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© edition keiper, Graz 2017

literatur nr. 64

Lektorat: Sigrid Weiß-Lutz

Cover, Layout und Satz: textzentrum graz

Coverillustration: Helmuth A. PLO/schnitznigg

Autorenfoto: Elisabeth Hartl

ISBN 978-3-903144-23-1

Harald Hartl

Der Waldschrat

Ein Kriminalroman aus dem Murtal

Die im Buch beschriebenen Örtlichkeiten im Murtal und die Formel-1-Rennen in Spielberg in den Jahren 1997 und 2014 sind real. Die Handlung ist fiktiv. Ähnlichkeiten mit Personen oder Namensgleichheiten wären rein zufällig und unbeabsichtigt.

1

Juni 2014

»Wie bin ich froh, wenn das ganze Spektakel endlich wieder vorbei ist«, stöhnte die Verkäuferin des Supermarktes während einer kurzen Verschnaufpause in Richtung ihrer Kollegin. Erschöpft und mit einem kaum vernehmbaren Seufzer wischte sie sich mit dem Handrücken einige Schweißperlen von der Stirn. Die Angesprochene zuckte nur mit den Achseln und sorgte schwer atmend für Nachschub in den Regalen.

»Wo finde ich die Bandnudeln?«, wollte eine pummelige Deutsche mit hochrotem Kopf und in sauberem Hochdeutsch von der vor den Regalen hockenden Angestellten wissen.

»Gleich da vorne rechts«, deutete sie kaum wahrnehmbar in Richtung der Teigwaren.

»Piefke«, nuschelte sie. »Glaub mir, Rita, auch ich freu mich schon, wenn wir wieder eine ruhigere Kugel schieben können. Aber der Region tut’s gut. Alles ist im Aufbruch. Der Umsatz floriert«, keuchte sie, nun am Boden knieend, und blickte gequält zu ihrer Kollegin hoch. Nicht nur in den Supermärkten herrschte reger Betrieb. Eine endlos scheinende Autoschlange wälzte sich über den Asphalt der heillos überlasteten Landesstraße 518, aus Richtung Westen ebenso wie aus Richtung Osten. Auf der Schnellstraße 36 stand der Verkehr bereits seit den frühen Morgenstunden zeitweise still, auf den Nebenstraßen tummelten sich Heerscharen von Radlern und auch per pedes machten sich Menschenmassen auf, um dem Spektakel des Jahres beizuwohnen. Sie alle hatten nur ein Ziel vor Augen: den in neuem Glanz erstrahlenden Red-Bull-Ring in Spielberg in der Steiermark. Dabei war es erst Samstag. Der Ansturm auf die größte Motorsportveranstaltung Österreichs war enorm und ließ auch die Einsatzorganisationen für den Renntag einiges erwarten.

Obwohl eine Mehrzahl der Menschen offiziell ihre Freude über die Wiederbelebung der von der Wirtschaftskrise nicht verschont gebliebenen Region ausdrückte, gab es hinter vorgehaltener Hand nicht wenige, die der zusätzlichen Lärmbelastung nichts abgewinnen konnten. Für sie war mit den regelmäßig stattfindenden Übungsflügen der Abfangjäger und der in Zweijahresabständen durchgeführten Airpower-Flugshow des österreichischen Bundesheeres längst die Grenze des Erträglichen erreicht.

Jene, die diese Meinung vertraten und sie auch zumeist im Wirtshaus lautstark hinausposaunten, wurden von überzeugten Fans des Motorsportspektakels als Verräter beschimpft. Sogar zu Drohungen und Handgreiflichkeiten war es schon gekommen. Dennoch ließen sich viele Skeptiker durch diverse Verschönerungsaktionen von Schlössern, Restaurants und Hotels, aber auch durch gönnerhafte Zuschüsse für das Herausputzen ihrer eigenen bescheidenen Besitztümer davon überzeugen, dass die Formel 1 in Österreich, und somit vor ihrer Haustür, grundsätzlich etwas Positives war.

2

Nach dem völligen Umbau der Rennstrecke Mitte der 1990er-Jahre sollte 1997 erstmals wieder ein Grand Prix auf einer modernisierten Rennstrecke mit großzügigen Auslaufzonen ausgetragen werden. Die Strecke war von knapp 6 Kilometer auf zirka 4,3 Kilometer verkürzt worden.

