Ann Grace Mojtabai
Mundome
Roman
Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler
FISCHER Digital
A. G. (Ann Grace) Mojtabai, 1937 in Brooklyn geboren, studierte Philosophie und Mathematik und erwarb 1958 in beiden Disziplinen akademische Grade. Nach ihrer Heirat mit einem Iraner hielt sie sich längere Zeit im Ausland auf und studierte nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten erneut Philosophie und anschließend Bibliothekswissenschaften.
Der von der Kritik mit enthusiastischem Lob bedachte erste Roman der Amerikanerin Ann Grace Mojtabai handelt von einem Geschwisterpaar, das auf erschreckende und zugleich erschütternde Weise aneinandergekettet ist, weniger durch die sogenannten Blutsbande, als vielmehr durch eine gemeinsam erfahrene, der Wirklichkeit enthobene, von labyrinthischen Phantasien erfüllte innere Welt.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561541-6
In hoc mundo me extra me nihil agere posse …
Geulincx, ›Ethica‹
»Mundome« ist eine mit Bedacht gewählte ungrammatische Wortkonstruktion, eine gewaltsame Aneinanderfügung von Worten, die ohne einen zusätzlichen Eingriff oder Bezug nicht miteinander verschmelzen können.
Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler
Für »Mosquito«, Sid –
und
ganz besonders
für Henrietta Gilden
Denke ich an unsere Bibliothek, denke ich an nicht weniger als an das Archiv menschlicher Vermächtnisse, an die Heimstatt der Menschheitserinnerung, nein weit mehr als eine Heimstatt, nämlich die Erinnerung selbst, ja mehr noch als Erinnerung, vielmehr die mählichen Ausscheidungen des Geistes – Vergeblichkeit und Ergebung, Wahn und die gemartete Rose der Weissagung, zerfleddert, doch noch nicht verdorrt. »Excrementum spiritus«, meint Arragan-Horgan. Wir lassen alles herein.
Allen gewähren wir Einlaß, den Weltfremden, den Gelehrten ohne Talar, den Mühseligen und Beladenen, den Kranken. Für uns sind sie alle »Leser«, ohne Unterschied. Erst in der letzten Woche verschied einer unserer Leser über der Encyclopaedia Britannica, seinem letzten Halt; er starb bei der Lektüre der Eintragung über das Leben des Lachses. Wir bemerkten es erst gegen Abend, als wir schließen wollten, und da waren seine Finger bereits blau. Ein sauberer Tod, der Tod eines alten Mannes, der so natürlich starb, wie alte Männer eben sterben – an Altersschwäche.
Viele Leser kommen von der Straße herein, nur um sich ein wenig aufzuwärmen, ein Nickerchen zu machen, oder weil sie die Nähe von Menschen suchen, ohne dafür Eintritt zahlen zu müssen. Leute, die nicht wissen, wo sie bleiben sollen, beinahe alle aus einfachen Kreisen. Sie breiten eine feine Schicht von Elend wie Seidenschleier über Tische und Stühle aus. Und über den weißen Buchseiten verströmen sie ausgiebig ihr Blut.
Und wir Bibliothekare? Sind wir Mönche, Mäuse oder Kassierer hinter Schalterfenstern in kleinen düsteren Verschlägen? Alle Flüchtlinge, die diesem oder jenem zu entkommen trachten, sie alle sind hier willkommen. Musiker ohne Arbeit, Staatenlose, Arbeitstiere, unveröffentlichte Dichter, Träumer, Gralshüter, wandelnde Leichen, die niemals Seienden, die beinahe schon Gewesenen – alles Mitarbeiter für unsereins. Einsam wie Leuchtturmwärter, hegen wir für Bücher eine besondere Zuneigung. Bücher sind für uns Freunde, Liebhaber und ungeborene Kinder.
Sofern Sie unsere Arbeitsweise so gut kennen wie ich, dann können Sie sich vorstellen, wie überrascht ich war, als Mr. MacFinster, der Abteilungsleiter, mich in sein Büro kommen ließ, um mir die bevorstehende Ankunft eines Experten für Arbeitseffizienz anzukündigen.
»Wann?« fragte ich, da mir nichts Besseres einfiel.
»Bald! Schon bald!« erwiderte er mit erhobener Stimme.
