirklich besiegt?

Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949

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Namen und Daten aller in diesem Buch genannten jüdischen Personen sind authentisch. Die Berufe der nichtjüdischen Personen sind zum Teil frei erfunden.

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Titelillustration:
Elisenbrunnen 1943 aus dem Privatbesitz von Hermann Offergeld, Aachen

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Die Printversion erschien 2010 im Helios-Verlag, Aachen
unter der ISBN 978-3-86933-038-9

eISBN 978-3-86933-173-7

Inhalt

Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?

Nachwort

Und danach, David?
Ist Goliath wirklich besiegt?

Wie schon so oft, war ich auch heute zu meinem Kummerplatz gekommen. Einem starken Ast einer leicht zu besteigenden kanadischen Kiefer. Sie stand mitten auf einer ansteigenden Wiese des Stadtgartens, vor den Terrassen und Treppen, die zu jenem runden Platz hinauf führten, auf dem ich 1939 meine Weihnachtswünsche verbrannt hatte. Damals war es äußerst ungewiss, ob es mir gelingen würde, das ‚Tausendjährige Dritte Reich‘ zu überleben. Um bei der Wahrheit zu bleiben, zu der Zeit reichte mein Verstand nicht einmal aus, solch einen Gedanken zu produzieren.

Heute, 1945, ist das anders. Ich war gerade vierzehn Jahre geworden. Der Krieg war seit Mai vorbei und seit Juni lebte ich mit meinem Bruder, meiner Schwester, dem Vater, der Hexe und dem Onkel Vielfraß in einem Haus, in einer Wohnung.

Die Tageszeit, von der ich hier berichte, war ein warmer, sonniger Spätnachmittag im August 1945. Der ganz leichte lauwarme Wind, der gerade noch ausreichte, die Zweige ‚meines Baumes‘ leise flüstern zu lassen sowie die menschenleere, friedliche Umgebung der Parkanlage sollten mir helfen, meine aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Bäume spielten in meinem bisherigen von Angst, Leid und ohnmächtiger Wut bestimmten Leben immer schon eine ungeheuer wichtige Rolle. In ihren Ästen, an und in ihren Stämmen suchte ich so manches Mal Schutz, konnte ich mir meinen Kummer, meinen Schmerz von der Seele weinen und mitunter ein wenig Ordnung in meine Gedanken und Gefühle bringen.

Da in mir Trauer und Hass ständig aufeinanderprallten, Albträume, geboren aus den grausamen angstvollen Erlebnissen meiner Kindheit, mir den Schlaf raubten, woran wohl auch zum Teil der Hunger in den Nachkriegsjahren eine gewisse Schuld hatte, niemand da war, mit dem ich über dieses Gefühlschaos reden konnte, hatte ich mir dazu diesen Baum erkoren. Von Umfang und Höhe war er der mächtigste und von der Ebenmäßigkeit des Wuchses der schönste aller Bäume die um ihn herum standen. Keine Granate, keine Bombe hatte seine majestätische Spitze zerfetzt. Er hatte mich magisch angezogen. Von dem erwählten Platz, auf einem starken Ast nahe der Spitze, konnte ich den Rosengarten sehen. Die Bank, auf der Oma gesessen hatte, damals. Schmerzliche Erinnerungen wurden dabei sofort wieder heraufbeschworen an die Schilder auf den Lehnen der Parkbänke. Jetzt war kein Schild mehr an den Lehnen der drei Bänke, die den Krieg und den Brennmaterialklau überstanden hatten. „Für Juden verboten!“ Ich war längst dort gewesen und hatte nachgesehen. Die Löcher der Nägel oder Schrauben, mit denen die Schilder damals befestigt worden waren, fand ich noch, die Schilder nicht mehr. Auch am Eingang des Stadtgartens war kein Schild mehr zu finden, auf dem „Für Juden und Hunde verboten“ gestanden hatte. Ich kam oft hierher. Wir wohnten ja jetzt ganz in der Nähe. Manchmal setzte ich mich auch auf die Bank im Rosengarten, wenn ich Oma nahe sein wollte. Ich glaubte nicht, dass sie noch lebte. Mit Freuden hätte ich wieder mit ihr zusammengelebt. Wäre die Behausung auch noch so winzig und ärmlich gewesen. Das Haus in der Korneliusstraße stand noch und das auf dem Büchel auch. Mir fiel Omas wütendes Geschimpfe über Hitlers Vernichtung des Weltjudentumes ein. Es gab wohl kaum eine Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einem meiner jüdischen Verwandten. Mit all den Onkeln, Tanten, Cousinen und Vettern. Von keinem hatte ich ein Lebenszeichen. Ich hatte Vater gefragt. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt, geantwortet hatte er nicht. Auch nicht, als ich ihn nach Tante Mary fragte. Wo sie zuletzt gewohnt hatte, war sie nicht und die Leute, die in ihrer Wohnung lebten, konnten mir angeblich nichts sagen.

Die furchtbare Verwandtschaft meines Vaters, die katholisch-arische, hatten allesamt überlebt. Ohne körperliche Blessuren überlebt. Ein wenig abgemagert und mehrmals ausgebombt, sogar einmal verschüttet war eine der Schwestern meines Vaters. Was mich aber wirklich erstaunte und in Wut versetzte war, dass sie behaupteten, nie mit den Nazis paktiert zu haben. Weder die, die unserem Vater 1935 zugesetzt hatten, sich von dem ‚Judenweib‘ und seinen ‚Bastarden‘ zu trennen. Auch jene nicht, die am 22.7.1942 meine geliebte Oma an die Nazis verraten hatte. Die den Tod Pohlers auf dem Gewissen hatte, der bei Omas Festnahme von der Gestapo erschossen worden ist. Auch seine dritte Schwester nicht. Die so katholisch war, dass sie zu glauben vorgab, meinen Bruder und mich im Mai 1943 an die Herrenmenschen ausliefern zu müssen, weil nach ihrer Ansicht Hitler ein Werkzeug Gottes war, der den Mord an seinem Sohn rächen wollte. Und auch die vierte Schwester hatte den Krieg gesund überlebt. Die saure Adele hatte die Nazis zwar nie gemocht, uns ‚verdammtes Judenpack‘ aber noch weniger.

Die älteste Schwester, für mich war sie ‚der Drachen‘ geblieben, der sie immer war, hatte mit Hilfe der Sieger Möbel ehemaliger Nazis requiriert und damit ihrer Nachkriegsbehausung eine Wohnlichkeit verliehen, wie sie sie vorher nie besessen hatte. Dass wir ‚verdammten Saujuden‘ vergangener Jahre überlebt hatten, nahmen diese grausamen Verwandten zum Anlass, den Alliierten vorzugaukeln, sie hätten Juden beschützt und Anteil am Überleben meines Bruders und mir. Grausamer Hohn! Aber ich war zu jung, mich dagegen wehren zu können.