»Freust du dich schon, Beatrix?«, fragte Sven Rütli seine herzige Kleine, die in ihrem kurzen rosafarbenen Kleidchen barfuß im Fond des Campingbusses im Kindersitz saß und mit ihrer Lieblingspuppe spielte. Beatrix war drei. Beinahe vier.

»Gehen wir auch wandern?«, wollte das Mädchen mit den kastanienbraunen, im Sonnenlicht leicht rötlich schimmernden Haaren und den rehbraunen, lachenden Kinderaugen wissen. Sven Rütli war von Mellerud, einem Ort in der historischen Provinz Dalsland in Südschweden, der Liebe zu Renate wegen in die Schweiz gezogen. Nach ihrer Heirat hatte Sven als Beweis seiner großen Liebe sogar den Nachnamen seiner Frau angenommen.

Beatrix liebte es, mit ihren Eltern stundenlang durch den Wald zu laufen. Zuhause im schweizerischen Frick war das junge Elternpaar oft mit seiner Tochter beim Wandern anzutreffen. Dabei wurden sie stets von ihrem kleinen Shetland Sheepdog begleitet. Der zweijährige hellgoldfarbene Sheltie mit weißen Abzeichen hörte auf den Namen Fritz. Die Rütlis hatten sich für diese intelligente Hunderasse entschieden, weil diese Tiere einerseits als gutmütig galten und zum anderen viel Auslauf benötigten, somit also ausgedehnte Wanderungen liebten. Diese standen immer dann auf dem Programm, wenn Sven nach seinem anstrengenden Managerjob Erholung und Entspannung suchte.

»Natürlich werden wir auch wandern, mein Schätzchen«, erwiderte der groß gewachsene dunkelblonde und sehr sportliche Nordländer und legte dabei seine rechte Hand liebevoll auf Renates Knie, während er kurz über die Schulter nach hinten blickte, um seinem kleinen Liebling ein Lächeln zu schenken. Genau das war es, was Renate an Sven so liebte: Er gab ihr und Trixi, wie sie Beatrix liebevoll nannte, stets das Gefühl, die wichtigsten Menschen in seinem Leben zu sein.

Die beiden hatten sich vor sechs Jahren bei einem Sommernachtsfest in Basel kennengelernt und es war ihnen sofort klar gewesen, dass sie den Partner fürs Leben gefunden hatten. Bereits im ersten Ehejahr wurde Trixi geboren.

Sehr zeitig in der Früh hatten sie ihre Reise nach Österreich angetreten. Der Wetterbericht hatte herrliches Spätsommerwetter angekündigt und Fritz, dem Sven die Tortur der langen Autofahrt ersparen wollte, war bereits am Vortag zu Renates Schwester gebracht worden. Sie wohnte mit ihrem Mann und dem zweijährigen Daniel nur wenige Kilometer entfernt. Fritz fühlte sich dort wohl und spielte mit Vorliebe mit Paulchen, dem rabenschwarzen Kater der Bergers. Renate hatte das Gepäck und genügend Reiseproviant ebenfalls schon am Vortag fein säuberlich im Campingbus verstaut. Sven hatte lächelnd gefragt, ob sie denn eine Weltreise unternehmen wollte, denn sie hatte wie immer viel zu viel eingepackt. Schlag fünf Uhr waren sie losgefahren. Sven Rütli überließ niemals etwas dem Zufall. Nach einem Telefonat mit dem Tourismusbüro in Spielberg wusste er genau, in welchem Bereich des Campingplatzes er den großen Bus am späten Donnerstagnachmittag parken wollte. Längst hatte er sich Wanderkarten vom größten inneralpinen Becken der Steiermark, dem Aichfeld-Murboden, beschafft. Schon am Freitag wollte er mit Renate und Beatrix direkt vom Ringgelände über Schönberg nach Sachendorf und weiter auf den Tremmelberg wandern. Bei einer im Vorfeld ausgekundschafteten beliebten Jausenstation stand eine kulinarische Stärkung mit einer zünftigen Brettljause auf dem Programm. Im Anschluss daran sollte es mit einem Taxi zurück zum Campingplatz gehen. Trixi war stundenlanges Gehen – mit mehreren Pausen – gewohnt. Wenn ihre kleinen Füßchen dann doch schon zu müde waren, war ihr ein bequemer Platz mit guter Aussicht auf den starken Schultern ihres Vaters sicher. »Dafür lohnt es sich, sich regelmäßig mit Gewichten im Fitnessstudio zu quälen«, hatte er nicht ohne Stolz zu Renate gesagt, als sich Trixi einmal den Knöchel verstauchte und er sie gut fünf Kilometer weit auf den Schultern tragen musste. Inzwischen wog seine kleine Prinzessin jedoch schon einige Kilos mehr.

