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www.malik.de
ISBN 978-3-492-97588-9
März 2017
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Redaktion: Matthias Teiting, Dresden
Fotos: Katharina Finke und David Weyand,
www.davidweyand.de
Karte : Marlise Kunkel, München
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas,
kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: shutterstock (oben und unten),
iStock (mitte), David Weyand (Autorin)
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Fast alles, was ich besitze, passt auf eine Buchseite. Bis auf wenige Ausnahmen sind dies Dinge, die ich wirklich brauche: zwei Mäntel, zwei Jacken und zwei Blazer; drei Jeans, zwei Stoffhosen, acht Röcke und zwei Dutzend Kleider; ein Paar robuste Schuhe für den Winter, zwei mit Absätzen, zwei leichtere für den Sommer, Sandalen und Sportschuhe; Socken, Strumpfhosen, Unterwäsche, Sportklamotten; ein Bikini, eine Sonnenbrille, zwei Gürtel, eine Mütze und ein paar Schals; Haarbürste, Zahnbürste, eine Handvoll Kosmetikprodukte sowie Schmuck; ein Fön, zwei Handtücher, ein Schlafsack und ein Bügeleisen, alles in der Reisevariante; außerdem Strickjacken und Pullis, Kurz- und Langarmshirts sowie ein paar Blusen und Tunikas; zwei große und eine kleine Handtasche, ein Geldbeutel, ein Rucksack und ein paar Jutebeutel; zwei Reisepässe; ein Thermobecher, ein Korkbehälter für Salz; Notizbuch, Recherche- und Finanzunterlagen, ein paar Stifte; Kopfhörer und eine Schlafbrille; Adapter für Smartphone, Kamera und Laptop, auf dem sich auch meine digitale Bücher- und Musiksammlung befindet; dazu noch ein paar gedruckte Bücher, die ich nach dem Lesen wieder gegen neue tausche. Das einzige Stück, das nicht in mein Reisegepäck passt, ist mein Rennrad. Alles andere, selbst mein Kung-Fu-Schwert und die Kung-Fu-Schuhe sowie eine bunte Decke aus Bali kann ich in einer Tasche und einem Koffer verstauen, wenn ich unterwegs bin.
Des Weiteren besitze ich einen Koffer und einen Umzugskarton mit Erinnerungsstücken, die ich bei meinen Eltern untergestellt habe. Darin: ein Tennisschläger, antikes Geschirr und Fotos. Eine Wohnung habe ich nicht. Genauso wenig wie Möbel oder ein Auto. Und das alles ist kein Experiment oder eine Übergangslösung. Es ist mein Alltag seit fast fünf Jahren.
Das Komische ist: Jetzt, wo ich aufschreibe, was ich alles besitze, kommt es mir vor, als wäre es viel. Dabei ist es nur ein Bruchteil dessen, was die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt besitzt: Zehntausend Gegenstände nennt beispielsweise jeder Deutsche laut einer Statistik sein Eigen. Tendenz steigend.
Bei mir war das früher genauso. Bis zum Sommer 2012. Damals saß ich in einem winzigen Zimmer direkt unter dem Dach eines alten Hauses in Lissabon, als plötzlich eine E-Mail auf meinem Laptop-Bildschirm aufpoppte: »Katharina, ich will umziehen. Was sollen wir mit unserer Wohnung machen?«, fragte mich Arjun, von dem ich seit einigen Monaten getrennt war, der aber noch in unserer gemeinsamen Mietwohnung in Hamburg lebte.
Meine Bleibe in der portugiesischen Hauptstadt hatte ich Ana zu verdanken, die ich dort über Freunde kennengelernt hatte. Sie bot mir an, in ihrer Dreizimmerwohnung unterzukommen. Allerdings war nur noch die Abstellkammer frei. Für mich kein Problem. Doch Xavi aus Spanien, der das angrenzende Zimmer bewohnte, machte sich darüber lustig. »Loca Alemana – verrückte Deutsche«, nannte er mich. »Auf drei Quadratmetern leben und arbeiten – das ist doch nicht normal!«
Das war der kleinen, zierlichen Ana unangenehm, weil sie selbst Architektin war, und so versuchte sie, die Kammer für mich wohnlicher und bequemer zu machen: Sie gab mir einen Stuhl, damit ich mich an den kleinen Tisch unter dem winzigen Dachfenster setzen konnte, auf den gerade so mein Laptop und eine Tasse passten.