Schier unerträglich war das Zusammenwohnen mit der Hexe und deren Ehemann. Absolut gegen den Strich ging mir, dass Vater von mir Gehorsam dieser Person gegenüber verlangte und sich den Haushalt von ihr führen ließ. Uns Kindern gegenüber verhielt er sich wie vor Jahren. Die große Ausnahme war unsere Schwester, die all die Jahre völlig von uns isoliert bei der Hexe gelebt hatte und nun plötzlich zwei recht raubeinige Brüder hatte und mit ihnen leben lernen musste. Das war für keinen von uns einfach. Im Dezember würde sie zehn Jahre alt werden. Sie war Vaters Augapfel. Seine Schwester hatte ihm seine Tochter ja auch lange genug vorenthalten. Sie wurde von ihm nur ‚Tittilein‘ gerufen und auch so behandelt wie ein kleines Kind. Ihren Namen Luzia bekam sie nicht zu hören.

Heini war wie früher das Kerlchen mit dem klugen Köpfchen. Im April war er elf geworden. Ich war immer noch Vaters Blödmann. Der unbelehrbare Schandfleck der Familie. Der Nestbeschmutzer, der die eigene Familie für ihre unmenschlichen Taten zur Verantwortung ziehen wollte, anstatt zu vergessen und froh zu sein, weiter leben zu dürfen. Aber ich wollte und konnte nicht vergessen. Nicht was diese Hyänen meiner Mutter, meiner Oma und uns angetan hatten. Hinzu kamen die Albträume. Die immer größer werdende Wut, meinen Hass nicht ausleben zu können.

Und wieder wurden wir Kinder ein Mittel, bestimmte Dinge von den Behörden zu erlangen. Bezugscheine für irgend eine Mangelware zum Beispiel. Bei solchen Gelegenheiten führte Vater mich wie einen Pfingstochsen vor. Nannte mich vor allen Leuten: „Das arme Judenkind, dass ja so gelitten hatte, unter Hitler.“ Dabei hatte er keine, nicht die geringste Ahnung. Er nannte die Kerle hinter den Schreibtischen meist beim Vornamen. Er kannte sie also. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass diese Kerle schon während des Dritten Reiches Beamte waren. Außerdem sahen sie nicht so erbärmlich aus wie die Menschen vor den Amtspulten. Verdammt, warum kuschte er immer noch vor diesen Kerlen? Mir war jedes Mal zum Kotzen, wenn ich mit ihm auf ein Amt musste. Warum nahm er mich immer mit? Warum nicht meinen Bruder oder unsere noch kleinere Schwester?

Nein! Ich kam mit dieser verlogenen, niederträchtigen, hinterhältigen Mischpoke, dieser widerwärtigen Familie nicht zurecht. Ich konnte sie nicht ertragen.

Die Not und das Elend in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren allgemein. Es mangelte an allem. Nicht einmal die rationierten Dinge des täglichen Lebens, wie Lebensmittel, Kleidung, Heizmaterial, gab es für alle in ausreichender Menge. Am ehesten konnte man sich mit etwas Heizmaterial versorgen, das wir uns aus den Trümmern zerbombter Häuser holten. Die Trümmer ganzer Straßenzüge bargen so manches. Mitunter brachten Heini und ich sogar eingemachte essbare Vorräte mit nach Hause, die wir in Kellern unter Schutt und Steinen bergen konnten. Natürlich hatten wir auch so manchen angekohlten Dachbalken angeschleppt, den Onkel Vielfraß ofengerecht zerlegte. Nicht dass wir gerne in den Trümmern herumgestöbert hätten, oder gar aus Abenteuerlust. Nein, wir wurden geschickt. Die Hexe bestimmte die Norm dessen, was gesammelt werden musste. Und das nicht nur bei Holz. Später im Jahr kamen Buchecker hinzu, die Heini und ich im Wald sammeln mussten. Für eine bestimmte Menge Buchecker gab es an den Verteilstellen in der Stadt eine bestimmte Menge Öl oder Margarine. Nicht das wir alleine im Wald gewesen wären.

Groß und Klein, Alt und Jung sammelten diese kleinen kostbaren ölhaltigen Waldfrüchte und manch einer trat dabei auf eine im Boden versteckte Miene und verlor seine Glieder oder gar sein Leben. Das konnte der Hexe und dem Vielfraß nicht geschehen. Sie gingen nicht in den Wald, sie schickten uns, Heini und mich.

Allein die Ausbeute, die wir nach Hause brachten, ob von den Trümmern oder aus dem Wald oder sonst wo her, entschied darüber, ob wir Abendessen erhielten oder ohne und hungrig ins Bett mussten. Mein Eindruck war, die hofften, dass wir eines Tages auf eine Miene treten würden oder in den Trümmern verschüttet werden würden. Der ohnmächtige Hass in mir wurde größer und größer. Da half kein Fluchen und kein Beten. Hinzu kam, dass Vater zu seinen Schwestern stand, dass Kinder den Mund zu halten und zu parieren hatten und uns ständig mit einer Erziehungsanstalt gedroht wurde, aus der wir bis zur Volljährigkeit nicht mehr herauskommen würden. Ich wusste nicht, ob es so etwas wie eine Erziehungsanstalt gab und wer uns da hinein bringen konnte, wenn es sie gab. Heimlich ging ich zum Johannes-Höver-Haus und fragte Bruder Hermann Josef all das, was ich Vater nicht fragen konnte.

Ja, es gab solche Anstalten. Ich nahm mir vor, meinen Hass zu zügeln bis ich volljährig sein würde.

Eines Tages, bei einem dieser Versorgungsstreifzüge, fanden Heini und ich in der Monheimsallee einen gut erhaltenen Keller unter Trümmern. Zwei Kellerräume waren vollgestopft mit Konserven, Kisten mit Spirituosen und Unmengen von Zigaretten. Wir fanden nicht den Mut, etwas von diesen ‚Kostbarkeiten‘ mitzunehmen. Wir hatten nicht etwa Angst erwischt zu werden. Nein, wir wollten den Fundort nicht gefährden.

Es war ja möglich, dass wir beobachtet worden waren. Verließen wir den Ort mit leeren Händen, so dachte ich, wird ein eventueller Beobachter nicht auf uns aufmerksam. Erst bei Dunkelheit und während der Sperrstunde zeigten wir Vater das Überlebensparadies. Er fand sehr kurzfristig Mittel und Wege, all diese Herrlichkeiten in unseren Keller umzuquartieren. Mehrere Nächte hindurch hörten wir ihn immer wieder Kommen und Gehen, Kommen und Gehen. Trotz der Sperrstunden, die für ihn nicht zu gelten schienen. Über Tag schlief er dann. Er war so glücklich über diese ‚Fügung des Himmels‘, wie er den Fund nannte, dass er uns am Ende des Transfers mit Freudentränen, die ihm über das Gesicht rannen, abküsste. Ja, auch mich. Seinen Blödmann. „Jetzt hat der Hunger ein Ende“, jubelte er. „Das reicht für Jahre. Den Alkohol und die Zigaretten können wir gegen alles tauschen, was uns fehlt.“

An die hochgiftigen Nattern in seinem Familienterrarium hatte er nicht gedacht, hatte einfach nicht mit ihnen gerechnet.