Der Samstag und der Sonntag sollten dann ganz im Zeichen der Formel 1 mit ihren atemberaubenden Boliden stehen. Für Montagmittag war die Rückreise in die Heimat vorgesehen. So sah der Plan der Rütlis aus.

3

Juni 2014

Die viele Monate dauernden Arbeiten am Ringgelände waren punktgenau zum Abschluss gekommen. Nach vielen Widerständen und Widrigkeiten war das große Ziel erreicht und der neue Red-Bull-Ring erstrahlte in vollem Glanz. Nach elf Jahren würde die Formel 1 wieder nach Österreich, nach Spielberg in der Steiermark, zurückkehren.

»Endlich tut sich wieder was«, sagte Karl Stock zufrieden zu seiner Frau Laura. Es war Samstag. Der Tag vor dem Rennen hatte windig und kühl begonnen. Bereits am Vormittag lichtete sich die Wolkendecke jedoch und die Sonne erwärmte zur Freude vieler Tausender Formel-1-Fans das Ringgelände. Erst weit nach Mitternacht war nach einem Konzert mit hohem Lärmpegel ein wenig Ruhe eingekehrt. Der Duft von Gegrilltem und Bier lag aufdringlich in der Luft. Lachende, schreiende, johlende und offenbar gut gelaunte Motorsportfans oder auch nur Menschen in Feierlaune hatten nach elf Jahren wieder das Kommando übernommen. Aber auch Familien mit Kindern, die diszipliniert und interessiert das emsige Treiben auf den Campingplätzen wie auch das Geschehen auf der Rennstrecke und in den Boxengassen verfolgten, waren auszumachen. Pärchen schlenderten Hand in Hand verliebt durch das riesige Areal, das noch vor Kurzem menschenleer gewesen war. »Soll ich ehrlich sein?«, fragte Laura.

»Du brauchst nichts zu sagen. Ich kann es an deiner Nase ablesen. Dir wäre es wohl lieber, die Rückkehr der Formel 1 hätte nicht stattgefunden. Hab ich recht?«, erwiderte Malermeister Stock ein wenig enttäuscht. Er leitete gemeinsam mit einem Freund einen kleinen Betrieb mit insgesamt vier Arbeitern in Fohnsdorf, zirka fünf Kilometer westlich von Flatschach. Er wusste, dass seiner Frau die Ruhe heilig war und sie nichts mehr liebte, als mit ihm und Lisa, ihrer gemeinsamen fünfjährigen Tochter, bei ausgedehnten Spaziergängen auf menschenleeren Waldwegen die Natur zu genießen. Sie kannte die geheimen Plätze, wo man Heidelbeeren und Pilze finden konnte. Nun war die Idylle von »Auswärtigen«, wie sie die Touristen nannte, bedroht. Bedroht durch Menschen, die für einige Tage in ihre ruhige und idyllische Heimat einfielen und nicht selten ihren Dreck überall bedenkenlos abluden und zurückließen. Auch im Wald! Laura wusste aber, dass es keine Alternative gab. So willigte sie resignierend ein, als Karl vorschlug, dass sie sich gemeinsam mit Lisa ein wenig »unters Volk mischen« und sich dem besonderen Flair der »Formula One«, wie er sich ausdrückte, hingeben sollten.

Das schmucke Einfamilienhaus der Stocks lag in der Katastralgemeinde Flatschach, die schon bald ihre Eigenständigkeit verlieren sollte. Die Politik hatte eine Gemeindefusionierung mit Spielberg beschlossen. Während Laura dieses Vorhaben wenig Kopfzerbrechen bereitete, durfte man das Thema »Fusionierung der Gemeinden« in Anwesenheit von Karl nicht ansprechen. Nichts konnte ihn mehr in Rage bringen.

Der Zuschaueransturm war voll im Gange. Das angekündigte Verkehrskonzept war augenscheinlich aufgegangen. Es schien, als liefe die Anreise der unzähligen Fans ohne größere Zwischenfälle ab. Das dritte freie Training hatte längst begonnen, als die Stocks sich bereit machten, sich in das Getümmel zu werfen. Es hatte mittlerweile angenehme 25°.

