Celine Ziegler
Violet Socks
Warum man hundertmal Lebe wohl sagt
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog
Impressum neobooks
Vier Jahre zuvor
„Das ist das absolut obercoolste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten.“
„Nein, ist es nicht. Du lügst.“
„Ich lüge nicht. Guck doch, sie passen perfekt.“
„Dein kleiner Zeh schaut heraus, Violet. Sie sehen schrecklich aus.“
„Harry, nun sei mal nicht so. Sie passen und du hast das toll gemacht. Außerdem ist violett meine liebste Farbe.“
„Das V sieht aus wie ein U und das H wie eine seltsame Hieroglyphe.“
„Sie sind superweich, ich glaube, ich behalte sie den ganzen Tag an.“
„Oh man, die oberste Naht öffnet sich.“
„Harry.“
„Erst jetzt fällt mir auf, dass sie unterschiedlich lang sind.“
„Und die Maschen sind total lose.“
„Genau. Und da ist ein Loch in bei deiner Ferse.“
„Noch dazu sind sie gar nicht so weich wie ich behauptet habe.“
„Da hängen überall Fäden aus dem Stoff.“
„Ich kann sogar spüren, dass sich einer davon um meinen großen Zeh gewickelt hat.“
„Sie werden dich beim Laufen stören.“
„Sehr gut möglich.“
„Du wirst mit diesen Teilen hinfliegen, Violet.“
„Oh ja, und der Aufprall wird wehtun.“
„Du könntest dir gleich zweimal den Fuß brechen. So wie ich damals.“
„Das tat weh, richtig?“
„Es tat richtig weh.“
„Aber, hey, Harry …“
„Zieh diese schrecklichen violetten Socken bitte aus, ich nehme sie wieder mit und werfe sie direkt in die Tonne für unzumutbare Geburtstagsgeschenke.“
„… Ich mag sie und …“
„Du bist eine grausige Lügnerin.“
„… und sie erinnern mich an dich.“
„Das wiederum ist ein unzumutbares Kompliment.“
„Ich glaube, ich hänge sie mir an die Wand, damit ich sie immer sehen kann.“
„Versteck sie lieber ganz hinten in deiner Sockenschublade.“
„Weißt du, was sich noch auf Violet reimt?"
Gelangweilt und kurz davor, diese Gabel vor mir zu greifen und sie direkt ins Auge dieses Kerls zu stechen, blinzle ich. „Nein, was denn?"
„Lederfett."
Heiliger.
„Es ist echt witzig. Ich habe noch nie einen Namen gehört, auf den sich so viele Begriffe reimen. Kennzeichnungsetikett, Sterbebett, Wasserklosett ..."
„Ja, wirklich, zum Totlachen. Das sind wunderbare Reime."
„Schmierfett!"
Mein Blick fällt auf die Uhr, die über einem alten Hirschgeweih hängt. Erst halb acht. Wir sitzen gerade mal eine halbe Stunde hier und schon jetzt ist die Sympathie zu Torben, der mir gegenübersitzt, enorm. Nicht.
„Ich hab noch einen", sagt Torben und schnippt, als hätte er gerade herausgefunden, wie man Krebs heilt. „Lederfett!"
Ich atme tief durch. „Lederfett sagtest du bereits. Das zählt nicht mehr."
„Mist." Er kraust die Stirn und starrt auf einen Fleck, um sich zu konzentrieren. „Normalerweise bin ich besser in so etwas."
Und normalerweise verbringe ich meine Freitagabende auch nicht mit grenzdebilen Kerlen, die zu einem Date mit schmutzigen Jeans und zu kleinen Highschool-Jacken auftauchen. Zwar meinte er, er habe keine Zeit gehabt, sich etwas Ordentliches für unser erstes Treffen anzuziehen, denn sein Papagei war auf dem Baum seines Nachbarn geflohen und geschlagene vier Stunden nicht mehr heruntergekommen, doch, dass ich weiß, dass er gar keinen Papagei hat, scheint irrelevant zu sein. Übrigens war dieser nichtexistente Papagei auch die Ausrede dafür, dass er zwanzig Minuten zu spät gekommen ist und ich in der Kälte stehen musste.
„Gib mir noch ein paar Sekunden." Er rauft sich heftig nachdenkend die Haare, die nebenbei kreuz und quer abstehen, denn nicht mal die scheint er zurechtgemacht zu haben. „Violet ... Violet ..."
Jetzt reicht es mir. Wo sind wir hier? In einem Sprachkurs für Legastheniker? Ich werde mir keine weitere halbe Stunde mehr antun, Storys über Footballspiele oder den neuen E-Klasse-Mercedes anzuhören, der ja in Rot total grausam aussieht und nur wahre Pracht ausstrahlt, wenn man ihn in Schwarz oder mattem Weiß kauft. Und noch weniger bin ich hier, um mir anzuhören, wie viele Wörter mit Fett, -kett, oder -bett enden, um einen idiotischen Reim mit meinem Namen zu finden.
Deswegen sage ich: „Weißt du, was sich auf Torben reimt?"
„Was denn?"
„Verstorben."
Er runzelt die Stirn.
„Verdorben", rede ich weiter. „Oder noch besser ... Gestorben." Denn das ist er genau in diesem Moment für mich.
„Willst du schon gehen?", fragt Torben verwirrt, als ich beginne, wortlos meine Jacke anzuziehen.
„Wie nett, dass du fragst", sage ich ironisch und knöpfe meinen Mantel zu. „Ich muss leider dringend nach Hause."
„Weshalb?" Nun stehen seine Haare alle nach oben, nachdem er seine Hände aus ihnen genommen hat. Gewaschen hat er sie wohl auch nicht.
„Oh, weißt du", erkläre ich, als ich aufstehe und meine Handtasche schnappe, „gerade eben habe ich ein seltsames Signal empfangen und ich glaube, meine Fledermaus steckt in Schwierigkeiten, deswegen muss ich dringend zu ihr."
„Deine Fledermaus?", fragt Torben noch verwirrter, als ich meinen Stuhl an den Tisch schiebe.
„Ja, Max, meine Fledermaus. Ich verständige mich mit ihr immer über die hohen Schalle, die für das menschliche Ohr nicht zu hören sind. Er ruft nach mir, deswegen muss ich abhauen."
„Oh, äh." Verdutzt steht Torben auf und ein penetranter Geruch von Schweiß und Männerdeo kommt mir entgegen. „Dann solltest du wirklich dringend zu ihm ... Ich wusste gar nicht, dass so was geht. Beeindruckend."
Ich mache eine abwinkende Handbewegung. „Doch, geht voll, kann aber nicht jeder." Schnell gehe ich einen Schritt zurück, als er mich zur Verabschiedung umarmen will, und drehe mich weg. „Wir sehen uns, Torben."
„Klar, Violet, ich hoffe, mit deiner Fledermaus ist alles gut!", ruft er mir hinterher, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste, die in diesem Restaurant sitzen.
Vor Scham erröte ich und schließe schnell die Tür hinter mir, damit ich den vorwurfsvollen Blicken der Kellner aus dem Weg gehen kann. Wo hat er überhaupt diesen Laden her? Am Telefon meinte er, dass dieses Restaurant das absolut fetteste und krasseste Restaurant der Welt sein soll, aber bis auf Hirschgeweihe und Wildschweinköpfe konnte ich an diesem Restaurant nichts Fettes oder Krasses entdecken.