»Deine Sachen kannst du in dem eingebauten Schrank unterbringen«, sagte sie und organisierte mir später noch zwei schon etwas in die Jahre gekommene Campingmatratzen mit Blumenmuster in den Farben der portugiesischen Flagge: rot und grün. »Damit kannst du bestimmt besser schlafen!«
Ich schichtete die Unterlagen auf einen Sessel, den ich jeden Abend ausklappen musste, um darauf zu nächtigen. Dann gab es allerdings keinen Platz mehr zum Stehen oder Sitzen. Auch die Tür der Kammer ging dadurch nicht mehr auf, was mich jedoch freute, weil ich so etwas ungestörter war, denn zu meinem Zimmer gab es keinen Schlüssel und es konnte jederzeit jemand hereinplatzen. Privatsphäre hatte ich also nur bedingt. Meine Mitbewohner kamen vor allem immer dann, wenn das Internet ausfiel und sie den Router, der in meinem Zimmer stand, wieder in Gang bringen wollten. Und das geschah häufiger, da wir direkt neben Sé, der Kathedrale von Lissabon, in einem Viertel wohnten, wo viele der alten Bauten keine gute Netzabdeckung hatten.
Schockiert von Arjuns E-Mail saß ich noch immer ratlos vor meinem Laptop, als Ana bei mir hereinschaute.
»Tudo bem? – Alles klar?«, fragte sie besorgt.
»Pois … – Also …«, begann ich zögernd, und sie fragte auf Englisch weiter: »Was ist los, K?«
Dann erzählte ich Ana von Arjuns Nachricht. Sie schlug sofort vor, in unser Lieblingscafé zu gehen. Es lag nur wenige Schritte von Anas Wohnung entfernt, direkt an der Kathedrale. Dort setzten wir uns draußen in die Sonne und bestellten wie immer einen Garoto, Espresso mit einem Schuss warmer Milch, und Ananassaft mit frischer Minze. Es roch nach Meer, der Wind wehte salzige Luft den Tejo hinauf, an dessen Ufer die portugiesische Hauptstadt liegt. Die berühmte Straßenbahn Nummer 28 ratterte an uns vorbei und einen der sieben Hügel Lissabons hinauf zum Castelo. Das alte gelb-weiße Gefährt war vollgepackt mit Touristen, die pausenlos fotografierten. Als die Bahn vorüber war, zündete Ana sich eine Zigarette an, blies den Rauch in die vor Hitze flirrende Luft und fragte mich: »Hat dich seine E-Mail überrascht?«
»Sehr, so etwas hatte ich von Arjun nicht erwartet.«
Der wesentliche Unterschied zwischen uns war, dass ihm oft die Vorstellung von etwas ausreichte, ich es aber wirklich erleben wollte. »Ich will später nicht sagen: Das wollte ich auch immer machen – und es am Ende nicht getan haben«, sagte ich oft zu ihm. Er nannte mich deswegen manchmal seine kleine Antigone und zitierte Sophokles: »Ich will alles sofort und vollkommen – oder ich will nichts.« Mein größter Wunsch war immer, die Welt zu entdecken. Das setzte ich schließlich auch in die Tat um. Ich begann um die Welt zu reisen. Auf Europa folgten die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Indien. Zwischendurch flog ich immer wieder nach Deutschland, meist nach Hamburg, zurück.
»Wie war es für dich zurückzukehren?«, fragte Ana.
»Es war komisch und fühlte sich fremd an«, gab ich zurück. Ich habe mich immer nach der Ferne gesehnt, erklärte ich ihr. Wenn ich dann zurück in Hamburg war, fühlte ich mich dort auf Dauer nicht mehr wohl. Ich packte also gleich wieder die Koffer. So kam es, dass ich erst nach Buenos Aires flog und schließlich in Portugal strandete. Eigentlich war der Aufenthalt nur als Zwischenstopp auf dem Weg zurück nach Deutschland geplant gewesen – ich verlängerte jedoch immer wieder. Als freie Journalistin konnte ich selbst entscheiden, wo ich arbeiten wollte. Ich wusste allerdings auch, dass ich Lissabon bald wieder verlassen würde, denn meine nächsten Reisen waren schon geplant: Recherchen im Süden Portugals und Aufträge in New York.
»Überlege dir, was für dich wichtig ist«, riet mir Ana auf unserem Rückweg.