Karl fasste voller Vorfreude, vielleicht einen prominenten Rennfahrer vor die Linse zu bekommen, Laura am Arm und zog sie an sich. Der Stolz auf seine beiden »Mädels« stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er nannte sie stets dann »Mädels«, wenn er sein Herz auf der Zunge trug. Heute war so ein Tag. Er war rundum glücklich und zufrieden. In beigen Bermudashorts und Sandalen, zu denen er auf Anraten seiner modebewussten Frau auf Socken verzichtete, drängte er Laura, sich doch ein wenig zu beeilen.

»Willst du wirklich einen langärmligen Pullover zur kurzen Hose tragen?«, entrüstete sie sich kopfschüttelnd. Dabei rollte sie ihre braunen Rehaugen nach oben, gerade so, als würde im nächsten Moment wieder einmal ein ohrenbetäubender Eurofighter über ihren Kopf hinwegdonnern.

Die Volksschullehrerin Laura Stock, die noch immer keine feste Anstellung gefunden hatte und als »Springerin« zum Pendeln verurteilt war, hatte Bedenken, ihr weiß-blau gestreifter Minirock könnte den einen oder anderen männlichen Ringbesucher zu unanständigen Bemerkungen, Pfiffen oder gar Grapschen animieren. Sie hasste es, wenn Männer auf primitive Art und Weise demonstrierten, dass sie ihre Triebe nicht unter Kontrolle hatten. Gegen einen freundlichen Blick, den man auch als Ansatz eines kleinen Flirts werten konnte, hatte sie grundsätzlich nichts einzuwenden. Beides hatte sie schon öfters erlebt, sogar in Gegenwart von Karl. Er genoss es, wenn seine Frau auch von anderen Männern begehrt wurde, und wusste, dass die Beine seiner Angetrauten so manchem den Kopf verdreht hatten, als sie sich seinerzeit als Model ein Zubrot verdiente.

»Kann ich so gehen?«, fragte sie vorsichtig.

»Wer, wenn nicht du!«, kam es spontan und lächelnd von Karl.

»Ich mag auch mein Kleidchen anziehen. Das mit den Blümchen drauf!«, forderte Klein-Lisa.

Nachdem Laura Karl erfolgreich überredet hatte, den Pulli gegen ein Kurzarmhemd zu tauschen, konnte es endlich losgehen. Vom Haus der Stocks bis zum Fahrerlager ging man keine dreißig Minuten.

Laura fragte Karl, ob sie mit Lisa nicht noch die Omi besuchen gehen sollte. Er könne sich ja das freie Training und das anschließende Qualifying zunächst alleine ansehen.

»Kommt nicht in Frage. Ich komme natürlich mit euch. So lange wirst du mit deiner Oma wohl nicht plaudern«, entgegnete er ihr mit einem breiten Grinsen. Um nichts in der Welt wollte er seine Mädels zwischen all den fremden Menschen alleine lassen.

»Blödmann!« Laura gefielen die ausgeprägten Lachfältchen ihres Mannes, die sich bereits deutlich an Wangen und Augenwinkeln einzugraben begannen.

»Was ist ein Blödmann?«, wollte Lisa wissen.

»Siehst du, jetzt kannst du deiner Tochter erklären, dass du ihren Vater nicht für voll nimmst«, neckte Karl.

»Dein Vater ist natürlich kein Blödmann, Lisa. Er wollte mich nur hänseln und deshalb habe ich ihm dieses Schimpfwort verpasst. Tut mir leid«, versuchte Laura Lisa fürs Erste eine Erklärung anzubieten. Sie blickte in ein fragendes Kindergesicht. »Also gut. Ich will die Erni-Oma am Friedhof bei der Schönbergkirche besuchen, die Blumen am Grab gießen und ein kleines Gebet sprechen. Dein Papa wollte mich ein bisschen aufziehen, als er meinte, ich werde mit Oma wohl kein langes Gespräch führen. Da habe ich ihn Blödmann geschimpft. War aber nicht böse gemeint. Du musst wissen, mein Schatz, auch Eltern reden manchmal ein bisschen dumm daher.«

»Aha«, war alles, was Lisa darauf erwiderte, und es schien, als war es ihr im Grunde egal, was Vater zu Mutter und Mutter zu Vater sagte. Die Hauptsache war wohl, dass sie alle drei zusammen waren und es viel Interessantes zu sehen gab.