Mich überkommt sofort eine unangenehme Gänsehaut, als ich aus dem Restaurant flüchte und an die frische Luft gelange. Zwar ist es Mai, jedoch noch immer kühl, wenn die Sonne erst mal weg ist. Hätte ich mir doch lieber weniger Mühe gemacht und eine normale Jeans angezogen. Mein Lieblingskleid mit meinen Lieblingsstrümpfen hat es nicht verdient, so einen Reinfall zu erleben.
Ich ziehe schlecht gelaunt mein altes Motorola-Klapphandy aus der Manteltasche und tippe die Zwei ins Ziffernfeld, um meine Mutter anzurufen. Sie hatte sich so gefreut, dass ich endlich ein Date mit einem waschechten Jungen habe, aber sie, genauso wenig wie ich, hatte erwartet, dass dieser waschechte Junge eher einem verschmutzten Waschlappen gleicht und noch dazu mit bescheuerten Reimen wie Violet – Wasserklosett um sich schmeißt.
Ich beginne, in die Richtung zu laufen, aus der wir gekommen sind, verdränge dann den Willen, Torbens Autoreifen zu zerstechen, und halte mir das Handy ans Ohr. So hatte ich mir den Freitagabend nun wirklich nicht vorgestellt. Ich wäre produktiver gewesen, hätte ich den ganzen Abend Filme bei Netflix geschaut und Chips gegessen.
„Bonjour, Madame", grüßt mich meine Mutter trällernd.
„Du brauchst nicht einen auf Französisch zu machen, Mama. Torben ist nicht mehr in der Nähe, also darfst du wieder ganz Englisch sein."
Meine beste Freundin, Charly, die übrigens Auslöser dieses ganzen Schlamassels war, meinte nämlich, dass Torben total auf Französinnen steht, deswegen hat sie ihm sofort erzählt, dass ich französischer Abstammung bin, damit die Chancen größer sind. Jedoch bin ich absolut keine Französin. Deswegen musste meine Mutter bei der Begrüßung von Torben ihre alten Französisch-Schulkenntnisse hervorkramen und mitspielen, damit die bescheuertste Lüge der Welt nicht auffliegt.
„Oh, zum Glück", sagt Mama. „Viel mehr hätte ich sowieso nicht sagen können. Was ist denn los?"
Ich seufze frustriert. „Torben ist los. Mister Ich-bin-der-beste-Reimer-der-Welt-und-nerve-Violet-Sterbebett-damit-den-ganzen-Abend war ganz schön unterhaltsam heute, sodass ich es ganze vierunddreißig Minuten mit ihm ausgehalten habe. Kannst du mich abholten, bitte?"
Jetzt seufzt auch Mama. „Ich wusste, mit ihm stimmt irgendetwas nicht. Er war mir schon suspekt, seitdem er von seiner bellenden Katze erzählte."
Ja, auch meine Mutter war nicht vor seinen seltsamen Geschichten sicher. „Wie auch immer ... Also holst du mich?"
Sie stimmt zu und schon lege ich wieder auf und lasse mein Handy in meiner Manteltasche verschwinden. Charly wird dafür büßen. Das war das erste und das letzte Mal, dass ich mich auf ein Blind Date mit einem ihrer ach so tollen Cousins einlasse. Sie hat von ihm gesprochen, als wäre er Adonis höchstpersönlich, aber ich bin mir sicher, Adonis höchstpersönlich popelt sich nicht schon vor dem ersten Gang in der Nase, um ihn dann schließlich still und heimlich unter dem Tisch verschwinden zu lassen.
Ich setze mich an die Straße auf den Bürgersteig und lege meinen Kopf auf meine Knie. Wie trostlos all das doch ist. Und ich dachte immer, solche widerlichen Kerle und solche abgrundtief scheußlichen Reinfälle gibt es nur in Büchern, doch da habe ich mich wohl getäuscht.
Ein Licht auf der anderen Straßenseite weckt meine Aufmerksamkeit und als ich die immer näher kommende Elektromusik höre, die aus nichts Weiterem außer einem viel zu lauten Bass besteht und dazu noch durcheinandergeratenes, schrilles Gekicher höre, verdrehe ich automatisch die Augen. Ich wende meinen Blick ab. Ich muss nicht mal auf das Kennzeichen gucken, um zu wissen, welche Idioten mit so lauter Musik und offenem Dach umherfahren, weil ihnen die ständige Aufmerksamkeit in der Schule nicht ausreicht.
Mit zu schneller Geschwindigkeit kommt mir das grüne Cabrio entgegen und wie sollte es auch anders sein, wird es langsamer, umso näher es mir kommt.
Ich drehe meinen Kopf genervt weg, als sie vor mir zum Stehen kommen, doch nicht auf die Idee kommen, die Musik etwas leiser zu machen, damit ich ihre dummen Sprüche überhaupt auch nur ansatzweise verstehen kann.
„Da sieh mal einer an!", ertönt eine Stimme, die ich dem Fahrer, Ethan, zuordnen kann. Sein Arm lehnt lässig aus dem Fenster, während hinter ihm drei Mädchen sitzen, die denken, es wäre gesund, fast auf der Rückbank eines Caprios zu sitzen. „Violet Borrymore! Ein Wunder, dass man dich überhaupt freitagabends mal sieht!"
„Man spricht es Berrymore aus." Du Vollidiot, will ich noch hinterherschieben, doch behalte es für mich.
Auf dem Beifahrersitz erkenne ich auch schon den braunen Schopf, der mir noch mehr auf die Nerven geht, obwohl er nicht mal etwas sagt. Er sieht einfach nur geradeaus und sein Kopf wippt synchron zum Bass des Liedes mit.
„Wie auch immer, Loser", macht Ethan und winkt mit seiner Hand ab.
Die Mädchen hinter ihm tuscheln irgendetwas und es juckt mich in den Fingern, sie mit Kieselsteinen zu bewerfen, die genau neben mir liegen.
Ethan gibt Gas. „Viel Spaß beim Alleinesein!" Und schon verschwindet er mit der lauten Musik, den kichernden Mädchen und dem braunen Haarschopf.
„Ja, haha, ich habe fast meine Cola wieder ausgespuckt, weil er so saumäßig lustig war", sage ich sarkastisch, während ich meinen Dutt am Hinterkopf mit einer Haarklammer befestige. „Nicht mal Kevin Hart wäre an ihn herangekommen."
„Ach komm schon." Charly, die sich gerade einen langen Cardigan über die Schulter zieht, verdreht die Augen. „So schlimm ist Torben nun wirklich nicht. Ich finde ihn witzig. Du musst dich nur auf sein Humorniveau begeben."
„Das Humorniveau eines schlechten Stand-up-Comedians, der immer noch veraltete Witze über Josef Fritzl macht", erwidert Benja – eigentlich Benjamin und sprüht etwas Haarspray auf meinen Pony, während er ihn wie ein Profi richtet. „Ich finde es gut, dass Vy sich nicht auf so Idioten einlässt." Er klopft mir stolz auf die Schulter. „Für den warst du sowieso viel zu clever."