»Wie bald genau? In den nächsten Minuten? Morgen? In einer Woche? In einem Monat oder in zwei?«
»Ehrlich, ich weiß es nicht.« MacFinster versuchte sich an einem Lächeln, ohne sonderlichen Erfolg. Der Lack blätterte schnell ab. Er wischte sich Krumen aus den Mundwinkeln. Sodann entfaltete er sein Taschentuch, betrachtete prüfend den Saum, den fehlenden Saum, die durchbrochene Stickerei eines »G« mit Schnörkeln oder Rankenwerk. Diese Kleinigkeit stach mir in die Augen, denn G war nicht sein Initial, und da das Taschentuch nach Gardenien roch, konnte es auch gar nicht sein eigenes sein.
»Kümmern Sie sich lieber um Ihre Statistiken, Mr. Henken«, bellte er und winkte mir mit dem Taschentuch zu, mit einer Bewegung so ungestüm wie der Frühling.
»Meine Statistiken …«, echote ich.
An meinen Schreibtisch zurückgekehrt, gab ich die Neuigkeit mit gedämpfter Stimme weiter an Arragan-Horgan, Simon Sandowski, Tom Malaniffe, Ruthie, Mary und Sue, alles meine Landsleute und in gleicher Stellung wie ich. Einzig Tom hatte noch nicht erfahren oder geahnt, daß etwas furchterregend Fremdartiges auf uns zukam. Aus irgendeinem Grund bin ich stets unter den letzten, die mitbekommen, was andere längst wissen.
Warum eigentlich?
Ich bin eben ein nicht alltäglicher Mensch.
Mein Schreibtisch war übersät mit Papierkram. Nur hier und da zeigte sich ein Stückchen der grasgrünen Unterlage aus Löschpapier. Die Unordnung war Zielscheibe allgemeiner Mißbilligung, und so faßte ich den Entschluß, durch bloßes Aufräumen ein wenig Ordnung in meine Angelegenheiten zu bringen.
Der Schreibtisch hat auf der linken Seite unten eine Schublade, die ich bislang nicht zu öffnen vermochte. Bei Antritt der Stelle vor etwa zwei Jahren hatte ich die Schublade fest verklemmt vorgefunden. Arragan-Horgan und ich hatten unsere Arbeit am selben Morgen aufgenommen, und da wir uns nicht hatten entscheiden können, wer welchen Schreibtisch belegte, hatten wir Münzen geworfen. Der eine Schreibtisch stand in der Nähe von Fenstern; daran zu sitzen war im Sommer angenehm und im Winter günstigenfalls erfrischend. Der andere – mein Schreibtisch, wie sich dann herausstellte – hatte seinen Platz in einer warmen, allerdings auch stickigen Ecke, und vor ihm sitzend, blickte man auf eine Wand, deren fleckiges Amtsgrün von den Jahren gezeichnet war.
Erst jetzt ging mir auf, um wieviel bequemer es wäre, könnte ich einiges von dem Plunder auf der Tischplatte einfach in die Schublade stopfen, die ich noch niemals benutzt hatte. Doch auch kräftiges Ziehen nützte nichts. Das hatte ich bereits früher versucht. Sie bewegte sich nicht. Ich hätte nach einem Schlosser rufen können, wenn da nicht der Umstand gewesen wäre, daß die Schublade kein Schloß besaß.
So mußte ich mir anderweitig helfen. Ich schichtete die Papiere sorgfältig zu Stapeln auf und warf alles fort, was ich nicht unbedingt benötigte. Einige nicht sonderlich wichtige Notizen wollte ich aufbewahren und gedachte sie unter der Schreibunterlage zu verstauen.
Als ich die Unterlage anhob, fiel ein Stück dicken Papiers zu Boden. Beim Aufheben erkannte ich eine Zeichnung, eine Karikatur von MacFinster, die ziemlich gut getroffen war; ich wußte sofort, daß er es sein sollte. Er trug ein Monokel im linken Auge und war bis auf die Hüften nackt. Seine Brust war kahl und glatt. Er hatte Knickerbocker an. Seine Beine, von den Knien an sichtbar, steckten in metallenen Manschetten, und anstelle von Füßen besaß er kleine Räder, die den Laufrollen von Sofas ähnelten. Die Zeichnung war mit Ernest Co- signiert. Den Familiennamen konnte ich nicht entziffern, denn die letzten Buchstaben waren gleichsam in sich zusammengefallen, im Nichts endend. Es mußte sich um vier Buchstaben handeln. Ein Name wie Cook. Cole? Cord? Doch vielleicht waren es auch fünf Buchstaben – etwa Corey? Es ließ sich nicht eindeutig feststellen.