Schon befanden sie sich auf dem Weg zur Kirche mit dem angrenzenden Friedhof. Die Fassade des Gotteshauses erstrahlte in neuem Glanz. Selbst hier am Ort des Gebetes und der letzten Ruhe war ein Hauch von Aufbruch und Euphorie spürbar. Laura erzählte ihrer kleinen Tochter, dass die Kirche von Schönberg im Jahre 1480 beim Einfall der Türken verwüstet worden war. »Im 18. Jahrhundert wurde die kleine Kirche im romanischen Stil erweitert«, war sie nun so richtig in Fahrt gekommen. »Dies war durch den reichlichen Ertrag des Flatschacher Kupferbergwerkes, insbesondere durch die Stollen im Hiedgraben und der Adlitzen ermöglicht worden.«

»Stopp! Stopp!«, mischte sich Karl ein. »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass eine Fünfjährige dein Geschichtsvortrag interessiert. Erklär ihr die Singvögel und das Paarungsverhalten von Nacktschnecken. Oder sonst irgendetwas. Aber bitte verschone die Kleine mit Türkeneinfall und Baustilen vergangener Jahrhunderte«, setzte er der Unterrichtsstunde der Frau Lehrerin ein abruptes Ende.

»Du hast recht. Wie dumm von mir. Wie soll Geschichtliches ein kleines Kind interessieren, wenn es nicht einmal für einen erwachsenen Mann ein Thema ist«, seufzte sie ein wenig verstimmt und öffnete das schmiedeeiserne Friedhofstor. Zum ersten Mal war kein gequältes Raunzen von nicht geölten Scharnieren zu vernehmen. Selbst an Kleinigkeiten war gedacht worden, zeigte sich Laura beeindruckt. Karl blieben derartige Details verborgen.

»Darf ich ein bisschen um die Kirche laufen, während ihr mit Oma redet?«, fragte Lisa erwartungsvoll.

»Nein« kam es von Laura und »Ja« von Karl. »Was soll schon Großartiges passieren?«, meinte Karl und strich Lisa liebevoll über das Haar.

»Na lauf schon los«, ermunterte er sie und versetzte ihr einen leichten Klaps auf den Po. Und schon düste sie aus dem Friedhof hinaus. Karl wusste, dass Oma Erna ein sehr wichtiger Mensch im Leben seiner Frau gewesen war. Sie war es, der sie ihre Kindheitssorgen anvertraut hatte und die sie später bei quälendem Liebeskummer getröstet hatte. Viele Lebensweisheiten hatte Laura von Erni-Oma mit auf den Weg bekommen. Vor drei Jahren hatte eine schwere Krankheit ihrem von harter Arbeit geprägten Leben ein Ende gesetzt.

Karl bewegte sich fast unmerklich zwei kleine Schritte zurück. Er wusste, dass Laura in Gedanken mit ihrer Großmutter, aber auch mit dem Schöpfer sprach. Laura war sehr gläubig, auch wenn sie ihren Glauben nicht allwöchentlich durch Kirchgänge demonstrierte. Karl war ebenso davon überzeugt, dass es einen Anfang nach dem Ende gab. Er sprach jedoch nicht gerne darüber.

»Holst du bitte Wasser. Dort drüben befindet sich der Wasserhahn. Gleich daneben steht eine Gießkanne für den allgemeinen Gebrauch«, gab Laura ihrem Mann, den sie liebte wie keinen anderen zuvor, klare Anweisungen. Sie zupfte ein wenig Unkraut aus und zog einige verwelkte Blumen, die sie zwei Wochen zuvor im eigenen Garten gepflückt hatte, aus der Vase. Die verzierte hellbraune Vase aus Ton stand auf dem massiven Podest des Grabsteines. Auf einem kleinen ovalen Brustbild direkt neben der vergoldeten Gravur des Geburts- und Sterbedatums lächelte Erni-Oma in der Blüte ihres Lebens.

»Dieses Teufelchen!«, schimpfte Laura, als Lisa nach gut zehn Minuten immer noch nicht zurückgekehrt war. »Schaust du bitte mal nach ihr. Ich möchte noch schnell die Blumen auf Maiers Grab gießen.« Laura hatte ihrer Nachbarin, die um viele Jahre älter war, versprochen, das eine oder andere Mal die Grabstätte von Rosa Maier zu betreuen. Mal stellte sie frische Blumen hin, mal zündete sie ein Grablicht an und stellte es in die Laterne. Es war sogar schon vorgekommen, dass sie ein wenig das Unkraut jätete. Rosa Maier war die verstorbene Mutter ihrer Nachbarin Elisabeth, die nach einem Unfall leicht gehbehindert war. Sie dankte Laura diesen Nachbarschaftsdienst, indem sie ihr ab und zu einen Kuchen oder auch frisches Obst von ihrem riesigen Obstgarten brachte oder aber auf Lisa aufpasste, wenn Karl und sie alleine eine kurze Auszeit brauchten.