Schon einen Tag nach vollbrachter Bergung kam seine älteste Schwester, der Drachen. Sie kam am späten Nachmittag und in unserem Wohnzimmer entwickelte sich eine lautstarke, erpresserische Auseinandersetzung zwischen Vater, dem Drachen und der Hexe, die den Drachen über den plötzlichen Wohlstand informiert hatte. Beide hatten ihre Ekelnamen nicht nur in meiner sehr frühen Kindheit von mir erhalten. Auch andere Menschen, fremde Menschen bezeichneten die Schwestern unseres Vaters so. Dass Menschen in Not sehr schnell aggressiv reagieren, war mir nicht neu. Schon oft hatte ich blitzschnell aggressiv reagieren müssen. Auch in den Trümmern. Mitunter musste ich mit körperlicher Gewalt verteidigen, was ich dort gefunden hatte. Mehr als einen Dachbalken hatte ich verloren, weil meine Kräfte gegen die eines Mannes nicht ausgereicht hatten.

Was sich an diesem Nachmittag zwischen Vater und diesen Nattern abspielte, erinnerte mich an Szenen, die ich in meiner sehr frühen Kindheit, im Johannistal, schon einmal erlebt hatte. Damals, als Mama nach der Geburt unserer Schwester aus dem Mariannen-Institut nach Hause kam. Die Situation war gleich, nur der Grund war ein anderer. Sie forderten von dem lebenswichtigen Reichtum, der im Keller lagerte, ‚ihren Anteil‘. Sie stellten Bedingungen, ähnlich wie 1936. Damals forderten sie, dass Vater sich von der Judenschlampe und den Judenbastarden trennen sollte. An diesem Sommernachmittag 1945 erklärten sie Heini und mich zu unnützen Fressern, zu Judenbastarden, die Vater schnellstens wieder ins Kloster zurückschaffen sollte. Der Drachen verlangte den Löwenanteil der Beute für sich und ihre vier Kinder. Der Rest, so verfügte sie, sei für die Hexe, den Vielfraß und das kleine Judenbalg, dass die beiden ja zehn Jahre durchgefüttert hätten. Ich saß mit Heini auf dem roten Plüschsofa. Wir hörten schweigend zu. Sie saßen um den Tisch herum, der wie alle anderen Möbel in dieser Wohnung uns nicht gehörte. Der Mann der Hexe, Onkel Vielfraß, nahm an dem Gespräch nicht teil, stand an der Türe zur Veranda und schaute in den Garten hinaus, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt. Er kümmerte sich um nichts. Zwar überragte er seine Frau um die Länge eines halben Oberkörpers, ohne ein Riese zu sein. Zu sagen hatte er nichts. Absolut nichts. Nur einmal machte er einen zaghaften Versuch. Jedoch, was er hatte sagen wollen, blieb ein Geheimnis, weil seine Frau ihn schon anfauchte, als er den Mund öffnete: „Halt den Mund, Josef!“ Dem hatte er nichts hinzu zu fügen.

Und Vater? Zunächst saß der vom Krieg und dem Hunger in der Strafkompanie ausgemergelte Mann ziemlich lässig da und hörte den Weibern mit funkelnden Augen zu. Dann, im Verlauf des Gezeters spannte sich sein Körper mehr und mehr ob der Forderungen, Zumutungen und Beleidigungen, die die Weiber ihm an den Kopf warfen. Die nickelgefassten Brillengläser, die ihm beim Militär verpasst worden waren, die mit zentimeterbreiten Bändern um die Ohren herum gehalten wurden, gaben seinem Gesicht etwas Lächerliches, nicht Ernst zu nehmendes. Aber, sie hätten ihn besser kennen müssen als ich. Ich glaubte zu sehen, wie es hinter der lächerlichen Brille in seinen Augen arbeitete. Mir hatten seine Augen immer Angst bereitet, wenn er böse wurde. Was ich jetzt zu erkennen glaubte, hätte mich augenblicklich verstummen lassen, wenn ich an der Stelle der Weiber gewesen wäre.

Sie machten ihm die zigmal gehörten Vorwürfe. Dass er dieses Judenweib geheiratet und Bankerte in die Welt gesetzt hatte. Dadurch sich und die Familien seiner Schwestern in Gefahr gebracht hatte. Der verfluchte Drachen behauptete doch tatsächlich: „Es ist nur gerecht, wenn du mit dem Überfluss aus deinem Keller das wieder gut machst, was du uns in der Vergangenheit durch dein Fehlverhalten und deine Sturheit angetan hast.“

Verdammt hatte ich eine Wut in mir. Diese Hyänen forderten von ihm und von uns eine Wiedergutmachung! Für was? Sie warfen uns vor, dass wir überlebt hatten. Ich schaute zu meinem Bruder. Er war weiß wie die Kalkwand auf dem Hof. Beide schauten wir Vater an. Was war aus ihm geworden? Wo war sein so gefürchteter Jähzorn geblieben? Hatten die Nazis ihn so fertig gemacht, dass er sich nicht mehr wehrte? War er jetzt so wie dieser Vielfraß an der Balkontüre? Zugegeben, seit dem Schlag von ihm in Tante Marys Wohnung 1936 und den fortwährenden Beschimpfungen und Bloßstellungen als sein Blödmann und Dummkopf der Familie, hatte ich keine großen Gefühle für ihn. Ich konnte ihn einfach nicht von mir überzeugen, was auch immer ich machte. Trotz alledem, er war mein Vater, der einzige Erwachsene meiner Familie, von dem ich Schutz erwartete. Meine Augen saugten sich an seinem Gesicht fest. Endlich bemerkte ich ein böses Lächeln um seinen Mund herum. Endlich funkelten auch seine Augen richtig böse hinter den lächerlichen Brillengläsern. Seine Finger begannen auf der Tischplatte zu trommeln, als wollte er seine wahren Gefühle verbergen. Taram, taram, taramtamtam, taram, taram, taramtamtam, immer und immer wieder. Taram taram taramtamtam.

Ganz unvermittelt brach der Drachen seine Hetztiraden ab. Hatte sie die Verfassung ihres Bruders erkannt? Sie hatte es plötzlich eilig. „Ich werde jetzt einige mitgebrachte Taschen mit dem Zeug da unten füllen und nach Hause gehen“, sagte sie laut und bestimmt. Kein Einspruch von Vater?

„Nein“, sagte er gedehnt und sehr, sehr ruhig nach einer Weile des Schweigens. „Nein. Schwesterchen, wir machen das anders. Wir wollen doch kein Risiko eingehen, bei diesen unsicheren Straßen und der Dunkelheit. Ich organisiere einen Handwagen. Dann kannst du mit deinen Kindern kommen, wir beladen den Handwagen und deine Kinder können dich auf dem Heimweg beschützen. So und nicht anders machen wir das!“ Er ging in den Keller, kam mit einem eingemachten Huhn und einer Flasche ‚Hochprozentigem‘ zurück, gab beides seinem Schwesterlein und brachte sie zur Haustüre.