Die Zeichnung belustigte mich, munterte mich irgendwie auf. Ich legte sie sorgfältig auf den Schreibtisch zurück, noch weiter unter die Unterlage, damit sie nicht wieder zu Boden fallen konnte. Später dann erkundigte ich mich nach Ernest Co-.
Tom war noch nicht lange genug hier, doch Simon erinnerte sich an ihn.
»Ernie – Ernie Coke, meinen Sie den? Der Kerl saß vor Ihnen an Ihrem Schreibtisch. Warum fragen Sie nach ihm? Hätte einem an dem etwas auffallen sollen? Ich habe jedenfalls nichts Besonderes bemerkt. Er kam mit Mac-Finster nicht aus. Weiter nicht verwunderlich. Er nannte ihn MacFinicky, den Dünnlippigen und Dünnärschigen. Auch nicht gerade eine Offenbarung. Was sonst? Ernie hatte eine Art Spürnase für Worte. Die haben viele. Auch daran ist nichts Besonderes. Er sagte, er wolle Schriftsteller werden und sitze hier nur seine Zeit ab, bis er den großen Treffer gelandet habe. Doch er hat keinen großen Treffer gelandet, nicht einmal einen Zufallstreffer. Ich glaube nicht, daß er irgendeine Zeile an den Mann gebracht hat oder daß er auch nur einen Leserbrief bei einem Käseblatt unterbringen konnte. Was gibt es sonst noch über ihn zu erzählen? Hatte einen merkwürdigen Sinn für Humor. Er pflegte zu sagen, sein Hintern sei nicht rund, sondern platt und eckig, und daran könne man den Schriftsteller erkennen. Er war nicht verrückter als wir alle hier, nur großmäuliger. Posaunte ständig alles aus, was er dachte. So kündigte er jedesmal an, wenn er sich auf das Klo verzog. So laut, daß es jeder hören konnte. Komisch? Ziemlich verrückt, wenn Sie mich fragen. Zum Schluß führte er nur noch Selbstgespräche. Und zwar laut, sage ich Ihnen, mit einer Lautstärke, als wollte er sichergehen, daß auch alle es hörten, als wollte er jemanden ärgern. Vielleicht wollte er auch nur etwas übertönen – Stimmen in seinem Kopf oder so, denn es hörte sich an, als ob er auf Fragen antwortete, die niemand gestellt hatte. Zuweilen stieß er einen Schrei aus, wirklich spaßig, und man hatte alle Mühe, keine Miene zu verziehen. Von Zeit zu Zeit konnte sich Sandy vor lauter Lachen nicht halten. Doch dann war es überhaupt nicht mehr komisch oder lustig, wissen Sie, sondern ziemlich ernst und persönlich.
Doch ich habe hier einige wirkliche Luis kennengelernt, und auch an Ihrem Schreibtisch saßen ein oder zwei Typen, gegen die Ernie nur ein Waisenknabe war. Was ist los, Richard? Warum dieses plötzliche Interesse?«
Ich hatte keine Ahnung.
Gegen Mittag konnte ich kaum noch ruhig auf meinem Stuhl sitzen. Meg sollte um elf Uhr ankommen. Wenn alles gutging. War alles gutgegangen? Ich schaute immer wieder zur Uhr an der Wand. Sie bewegte sich in Krämpfen weiter; in Abständen von fünf Minuten erklang ein schnappendes Geräusch, und der Minutenzeiger sprang vorwärts, während der Stundenzeiger unruhig zitterte. Wie gebannt starrte ich auf den Minutenzeiger: Hoffnung, Halt, Hoffnung … Unter solchen Umständen konnte man nicht weiterarbeiten.
Ich beschloß, in der Mittagspause nach Hause zu gehen.
Als ich Arragan-Horgan mitteilte, daß ich mich nicht wohl fühle und deshalb für den Rest des Tages freinehmen wolle, meinte er, tief Luft holend: »Menschenskind, das nenne ich einen genialen Gedanken! Sie haben ein Wochenende von drei Tagen vor sich, natürlich rein zufällig.« Zweieinhalb. Doch ich widersprach nicht.