Ich betrachte mich im Spiegel. Ausnahmsweise hängt mein Pony mal nicht fransig vor meinen Augen, sondern liegt ordentlich ein wenig nach rechts gerichtet, während zwei lange, dunkelblonde Strähnen mein Gesicht umrahmen. Ich trage eigentlich ständig einen Dutt, aber mit Benjas Hilfe sieht es aus, als wäre ich direkt vom Friseur gekommen, weil Frisuren gestalten eines seiner größten Hobbys ist.
„Manchmal ist es gar nicht so cool, clever zu sein", sagt Charly und zieht sich ihre schwarze Baskenmütze auf, die bei ihr nie fehlen darf. Auch nicht an großen Geburtstagsfeiern. „Kerle stehen nicht immer auf clever, sondern auf naiv und dumm."
„Also ich stehe definitiv nicht auf naiv und dumm", sagt Benja.
„Du bist schwul, das zählt nicht. Ich rede von richtigen, maskulinen Kerlen, die Football spielen, aber nicht Profivisagisten werden wollen."
Nachdem ich meine Wimpern noch getuscht habe und mir ausnahmsweise noch ein wenig Rouge gegönnt habe, stehe ich auf und ziehe mir meine dunkelbraunen Boots an, die perfekt zu meinem senfgelben Stoffkleid und den cremefarbenen Kniestrümpfen passen. „Mag ja sein, dass manche Kerle auf naiv und blond stehen, aber da werde ich doch lieber eine einsame Katzenfrau, als noch einen weiteren Abend mit so einem Torben-Verdorben zu verbringen. Außerdem bin ich fast blond." Ich weigere mich strickt dagegen, meine Haare aufzuhellen wie viele andere dunkelblonde Mädchen es machen. Ich mag meinen zu langer Pony-Straßenkäterblonden-Look.
„Du hoffnungsloser Fall", seufzt Charly und betrachtet mich mit ihren braunen, fast schwarzen Augen. Ihre schwarzen Haare hat sie mit einem Zopf unter der Mütze versteckt, sodass man sie nur noch ein bisschen erkennen kann. Oftmals versteckt sie ihre Haare, weil sie findet, der Fokus sollte stets auf ihrem Gesicht liegen. Was jedoch selten Sinn ergibt, denn ihr Klamottengeschmack lenkt jede Aufmerksamkeit auf sich. Sie trägt, wie ich, oftmals Röcke oder Kleider, jedoch in ausgefallener Art und Weise. Heute hat sie sich für einen schwarzen, lockeren Rock mit schwarz, weiß gestreiftem Oberteil entschieden. Sie ähnelt ein wenig einem Pantomimekünstler, doch das weiß sie mit Sicherheit schon, stört sie allerdings nicht.
„Wir müssen los", sagt Benja und sieht auf sein Handy. „Hardy wartet unten auf uns."
Mit Hardy ist sein Freund gemeint, den er schon seit geschlagenen drei Jahren hat. Und das mit achtzehn. Ich beneide ihn um diese feste und tolle Beziehung, denn Hardy und Benja sind wie füreinander geschaffen. Sie sind oftmals nur zu zweit anzutreffen, was nerven kann, jedoch auch total süß ist. Sowieso ist Hardy ein Superfang für Benja. Während Benja der unscheinbare, dürre Junge mit zu langer Nase ist, könnte Hardy Unterwäschemodel sein. Sie unterscheiden sich enorm, sind gleichzeitig aber auch ein- und dieselbe Person.
Wir alle begrüßen auf der Straße vor Benjas Haus Hardy mit einem Kuss auf die Wange und einer Umarmung, dann steigen wir in sein Auto und fahren in Richtung Geburtstagsfeier. Im Gegensatz zu uns ist Hardy eher die coole Sorte Mensch, dessen Eltern Unmengen an Geld haben, und außerdem überall beliebt ist. Nur durch ihn können wir heute Abend auf der Party auftauchen, was jedoch keinen von uns stört. Charly, Benja und ich wissen, dass wir absolut nicht zu der coolen Sorte Mensch gehören, zumindest heute Abend. Wir werden die Außenseiter sein, doch das Raffinierte an der Sache ist, dass wir nicht die einzigen Außenseiter sind, denn auf Clarissas Party sind noch sehr viele andere von unseren Außenseiterfreunden, mit denen wir den Abend verbringen können.
So läuft es oft ab, wenn wir Party machen. Entweder wir gehen nie Party machen und verbringen den Abend mit DVDs gucken oder anderem Kram, der nur Spaß macht, wenn man die richtigen Freunde dazu hat, oder wir schleusen uns mit Hardy auf ein paar Feiern, auf die er ständig eingeladen wird. Bis jetzt hat sich selten jemand beschwert oder uns rausgeschmissen, weswegen wir dieses Spiel wahrscheinlich bis zum Collegeabschluss weiterspielen können.
Hardy hält vor dem riesigen Haus von Clarissa, die ebenfalls zu der coolen Sorte Mensch gehört, dessen Eltern abnorm viel Geld haben, und wir machen uns auf den Weg zur Haustür, durch die man schon die laute Musik hören kann. Ich bin froh, dass ich nicht genug Freunde habe, mit denen ich so eine fette Party überhaupt machen könnte, denn ansonsten würde mir meine Mutter nämlich den Kopf abhacken. Ihr sind die leisen – manchmal nicht ganz so leisen – Filmeabende lieber als die ständigen Alkoholexzesse, die manche Jugendliche hier schieben.
Hardy klingelt, Charly rückt noch mal ihren Hut zurecht und Benja greift nach Hardys Hand, bevor die Tür geöffnet und die Musik noch lauter wird.
Die mit den perfekt blondierten Haaren und den viel zu großen Brüsten für ihre abnorm schlanke Figur öffnet uns die Tür. Florence. Wahrscheinlich wollte Clarissa selbst die Tür öffnen, aber Florence braucht die Aufmerksamkeit der Gäste in der ersten Erscheinungssekunde. „Hardy!", freut sie sich, als sie ihn entdeckt, und will ihn gerade in den Arm nehmen, als sie seine Anhängsel entdeckt. Uns. „Und die restlichen Loser. War ja klar, dass mir kein Abend ohne euch erspart bleibt."
„Wir freuen uns auch, dich zu sehen", sagt Charly und geht gar nicht erst auf ihren fiesen Spruch ein, denn wir sind so was bereits gewöhnt.
Charly stolziert an ihr vorbei ins Haus und Florence verdreht genervt die Augen. Hardy und Benja betreten hinter Charly das Haus und ich folge ihnen, vorbei an Florence, die hinter mir die Haustür schließt. „Heute hast du dir aber mal echt Mühe mit deinen Fusselhaaren gemacht", neckt sie mich und betrachtet mich von oben bis unten, während ich mich nicht mal traue, ihren Körper anzusehen, weil ich sonst das Gefühl bekomme, ich würde sie bespannen, dadurch, dass sie so wenig am Leib trägt.
Doch ich winke nur lässig ab und drehe mich von ihr weg, halte Ausschau nach Charly und Benja, die verschwunden sind. „Jaja. Sag mir lieber, in welche Richtung meine Loserfreunde verschwunden sind."