Als er wieder ins Wohnzimmer kam, setzte er sich wieder hin, schüttelte den Kopf und sagte ganz ruhig: „War das denn nun nötig? Habt ihr dummen Weiber etwa angenommen, ich wollte das alles, da unten, für mich alleine haben? Selbstverständlich hätte ich mit euch geteilt. Ihr hättet gar keinen solchen Aufstand machen müssen. Ihr habt euch ja mächtig ins Zeug gelegt. Jetzt weiß ich aber, Gott sei Dank, woran ich mit euch bin. Der Krieg ist also nicht vorbei und die Nazis keinesfalls besiegt. Überall sitzen sie. In der Familie genau so wie in den Ämtern.“ Er drehte sich zu uns hin, lachte freundlich und meinte: „Ja, Jungs. Dann nehmt euch mal schön in Acht! Ihr habt ja gehört, was eure lieben Tanten mit euch vorhaben.“ Er schickte uns auf unser Zimmer. Noch während ich mich erhob, sagte ich laut und deutlich: „Wer mich anfasst, den erschlage ich.“ Und bei Gott, es war mir ernst gemeint, trotz meiner vierzehn Jahre. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war aus diesem Mann geworden? Lässt sich beschimpfen in der übelsten Art und Weise und belohnt das noch mit Branntwein und einem Huhn und dem Versprechen, Heinis und meinen Fund mit diesen gottverfluchten, mörderischen Weibern zu teilen. Ich kämpfte mit den Tränen der Wut, die mir die Sicht nahmen, als wir die Treppe hochstiegen zu unserem Zimmer im ersten Stockwerk des Hauses. Heini heulte los und ich fragte mich: haben wir dafür überlebt? Müssen wir uns das gefallen lassen? Wir kamen mit dem, was wir soeben erleben mussten, nicht zurecht. Würde Vater uns wirklich wieder in ein Kloster abschieben? Ausgerechnet jetzt, wo der Keller, unser Keller, durch unser Glück und purem Zufall voller Ware war, die wir gegen Lebensmittel eintauschen konnten? Verdammte Scheiße! Wenn ich jetzt einundzwanzig Jahre gewesen wäre und volljährig, ich hätte den Weibern so aufs Maul geschlagen, dass sie neue Zähne gebraucht hätten. Wir waren also immer noch Judenbastarde. Immer noch auf der Abschussliste. Das Ende des Krieges war also nicht das Ende der Nazis. War kein freies Leben für uns. Als Heini sich ausgeweint hatte, schmiedeten wir Pläne, wie wir uns in Zukunft der Hexe, dem Drachen, dem Vielfraß gegenüber verhalten wollten. Ob unser Verhalten auch gegenüber Vater gelten sollte, wollten wir abwarten. Sollte von seinem Verhalten abhängen. „Der wird immer zu seinen Schwestern halten“, meinte Heini. „Ich fürchte, du hast recht. Ich könnte sie ermorden, so sehr hasse ich diese Weiber.“

„Wir müssten der Hexe ganz klein gestoßenes Glas im Essen machen, dann geht sie kaputt.“ Heini erinnerte sich an einen Fall, der einem Kind in Herbestal passiert war.

Ein ganz kleines Kind hatte, unbemerkt von Erwachsenen, winzige Glassplitter für Zucker gehalten und gegessen. Es war qualvoll gestorben. Niemand hatte ihm helfen können. Gegen den ständigen Essensentzug, den die Hexe uns aufzwang, wollten wir uns an den Vorräten im Keller schadlos halten. Sie konnte abschließen, so viel sie wollte. Türschlösser stellten für uns beide keine Probleme dar. Ab sofort würden wir massiven Widerstand leisten. Wenn es sein musste, auch mit gemeinsamer Gewalt.

Das versprachen wir uns, bevor wir einschliefen. Die Verwandten sollten sich ab sofort vor uns in Acht nehmen!

In diesem unter Trümmern verschütteten ‚tausendjährigen Deutschen Reich‘, gab es täglich Überraschungen und Abenteuer, auf die jeder gerne verzichtet hätte.

Bei jedem Wetter, jeder Jahreszeit standen die Menschen, mangelhaft gekleidet, hungrig und entkräftet, täglich, mitunter auch schon nachts, in langen Schlangen vor den Geschäften oder Verteilstellen. Sehr oft auch vergeblich, weil das, wofür sie anstanden, schon vergriffen war, bevor sie das Geschäft, die Verteilstelle erreichten.

Ganz gleich war, ob es sich dabei um Lebensmittel oder Gebrauchsgüter handelte.

Ob es sommerlich warm oder bitter, bitter kalter Winter war. Ganz schlimm war die Zeit für alleinstehende, alte und kranke Menschen und Kinder. Sie konnten sich ja immer nur an einer Bezugsstelle anstellen und wenn sie krank waren, gar nicht. Oft brachen Menschen in solch einer Warteschlange zusammen. Entkräftet, krank, alt.

Ob unser Vater es deshalb vorgezogen hatte, mit der Hexe unter einem Dach zusammen zu wohnen? Ich verstand ihn trotzdem nicht. Anstatt ihm Halt zu geben, ihn zu unterstützen, haben sie ihn die ganzen Kriegsjahre angefeindet, ausgestoßen, ihm das Leben so schwer und unerträglich gemacht, wie es ihnen nur möglich gewesen war. Haben sogar seine Schwiegermutter an die Nazis verraten. Haben versucht, uns, Heini und mich aus der Welt zu schaffen, und er... Ich verstand ihn nicht.

Vater hatte versprochen, den lebenserhaltenden Reichtum, der im Keller lagerte, mit seinen Schwestern zu teilen. Heini und ich hatten am gleichen Abend gelobt, keine Ungerechtigkeit mehr hinzunehmen. Als ich am Nachmittag des folgenden Tages auf der Veranda in der Sonne saß und mir den vergangenen Abend noch einmal vor Augen führte, fiel mir etwas auf. Hatte Vater wirklich versprochen, mit den Hyänen zu teilen? Nein. Hatte er nicht. Mir fiel auf, er hatte dem Drachen und nur dem Drachen angeboten, einen Handwagen zu besorgen. Er hatte nur versprochen, den Drachen mit einem beladenen Handwagen nach Hause gehen zu lassen. Von Aufteilung hatten nur die giftigen Nattern gesprochen. Mir war schon klar, dass er von dem Fund einiges abgeben musste. Schon deshalb, damit der Drachen ihn nicht anzeigte und des Diebstahls bezichtigte. Mir war auch klar, dass die Hexe schon dafür sorgen würde, dass der Drachen nicht zu kurz kommen würde. Vater, der ja ständig abwesend war, hätte das gar nicht verhindern können. Die Hyänen hatten ihn ja schon früher im Johannistal beklaut, wo sie nur konnten. Konnten Heini und ich ein Auge auf die Nattern haben? Konnten wir verhindern, dass die Weiber Vater und uns ausplünderten? Ich musste unbedingt mit Heini darüber sprechen. Er musste mir dabei helfen, die Hyänen zu überführen. Verdammt, wäre das lustig, wenn Vater die Hexe und den Vielfraß wieder, wie damals, vor die Türe setzen würde.