»Sie ist nirgends«, keuchte Karl atemlos, als er nach einigen Minuten zurückkam.

»Was heißt, sie ist nirgends?«

»Wie ich schon sagte, Lisa ist nirgends zu finden«, wiederholte Karl aufgelöst.

»Hast du in der Kirche nachgesehen?«

»Hab ich. Und jetzt lass die dämlichen Blumen in Ruhe und komm mit mir!« Erst nach und nach erfasste Laura die Bedeutung dieser Worte. Lisa war verschwunden. Wo sollte sie sein? Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben, dachte sie, als sie bereits die zweite Runde im Laufschritt um die Kirche drehte. Sie spürte, wie ihre trockene Zunge am Gaumen klebte und die Enge in ihrem Hals sie um Luft ringen ließ. Das Schlucken fiel ihr schwer und ihr Herz bebte.

Nördlich der Schönbergkirche führte ein steiler Anstieg nach 150 Metern direkt auf einen markierten Wanderweg. Über flache Schotterwege und einfache Steige gelangte man bis zum Grat hinauf. Die Stocks kannten das Gebiet wie ihre Westentasche. Einige Male waren sie über die Flatschacher Höhe, die Rattenberger Höhe und den Zwieselberg bis zur Gaaler Höhe marschiert, wo sie im Schutzhaus des Alpenvereins Rast gemacht hatten. Einmal führte ihre Wandertour sogar bis hinunter zum Schlapfkogel und weiter zum sogenannten, bei Ausflüglern beliebten, Hödlmoserweg. Diesem Hohlweg folgten sie dann bis nach Dietersdorf bei Fohnsdorf. Für Lisa wären solche Gewalttouren noch zu anstrengend gewesen. Der höchste Punkt dieser Wanderung lag immerhin bei 1530 Meter.

Die besorgten Eltern glaubten keine Sekunde daran, dass ihre kleine Tochter auf Erkundungstour gegangen war. Sie wussten, dass sie sich auf sie verlassen konnten. Laura setzte sich auf eine kleine Holzbank, die südlich der Kirche zum Verweilen einlud. Die von der Mauer reflektierte Sonne entfaltete in der windstillen Ecke ihre ganze Kraft. Vorher hatte sich Laura in der Kirche umgesehen und nach Lisa gerufen. Sie hatte sogar hinter dem schmucken kleinen Altar Nachschau gehalten.

Die wenigen Minuten, bis Karl atemlos von der Anhöhe hinter der Schönbergkirche heruntergelaufen kam, dauerten für Laura eine gefühlte Ewigkeit. Noch bevor er ein Wort sagen konnte, wusste sie, dass seine Suche erfolglos verlaufen war.

»Und, was nun?«, fragte Laura verzweifelt und zog Karl in einem Anflug von Panik mit einem Ruck an sich. »Wir müssen etwas unternehmen!«, flehte sie.

»Beruhige dich, Liebes. Es wird sich alles zum Guten wenden. Wart‘s ab. Womöglich spielt sie uns nur einen Streich«, versuchte er seine eigene Riesenangst wegzureden und Laura Mut zu machen.

»Nichts ist gut! Lisa ist weg! Verschwunden, verstehst du!«, schrie Laura nun hysterisch, sodass einige ältere Frauen, die soeben die Kirche verließen, missbilligend den Kopf schüttelten. Aus ihren weit aufgerissenen Augen sprach pure Verzweiflung und ihr Gesicht war rot angelaufen. In diesem Moment wurde Karl die Tragweite des Geschehens bewusst. Lisa war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er wollte den Gedanken, der ihn wie ein Blitz durchzuckte, nicht zu Ende denken. Was ist, wenn …?

»Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten«, wandte Laura sich an die Frauen, die sich ihnen nun zugewandt hatten. »Unsere kleine Tochter ist verschwunden. Sie heißt Lisa. Haben Sie sie gesehen? Sie ist etwa so groß.« Laura ließ ihre rechte Hand bis in Beckenhöhe hochgleiten.

»Hast du jemanden gesehen?«, fragte eine die andere. »Wen soll ich gesehen haben?« »Ein Kind. Ein kleines Mäderl«, wurde sie im Tonfall deutlich lauter. »Ich hab niemanden gesehen«, schüttelte die Angesprochene verneinend den Kopf. »Wir haben nichts gesehen. Leider!«, stimmte ihr die andere bedauernd zu.