MacFinster, völlig abwesend, nickte nur, und ich bin nicht sicher, ob er überhaupt verstanden hat, was ich ihm erklärte. Im Gehen schaute ich noch einmal über die Schulter zu ihm hin. Er saß hinter seiner Glaswand, in der gleichen Haltung, fummelte und fingerte an seinem Taschentuch herum; es nahm die Form eines Kegels an, dann einer Haube, dann einer Haube für seinen Daumen. Er war offensichtlich tief in Gedanken versunken. Flüchtig schaute er auf, an mir vorbei, glatt durch mich hindurch.
Als ich die Löwen hinter mir hatte, die, zahm wie Schoßhunde, den Eingang zur Bibliothek bewachten, fühlte ich mich schon besser, und noch besser ging es mir, als ich den Fußgängerstrom durchquert hatte, der sich strudelnd vorwärts drängte. Die Stadtluft war übelriechend. Der Grad der Luftverschmutzung war »gefährlich«, schlimmer als das »nicht zufriedenstellend« von gestern. Im Rundfunk hatte ich gehört, daß sie von nun an jeden Morgen im Wetterbericht auch den Meßwert der Luftverschmutzung bekanntgeben wollen.
Als ich aus dem Bus stieg, fühlte ich mich, trotz der Luft, noch viel besser. Mit dem Gefühl, Reichtümer zu besitzen, setzte ich einen Fuß vor den anderen.
»Ist jemand da?« fragte ich, als ich die Tür öffnete. Das ist mein Gewohnheitsgruß.
Ist jemand rar? kam das übliche Echo zurück.
Meg saß allein am Eßzimmertisch. Ihre gespreizten Hände lagen auf dem Wachstuch. Sie starrte sie unentwegt an. Obwohl bereits über Dreißig und trotz allem, was sie durchgemacht hat, sah sie nicht älter aus als vierzehn, keinen Tag älter. Sie sah aus wie ein Mädchen, das gerade in die Pubertät gekommen ist – vielleicht nicht einmal das. Ihr Gesicht klar und kindlich, ihr Mund ein vollkommenes Schmollen, ihre Augen wasserklar, widerspiegelnd, nicht erinnernd. Doch um ihre Augen lagen unverkennbar Aschenreste, ein wenig Erinnern.
»Ich bin da«, sagte ich.
Sie zuckte mit den Achseln, als wenn sie sagen wollte: Das sehe ich selbst. Und was weiter?
»Ich bin nach Hause gekommen, um dich auf einen Spaziergang mitzunehmen. Es ist schön draußen.«
Miss Kay trat ins Zimmer. Sie trug keine Dienstkleidung.
»Schöner Tag?« warf sie ein. »Ich denke, es regnet draußen, und das nennen Sie schön?«
Ich schaute schnell an mir hinab. Auf Schultern und Ärmeln glitzerten frische Regentropfen, und zu meinen Füßen hatte sich sogar so etwas wie eine Wasserlache gebildet, welche die Feststellung von Miss Kay bekräftigte. Außerdem waren meine Haare naß, denn ich hatte meinen Hut vergessen.
»Tatsächlich, es muß wohl – regnen«, räumte ich ein. »Wenn es aufhört, nehme ich Meg mit nach draußen, damit sie ein wenig Bewegung bekommt.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, meinte Miss Kay.
»Ich glaube, Meg würde gern spazierengehen«, erklärte ich mit fester Stimme.
»Sie sprechen wohl besser für sich selbst«, wandte Miss Kay ein.
Natürlich hatte sich Meg während unseres kleinen Disputs in Schweigen gehüllt.
»Möchtest du, Meg?« drängte ich.
»Möchtest du, Meg, was? Du spinnst, das ist schon mal klar«, erklärte Meg und starrte dabei die Wand an.
Ich lachte, was blieb mir anderes übrig.
Dann schickte ich Miss Kay für einige Stunden fort. Sie verließ uns nur zu gern. Zum Abschied warf sie mir jählings den Anzeiger zu. »Warum lesen Sie ihr nicht aus der Zeitung vor, zum Beispiel die Comics oder das Kreuzworträtsel? Das würde Sie beide vor Langeweile bewahren. Was halten Sie davon?«
War da Sarkasmus im Spiel?