Es schellte und die Hexe befahl mir, die Haustüre zu öffnen. Noch bevor ich an der Türe war, wurde schon wieder geschellt. Niemand öffnete so einfach eine Türe, wenn es schellte. Ich auch nicht. Ich öffnete erst das kleine Sichtfenster in der Türe, um zu sehen, wer davor stand. Drei uniformierte englische Soldaten verlangten ins Haus gelassen zu werden. Ich öffnete und hatte ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend. In deutscher Sprache, die kein bisschen ausländisch klang, ordnete der Soldat eine Hausdurchsuchung an.

Vater war nicht im Haus. Die Hexe gab sich alle Mühe, die Hausdurchsuchung zu verhindern. „Das ist die Wohnung eines politisch Verfolgten und seiner jüdischen Kinder. Geht das denn schon wieder los?“, schimpfte sie. „Sie sollten sich schämen. Mein Bruder wird sich bei der Militärregierung über Sie beschweren“, keifte sie und versuchte, die Soldaten aus dem Haus zu drücken. Sie konnte drücken und schieben wie sie wollte, die Soldaten lachten nur und bewegten sich keinen Zentimeter. Seelenruhig sagte der, der so gut deutsch sprach: „Und ich lasse Sie auf der Stelle festnehmen, wenn Sie uns behindern.“ Er winkte den anderen Soldaten, öffnete die erste Türe, die er fand und stieg mit den Männern die Kellertreppe hinunter. Mir wurde ganz schummerig. Mit vollen Armen kamen sie wieder hoch und brachten die Pakete, Kisten, Dosen und alles Eingemachte – unseren ganzen Schatz – nach und nach auf einem Mannschaftswagen, der vor dem Haus stand. Der Fahrer saß in dem Wagen und hinderte die Hexe mit körperlicher Gewalt daran, sich wieder etwas von dem Wagen zu holen. Ihre Stimmung schlug plötzlich um. Sie brüllte den deutsch sprechenden Soldaten an: „Diese Judenlümmel hier“, sie wies auf Heini und mich, „die sind an allem schuld. Die haben das ganze Zeug geklaut und angeschleppt. Weiß der Himmel, wo sie das alles geklaut haben. Die können sie gleich mitnehmen, das Judenpack. Der Vater von denen ist auch schuld. Jeden Tag hat er die beiden zum Klauen losgeschickt. Er hat das alles im Keller verstaut.“

Der Soldat schien taub zu sein. Ich suchte nach einer Möglichkeit zur Flucht. Ohne Heini? Unmöglich! In meinen fieberhaften Gedanken, wem wir diese plötzliche Hausdurchsuchung wohl zu verdanken hatten, fuhr mir die Hand des deutsch sprechenden Soldaten durch die Haare. „Keine Angst, Junge, du und dein Bruder, habt nichts zu befürchten.“ Er nahm die Hand aus meinem Haar und stemmte sie auf seine Hüften. Er sah mich an und meinte lächelnd: „Du und dein Bruder, ihr seid also Judenkinder?“

Ich war sauer und wütend und sagte: „Meine Schwester da drinnen im Wohnzimmer auch.“ Der Soldat nickte ein paar Mal und stieg dann mit seinen Männern in das beladene Fahrzeug und sie fuhren los.

Scheiße, Scheiße, Scheiße! Echte Mordgedanken rasten mir durch den Kopf. Wenn ich nur gewusst hätte, wem meine Wut galt. Schon sehr bald wurde mir klar, wir waren wieder so arm wie vor der ‚Fügung des Himmels‘ und ich malte mir aus, wie wütend Vater sein würde, wenn er nach Hause kommen würde. Alle schönen Träume vom besseren Leben und vom Tauschhandel zerplatzt. Ich setzte mich wieder in den Liegestuhl auf der Veranda. Heini war oben im Schlafzimmer. Die Hexe rief mir zu: „Mach, dass du in die Trümmer kommst und komme ja nicht ohne Holz zurück.“

Ich dachte gar nicht daran, jetzt Holz zu suchen. „Leck mich am Arsch, alte Hexe“, rief ich zur Wohnung hin und blieb sitzen. Sie brüllte ihren Mann an, er solle mich verprügeln. Als der Vielfraß auf mich zu kam, sprang ich blitzschnell aus dem Liegestuhl. Aber der Mann sah mich nur an und schüttelte den Kopf. Hätte er versucht mich zu schlagen, ich hätte ihm so zwischen die Beine getreten, dass ihm garantiert die Lust vergangen wäre. Kein Mensch schlägt mich jemals wieder ungestraft. Das hatte ich mir am Tag der Befreiung durch die Amerikaner in Belgien geschworen. Noch eine ganze Weile würden meine Kräfte nicht ausreichen, einen Erwachsenen zu verprügeln. Aber der Tag würde kommen. Ich hatte es geschworen.

Trotzdem wusste ich mich zu wehren, wenn ich angegriffen wurde.

Vater kam erst am Abend nach Hause. Onkel Vielfraß war schon von seinem Informationsgang zu dem Drachen zurück. Heini erzählte Vater wutentbrannt, wie die Hexe uns beide und auch ihn genannt und des Diebstahls bezichtigt hatte. Vater rastete völlig aus. Mit einem ungeheuren Faustschlag schlug er den Onkel bewusstlos. Griff sich seine Schwester im Genick und schleifte sie gewaltsam auf die Straße. Den noch stark benommenen Onkel prügelte er hinterher. „Lasst euch nie mehr hier blicken“, brüllte er und donnerte die Haustüre zu. In mir waren nur Jubel und Freude. Nur unsere kleine Schwester schrie und weinte so fürchterlich, dass ich Angst um sie hatte. Verständlich. Sie kannte Vater kaum, uns gar nicht. Nicht einmal ihre leibliche Mama kannte sie. Sie kannte nur die Hexe und Onkel Vielfraß. Hatte die ganzen zehn Jahre ihres Lebens mit diesen Menschen, fern von uns allen gelebt. Und nun musste sie erleben, dass ihr ‚Papilein‘ die Menschen, die sie liebte, so gemein verprügelte. Es musste ein furchtbarer Schock für sie gewesen sein, zu dem noch hinzu kam, dass sie bei den fremden Brüdern bleiben musste. Sie kannte uns nicht, wir kannten sie nicht.

Und Vater? Kaum war die Haustüre zugeschlagen, schien seine vorher so grenzenlose Wut verflogen zu sein. Sah ich recht oder trogen mich meine Augen. War ein Lächeln in seinem Gesicht gewesen? Ich glaubte wirklich, es gesehen zu haben.

In dieser Nacht stand ich noch lange an unserem offenen Schlafzimmerfenster, das im Hinterhaus zum Garten hinaus lag, und schaute in den mondhellen Ausschnitt des Sternenhimmels. Ich hatte mit Heini reden wollen, aber der hatte sich zur Wand gedreht und mich angeblafft: „Lass mich bloß mit der verdammten Familienscheiße in Ruhe. Ich will davon nichts hören und nichts wissen. Wenn die verdammten Weiber uns wieder irgendwohin abschieben wollen, bringe ich sie alle um.“ Er drehte sich zu mir, setzte sich im Bett auf und sagte, die rechte Hand zum Schwur erhoben, „So wahr ich der liebe kleine Heinemann bin. Ich bringe sie alle um!“ Ich kannte meinen kleinen Bruder mit allen Schattierungen seines Charakters. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er seinen Schwur wahr machen würde.