»Komm, lass uns gehen, schnell!«, forderte Laura Karl auf und zog an seinem Hemdärmel.

»Und wohin?«, fragte er und versuchte seine Ratlosigkeit vor Laura zu verbergen.

»Wir müssen etwas unternehmen«, wiederholte sie angsterfüllt und mit zittriger Stimme.

Mit einem Mal waren weder der Ausgang des Qualifyings noch die vielen Prominenten, die sich für unzählige Interviews zur Verfügung stellten und Autogramme schrieben, von Bedeutung. Karl wusste nicht, wie er seine Gedanken ordnen konnte. Eine totale Leere machte sich in seinem Kopf breit und ließ kein rationales Denken mehr zu. Vielmehr beschäftigte ihn im Moment, dass er, kurz bevor sie den Friedhof betreten hatten, das freudig erregte Gespräch zweier junger Burschen bruchstückhaft mitverfolgt hatte. Einer dieser jungen Männer erwähnte, dass er vom ehemaligen kanadischen Eishockeystar Wayne Gretzky ein Autogramm erhalten hatte. Warum fällt mir das gerade jetzt ein, dachte Karl. Jetzt, wo ich und Laura in größter Sorge um Lisa sind?

»Bezirksleitstelle Knittelfeld. Sie haben den Notruf gewählt. Was kann ich für Sie tun?«, hörte Karl eine freundliche und feste Frauenstimme, nachdem er die Nummer 133 gewählt hatte.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich den Notruf gewählt habe, aber …«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sagen Sie mir bitte einfach nur, was passiert ist.« Karl schilderte mit knappen Worten die Situation und war bereits auf die Antwort »Die kommt bestimmt von selbst wieder zurück« gefasst. Oder auch: »Machen Sie sich keine Sorgen, so sind Kinder nun mal.«

Noch bevor er seine absurden Gedanken zu Ende gesponnen hatte, hörte er wie aus weiter Ferne die Beamtin antworten: »Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Es kommt sofort eine Streife zu Ihnen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau, dass die kleine Lisa bald wieder da ist. Alles Gute für Sie.« Nachdem das Gespräch beendet war, atmete die 30-jährige Polizeibeamtin tief durch, zückte ihr privates Handy und sagte ihrer vierjährigen Tochter Jenny, dass Mami sie über alles liebte und morgen Früh nach Hause kommen und sie ganz fest drücken werde.

Die Worte dieser offensichtlich einfühlsamen Polizeibeamtin konnten Karl zwar nicht die schreckliche Angst nehmen, Lisa könnte etwas zugestoßen sein, dennoch tat es gut, unerwartetes Mitgefühl zu verspüren.

Schon wenige Minuten später trafen zwei Streifenwagen der Polizei ein. Den Vorwurf, ihr kleines Kind unbeaufsichtigt gelassen zu haben, mussten sich Karl und Laura von einem beleibten älteren Beamten anhören. Die dunklen tellergroßen und unansehnlichen Schweißränder unter seinen Achseln, die sich bis zum Brustansatz ausgedehnt hatten, zeugten von einem anstrengenden Dienst. »Noch dazu, wo so viele Fremde hier sind«, fügte der Polizist ein wenig schulmeisterlich hinzu. Obwohl zu diesem Zeitpunkt keine Straftat ersichtlich und auch nicht anzunehmen war, wussten die Beamten, dass gehandelt werden musste. Und zwar rasch!

»Kennt sich Lena hier in der Umgebung aus?«, fragte ein schmächtiger junger Polizist, der aussah, als wäre er erst vor Kurzem von der Pflichtschule abgegangen. »Lisa, unsere Tochter heißt Lisa. Nicht Lena!«, stellte Laura ein wenig verärgert richtig. »Und ja, sie kennt sich natürlich hier aus. Gut sogar. Wir wohnen nicht weit von hier. In Flatschach. Von hier aus führt sogar ein Weg da oben durch den Wald bis zu uns nach Hause«, fuhr sie, ohne Luft zu holen, fort und zog mit dem Zeigefinger der linken Hand einen waagrechten Strich in die Landschaft, der exakt an jenem Punkt endete, an dem Laura ihr Haus vermutete. Plötzlich hielt sie inne und blickte ungläubig und doch voller Hoffnung in die Augen von Karl.

»Meinst du? Glaubst du wirklich, sie ist …?