Zum Mittagessen bereitete ich Brotschnitten vor, belegte sie mit feingehacktem Schinken und zerschnitt sie zu acht Happen. Meg hatte seit zwölf Jahren keinen Gebrauch mehr von ihren Händen gemacht. Anfangs hatte sie die Hände nicht benutzen wollen, doch mittlerweile fehlte ihr sogar die Kraft, mit ihnen umzugehen, sollte sie auf den Gedanken kommen, sich ihrer wieder zu bedienen. Sie hatte die Hände einer Ikone, elfenbeinfarbene dünne Knochenkegel mit Haut überspannt. Ich schob – zwängte, um genau zu sein – die Brotstücke zwischen Daumen und Mittelfinger von Megs linker Hand, die angefangen hatte, zu zucken und sich zusammenzuziehen. Sie mußte sehr hungrig sein, denn sie hob die Hand mit eigener Kraft zum Mund und schluckte die Bissen ganz hinunter, ohne dabei viel zu kauen. Mit ihrer geöffneten rechten Hand wischte sie sogar über den Tisch, um Brotkrumen einzusammeln, und dabei entstand ein Geräusch wie von Sandpapier. Ich bog die Hand um ihr Glas mit Fruchtsaft; meine Hilfe bestand lediglich darin, daß ich den Boden des Glases anhob. Es hatte beinahe den Anschein, als ob Meg sich selbst mit Nahrung versorgte. Nur so weiter, dachte ich, und Meg wird sich selbst ernähren können. Ich werde mich darum kümmern. Es wird zwar nicht leicht sein, doch ich war entschlossen, Meg anzuspornen.
Das Mittagessen war eine langwierige, mit Sorgfalt durchgeführte Angelegenheit, und es war bereits nach zwei Uhr, ehe ich das Geschirr abräumen konnte. Ich muß in Gedanken jede Bewegung von Meg nachvollzogen haben, getrieben von dem Wunsch, mit ihrem Körper vertraut zu werden, denn nur so ist zu erklären, daß ich mich anschließend wie ausgelaugt fühlte. Wir sollten besser eine Weile zusammensitzen, ehe wir uns nach draußen wagten.
Ich schlug die Zeitung auf und begann laut zu lesen. Meg saß auf dem Sofa und starrte mich an. Jedesmal wenn ich weiterblätterte, las ich erneut das Datum am Kopf der Zeitung. Das ist das erste, was sie einen fragen, bevor sie einen in die … einweisen. Das Datum ist wichtig, Name und Zahl, die zu dem Tag gehören. Sie sind ein Zaubermittel gegen … Wir versuchen jene Worte in diesem Haus möglichst nicht auszusprechen.
Es war bereits später Nachmittag, deutlich nach vier Uhr, als ich erneut von der Zeitung aufschaute. Meg war fortgegangen, hatte das Zimmer verlassen. Sie mußte so leise aufgestanden sein, daß ich es nicht bemerkt hatte. Halbverbrauchtes Licht hatte das Wohnzimmer grau eingefärbt.
Für Meg ist es wichtig, auf den Beinen zu sein und sich zu betätigen. Das hatte ich jedenfalls den Äußerungen entnommen, die gefallen waren, als man mir gestattete, sie nach Hause mitzunehmen. Ich ging ihr nach.
Sie stand, als ich sie fand, vor dem Spiegel, der an der Tür zu ihrem Ankleidezimmer angebracht war. Ich hatte den Spiegel nie gemocht; er hat die Umrisse eines Sarges. Wer weiß, wie lange sie vor ihm, in ihm, gestanden hatte. Ich schüttelte sie derb an den Schultern, die zwischen meinen Fingern nachgaben wie ein Fetzen Stoff; so dünn war sie geworden.
»Wir werden spazierengehen, wie ich dir versprochen habe«, gab ich ihr zu verstehen.
Zu meiner Überraschung ging sie sofort darauf ein, wie ein Soldat auf dem Sprung.
Ich holte ihren Regenmantel und half ihr beim Anziehen.
»Nun, Meg – machen wir uns auf den Weg!«
Welch ein langsames, schwerfälliges Gehen! Ich hatte das Gefühl, als müßte ich eine ganze Kompanie hinter mir her schleppen.
Als wir uns dem Hauseingang zubewegten, glühten wir beide bereits. Ich hatte den Fehler gemacht, daß ich, um Meg ein Beispiel zu geben, meinen eigenen Regenmantel anlegte, ehe ich ihr beim Anziehen half; damit wollte ich sie auch auf die Tätigkeit hinweisen, die als nächste anstand, wollte sie daran erinnern, was sie zu tun hatte. Sie muß ständig erinnert werden; darin sollte vorerst meine Rolle bestehen. Süßer Traum von Vernunft … ich hege große Hoffnungen.