Als ich wieder in meiner kleinen Kammer saß und mich umsah, wurde mir klar, dass ich in den letzten Monaten nicht mehr gebraucht hatte als das, was ich bei mir hatte: Kleidung, Laptop, Handy. Und die Menschen um mich herum. Die Wohnung in Hamburg allein zu behalten würde eine Bürde für mich bedeuten. Insbesondere den Gedanken, dass ich mich während meiner Reisen aus der Ferne immer wieder um Zwischenmieter kümmern müsste, empfand ich als belastend. Also antwortete ich Arjun: »Lass uns die Wohnung auflösen.«
~
Einen Monat später flog ich von Lissabon nach Hamburg. Während des Fluges hatte ich ein mulmiges Gefühl, das ich nicht wirklich einordnen konnte. Ich empfand Aufregung, aber auch Angst. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Mir war zum damaligen Zeitpunkt nicht bewusst, was für Konsequenzen die Wohnungsauflösung für mein Leben haben würde. Aber ich spürte, dass sich viel verändern würde.
Eine Stunde nach meiner Ankunft in Hamburg stand ich vor unserer Altbauwohnung in Eimsbüttel. Arjun nahm mich zur Begrüßung in den Arm. Lange und intensiv. Er presste meinen Kopf sanft an seine Schulter. Mit seinen knapp ein Meter neunzig war er fast zwanzig Zentimeter größer als ich. In der Wohnung roch es nach Kaffee. Alles wirkte wie immer. Doch das unbehagliche Gefühl aus dem Flugzeug wollte nicht verschwinden. Arjun bot mir Franzbrötchen aus unserer Lieblingsbäckerei an. So, als wollte er mir das Heimkommen im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft machen. Aber auch das konnte nichts an meiner Stimmung ändern. Ich bedankte mich, und wir setzten uns auf den großzügigen Südbalkon.
Von den Blumen und Kräutern, die ich angepflanzt hatte, als wir noch gemeinsam hier gewohnt hatten, waren nur noch verdorrte Stiele übrig. Arjun bemerkte meinen kritischen Blick und entschuldigte sich: »Sorry, aber ich hab einfach keinen grünen Daumen.«
»Das macht jetzt ja auch nichts mehr«, sagte ich.
Er guckte mich mit seinen großen braunen Augen traurig an. Ich wich seinem Blick aus und sah ins Wohnzimmer. Quer über den alten, heruntergekommenen Dielenboden verstreut lagen Stapel aus Notizen und Zeitungsartikeln. »Du hast noch gar nicht angefangen, die Kisten zu packen?«, fragte ich überrascht.
»Nein, ich wollte damit auf dich warten.«
Ich stand auf, trat durch die Balkontür und lief durchs Zimmer. Alles war wie früher. Außer, dass sich die Papierstapel in meiner Abwesenheit auf das Sofa, den kleinen Couchtisch und den Schreibtisch ausgeweitet hatten. Die Möbel versanken förmlich unter Papierbergen.
An die Stelle meines Unmutes über die Unordnung trat plötzlich Wehmut. Vor drei Jahren waren wir zusammen eingezogen. Und obwohl ich nun schon über ein Jahr nicht mehr hier wohnte, war alles noch sehr vertraut und mit so vielen Erinnerungen verbunden: Die Füße des Sideboards hatte Arjun durch Bücher ersetzt. Es war bereits einmal zusammengebrochen, weil er so viel Krimskrams darin verstaut hatte. Vor den alten grün-weißen Kacheln in der Wohnküche stand der Kühlschrank. An ihm hing immer noch ein Zettel mit der Botschaft: »Wir sind im Ribs.« In dieser Eckkneipe gegenüber unserer Wohnung hatten wir oft noch einen Absacker getrunken. Der Zettel stammte von einem Abend, an dem Arjun mit Freunden gefeiert hatte und ich nachkommen sollte. Wir hatten in unserer Wohnung eine schöne Zeit verbracht. Mit viel Beständigkeit, aber auch Freiheit für jeden von uns.
»Ist schon schade«, bemerkte Arjun plötzlich, als könnte er meine Gedanken lesen. Er war nun auch vom Balkon hereingekommen und stand hinter mir. Ich drehte mich um und stimmte leise zu: »Ja.« Unsere Blicke trafen sich. In diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie wir uns bei meinem letzten Besuch in Hamburg noch in den Armen gelegen, ich ihm seine schwarzen Locken gekrault und wir gemeinsam geweint hatten. Jetzt schien alles nüchterner.
»Was machst du eigentlich mit deinen Sachen?«
»Ich werde mich von ihnen trennen«, antwortete ich.