Missbilligend hebt Florence den Finger und zeigt in Richtung der Küche, worauf ich nicke und mich bei ihr bedanke. Mir ist egal, was sie ständig über mich, meine Haare oder meinen Klamottengeschmack faselt, wirklich. Ich kenne sie schon seit dem Kindergarten und nach den paar Jahren gewöhnt man sich daran und lernt schnell die Schwachpunkte des Gegners. Zum Beispiel weiß ich, dass Florence in der sechsten Klasse mal ihren BH ausgestopft hat, weil ich sie in der Mädchenumkleide erwischte und noch dazu bin ich die Einzige, die das weiß. Florence weiß auch, dass ich es weiß. Und deswegen habe ich immer etwas gegen sie in der Hinterhand, wodurch sie oft die Klappe hält, denn sie will ja ihren guten Ruf in der Schule nicht verlieren und als Sockentitte dastehen.
Ich betrete die große Küche und entdecke auch schon Charly, Hardy und Benja tratschend mit Oscar und Carla. Auch zwei, die nicht zu der coolen Art von Mensch gehören, jedoch zu uns und wir sind ja wohl auch irgendwie super cool oder nicht?
Ich stelle mich zu ihnen, nachdem ich mir einen Becher mit Cola geholt habe. „Okay, wer will die Story mit Charlys Cousin noch hören oder hat Charly bereits alles in den letzten zwei Minuten ausgeplaudert?"
Carla und Oscar lachen. Carla ist übrigens von spanischer Abstammung und Oscar dagegen von indischer, gemischt mit einem leichten thailändischen Touch, den er von seinem Großvater hat. Wie seine Familie genau zusammengesetzt ist, weiß ich nicht und ich bin mir sicher, er weiß es selbst nicht so genau.
„Charly hat vorhin in der WhatsApp-Gruppe schon davon erzählt", sagt Oscar und trinkt von seinem Wasser. „Ich wusste ja, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt."
„Stimmt", sagt Carla. „Immerhin behauptet er von sich selbst, mit einem Haus, das nur mit Luftballons angehoben wurde, um die Welt geflogen zu sein."
„Ein wahrer Oben-Fan", grunzt Benja.
Wieder verdreht Charly die Augen und verschränkt die Arme. „Hallo? Ich kann ja echt verstehen, dass ihr Torben für einen Idioten haltet, aber er ist immer noch mein Cousin und damit Mitglied meiner Familie. Und meine Familie hat es nicht verdient, dass man sich über sie lustig macht, ihr Hirnis."
Wir alle lachen, weil Charly genau wie wir alle weiß, dass Torben ein Horst ist, es allerdings nicht zugeben will. Gerade als ich etwas darauf sagen will, erweckt jedoch etwas anderes meine Aufmerksamkeit.
Florences schrilles Gekicher ertönt und mein Blick fällt direkt zum Türrahmen der Küche, an der sie lehnt mit den Händen an dem Kragen eines Shirts, dessen Träger mir nur allzu bekannt ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass dieses T-Shirt, das er trägt, schon mindestens drei Jahre alt sein muss. Schon immer mochte er die Rolling Stones, weswegen er haufenweise von diesen T-Shirts hat. Zumindest hatte er es damals.
Ich muss einen Kotzreiz unterdrücken, als ich zusehe, wie der Kerl, den ich wahrscheinlich am meisten in meinem Leben verachte, grinsend seinen Arm neben Florence abstützt, während er – so sieht es zumindest aus – versucht, verführerisch zu sein, und mit ihrer blonden Haarsträhne spielt.
Jedes Mal muss ich mir diesen Anblick antun, wenn wir auf Partys sind, denn immer da, wo es eine Party gibt, ist Harry anwesend. Er ist überall, wirklich überall. Es reicht mir schon, dass ich ihn fünf Mal die Woche in der Schule sehen muss, aber nicht mal am Wochenende scheint mir die Ruhe vor ihm gegönnt zu sein. Und jedes Wochenende scheint er ein anderes Opfer für seine widerlichen Anmachsprüche zu haben. Hier mal eine Blondine, dann eine Brünette, am nächsten Freitag ist es dann die mit den roten Haaren, die niemand kannte, doch jeder haben wollte, weil sie so unerreichbar ist. Besser gesagt war. Das Schlimme und Ätzendste ist nämlich, dass all diese Mädchen auch noch darauf reinfallen und wirklich denken, dass er einer der netten Sorte Typ ist, der sie vergöttert wie eine Prinzessin. Aber nein, nicht mit Mister Obercool. Er lässt sie fallen wie jedes andere Mädchen.
Aber nicht denken, dass ich mit dieser Verachtung zu ihm, auf die Welt gekommen bin, nein. Harry, so heißt Mister Oberkotzcool, war vor vier Jahren noch mein bester Freund. Tatsache! Das letzte Mal habe ich richtig mit ihm gesprochen, da war er vierzehn und ein noch total anderer, besserer, liebevollerer Mensch. Ich habe ihn als aufmerksame und loyale Person in Erinnerung, aber nicht als arroganten Rüpel, der nicht weiß, wann Schluss ist.
Ich dachte immer, dass seine und meine Freundschaft ewig halten würde. Das dachte ich wirklich. Er war seit der Krabbelgruppe mein bester Freund, ging mit mir durch dick und dünn, war für mich da, als mein Vater meine Mutter, Rosy und mich verließ und guckte mit mir sogar bestimmt hundert Mal Nemo, weil ich den Film so mochte, obwohl er ihn nicht ausstehen konnte. Es ist so unglaubwürdig, dass dieser Kerl, der heute fast jedes Wochenende betrunken ist, mal der Junge gewesen sein soll, der damals für mich ein Paar Socken strickte, wo V+H eingestickt war. Natürlich waren sie total schlecht gestrickt, doch er war mein bester Freund und noch dazu mein persönlicher Held.
Aber heute will ich ihm jede Sekunde ans Schienbein treten, wenn ich ihn sehe. Zwar sieht er mich nie an und ich bin mir auch sicher, dass er mir, seitdem unsere Freundschaft von einem Tag auf den anderen ein Ende genommen hat, nicht mehr richtig in die Augen gesehen hat, aber das ist auch nicht nötig. Er ist heute niemand mehr, mit dem ich meine Zeit verbringen will und ich bin für ihn wahrscheinlich genauso ein Loser wie für Florence und den ganzen Rest. Mir jedoch vollkommen egal.
Als Harry nun Florence etwas schelmisch grinsend ins Ohr flüstert, worauf sie erneut kichert, verziehe ich angewidert das Gesicht. Gott, wieso tue ich mir das eigentlich an?
„Glaubt ihr, sie ist noch anwesend?"
„Warte."
Ich schrecke auf, als mich plötzlich jemand in den Arm zwickt.
„Au!", meckere ich und sehe Benja zornig an. „Musst du mich immer kneifen?"
„Du hast wieder gestarrt", sagt Charly und deutet hinter sich, wo Harry mit Florence rumknutscht.
Ich sehe gereizt weg. „Ich habe nicht gestarrt."
„Wie auch immer." Carla schiebt ihren Kopf in die Runde, worauf wir es ihr gleichtun, weil das das Zeichen ist, dass ein Geheimnis offenbart wird. „Ich habe gehört, sie sollen es schon im Schulklo getrieben haben."
„Wer?", fragt Oscar verwirrt.
