James K. MacDougall
Ruhiges Grab gesucht
Aus dem Amerikanischen von Ute Tanner
FISCHER Digital
James K. MacDougall schrieb die Krimis ›Großes Geld in kleinen Händen‹ (engl. ›Death and the Maiden‹) und ›Ruhiges Grab gesucht‹ (›Weasel Hunt‹).
Ein anonymer Brief lockt Detektiv Stuart auf das Grundstück der Familie Larch. Dort gräbt man gerade ein Skelett aus.
Wer war der Tote? Und wer will mit der Exhumierung schlafende Hunde wecken? Stuart macht sich an die Arbeit. Und sofort greift jemand aus dem Hinterhalt an. Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es ihm offenbar nicht an …
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561572-0
Der Schnee begann zu fallen, als ich ins Büro fuhr. Zuerst wehten ein paar vereinzelte Flocken vorbei, die man auch für Flugasche hätte halten können, aber dann wurden sie so groß, daß ich mich, als ich an der Ecke Lake und West Boulevard an der Ampel warten mußte, über das Lenkrad beugte, um einen Blick nach oben zum Himmel zu tun. Der Fahrer des Wagens neben mir, der auch hinausgesehen hatte, wandte sich zu mir um, bewegte überdeutlich die Lippen zu einem »Es schneit!« und zuckte niedergeschlagen die Achseln. Ich lächelte und hob ebenfalls die Schultern.
Die Ampel wurde grün, und unsere Zwiesprache war beendet. Obgleich es schon später Vormittag war, herrschte dichter Verkehr, aber er rollte zügig. Als ich aus der Tiefgarage kam, begann sich der Schnee in den Gullys und den Ritzen des Gehsteigs zu sammeln. Ich machte, daß ich ins Trockene kam.
Als ich im fünften Stock ausstieg, stand Mary Farrar am Aufzug; offensichtlich wollte sie gerade nach unten fahren. Sie ließ den Finger einen Augenblick auf dem Haltknopf, um mich zu begrüßen. Ich sei viel zu früh wiedergekommen, sagte sie, und sie würde auf dem Rückweg von der Cafeteria kurz bei mir vorbeikommen. Marys Schreibbüro und meine Geschäftsräume liegen auf derselben Etage. Wenn ich etwas zu schreiben habe, schickt sie mir eins ihrer Mädchen, in Ausnahmefällen ist sie auch schon mal selber eingesprungen.
Ich betrat mein Büro, hob die Post auf und ging durch den praktisch nie benützten Warteraum – ich arbeite allein, und meine Klienten kommen fast nur auf Empfehlung – in mein Zimmer, wo ich die Umschläge auf den Schreibtisch legte. Dann zog ich die Vorhänge zurück. Durchs Fenster wirkte die Stadt noch trister; der Schnee wirbelte jetzt in großen trockenen Flocken durch die Luft. Wenn das so weiterging, konnte der Berufsverkehr heute abend lustig werden.
Die meisten Briefe waren uninteressant – Reklamesendungen, Rechnungen und eine verspätete Weihnachtskarte mit dem freundlichen Hinweis, es sei jetzt an der Zeit für mich, bei Bud Selig einen neuen Wagen zu kaufen. Nur zwei Mitteilungen persönlicher Art waren dabei. Ein Freund aus Chicago fragte an, ob ich mit ihm zusammen dort einen Fall übernehmen könnte, ein Sicherheitsproblem im Industriebereich. Mir gefällt Chicago. Eine nette Abwechslung, dachte ich, während ich den zweiten Umschlag öffnete. Er war hier am Ort abgestempelt. Als ich das Briefblatt auseinanderfaltete, fielen zwei Hundertdollarscheine auf die Schreibtischplatte. Der maschinegeschriebene Text war kurz und sachlich:
Sehr geehrter Mr. Stuart! Bitte betrachten Sie die beigefügten zweihundert Dollar als Vorschußhonorar. Fahren Sie am 16. Januar um drei Uhr zum Green Hills Drive 107 – das ist die Einfahrt zum Larch-Grundstück. Dort werden Sie selbst sehen, was zu tun ist. Ich melde mich morgen bei Ihnen im Büro.
Der sechzehnte war heute. Ich besah mir die Banknoten. Sie wirkten echt und waren gebraucht, die Numerierung war nicht fortlaufend. Ich nahm einen Brief in jede Hand und wog sie buchstäblich gegeneinander ab. Den Anruf in Chicago, beschloß ich, konnte ich noch bis zum späten Nachmittag verschieben.