In meiner kleinen Kammer in Lissabon hatte ich lange nachgedacht, ob ich meinen Besitz, der sich bis dato noch in der Wohnung befand, aufheben oder ausmisten sollte. Und ich hatte mich informiert: Die Sachen einzulagern, kostete mindestens dreißig Euro im Monat. Davon könnte ich unterwegs schon meine Handyrechnung bezahlen. Viel wichtiger für die Entscheidung, den Großteil meines Besitzes aufzugeben, war jedoch die Erkenntnis, dass ich auf Reisen an die meisten Dinge in Hamburg keinen Gedanken verloren hatte. Es ging mir gut ohne meinen Schreibtisch, mein Bücherregal oder meinen opulenten Kleiderschrank. Zu wissen, dass ich jeden Moment meine Siebensachen packen und weiterziehen konnte, hatte mir ein Gefühl von Freiheit gegeben, bei dem mir nichts fehlte.
Diese Leichtigkeit verschwand jedoch schon bei dem Gedanken daran, was sich noch alles auf unserem Dachboden befand und wie es mir immer davor gegraut hatte, ihn zu betreten. Mich durch schwere, ungeordnete und staubige Kartons wühlen zu müssen. Einen nach dem anderen zu öffnen und meist erst beim letzten zu finden, was ich gesucht hatte. Wenn überhaupt. Auf den Reisen, die vor mir lagen, konnte ich solche Gefühle und Gedanken nicht gebrauchen. Arjun hörte zu, nickte und schaute ein wenig ratlos.
~
Am nächsten Tag begannen wir mit dem Ausmisten. Unsere Wohnung verwandelte sich in ein strategisches Schlachtfeld. Das ehemalige Schlafzimmer wurde zum Müllzimmer umfunktioniert. Hier kam alles hin, was wir verkaufen, verschenken oder zur Not wegwerfen wollten. Im Wohnzimmer lagerte Arjun die Sachen, die er behalten und mit in seine neue Wohnung nehmen wollte. Dazu gehörten das Bett, das Sofa, alle Regale und Bilder, die Waschmaschine, die alte Bohrmaschine und der Staubsauger. Außerdem fast alle Töpfe und Küchenutensilien. Nur das Sideboard war zu demoliert.
Am meisten sortierte Arjun aber bei seiner Kleidung aus – und genau damit fing auch ich an. Allerdings im Schlafzimmer, damit wir uns nicht in die Quere kamen. Die Kleidung, die ich nicht mehr wollte, wanderte in große blaue Müllbeutel, um sie am Wochenende auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Schnell befanden sich darin Glitzergürtel, Stoffhosen und unzählige Oberteile aus meiner Teenie-Zeit, die ich nie mehr anziehen würde. Ein rotes Oberteil mit tiefem Ausschnitt hatte ich damals gern abends beim Ausgehen angezogen, um die Blicke der Männer auf mich zu ziehen. Inzwischen war ich über diese Phase hinweg und sortierte es mit einem Schmunzeln aus. Fassungslos war ich über die Unmengen von Taschen und Schuhen. Einige waren unbenutzt, andere nicht mehr zu retten, weil die Absätze zu stark abgelaufen oder die Henkel abgerissen waren. Auf Qualität hatte ich damals nicht geachtet, umso mehr auf modische Farbkombinationen.
»Furchtbar«, dachte ich und steckte die grellgelben Schuhe und die dazugehörende Tasche in den Müllsack. Ebenso wie die rosa Halbschuhe und die farblich passende Umhängetasche. Beide hatte ich nur einmal getragen. An ein paar Teilen hing sogar noch das Etikett. Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich dadurch meine frühere Naivität abschütteln. Nur sehr wenige Kleidungsstücke behielt ich. Darunter ein T-Shirt von meiner Arbeitsstelle in Bristol und ein Langarm-Shirt aus Australien, das ich dort häufig getragen hatte. Und verhältnismäßig viele Kleider, weil sie praktisch sind. Sie nehmen nicht viel Platz im Gepäck ein, außerdem hat man mit nur einem Kleidungsstück sofort ein schickes Outfit. Und wenn es kälter wird, zieht man schnell eine leichte Strumpfhose darunter.
Mehrere Stunden später, als ich vor dem leeren Schrank stand, hielt ich inne. Ein seltsames Gefühl überkam mich: eine Mischung aus Ernüchterung und Stolz. In der Mitte des Zimmers stapelten sich zwölf Müllsäcke voller Kleidung. Ich hatte es geschafft, mich von Unnötigem zu trennen, das fühlte sich befreiend an. Gleichzeitig wurde mir jedoch klar, dass diese Dinge in Zukunft nicht mehr für mich verfügbar sein würden. Genauso wenig wie die Möbel.