„Na, Harry und Florence. Das hat mir Michelle heute nach der Schule erzählt. Der ganze Jahrgang spricht darüber."
Ich winke ab und interessiere mich nicht weiterhin für das Thema. „Hach, Gerüchte gibt es viele. Angeblich soll Florence auch schon mit unserem Sportlehrer geschlafen haben, aber das glaubt auch niemand."
Hardy hebt die Brauen. „Aber Florence hat mit dem Sportlehrer geschlafen."
„Oh, wow", lacht Charly. „Was eine überraschende Wendung."
Plötzlich ertönen laute Knalle und ein Junge unseres Jahrgangs steht auf der Küchentheke und haut mit einem Holzlöffel gegen einen Topf. „Aufgepasst! In fünf Minuten wird Flaschendrehen ohne Hemmungen im Wohnzimmer gespielt! Ich wiederhole! In fünf Minuten Flaschendrehen ohne Hemmungen!"
Carla schüttelt den Kopf. „Als wären wir an einem Flughafen."
Benja nimmt wieder Hardys Hand. „Los, wir spielen mit."
„Was?", fragen Charly und ich synchron.
„Vergiss es", blökt Charly als Erstes. „Am Ende muss noch jemand von uns irgendwelche unmenschlichen Aufgaben machen, wie den ekligen Derek küssen oder so!"
„Und noch dazu ist das echt ein bescheuertes Spiel", füge ich hinzu und verschränke die Arme, um meiner Verweigerung einen gewissen Nachdruck zu verleihen. „Das spielen nur die, die einfach jemanden zum Rummachen brauchen, aber wir nicht."
„Nun stellt euch mal nicht so an. Ich will wenigstens zugucken, wie sich die anderen blamieren."
Und weil die Schlagwörter „zugucken und blamieren“ gefallen sind, stehen wir auch schon hinter dem kleinen Kreis an Freiwilligen, die sich dazu bereit erklärt haben, dieses infantile Spiel zu spielen, während der Rest gespannt zuguckt.
In der Runde mit dabei: Florence. Natürlich. Es sitzen sechs weitere Personen im Kreis. Vier Jungs, drei Mädchen mit Florence eingeschlossen. Echt bescheuert, wie sie sich trauen, sich inmitten der ganzen Leute zu setzen und sich anstarren zu lassen, während sie irgendwelche bescheuerten Dinge ausplaudern oder doofe Pflichtaufgaben bewältigen. Als wären wir in einem Zirkus, in dem dressierte Affen Unfug treiben, um die anderen zu bespaßen.
Florence dreht die Flasche und alle sehen gespannt darauf und warten ab, wen es als Erstes trifft. Es trifft Hastings. Ein schüchterner, mit Akne bestrafter Junge, der nur in dieser Runde sitzt, weil er denkt, er würde so mehr Freunde finden.
„Okay, Hastings", sagt Florence und greift sich die Flasche. „Wahrheit oder Pflicht?"
„Wahrheit", sagt er schüchtern.
„Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?"
Bum. Genau ins Schwarze getroffen. Jeder weiß, dass Hastings noch nie etwas mit einem Mädchen hatte, auch wenn er siebzehn ist. Deswegen hasse ich dieses Spiel und Florence. Es ist einfach gemein.
Doch Hastings traut sich nach einer Weile, zu nicken.
„Hey, nicht lügen!", bellt ein Kerl aus der Runde und haut ihm auf den Hinterkopf. „Sonst kannst du dich gleich verpissen, klar?"
„O-Okay", stottert Hastings und direkt tut er mir leid. „Ich, äh ..."
„Du, äähh", ahmt Florence ihn genervt nach. „Los, sag schon. Es weiß sowieso jeder. Du hattest noch nie etwas mit einem Mädchen, so, fertig. Nächste Runde."
Mitleidig sehe ich zu Hastings, der knallrot anläuft. Es ist eine Schande, dass sich niemand einmischt und Florence mal gehörig die Meinung geigt. Wäre ich einer von diesen Leuten hier, würde ich es wahrscheinlich tun, doch ich bin nur Außenseiter, ich muss mich möglichst unauffällig verhalten.
Als Nächstes müssen sich zwei in der Runde küssen, dann muss Florence ihren roten Spitzen-BH präsentieren und als Nächstes wird ein Kaugummi von der Sohle eines Mädchens abgekratzt und anschließend darauf rumgekaut. Eigentlich witzig, solang man nur Zuschauer ist.
„Okay, Moment mal kurz", sagt Florence nach ein paar Runden und greift sich wieder bestimmend die Flasche. „Ich habe eine wunderbare Idee."
Alle hören ihr neugierig zu.
„Wir sollten mal ein Opferlamm von den Zuschauern auswählen, das für diese Runde mitmacht."
Ich hebe eine Braue. Wie kreativ du doch bist, Florence, ich wette, niemand sonst kam je auf diese Idee. Ist ja klar, dass sie immer irgendwen leiden lassen muss, damit ihre sadistische Ader gestillt werden kann.
„Und ich nehme ..." Florence zeigt mit der Glasflasche durch die Runde, schwenkt langsam und konzentriert von links nach rechts, gleitet ab und zu mal an mir vorbei. Und schließlich peilt sie mit der Flasche genau in meine Richtung. „Dich."
Ich runzle die Stirn und drehe mich um. Meint sie Benja hinter mir?
„Nicht er", sagt Florence jetzt feixend und sieht mir direkt in die Augen. „Ich meine dich, Violet Berry-Loser."
Entsetzt sehe ich sie an. „Was?"
Doch Florence zuckt nur arrogant mit den Schultern und legt die Flasche auf den Boden. „Keine Widerrede. Du bist auf unserer Party, also spielst du auch nach meinen Regeln."
„Ich will ihr eine Glatze rasieren", meckert Charly leise hinter mir und ich höre, wie Benja und Carla ihr zustimmen.
Ich würde gerne ebenfalls zustimmen, doch mein Blick ist zu gebannt auf die Flasche gerichtet, mit der Florence gerade Schwung holt. „Der, den die Flasche trifft, muss ... Hm ... Was will denn auf keinen Fall jemand hier in diesem Raum? Hach, ich weiß es." Sie dreht die Flasche. „Der, den die Flasche trifft, muss fünf Minuten lang mit Berry-Loser in die Abstellkammer."
Ich reiße die Augen auf. Rein theoretisch könne ich einfach abhauen und mich weigern, doch der Abend ist noch jung und gehen möchte ich auch nicht. Natürlich sorge ich nicht gerne dafür, dass Florence ihre gemeine Seite an mir ausüben kann, doch in Momenten wie diesen war sie schon immer die Mächtigere. Verdammt seien ihre Beliebtheit und ihre guten Partys.
„Und es kann übrigens jeden treffen", fügt Florence hinzu, als die Flasche immer langsamer wird.
Wie hypnotisiert starre ich auf die Flasche, die immer langsamer wird und immer langsamer und immer langsamer und ...
Sie stoppt.
Ich folge der Richtung, in die sie zeigt, und ersticke beinahe an meinem Entsetzen.
Auf keinen Fall werde ich mit Harry in eine verdammte Abstellkammer gehen. Auch nicht für fünf Minuten.