Nicht nur der sommerlichen Wärme wegen, sondern weil ich nicht schlafen konnte, hatte ich mich ans Fenster gestellt, dachte an Mama und an meine geliebte Oma, der ich versprochen hatte, nichts von dem, was geschehen ist und geschehen würde zu vergessen und darüber zu berichten. Ich hatte nichts vergessen. Alle die grausamen Erinnerungen waren da. Waren jederzeit da. Auch auf meinem Baum und nachts, wenn die Albträume kamen und ich schweißnass aufwachte. Es gab kein Entrinnen, kein Vergessen. Wahrscheinlich aber auch keine Rache.

Aber es gab Hass. Abgrundtiefen, bösen Hass!

Am Tag darauf blieb Vater zu Hause. Es schien ihm nichts auszumachen, dass unsere wertvollen Vorräte beschlagnahmt worden waren. Er schien auch keine Angst vor einer Verhaftung oder einer ähnlichen Maßnahme der Militärregierung zu haben. Er schien in keiner Weise beunruhigt zu sein. Ihn zu fragen, war zwecklos. Er hätte mir doch nur eine dumme Antwort gegeben. Dabei wäre einfacher für mich gewesen, Bescheid zu wissen, wie er mit dieser Situation umzugehen gedachte. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Was, wenn die Soldaten wiederkamen und ihn verhafteten und uns mit. Waren wir nicht schuldig, geplündert zu haben? Er machte sich, so wie es aussah, keine Gedanken darüber. Er hatte sich in den Liegestuhl auf die Veranda gelegt und eine amerikanische Zigarette geraucht.

Die Umgebung war recht idyllisch, Um uns herum nur grüne und blühende Natur in allen Gärten, die wir einsehen konnten. Im Karlsburgweg, in der Ungarnstraße, am Ungarnplatz, in der Paßstraße, in der Thomashofstraße nur ganz wenige zerbombte Häuser. Unsere Wohnung war, wie Vater zu sagen pflegte, ‚erste Sahne‘. Stadtrandlage. Das Haus gehörte einem Polizei-Offizier, für den es nach dem Dritten Reich keine Verwendung mehr gegeben hatte und keine mehr geben würde, so drückte Vater sich aus und genau das erfuhr ich später auch von einigen Nachbarn. Er bewohnte mit seiner Haushälterin zwei kleine Zimmerchen in der zweiten Etage. Er verließ das Haus nur bei Dunkelheit. Aus guten Gründen.

Als Vater das Haus vor ein paar Monaten für sich beschlagnahmen ließ, waren alle Räume, die wir jetzt bewohnten, mit Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen vollgestopft. Als die Räume ausgeräumt wurden – Vater hatte dazu die übrigen Bewohner der Straße um Hilfe gebeten – wurde das meiste Mobiliar von den Anwohnern der Straße und der näheren Umgebung als ihr Eigentum wiedererkannt. Der „gute Polizist“ hatte, während die Menschen evakuiert waren, deren Wohnungen ausgeräumt und die Sachen – wie das nach dem Krieg genannt wurde – ‚sichergestellt‘. Aber hinterher vergessen, sich um eine Rückgabe zu kümmern. Aus den nicht wiedererkannten Restbeständen – vielleicht von deportierten Juden? – bestand unsere Wohnungseinrichtung. Es war nichts Wertvolles dabei, aber alles, was ein guter Haushalt benötigte. Wir selber besaßen ja nicht einmal mehr eine Gabel zum Essen. Wie genau Vater zu dieser Wohnung gekommen ist, habe ich nicht erfahren. Ein normales Mietverhältnis war es aber nicht, denn obwohl wir in einem Haus wohnten, sprachen wir nicht miteinander, sondern machten uns gegenseitig das ohnehin schwere Leben noch schwerer.

Tausende Aachener lebten in jedem „Loch“, das einigermaßen trocken war, vor Wetter schützte. In halben stehen gebliebenen Häusern. Fensterlöcher wurden mit Pappe oder wenn man hatte, mit wetterfesten, lichtdurchlässigen Materialien vernagelt oder dicht gemacht. In den großen Luftschutzbunkern der Stadt lebten über- und unterirdisch viele, viele Menschen, auf engstem Raum zusammengedrängt.

Auch in ehemaligen Militärkasernen hausten Menschen mit ihren Kindern, deren Wohnungen durch die Bombenangriffe zerstört worden waren. Vielfach musste Wasser in Eimern an Versorgungsstellen, Versorgungsfahrzeugen oder Hydranten geholt werden. Im Vergleich zu diesen Menschen lebten wir luxuriös. Und beinahe hätten wir, trotz Mangelwirtschaft und Lebensmittelmarken, die längst nicht alles hergaben, was darauf gedruckt stand, im Lebensmittelwohlstand leben können. Beinahe. Aber, kein Mensch kann in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Der Tag nach dem Rausschmiss der Hexe blieb bis kurz nach der Mittagszeit friedlich. Es mag etwa um vierzehn Uhr gewesen sein, als ich vor dem Haus eine bekannte Stimme vernahm, die laut und gemein ihre Habseligkeiten forderte, Vater ein Nazischwein, einen Räuber und Verbrecher nannte und uns Kinder „verdammte Judenbastarde“ schimpfte. Die Hexe war nicht alleine gekommen. Der Drachen leistete ihr nach einer kleinen Weile ebenfalls lautstarken Beistand in der gleichen Weise.

Vater hatte wohl schon mit ihrem Kommen gerechnet. Er ließ sie eine Weile auf der Straße schimpfen und krakelen, bevor er das Fenster in dem Zimmer, das zur Straße hin lag, öffnete und ein Bündel, das er schon zurechtgelegt hatte, hinaus auf die Straße warf. Er schloss das Fenster und kümmerte sich nicht weiter um die beiden Hyänen, die noch eine ganze Weile weiter lamentierten, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machten. Heimweg? Hatte die Hexe jetzt bei dem Drachen Aufnahme gefunden? Im Karlsburgweg hatte das Gezeter keinen Eindruck bei den Nachbarn hinterlassen. Hier wohnten sogar einige Beamte, die Vater und seine leidvollen letzten „tausend Jahre“ bestens kannten und ihr Wissen an die unwissenden Nachbarn weitergaben. Und so blieb jede Reaktion, die die Hexe und der Drachen hatten provozieren wollen, aus.

Etwa vierzehn Tage später, an einem Freitag, schellte jemand am Nachmittag. Vater öffnete. Welch ein Schrecken für mich. Ein Uniformierter der Militärbehörde kam in die Wohnung. Hinter ihm die Hexe und Onkel Vielfraß. Durch eine Anordnung der Militärbehörde wurde Vater gezwungen, die beiden nach Maßgabe des Gesetzes der Wohnraumbewirtschaftung wieder aufzunehmen. Niemand hatte ein Recht, eine solche Zuweisung von Wohnraum abzulehnen.