»Aber nein, warum sollte sie? Wir waren doch hier. Sie ist noch nie von uns weggelaufen. Sie hätte keinen Grund dafür gehabt«, tat Laura diese Möglichkeit resignierend wieder ab. »Auszuschließen ist es aber nicht«, mischte sich nun ein weiterer Polizist in die Überlegungen ein. »Wir dürfen nichts ausschließen, bevor wir eine Suchaktion in die Wege leiten.«

Laura und Karl Stock klammerten sich verzweifelt an diesen kleinen Strohhalm, als sie in einem Streifenwagen auf dem Weg nach Flatschach waren. Lisa wusste, wo der Haustorschlüssel deponiert war. Ein kleiner grauer Esel aus Keramik, kaum dreißig Zentimeter hoch, der den Garten mit zwei Eseljungen und weiteren lustigen Tierfiguren, die sich um einen kleinen Teich scharten, zu Lisas ganz besonderem Zoo machten, diente als Schlüsselversteck. »Kein Einbrecher dieser Erde würde jemals annehmen, dass im Bauch des Asinus der freie Eintritt zu unserer Wohnung versteckt ist«, hatte Karl damals stolz Lisa in dieses Geheimnis eingeweiht. »Du darfst es aber niemandem verraten!«, mahnte er seine kleine Tochter, deren strahlende Kinderaugen den Stolz widerspiegelten, von ihren Eltern so viel Vertrauen geschenkt zu bekommen.

Resigniert und verzweifelt mussten die Eltern nun zur Kenntnis nehmen, dass ihre Hoffnung, Lisa wohlbehalten zu Hause vorzufinden, vergeblich gewesen war. Eine knappe Stunde war vergangen, seit ihr kleines Mädchen auf unerklärliche Weise vom Areal der Schönbergkirche verschwunden war. Mit einem Schlag war ihnen die Formel 1 gleichgültig geworden. Dass sich der Brasilianer Felipe Massa auf Williams seine erste Pole-Position seit dem Jahr 2008 gesichert hatte und Valtteri Bottas, ebenfalls auf Williams, die erste Startreihe fürs Rennen komplettierte, war ebenso unwichtig geworden wie die Probleme bei Mercedes und das schlechte Abschneiden der Red-Bull-Boliden. Sollte Klein-Lisa nicht unversehrt auftauchen, wären die Formel 1 und das Mega-Spektakel auf und rund um den Ring das Unwichtigste auf Gottes Erden.

Eine groß angelegte Suchaktion nahm ihren Anfang. Polizisten wurden zusammengezogen. Spezialisten mit Suchhunden wurden ebenso wie ein Hubschrauber mit einer Wärmebildkamera an Bord zum Einsatz gebracht. Die Suche konzentrierte sich zunächst auf den nördlichen Bereich des Waldes, oberhalb des Ringgeländes. Mit in regelmäßigen Abständen durchgeführten Lautsprecherdurchsagen wurde nach möglichen Auskunftspersonen, die Angaben über den Verbleib des kleinen Mädchens machen könnten, gesucht. Die Polizei war gerade in diesem Fall in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Sie wusste von einem Ereignis, das nur noch ganz wenigen Menschen in schaudernder Erinnerung war. Sollte es einen Zusammenhang zwischen damals und heute geben, musste das Schlimmste befürchtet werden. Hätten Laura und Karl Stock davon gewusst, wäre ihre Ungewissheit und Sorge um Lisa noch um ein Vielfaches unerträglicher geworden. Die Einsatzleitung dieses Falles – es war ab sofort ein Fall, bei dem von einem Verbrechen ausgegangen werden musste – verfügte, dass vorerst Stillschweigen zu bewahren war. Würde erst einmal die Presse davon Wind bekommen, wären Spekulationen und sensationsheischender Berichterstattung Tür und Tor geöffnet.

Während Tausende und Abertausende Motorsportbegeisterte und Feierwillige bei schönem Wetter das Motorsportereignis des Jahres genossen, begann für das junge Elternpaar eine Zeit des Bangens und Hoffens voller Angst und Verzweiflung.

Für die einberufene Sonderkommission der Kriminalpolizei waren die Parallelen zum siebzehn Jahre zurückliegenden Fall Anlass, von der Möglichkeit einer Wiederholungstat auszugehen. Der Druck würde groß werden. Sehr groß! Mögliche Fehler von damals durften sich nicht wiederholen. Wieder stand das Leben eines kleinen Mädchens auf dem Spiel …