Manche im Raum atmen erleichtert auf, dass es sie nicht getroffen hat, und manche beginnen gehässig zu lachen und sehen zu Harry, der unbeeindruckt auf die Flasche vor sich sieht, während er lässig auf der Couch sitzt.
„Nein!", haue ich direkt raus und schüttle vehement den Kopf. „Vergiss es, Florence!"
Doch sie verschränkt die Arme und setzt sich weiter auf. „Du willst dich doch nicht etwa wehren? Entweder du tust es oder du kannst mit deinen anderen Freunden abhauen. Außerdem, wovor hast du Angst? Harry wird jemanden wie dich schon nicht anfassen."
Die Runde lacht und ich habe das Verlangen, ihr eine zu knallen. Sogar Harry lacht in sich hinein.
„Tu's einfach", flüstert mir Charly im Hintergrund zu. „Es sind nur fünf Minuten ... Wir wollen wirklich nicht gehen."
Erbost drehe ich mich zu ihr um. „Ich gehe doch nicht mit Harry Ich-bin-so-cool für fünf Minuten in einen geschlossenen Raum", zische ich. „Schon vergessen, dass wir uns hassen?"
„Bitte, Vy", bettelt Benja. „Versau uns doch den Abend nicht mit deinem zu großen Stolz."
„Genau, Vy", ahmt Florence ihn nach. „Also los jetzt. Wir werden hier auf euch warten."
Ich kämpfe mit mir selbst, als ich mich wieder umdrehe, kurz einen Blick auf Harry werfe, ihn dafür verfluche, dass er nichts dazu sagt und stattdessen über alles lacht, das gegen mich spricht. Hätten Charly und Benja nicht so loyal sein können und sagen, dass wir ein Team sind und niemand aus unserem Team Dinge tun muss, die er nicht will. Aber nein. Steht einmal eine Party im Mittelpunkt, muss die doofe Violet wieder irgendwelche doofen Dinge tun.
Und deswegen stehe ich auch schon dreißig Sekunden später in der dunklen Abstellkammer, die nur mit einer einzigen Glühbirne an der Decke beleuchtet wird und sowieso viel zu eng ist. Mir gegenüber Harry, der sich auf den Boden setzt und sich gelangweilt an die Wand lehnt.
Hier drin ist es völlig still und weil die Wände aus Beton sind, bin ich mir sicher, dass man kein Wort von draußen hören wird, zumal die Musik sowieso wieder läuft.
Wir schweigen. Ich sehe auf ihn herab. Ihm scheint es gar nichts auszumachen, dass wir uns gerade seit vier Jahren wieder auf weniger als einen Meter nähern. Er sitzt dort, als wäre ich niemand, nur ein dummes Mädchen aus seiner Schule.
Er sieht mich nicht mal an. Er hat mich sowieso kein einziges Mal angesehen, als wir hier hineingedrückt wurden.
Doch ich tue nicht so, als würde ich ihn nicht kennen. Zumindest tat ich das mal, bevor er sich um hundertachtzig Grad verändert hat.
Ich lehne mich an die Tür und lasse meinen Blick über das kleine Regal an der Wand schweifen, in dem ein paar Handwerkssachen liegen. „Hast dir wirklich eine tolle Freundin mit Florence geangelt", spreche ich die ersten neun Worte seit einer halben Ewigkeit zu ihm.
Mein Herz pocht. Jedoch nicht vor Nervosität oder Schwärmerei, sondern vor Verachtung.
Allerdings ignoriert er mich vollkommen.
„Was? Willst du jetzt fünf Minuten schweigend hier rumsitzen?"
„Hab gehört, so geht die Zeit schneller rum", erwidert er resigniert und spricht somit die ersten acht Worte seit Jahren mit mir.
„Eigentlich ist es genau andersrum", korrigiere ich ihn und betrachte sein Gesicht. Er war schon immer ein hübscher Junge, aber sein Charakter macht alles kaputt, wirklich alles. Was für eine Verschwendung.
Er lehnt seinen Kopf zurück und schließt die Augen. „Mir scheißegal. Es reicht, dass ich mit dir hier drin feststecke, mach es nicht noch ätzender."
Ich hebe die Brauen. Er versucht es nicht mal, angenehm zu machen, er macht es nur mit jeder Sekunde schlimmer, in der er abweisend und kalt ist. So wie er nun mal ist.
Ich schnaube und setze mich ebenfalls auf den Boden, jedoch weit genug von ihm weg. So weit, wie es nun mal möglich ist. „War ja klar, dass man mit dir kein normales Wort wechseln kann", murmle ich vor mich hin.
„Wie war das?"
„Ich sagte, dass man mit dir kein normales Wort wechseln kann", wiederhole ich mich, diesmal laut und deutlich, weil es mir vollkommen egal ist, ob er sich in irgendeiner Weise verletzt fühlt.
Sein ernster Blick trifft meinen. Das erste Mal seit ... Verdammt langer Zeit.
„Vielleicht liegt das daran, dass ich kein Wort mit dir wechseln will, schon mal darüber nachgedacht?"
Ich kneife die Augen zusammen und halte seinem Blick stand. „Wie schön, dann geh doch."
Es herrscht Stille. Die Glühbirne über uns fiept leise vor sich hin und von draußen hört man die lauten Bässe gemischt mit dem Geplaudere der anderen. Jedoch ist die Spannung in diesem kleinen Raum so heftig, dass ich das Gefühl bekomme, die Wände kommen näher. Er empfindet mindestens genauso wenig Sympathie für mich wie ich für ihn und keiner von uns scheint das verstecken zu wollen. Warum auch? Wir unterscheiden uns in jeglichen Aspekten.
Als er nichts darauf sagt, allerdings auch nicht geht, weil er wohl weiß, dass Florence sonst ausrastet, schweigen wir noch eine Weile.
Doch irgendwann sage ich dann, weil ich es endlich aussprechen will: „Welche Ironie, dass du es dir erlaubst, dich so idiotisch aufzuführen, während ich diejenige bin, die dich an den Pranger stellen könnte."
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich seine Stirn kraust und er zu mir sieht.
Ich blicke jetzt wieder in seine Augen, die hellblau strahlen, allerdings ein wenig rot durch den Alkohol sind.
Sein rechter Mundwinkel hebt sich spottend und er gibt zurück: „Dass du dich traust, auch noch irgendwen an den Pranger zu stellen, während du zu den größten Losern der Schule gehörst."
Ich beiße die Zähne aufeinander. Zwar habe ich schon oft das Wort Loser gehört und auch schon oft wurde ich als solcher betitelt, aber noch nie von ihm. Und ganz ehrlich? Er hätte es sich sparen können. Er ist derjenige, der alles versaut hat, indem er mich einfach von einem Tag auf den anderen nicht mehr beachtet hat, und nicht ich. Harry hat nicht das Recht dazu, mich so zu behandeln.
„Na und?", keife ich noch leise genug zurück, damit uns niemand belauschen kann. „Wenigstens betrinke ich mich nicht jedes Wochenende und schreibe gute Noten in der Schule. Was man von dir ja nicht behaupten kann."
Er lacht gehässig auf. „Oh, scheiße, ich vergaß, dass du noch ätzender als meine eigene Mutter bist."
„Und ich vergaß, dass du ein Arsch bist."
Wieder schließt er ausatmend die Augen und lehnt den Kopf unbeeindruckt zurück. „Sei für die nächsten zwei Minuten noch still, ich kann mir dein Gerede nicht mehr geben."