Unsere kleine Schwester war verständlicherweise glücklich, ihre beiden Bezugspersonen, bei denen sie ihr ganzes bisheriges Leben zugebracht hatte, wieder um sich zu haben. Die Siegesstimmung der behördlich eingewiesenen war nicht zu übersehen und auch nicht zu überhören. Die Drohungen der Hexe: ‚mit uns Pack schon fertig zu werden‘ nahm ich nicht ernst, aber es verstärkte meinen Hass.

Wenn unser Vater, jetzt auch unser aller Ernährer – denn der Vielfraß arbeitete nicht, wollte auch nicht arbeiten und gab immer vor, sehr magenkrank zu sein und deshalb nicht arbeiten zu können –, wenn also Vater aus dem Haus war, hatten Heini und ich nichts zu lachen.

Nach einer weiteren Woche wurde es in unserer Wohnung noch enger. Eine weitere Schwester unseres Vaters kam hinzu. Ich habe sie seit Kindesbeinen die ‚saure Adele‘ genannt und würde sie auch in Zukunft nicht anders nennen. Sie kam aus der Evakuierung zurück und wurde ebenfalls bei uns eingewiesen. Vaters zweitjüngste Schwester hatte sich charakterlich nicht verändert. Körperlich schon, sie war noch magerer geworden. Die Kräfteverhältnisse hatten sich ab diesem Zeitpunkt absolut zu unserem Nachteil verschoben. Zum Glück hatte Heini sich seit unserem Aufenthalt in Gemmenich/Völkerich zu einem verlässlichen Partner gemausert. Er war elf und allzu viel konnte ich ihm nicht abverlangen, aber er hatte begriffen, was uns stärker machte. Er hatte auch begriffen, dass er früher nur benutzt worden war, dass keiner von uns eine Zukunft haben würde, wenn die Hyänen die Oberhand behalten würden. Sobald Vater aus dem Haus war und nicht an den Mahlzeiten teilnahm, genügte der geringste Anlass – Füße beim Betreten der Wohnung nicht abputzen, Mütze an der Wohnungstüre nicht absetzen, nicht laut und deutlich die Tageszeit wünschen und andere Kleinigkeiten mehr –, uns die Mahlzeiten zu entziehen. So blieb vor allem für Onkel Vielfraß mehr, dass er in seinen angeblich kranken Magen stopfen konnte. Manchmal mussten wir sogar am Tisch sitzen bleiben und zusehen, wie unsere Portionen in seinem gefräßigen Maul verschwanden. Den verschlossenen Brotschrank aufmachen, war nicht mehr. Lebensmittel, die sofort verzehrt werden konnten, wurden nun in einer transportablen Truhe aufbewahrt und die blieb keinen Moment mehr unbeaufsichtigt in der Wohnung stehen. Bei unserem Vater konnten wir uns auch nicht beschweren. Er kam oft tagelang nicht nach Hause. Welcher Arbeit er nachging, wusste ich nicht. Noch nicht. Aber ich ahnte es, weil bei uns, trotz leerer Keller, keine Not war. Wenn er nach Hause kam, hatte er stets volle Taschen dabei, in denen alles war, was auf schwarzen Märkten zu ergattern gewesen war.

Auch Zigaretten für den „schwer magenkranken“ Onkel Vielfraß, der nur die besten Lebensmittel vertrug und eine Zigarette nach der anderen rauchte.

In den Beamtenstand war Vater aber noch nicht zurückgekehrt. „Da sitzen noch zu viele Nazis“, sagte er immer. „Die müssen mir erst einmal finanziell die Jahre ersetzen, die die Lumpen mir versaut haben.“ Er wollte jetzt, wo das Geld nichts wert war und es regulär nichts zu kaufen gab, keinen Prozess anstrengen, dessen Ausgang, bei all den Nazis in den Ämtern und an den Gerichten, ihm sehr fragwürdig erschien.

Aber es fehlte uns ja auch an nichts. Die saure Adele hatte den Haushalt übernommen, damit die Hexe mit dem armen Vielfraß so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft verbringen konnte. Sie brauchte Vater nur einen ‚Wunschzettel‘ zu geben und wenig später brachte er alles, was darauf gestanden hatte. Niemand fragte nach der Herkunft der Köstlichkeiten. Bei einigen Dingen, wie zum Beispiel großen Dosen Butter, Flaschen teuren alkoholischen Inhaltes und Zigaretten, hatten Heini und ich das Gefühl, dass diese Sachen schon einmal in unserem Keller verstaut gewesen waren. Zwangsläufig dachten wir darüber nach, ob unser Vater seinen gierigen Schwestern wohl mit Hilfe des Militärs ein Schnippchen geschlagen hatte? War er zu Hause, herrschte zwischen den Erwachsenen immer dicke Luft. Sie konnten sich nicht aus dem Weg gehen. Dazu war die Wohnung zu klein. Der Tagesablauf spielte sich in der Küche, dem Wohn-Esszimmer und auf der Veranda ab, wenn das Wetter es zu ließ. An der Hexe und Onkel Vielfraß ging Vater vorüber, als wären sie Luft gewesen. Sticheleien der Hexe, ahndete er durch anrempeln. Meist blieb sie dabei nicht auf den Beinen und holte sich so manchen Bluterguss und so manche Beule.

Die kalte Wut war der Hexe anzusehen. Heini und ich wussten zwar, wer diese Wut auszubaden haben würde, aber wir lernten schnell. Ich entschuldigte mich jedes Mal laut, wenn es mir gelungen war, es meinem Vater gleich zu tun und die Hexe sich an Tischkanten und Schränken blaue Flecken holte. Ich wartete darauf, dass sie mich schlagen würde. Aber den Gefallen tat sie mir nicht. Sie beschimpfte mich in bekannter Weise, bezog Heini mit ein, und versagte uns die nächste Mahlzeit, weil wir sonst zu stark werden würden.

Wenn uns der Hunger gar so sehr plagte, gingen wir beide zum Johannes-Höver-Haus. Auch die Brüder hatten keinen Überfluss, aber für zwei ausgehungerte Kinder reichte immer, was Bruder Emmerich noch erübrigen konnte.