Bald war ich vor Anstrengung durchgeschwitzt. Meg ließ sich hängen. Ihre Hände hochhaltend und die Richtung angebend, drängte ich sie weiter. Wir müssen den Anblick von Gebetstänzern geboten haben. Die Tür am Ende des Flurs schien immer um die gleiche Entfernung zurückzuweichen, die wir uns ihr näherten: eine stets knapp außerhalb der Reichweite liegende Belohnung.
Zum Schluß war ich fix und fertig.
Bewegung, die einem auf so schmerzliche Weise bewußt wird, so beharrlich, so jeden Augenblick gewollte Bewegung, zerfällt am Ende unaufhaltsam in Bruchteile, ein Drittel gehen, ein Drittel des Drittels gehen zu wollen, ein Drittel des Drittels des Drittels gehen zu wollen zu wollen … Ich befand mich nur einige Meter von der Tür entfernt und doch weiter als jemals zuvor.
In diesem Augenblick kam Miss Kay herein.
»Haben Sie Ärger?«
Ich nickte zustimmend.
Miss Kay ließ nicht locker: »Nun, sagen Sie schon, was ist los?« Sie setzte ein Fragezeichen hinter ihre Frage-ohne-Tonlage-einer-Frage, indem sie Meg mit dem Arm, der ihre Hüfte umfangen hielt, ruckartig zu sich heranzog. Das traf mich als ein Stoß ins Kreuz. Hallo, das habe ich aber gespürt!
Megs Widerstreben zerbrach mit dem Stoß, der ihr Kreuz traf.
»Kapiert?« blinzelte Miss Kay mir zu.
Kapiert. Ich verstand sehr wohl, was ich sah. Genau, Meg war jetzt bereit, einen Spaziergang zu unternehmen, fortzugehen.
Obwohl ich nicht die Absicht gehabt hatte, Miss Kay einzuladen, uns zu begleiten, bestand sie darauf, mit uns zu gehen. »Für den Fall, daß Sie wieder in Ärger hineinstolpern«, meinte sie. Wir übersahen sie völlig.
Meg betrachtete angestrengt das unter ihren Füßen dahinfließende Betonpflaster. Ich wollte zur Abwechselung etwas sagen, etwas wirklich Empfundenes. Meg ist schließlich meine Schwester, meine einzige nahe Verwandte, und es ging ihr zwölf Jahre lang dermaßen schlecht, daß sie nicht nach Haus kommen konnte. Daher waren einige Worte fällig. Nicht die nette Phrase Wie-schön-dich-wieder-daheim-zu-haben. Doch etwas anderes war zu schnell bei der Hand, drängte sich auf. So ließ ich die Worte durchgehen, und dann hörte ich mich sagen: »Das ist ein schöner Tag, nicht wahr?«
Der Samstag war wirklich schön, schimmernd in Postkartenfarben. Meg und ich machten uns zu einem Picknick im Park auf. Zum erstenmal schaute sie mich an und lächelte dabei.
Zwischen uns besteht eine unausgesprochene Vereinbarung. Wenn Meg glücklich ist, bin ich es auch; wenn Meg lächelt, dann lächele ich auch.
Wir schlenderten dahin, platschten mit nackten Füßen im Wasser des Sees, aßen auf einer Bank, spazierten noch ein wenig weiter. Dann machte Meg Jagd auf mich, wobei sie fortwährend lachte. Anschließend gab ich ihr einen großen Vorsprung, drei oder vier Meter. Sie bog auf einen Spielplatz ein, und dort stieß ich wieder zu ihr. Sie hatte sich auf das eine Ende einer Wippschaukel niedergelassen und starrte mich mit den weit geöffneten Augen eines Kindes erwartungsvoll an. Ganz und gar verstehend, was sie wollte, legte ich ihre Finger um den Haltebügel. Ich nahm auf dem anderen Ende der Schaukel Platz, um ein Gegengewicht zu ihr zu bilden. Sie ist soleicht, und ich hatte das Gefühl, als ob wir auf einem schwingenden Sprungbrett ein höchst gefährliches Spiel trieben. Unsere Bewegung war abgehackt, stoßweise. Wir stiegen und fielen, stiegen und fielen, jetzt Meg, jetzt ich emporsteigend.
Die Leute, nehme ich an, schauten uns erstaunt zu, vielleicht starrten uns gar die Kinder an. Doch uns konnte nichts stören.