Ich balle wütend die Fäuste. Er kann sich mein Gerede nicht mehr geben? Wer glaubt er, wer er ist?
„Noch dazu gehen mir deine Strümpfe dermaßen auf den Sack", fügt er hinzu.
„Wie bitte? Was haben denn meine Strümpfe damit zu tun?"
Seine Augen sind weiterhin geschlossen. „Sie sehen scheiße aus, das haben sie damit zu tun. trägst sie jeden verdammten Tag."
Mir klappt die Kinnlade herunter. Niemand hat mir je gesagt, dass meine Strümpfe scheiße aussehen. Sie sind das, was mich von den anderen unterscheidet, und außerdem gehören sie schon immer zu meinem Leben. Er weiß ganz genau, er wusste es schon immer, wie sehr ich meine Kniestrümpfe liebe, und jetzt wagt er es sich tatsächlich, sie gegen mich zu verwenden?
„Schon vergessen, dass du mal sagtest, niemanden würden Kniestrümpfe so gut stehen wie mir?", hole ich eine alte Erinnerung von früher hervor, in der er mir schon als kleiner Junge das ständig gesagt hat.
Harry zuckt gleichgültig mit einer Schulter. „Da habe ich wohl gelogen."
Ich presse die Lippen aufeinander. Okay, er hat gelogen. „Ich verstehe schon", rede ich wütend vor mich hin und stehe auf, worauf er mich wieder ansieht. „Du bist und bleibst ein Arsch. Verrotte doch einsam in der Hölle." Ich klopfe mehrmals gegen die Tür, damit sie von außen aufgeschlossen wird. „Und weißt du noch was?", sage ich noch zu ihm, als ich von draußen höre, wie jemand den Schlüssel dreht. „Ich gönne es niemanden mehr, dass er so abgerutscht ist, wie dir."
Dann öffnet Florence die Tür und noch ohne einen weiteren Blick an Harry zu verschwenden, stürme ich aus der Abstellkammer, gebe Charly und Benja ein Zeichen, das bedeutet, dass wir ohne weitere Diskussionen gehen werden, und verschwinde dann schließlich mit ihnen.
„Eins ... Zwei ..." Ich zähle die Kopien für den Theaterkurs ab, auf dem meine selbst geschriebenen Dialoge stehen, und eile derweil schnell zur Theaterhalle. „Drei, vier, fünf ..." Schnell weiche ich einer Gruppe von Schülern aus, die mir im Schulflur entgegenkommen, und lasse beinahe meinen Ordner, der unter meinem Arm klemmt, fallen, doch kann ihn noch schnell auffangen. Ich schultere meine Tasche erneut und steuere wieder in die richtige Richtung, während ich noch mal von vorne anfangen muss, meine Blätter laut zu zählen.
„Dreizehn", sage ich schließlich seufzend, als ich genau vor der Tür des richtigen Raums stehe, und greife nach dem Türgriff. Ich will sie öffnen, doch …
Kurzerhand werden mir die Blätter aus der Hand gerissen und achtlos zu Boden geschmissen.
„Ups", macht Florence unschuldig, als sie sich die Hand vor den Mund hält und die Blätter auf dem Boden sieht. „Das wollte ich nicht."
Neben ihr Clarissa, auch bekannt als Die Braue. Ihre Augenbrauen sind nämlich mit Permanent-Make-up verschönert worden, jedoch viel zu weit oben und viel zu dunkel für ihre Haut und Haare. Es sieht grausam aus und lässt sie immer wie ein geschocktes Reh wirken, doch zu schämen scheint sie sich nicht deswegen.
Sofort ist meine Laune wieder auf dem Nullpunkt, als ich mich bücke, um die Blätter aufzuheben. „Hast du nichts Produktiveres zu tun?"
„Nein, warte, ich helfe dir", sagt Florence gespielt freundlich und bückt sich mit mir zu den Blättern, hilft mir, sie einzusammeln. „Das war doch nur ein Versehen."
„Ein Versehen", wiederhole ich spottend, als sie mir ein paar Blätter reicht und ich sie staple. „Selbst dir habe ich eine kreativere Ausrede zugetraut."
Sie kneift die Augen zusammen, als wir wieder stehen und ich meine Blätter mürrisch sortiere. „Sei nicht so frech, Berry-Loser. Ich kann dir gerne deine verdammten Strümpfe mit dem Faden, der dir da am Saum hängt, aufribbeln, wenn du willst."
Ich runzle die Stirn. Was redet sie denn jetzt wieder für seltsames Zeug?
Und noch bevor ich über ihre Worte nachdenken kann, um ihr auf die Schliche zu kommen, grinst sie dreckig und verschränkt die Arme. „Oh, Moment mal. Das tue ich ja schon."
Als ich ein leichtes Ziehen an meinem linken Bein spüre, blicke ich hinab. Ich muss leider feststellen, dass das Ziehen nicht von einem Muskelkater, sondern von einem Faden kommt, der gerade dabei ist, meinen schwarzen Strumpf von oben an aufzureißen.
Entsetzt drehe ich mich um, damit ich rausfinden kann, wer sich den Faden geschnappt hat, damit meine Socke immer kleiner wird. Clarissa läuft schnell und lachend mit dem schwarzen Faden in der Hand den Gang entlang.
„Hey!", rufe ich ihr hinterher und lasse meine Tasche einfach zu Boden fallen. Schnell schnappe ich mir den Faden und will daran ziehen, damit sie loslässt, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als zu rennen. Mittlerweile hat meine Socke nur noch die Hälfte an Fadenreihen. Clarissa ist unberechenbar.
„Verdammte Scheiße", fluche ich vor mich hin, als Clarissa um eine Ecke verschwindet und ich ihr schnell hinterher will. Mein Strumpf wird immer kürzer und so langsam muss ich mir klarwerden, den Rest des Tages mit nur einer Socke zu verbringen.
Ich bin froh, dass nur wenige Schüler in den Fluren sind, weswegen diese Nummer weniger unangenehm für mich ist. Natürlich werde ich ausgelacht, während ich eilig einem Faden folge, doch das interessiert mich gerade nicht. Helfen tut mir selbstverständlich auch niemand, warum auch? Ist doch durchaus amüsant die ganze Szene. Zumindest als Beobachter.
Ich jogge gerade wieder um die nächste Ecke und will Clarissa zuschreien, dass sie gefälligst stehen bleiben soll, doch noch bevor ich überhaupt in den nächsten Gang komme, knalle ich unsanft gegen etwas Menschliches.
Sofort fliege ich zu Boden, genauso wie meine dreizehn Blätter, die wieder dreckig werden und sich im ganzen Flur verteilen.
„Autsch", brumme ich und reibe mir den Kopf, weil ich ihn mir gestoßen habe. Der Faden wird immer weiter gezogen und die Hoffnung, dass dieser Strumpf noch auf irgendeine Art und Weise zu retten ist, ist auch schon verloren.
Die Person, gegen die ich gestoßen bin, dreht sich zu mir um, sieht erst über mich hinweg, dann zu mir herab. Meine Augen treffen Harrys und ich habe das Gefühl, dass mein Tag kaum noch schlimmer werden kann. Hätte ich nicht gegen Mister Miller laufen können? Er hätte mich hier nach sofort nach Hause geschickt, weil er Angst haben würde, ich hätte mir etwas gebrochen.