Eines Tages gab es ein ganz gewaltiges Donnerwetter, als Vater nach Hause kam. Er war dahinter gekommen, dass Lebensmittel aus dem Haus gebracht worden waren und manchmal auch durch den Drachen selber abgeholt worden waren. Heimlich natürlich. Nicht einmal Heini oder ich hatten etwas davon bemerkt. Wir wurden meist, wenn Besuch kam, auf unser Zimmer oder in den Keller oder auf die Veranda verbannt. Aber einige Nachbarn hatten die vollen Taschen des Drachen bemerkt und Vater informiert. Zunächst tat uns die Schadenfreude gut. Dann aber strichen sie Heini und mir ganze Tagesmahlzeiten. Und das nahmen wir nicht so einfach hin. Wir rächten uns so, wie wir uns rächen konnten. Mussten wir uns für die tägliche Milch anstellen, tranken wir sie auf dem Heimweg entweder ganz oder teilweise aus. An Ausreden mangelte es uns nicht. Mal waren wir von den Erwachsenen solange zurückgedrängt worden, bis keine Milch mehr da war. Mal hatte uns jemand gerempelt und die Milchkanne war hingefallen und ausgelaufen. Meist aber war es so, dass die gute Frau Dammers – nicht nur uns, auch anderen Kindern –, Vollmilch statt Magermilch gab und auch manchmal ein leckeres Butterbrot mit Schinken oder Wurst. Das gab es natürlich nicht auf irgend welchen Lebensmittelmarken. Bei den Hyänen erwähnten wir natürlich nichts davon. Mussten wir für Brot anstehen, aßen wir das Maisbrot auf und gaben vor, das Brot hätte nicht gereicht, wir hätten nichts mehr bekommen. Der Bäcker Kockartz in der Paßstraße konnte nur verbacken, was er hatte. Bekam er nicht mehr Mehl, konnte er auch nicht backen. Es hat nie für alle gereicht, die vor der Türe standen. Auch in der Wohnung war nichts Essbares vor uns sicher. Heini und ich arbeiteten im Rudel. Hatte einer etwas Essbares entdeckt, lenkte der andere die Erwachsenen ab, bis der Schatz geborgen war. Wir waren sehr geschickt darin. So geschickt, dass meistens Onkel Vielfraß in Verdacht geriet. Der stritt natürlich alles ab, was ihm aber gegen die Logik seiner Frau keine Pluspunkte einbrachte. Je mehr er sich gegen die Ungerechtigkeit wehrte, um so schuldiger wurde er. Natürlich beschwerten die verdammten Nattern sich bei Vater. Beschuldigten uns, ohne zu wissen, dass die Beschuldigungen der Wahrheit entsprachen. Wurden wir gefragt, hielten wir uns an „unsere Wahrheit“. Er mag sich seine Gedanken dazu gemacht haben. Wir aber machten straflos weiter. Vor unserem kleinen Schwesterchen mussten wir uns natürlich in Acht nehmen. Sie war zu leicht auszuhorchen.

Es war ein Scheißleben! Nur weil die Erwachsenen zu faul waren, nachts aufzustehen und sich bei irgend einem Laden anzustellen, wurden Heini und ich um vier Uhr in der Nacht aus den Betten geholt, um möglichst nahe an der Ladentüre zu stehen, wenn um acht Uhr geöffnet wurde.

Noch war Sommer. Noch war es nicht kalt in der Nacht. In den Warteschlangen hörten wir so allerhand. Meist standen dort Frauen. Die Männer waren entweder im Krieg gefallen oder noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Wir erfuhren, dass es Frauen gab, die sich einen „Ami“ hielten und deshalb nicht Schlangestehen mussten. Wir erfuhren auch, wie man an solch einen „Ami“ drankam und dass einige Frauen in der Schlange glaubten, schon zu alt für das ‚Geschäft‘ zu sein. Wir wussten zwar nicht genau, wovon da die Rede gewesen war, aber es musste etwas mit Küssen und so zu tun haben. Ja, wir wussten, wo so eine junge Frau wohnte, die auch draußen mit ihren „Amis“ herumküsste. Sie hatte mehrere „Amis“. Heini meinte: „Das ist so eine Kopfkissenzerwühlerin, wie Vater mal eine hatte. Weißt du noch, damals in Höfen?“ Natürlich wusste ich noch. Aber auf einmal hatte ich so einen Gedanken, den ich aber nicht an Heini weiter gab. Es war ja auch nur so ein Gedanke, weil Vater so selten zu Hause war. Hatte er sich vielleicht wieder so eine Frau zugelegt und machte jetzt mit deren Ami Geschäfte? Wäre ja möglich gewesen. Die amerikanischen Zigaretten, die er meistens mitbrachte, ließen darauf schließen. Ami-Zigaretten waren eine gute Währung. Auf dem schwarzen Markt kostete eine Zigarette fünf Reichsmark.

Mit den Kindern in unserer Straße hatten wir noch keinen Kontakt, obwohl etliche Kinder in der Straße wohnten. In der Ungarnstraße, gleich um die Ecke herum, wohnte ein Fuhrunternehmer. Hörte sich großartiger an, als es war. Sein ganzer Fuhrpark bestand aus einem ein PS starken Hafermotor. Mit dieser sehr mageren Schimmeldame, die auf den Namen Mary hörte, versuchte er den Neuanfang. Zu seinem Glück hatte er noch zwei erwachsene Söhne, die ihm zur Hand gingen. Es dauerte nicht lange und ich war eines schönen sonnigen Tages in den Stall der zutraulichen Schimmeldame gegangen. Ich war so glücklich, endlich wieder ein Pferd anfassen zu können, streicheln zu können, mit ihm reden zu können. Ich war im siebten Himmel, von Mary nicht abgelehnt zu werden. Endlich wieder Stallgeruch. Ein weiches warmes Pferdemaul, spielende Ohren und Nüstern, mit denen es mich gründlich beschnupperte, um mich kennen zu lernen. Nein, ich hatte die Pferdesprache noch nicht verlernt. Nachdem wir uns so eine Weile angefreundet hatten, kam schon ein tiefes zufriedenes Wiehern, an dem ich erkannte, dass wir uns mochten. Als ich sie dann zu striegeln begann, ließ sie vor Wohlbehagen die Nüstern flattern. Dass ich sie auch ganz herzlich umarmte und zu ihr sprach, ihr sagte, wie froh ich war, sie gefunden zu haben, hätte ich wohl nicht erst zu erwähnen brauchen.

In dieser Hungerzeit ließ niemand sein Eigentum unbeaufsichtigt. Schon gar keinen Deichselhirsch. Selbst Katzen und Hunde waren in Gefahr, wenn sie herrenlos irgendwo angetroffen wurden. Katzen, geschlachtet und ohne Fell, konnte man schon mit Kaninchen verwechseln. Daher der Name Dachhase. Auch Pferde sind schon aus Ställen heraus gestohlen und geschlachtet worden. Als ich dann nach einem Schwamm und Wasser suchte, um die Augen und die Nüstern auszuwaschen, sah ich plötzlich den Fuhrunternehmer in einer Stallecke stehen. Er stützte sich auf einen recht starken Knüppel, den er zum gehen nicht brauchte. Er musste mich wohl schon eine ganze Weile still und heimlich beobachtet haben. So wie ich wusste, wer er war, wusste er, wer ich war. Aber was ich in seinem Pferdestall wollte, konnte er nicht wissen. Ich konnte also froh sein, dass er so ein umgänglicher Mensch war und nicht gleich auf mich drauf gedroschen hatte. „Du kennst dich mit Pferden aus, was?“ Weil ich annahm, dass die Fuhrunternehmer sich untereinander kannten, sagte ich: „Das habe ich auf dem Seilgraben und an der Neupforte bei Spediteuren gelernt.“ Er nickte ein paar Mal und fragte: „Ist der vom Seilgraben schon zurück?“

„Ich weiß es nicht. Nach dem Krieg habe ich ihn nicht mehr gesehen. Da wo er früher wohnte, steht kein Haus mehr.“

Herr Görressen nickte bedächtig eine Weile. „Ist der nicht abgeholt worden von der Gestapo?“