Zum Glück konnte ich mich diesem beklemmenden Gefühl nicht allzu lange hingeben, da nun zwei Männer an der Tür klingelten, um den fünf Meter langen Kleiderschrank abzuholen. Sie hatten ihn im Internet ersteigert, bauten ihn schneller ab, als ich gucken konnte, und nahmen ihn mit. Das Zimmer war dadurch noch leerer geworden.
Mich überkam Angst, dieselbe Angst, die ich auf dem Rückflug nach Hamburg empfunden hatte. Angst vor der Ungewissheit, Angst, es später vielleicht zu bereuen. Angst vor der Leere, Angst davor, diese Leere füllen zu müssen. Angst, im freien Fall durch mein Leben zu sausen, ohne von etwas aufgehalten zu werden, weil da einfach nichts mehr war. Es fühlte sich alles so endgültig an. Fremd und unberechenbar.
Damit Arjun nichts mitbekam, riss ich mich zusammen. Er betrat in diesem Augenblick das Schlafzimmer und stellte mir mehrere eingestaubte Kisten vom Dachboden vor die Füße. Darin befand sich meine gut erhaltene Stofftiersammlung. Als ich die drei Dutzend Kuscheltiere herausholte, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Die meisten hatte ich von meiner Großmutter bekommen.
Die Eltern meines Vaters hatten früher ein Spielwarengeschäft in Wilhelmshaven gehabt, der Hafenstadt an der Nordsee. Hinter dem Schaufenster des Geschäfts fuhr eine Modelleisenbahn, daneben standen Autos, Puppen, Teddybären. Alles, was Kinder auf ihrer Wunschliste haben. Immer wenn wir meine Großeltern besuchten, die beide inzwischen verstorben sind, durften mein über zwei Jahre älterer Bruder und ich uns etwas aussuchen. Mein Großvater, durch und durch Geschäftsmann, sah das zwar nicht gern, doch meiner Großmutter gefiel es sehr, wenn sie uns eine Freude machen konnte, und sie versuchte es so einzufädeln, dass mein Großvater es nicht mitbekam. Wenn er im Geschäft war, schlichen wir in ihr Schlafzimmer im zweiten Stock, wo meine Oma auf einem Regal über ihrem Bett die verschiedensten Stofftiere drapiert hatte. »Die sind von Steiff«, sagte sie, »und etwas Besonderes.«
Von großen Leoparden und weichen Ponys über harte Maulwürfe und kleine Mäuse bis hin zu kuscheligen Hunden und Schildkröten war alles dabei. Es dauerte oft Stunden, bis ich mich für eines von ihnen entscheiden konnte. Früher verstand ich nicht, wieso. Heute weiß ich, woran das lag: Wirklich brauchen tat ich keines von ihnen.
Mein Lieblingsstück war ein dunkelbraunes weiches Pferd, das fast so lang war wie mein Arm. Ich taufte es Molly und hatte es ausgewählt, weil es so groß und kuschelig war. Jetzt hatte ich Molly zum ersten Mal seit Jahren wieder in der Hand. »Was soll ich mit ihr anfangen?«, fragte ich mich. Konnte ich etwas, das mir geschenkt worden war, weiterverschenken? Eine sehr schwierige Frage.
Aber war es nicht besser, jemand anderes erfreute sich daran, als wenn es bei mir ungenutzt verstaubte? Meine Großmutter hatte es genossen, uns mit den Kuscheltieren eine Freude zu machen. Diese Tradition wollte ich beibehalten. Also beschloss ich, meine Stofftiere zu spenden. Ich knuddelte Molly ein letztes Mal und steckte sie dann schnell mit den anderen Tieren in einen extra Müllsack.
Als ich den nächsten Karton aufmachte, wehte mir eine Staubwolke entgegen. Ich musste niesen. Dann kamen alte Poesiealben, Fotos und meine ersten Liebesbriefe zum Vorschein. Die musste ich mir genauer ansehen und wurde wieder sentimental. Außerdem fand ich Postkarten von Oma Lise, der bereits verstorbenen Mutter meiner Mutter.
Ich blickte auf den kleinen goldenen, verschnörkelten Ring an meinem linken Mittelfinger, den Oma Lise zu Lebzeiten stets getragen hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Sie fehlte mir sehr. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie als Kind häufig in Jever besucht hatte. Wenn wir von den Eltern meines Vaters die zwanzig Kilometer in die kleine friesische Stadt fuhren, empfing uns Oma Lise mit ihrem selbst gemachten Schokoladenkuchen. Danach spazierten wir meist zum Schloss oder zum Sagenbrunnen. Auf dem standen Bronzefiguren, über die ich gern Geschichten erfand, die ich meiner Oma erzählte. »Du wirst einmal Schriftstellerin«, hatte sie immer wieder gesagt und recht behalten, tatsächlich verdiene ich mein Geld heute mit dem Schreiben. Leider hat sie das nicht mehr erlebt.