„Pass das nächste Mal auf, wo du hinläufst", spricht Harry mir zu und dreht sich dann wieder desinteressiert zu seinen Freunden, die vor ihm stehen. Zweifellos wird er mir nicht hochhelfen oder sich erkundigen, ob ich mir wehgetan habe, aber das erwarte ich auch nicht. So ist Harry nun mal nicht.
„Du mich auch, Idiot", rede ich vor mich hin und in der nächsten Sekunde ist das letzte Stück Faden von meinem Strumpf entfernt und mein linkes Bein ist, bis auf das Stück in meinen Schuhen, komplett nackt. Gott, bin ich irgendwie verdammt? Muss mir so was auch noch direkt in Harrys Gegenwart passieren?
Seufzend rapple ich mich auf und beginne genervt, die Blätter vom Theaterkurs einzusammeln. Mittlerweile sind mehrere Fußspuren darauf zu erkennen, denn niemanden scheint es zu interessieren, dass diese Papiere eventuell wichtig sein könnten.
„Was soll das sein?", fragt Ethan, der bei Harry steht, und hebt einen Zettel vom Boden auf, um darauf zu sehen. „Henriette & Victor", liest er vor und verzieht das Gesicht. „Bullshit."
„Natürlich ist das für dich Bullshit", rufe ich ihm zu und sammle den vorletzten Zettel vom Boden auf. „Von Lyrik verstehst du nichts."
„Ach ja?", blökt er und zerknüllt kurzerhand den Zettel. „Hier, versteh die Scheiße, Borrymore." Er zerreißt den Zettel noch zweimal und dann werden mir die Schnipsel vor die Füße gepfeffert. „Da hast du deine Lyrik."
Ich balle die Fäuste, als ich auf den zerkleinerten Zettel vor meinen Füßen sehe und starre dann Ethan an, der lässig mit verschränkten Armen am Schließfach steht und mich gehässig auslacht. „Zufällig habe ich das noch gebraucht und zufällig spricht man meinen Namen Berrymore aus und nicht Borrymore!"
„Da ist wohl jemand empfindlich", feixt Lucas, ein weiterer Idiot von Harrys Freunden. „Stell dich nicht so an, niemanden interessiert deine Scheiße."
„Noch dazu fehlt dir da eine Socke", sagt Ethan und zeigt schief grinsend auf mein nacktes Bein. „Hat das Geld nicht für zwei gereicht?"
„Sei bloß still", fauche ich ihn an. „Oder hat das Geld nicht für ein Hirn gereicht?"
Ethan guckt jetzt weniger belustigt und stößt sich von dem Schließfach ab. „Halte die Klappe, Borrymore oder …''
„Berrymore", korrigiere ich ihn.
Noch wütender presst er den Kiefer aufeinander. Er schweigt kurz und scheint mich mit seinem Blick töten zu wollen und im nächsten Moment reißt er mir die Blätter aus der Hand und zerreißt sie in einem Schwung.
Entsetzt sehe ich zu, wie er die zerteilten Papiere durch den Flur schmeißt.
„Hier!", ruft Ethan böse. „Ich scheiß auf deinen Namen, Loser!"
Die Jungs in der Runde lachen und ich filtere Harrys leises Lachen heraus, als das Blut in mir noch mehr kocht. Ich habe echt Nächte mit diesen Dialogen verbracht und Ethan erlaubt sich einfach, sie zu zerreißen?
„Alter", flüstert jetzt ein weiterer Kerl aus der Gruppe und haut Ethan auf die Brust. Er nickt hinter uns, wo uns Misses Heath, die Schuldirektorin entgegenkommt und absolut nicht glücklich darüber aussieht, wie es hier im Flur zugeht.
„Scheiße", flucht Ethan und sieht mich ein letztes Mal böse an.
Und dann machen sie sich schnell auf den Weg um die nächste Ecke, während Misses Heath uns immer näher kommt.
Auch Harry will einen Abgang machen, doch Misses Heath ruft mit schriller Stimme: „Stehen geblieben, Mister Perlman!"
Harry bleibt gestresst stehen und dreht sich stöhnend um.
Misses Heath kommt auf uns zugeklackert, da sind Ethan und die anderen schon längst verschwunden. Sie stemmt die Hände in die Hüften, als ich die zerrissenen Blätter aufsammele, um einen elenden Eindruck zu machen, damit sie Mitleid mit mir hat. Harry kann gerne eine Strafe bekommen, auch wenn er rein theoretisch nichts gemacht hat. Mir egal. Er hat mich letzten Freitag beleidigt und das kann er jetzt gerne zurückbekommen.
„Was ist hier passiert?", kräht Misses Heath und starrt Harry böse an.
„Ich habe hiermit nichts zu tun", erwidert er.
Sie wird wütender und ihre Zornfalte größer. „Das sagen Sie immer, Mister Perlman. Was fällt Ihnen ein, einfach Miss Berrymores Arbeitszettel zu zerreißen?"
„Die übrigens enorm wichtig für mich waren", werfe ich noch ein.
Harry sieht erst mich böse an und dann Misses Heath. „Ich habe diese verdammten Zettel nicht zerrissen! Was kann ich dafür, wenn Violet nicht geradeaus gucken kann?"
„Was kann ich dafür, wenn du mitten im Weg stehst!", blöke ich ihn von der Seite an.
„Was kann ich dafür, wenn du deine Klappe nicht halten kannst?", meckert er sofort zurück.
Misses Heath wechselt den Blick zwischen Harry und mir hin und her. Sie scheint zu überlegen, während ich eingeschnappt die Arme verschränke. Er kann ruhig nachsitzen, das tut ihm gut. Vielleicht kommt er dann endlich mal zum Lernen und tut was für die Schule, außer nur blöd in den Gängen rumzustehen.
„Was ist mit deinem Strumpf passiert?", fragt Misses Heath.
„Jemand Nettes hat den Faden gelöst", erkläre ich missbilligend und wünschte, ich könnte Clarissas Augenbrauen abrasieren, jedoch sind sie ja permanent.
„Also wirklich", schnauft Misses Heath wieder und wendet sich entrüstet an Harry. „Sie wissen wirklich nicht, wann Schluss ist oder?"
Harry hebt ungläubig die Brauen. „Was? Ich habe den Faden ganz bestimmt nicht gezogen!"
„Natürlich haben Sie das nicht." Sie schüttelt mit dem Kopf und legt einen Arm um meine Schulter. „Ihr beide kommt mit mir ins Sekretariat, damit wir für Sie eine gerechte Strafe aussuchen können, Mister Perlman."
Er wirft die Hände fassungslos in die Luft. „Man, ich war das nicht! Nichts hiervon war ich! Violet sag's ihr, verdammt!"
Doch ich schweige und grinse nur leicht. Tja, da hast du dich aber geschnitten, Mister Perlman. Hoch lebe die guten Beziehungen zu den Lehrern. Ich lüge zwar in der Schule nie, was so was angeht, doch heute habe ich mir das mal verdient, nachdem ich einen Strumpf verloren habe.
Als Harry merkt, dass ich nichts darauf sagen werde, wird er noch wüß