Wenn wir im Anschluss an unsere Touren ein Eis essen gingen, nahm Oma Lise immer eine Kugel Erdbeere und ich eine Kugel Schokolade, und wenn sie ihre Waffel in der Hand hielt, fiel mein Blick auf ihren Ring, ohne den ich sie nie gesehen habe. Selbst beim Pulen der Nordseekrabben, was traditionell die Frauen übernahmen, legte sie ihn nicht ab. Er war schlicht, aber hatte wie die Brunnenfiguren etwas ausgesprochen Elegantes, das mich faszinierte: dezent glänzend und filigran verarbeitet.
Leider erkrankte meine Oma immer wieder an Krebs, und unsere Ausflüge wurden seltener. Manchmal besuchten wir sie auf Kur. Später immer häufiger im Krankenhaus. Als sie eines Tages wieder eingeliefert wurde, bekam sie Medikamente, die ihre Finger anschwellen ließen – jetzt konnte Oma Lise ihren Ring nicht mehr tragen.
Auf ihrer Beerdigung überreichte mir meine Mutter ein Schmuckkästchen: »Sie wollte, dass du ihn bekommst«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Seitdem trage ich den Ring, und er funkelt an meinem Finger, fast so wie bei ihr.
Nach all diesen Erinnerungen brauchte ich etwas frische Luft. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und schnappte mir den Müllbeutel mit den Stofftieren. Damit lief ich die drei Stockwerke des Hauses hinunter zu einem kleinen Laden in unserer Straße. An der Glasscheibe wurde in großen Buchstaben um Sachspenden geworben. Das war mir, als ich noch hier gewohnt hatte, nie aufgefallen. Dabei war ich fast täglich an diesem Laden vorbeigegangen. Als ich mit dem großen Sack in der Hand den Verkaufsraum nun erstmals betrat, begrüßte mich eine zierliche Frau mit langen grauen Haaren und ausgeblichener Jeans: »Wie kann ich dir helfen?« Sie war offensichtlich die Betreiberin des Geschäfts.
»Ich möchte diese Kuscheltiere spenden«, sagte ich.
Kommentarlos nahm sie den Sack entgegen, öffnete ihn und schaute hinein. »Danke«, erwiderte sie kurz, stellte die Tiere in eine Ecke und beachtete sie nicht weiter.
Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Immerhin hatte ich ihr gerade einen Teil meiner Kindheit überreicht, und sie ging so lieblos damit um. Aber was hatte ich auch erwartet? Anerkennung? Interesse? Dank? Das war mir niemand schuldig. Schließlich war es meine Entscheidung, mich von diesen Dingen zu trennen. Ich schluckte, und statt eingeschnappt zu sein, fragte ich die Besitzerin des Geschäfts, was sie sonst noch brauchen könnte.
»Vor allem Geschirr«, sagte sie.
»Davon habe ich einiges, ich werde es gleich morgen vorbeibringen«, versicherte ich ihr und lief zurück zur Wohnung. Dort hatte sich Arjun zu einer Pause in die Küche gesetzt und einen Kaffee für uns gekocht.
»Wo bist du gewesen?«, wollte er wissen, und ich erzählte ihm von dem Laden.
»Findest du es nicht schwer, deine ganzen Kindheitserinnerungen wegzugeben?«, fragte Arjun nach und runzelte die Stirn.
»Doch«, entgegnete ich ihm, »aber andere können die Sachen besser gebrauchen.«
In Wirklichkeit war der Prozess des radikalen Ausmistens alles andere als einfach für mich. Aber das wollte ich ihm gegenüber nicht zugeben. Ich fing an, das Geschirr in der Küche auszusortieren. Fast die Hälfte davon wollte Arjun behalten. Die andere Hälfte würde ich am nächsten Tag in den Secondhandladen bringen. Nur ein paar Erbstücke, friesische Kuchenteller von meiner Großmutter, hüllte ich vorsichtig in Zeitungspapier und packte sie in einen Umzugskarton, den ich bei meinen Eltern lagern wollte.
Im Schlafzimmer warteten inzwischen neue Sachen auf mich, die Arjun vom Dachboden geholt hatte: ein Paar Skier und Schlittschuhe sowie ein Fußball, ein Volleyball und ein Badminton-Set. Ein halber Sportladen. In einer Box befanden sich Pokale, Medaillen und Urkunden. Die hatte ich bei den Tennis- und Leichtathletikwettkämpfen ergattert, an denen ich in meiner Jugend regelmäßig teilgenommen hatte.
Als ich meinen alten Tennisschläger in die Hand nahm, erinnerte ich mich an den Tag, als ich beim Training auf einmal mein rechtes Bein nicht mehr bewegen konnte. Mein Knie war völlig blockiert. Ich musste sofort ins Krankenhaus. Dort wurde mir dann der Großteil meines Meniskus entfernt. Das war damals das Aus für meine Sportkarriere gewesen, da es auch in meinem linken Kniegelenk nicht besonders gut aussah. Für mich kam das zu dieser Zeit dem Weltuntergang gleich. Im Nachhinein habe ich aber auch etwas daraus gelernt: Manchmal ist es gut, sich nicht in Dinge hineinzusteigern. Das wollte ich auch jetzt beherzigen und verstaute den Schläger in dem Karton mit den Dingen, die ich bei meinen Eltern deponieren wollte. Alle anderen Erinnerungsstücke an meine verhinderte Karriere als Leistungssportlerin wanderten in die blauen Müllsäcke.
~
Nach ein paar Tagen waren wir endlich fertig. Küche und Bad waren besenrein. Im Wohnzimmer standen die übrig gebliebenen Möbel und die Kartons von Arjun für seinen Umzug. Im Schlafzimmer hallte es vor Leere. Darin befanden sich nur einige Müllsäcke, deren Inhalt ich am nächsten Tag auf dem Flohmarkt verkaufen wollte, und eine Matratze, auf der wir die letzten Nächte in unserer gemeinsamen Wohnung verbrachten.
Am Abend beschlossen wir, ein letztes Mal zu unserem Lieblingsitaliener zu gehen. Dort roch es nach Trüffeln, Rotwein und Parmesan. Bei Kerzenlicht sprachen wir über die Dinge, die wir in den vergangenen Tagen wiederentdeckt hatten. Arjun hing besonders an seinen Büchern, Bildern und Fußballschuhen. Der große Unterschied war, dass er das meiste aus Melancholie behalten hatte, ich meine Dinge aber aus genau diesem Grund weggeben hatte: In den vergangenen Tagen hatte ich genug in Erinnerungen geschwelgt, ich wollte mich vor diesem Gefühl in Zukunft schützen. Ich machte mir bewusst, dass die Gegenstände, über die wir sprachen, nun entweder verschenkt, weggeworfen oder im Besitz von Arjun waren. Als er sie mir gezeigt hatte, war meine Reaktion immer die gleiche gewesen. Ich hatte sie mir ein letztes Mal angesehen und dann gesagt: »Kannst du gern behalten.«
Nach dem Abendessen gingen wir gemeinsam zurück in die nun sehr leer wirkende Wohnung und legten uns zum Schlafen auf die Matratze.
»Wie fühlt es sich an, sich von seinem alten Leben so entschieden zu trennen?«, fragte Arjun.
Statt einer Antwort schoss mir zuerst eine Gegenfrage durch den Kopf: Hatte er etwas von meinen gemischten Gefühlen in den vergangenen Tagen mitbekommen? Aber wahrscheinlich war das einfach nur eine naheliegende Frage. Ich drehte mich zu ihm um und erwiderte: »Es fühlt sich irgendwie komisch an.«
Inzwischen war er ein Stück näher gerückt, schob mir eine meiner blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht und hakte nach: »Wie denn genau? Wie geht es dir damit?«
Auf einmal war all der Abstand dahin, den wir in den vergangenen Tagen und Wochen zwischen uns aufgebaut hatten. Wir waren uns wieder sehr nah.
Arjuns mitfühlende Art war etwas Besonderes. Er begann, mich mit der Hand am Kopf zu streicheln. Ich schob sie weg und antwortete ihm: »Es fühlt sich alles noch gar nicht echt an.« Damit konnte er wahrscheinlich etwas anfangen, da es ihm selbst oft schwerfiel, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Er schaute mich an und wartete eine Weile. Ich hoffte, dass er meine Worte nicht doppeldeutig aufgefasst hatte. Es war schön, dass er da war, dass wir zusammen waren, doch mir war klar, dass wir es in Zukunft nicht mehr sein würden.
Unser gemeinsames Freiheitskonzept hatte auf Dauer nicht funktioniert. Schon kurz nachdem wir uns in der Mittelstufe kennengelernt hatten, legten wir fest, dass wir den anderen nie in seiner Entwicklung behindern oder ihm etwas verbauen wollten. Nach über zehn Jahren hatte das bei uns aber dazu geführt, dass wir uns nicht nur immer öfter räumlich, sondern auch als Paar getrennt hatten. Also rückte ich ein Stück von ihm weg.
»Aber du brauchst doch auch etwas zum Leben«, sagte er, »ein paar beständige Dinge.« In seiner Stimme klang Verzweiflung mit. Schließlich war ich seine allererste Freundin gewesen.
Doch ich wollte mich ihm gegenüber nicht mehr öffnen. »Keine Sorge, ich komm schon klar«, sagte ich und drehte mich um. Der Schlaf jedoch kam erst viel später.
~
Am nächsten Morgen weckte mich das Klingeln meines Handy-Weckers. Es war halb sechs. Viel zu früh. Aber Zeit für den Flohmarkt. Eine Viertelstunde später läutete es an der Tür. Clara, eine Freundin von der Journalistenschule, hatte mir angeboten, mich mit dem Auto abzuholen, um meine Sachen zum Flohmarkt zu transportieren. Im Gegensatz zu mir war sie um diese Tageszeit schon sehr kommunikativ.
»Kati!«, rief sie bereits im Treppenhaus. Und als sie zur Tür hereinkam und ich sie umarmte, sagte sie: »Bist du fertig? Wir müssen los!«
»Fix und fertig«, dachte ich, denn viel Schlaf hatte ich nicht bekommen. Wie ich Arjun in diesem Moment beneidete, dass er weiterschlafen konnte!
Wow, that’s it!
Es war anders als bei meinen bisherigen Reisen. Zwar hatte ich auch früher schon aus dem Koffer gelebt, aber ich wusste immer, dass ich nach Deutschland zurückkehren würde und dass dort ein paar Dinge auf mich warteten. Das war nun nicht mehr der Fall. Ich hatte so gut wie alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt besessen hatte, hinter mir gelassen. Das seltsame Gefühl, das ich schon beim Ausmisten verspürt hatte, wurde auf einmal viel realer. Statt Sorglosigkeit überkamen mich Ängste. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen, ja regelrecht zu rasen.
Ich war so beschäftigt mit meinen Emotionen, dass ich nicht einmal merkte, dass ich schon am Flughafen angekommen und in der U-Bahn sitzen geblieben war. Ein Sicherheitsbeamter kam auf mich zu und fragte: »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Etwas irritiert schaute ich ihn an und brachte nur zaghaft ein Ja hervor.
»Sind das Ihre?«, fragte er und guckte auf meinen Koffer und meine Tasche.
»Ja!«, sagte ich plötzlich ganz energisch, krallte mich an den Henkeln fest, nahm mein Gepäck, stieg hastig aus der U-Bahn aus und machte mich auf zum Check-in-Schalter.
»Einen Koffer checken Sie ein? Der Rest ist Handgepäck?«, wollte der Angestellte der Fluggesellschaft dort von mir wissen. Was für eine gewöhnliche Frage für eine Vielfliegerin wie mich. Doch an diesem Tag war alles anders.
»Ja, das ist alles«, sagte ich. Es klang wie an der Käsetheke, fühlte sich jedoch völlig fremd an. So sorgfältig wie dieses Mal hatte ich den Gepäckaufkleber noch nie verwahrt. Denn wenn mein Gepäck nun verloren ginge, was hätte ich dann noch? Mein Fahrrad, den Karton und den Koffer bei meinen Eltern. Meine allerwichtigsten Dinge wären mir jedoch abhandengekommen. Bis auf den Ring meiner Oma, den trug ich an meiner linken Hand.
Schließlich saß ich im Flieger. Auf Sitz 13F. Mein bevorzugter Sitzplatz, weil dreizehn ganz unkonventionell eine meiner Glückszahlen und F meist ein Fensterplatz ist, für meinen Nachnamen steht und für Freiheit. Und während wir über das Rollfeld fuhren, realisierte ich auf einmal, wie ungebunden ich war.
Fragen schossen mir durch den Kopf: War der Verzicht auf fast all mein Hab und Gut doch zu schnell gegangen? War die Entscheidung zu radikal? Was hatte mich dazu veranlasst? War ich bereit für diese Reise ohne Halt? Ich hatte keine Antworten. Der Flieger hob ab. Und ich ließ los.