Ich legte die beiden Briefe nebeneinander auf meinen fast kahlen Schreibtisch und schloß die zweihundert Dollar in einer leeren Geldkassette ein. Die Werbesendungen landeten ungeöffnet im Papierkorb, dann machte ich mich daran, meine Rechnungen durchzusehen. Aber der anonyme Brief ließ mich nicht los. Ich las ihn noch einmal. Im Telefonbuch standen unter der angegebenen Adresse ein B.H. Larch und ein Benjamin Larch. Ich nahm mir eine Straßenkarte vor.
Die Tür ging auf. »Störe ich, Dave?«
Es war Mary. »Der Kaffee stammt aus unserem Büro, nicht von unten. Du nimmst einen Schuß Milch, stimmt’s? Oder hat sich in den letzten zehn Tagen dein Geschmack geändert?«
»Nein, ich bin noch ganz der alte. Herzlichen Dank.«
Sie stellte mir den weißen Plastikbecher auf den Schreibtisch und setzte sich in den braunen Kunstledersessel mir gegenüber. »Du siehst gut aus. Es ist fast ein Wunder, daß die Werbung dich noch nicht entdeckt hat. Wie war das Wetter?«
»Nicht schlecht. Ein, zwei Tage Regen, aber die übrige Zeit war es klar; ich bin viel gelaufen.«
»Nur gelaufen?«
»Ja. Wenn ich nicht gelesen habe. Es war sehr erholend.«
Sie nickte. »War viel Betrieb?«
»Nein.«
»Zu abgelegen?«
»Das weniger. Es war nicht die richtige Jahreszeit. Zu Neujahr sind nicht viele Touristen auf Strandspaziergänge erpicht.«
Sie deutete auf die Karte, das Telefonbuch und die Briefe auf meinem Schreibtisch. »Arbeitest du schon wieder?«
»Hier, schau dir das an.« Ich reichte ihr den anonymen Brief.
»Wirst du’s machen?«
»Ja.«
»Es könnte eine Falle sein.« Sie lächelte. »Nicht jeder liebt dich so wie ich.«
»Wie wahr. Wahrscheinlicher allerdings ist, daß sich jemand einen schlechten Witz erlaubt hat. Du solltest dir nicht so viele Fernsehkrimis ansehen.«
Sie legte den Kopf schief. Dann nahm sie sich noch einmal den Brief vor. »Der bringt uns nicht viel weiter. Pica-Schrift, die Maschine ist wahrscheinlich neu oder wird selten benutzt. Billiges Briefpapier aus dem Kaufhaus. Nur ein Name und eine Adresse. Sind sie echt?«
»Ja.« Ich klopfte auf das Telefonbuch.
»Du hast angerufen?«
»Nein, wozu? Wahrscheinlich haben die Leute keine Ahnung von der ganzen Geschichte. Am besten fahre ich tatsächlich mal raus und schaue mich ein bißchen um. Vielleicht läuft mir der Absender ja noch vor morgen früh über den Weg.«
»Es kann nicht schaden, auch am Nachmittag auf der Hut zu sein.«
»Du bist ein Schatz, trotz deiner Lebensweisheiten.« Ich warf ihr eine Kußhand zu.
»Und du bist ganz schön frech. Das kommt davon, wenn man dich allein an einsame Strände fahren läßt.«
»Es wird ein Scherz sein.«
»Jedenfalls kein billiger.«
»Der Betreffende wird sein Geld zurückhaben wollen.«
»Wer will das nicht?« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Hast du etwas zu schreiben?«
»Heute nicht.« Ich wußte, daß sie sich Gedanken über den Grund meiner Reise machte, aber sie stellte keine Fragen.
»So, ich muß wieder los. Nicht jeder bekommt zweihundert Dollar mit der ersten Post. Wenn der Absender sein Geld zurückhaben will, stellst du dich am besten ganz dumm.«
Ich horchte ihren raschen, energischen Schritten nach. Bestimmt, dachte ich, war sie mit zwanzig nicht so attraktiv gewesen wie heute. Aber vielleicht dachte ich das auch nur, weil ich den Vierzigern näher war als den Zwanzigern.
Ich schrieb Schecks auf die Rechnungen aus, ließ mir vom Telefonkundendienst die eingegangenen Anrufe durchgeben und schlug die Zeit tot, bis ich meinte, nach Green Hills hinausfahren zu können. Draußen gingen jetzt nur noch vereinzelte Schneeschauer nieder. Offenbar blieb uns ein neuerlicher Wintereinbruch noch einmal erspart.
Die Stadt hatte sich durch unsere Bemühungen, ständig neue Enklaven für ein naturnahes Leben zu finden, nach allen Seiten hin immer weiter ausgebreitet. Dabei zeigte diese Suche nach dem Garten Eden nur, wie dumm die Menschen sind. Wir hatten ja das Paradies längst verloren, ohne es zu merken – bis auf eine kleine, glückliche Minderheit, wie zum Beispiel die Anwohner von Green Hills Drive. Sie oder vielmehr ihre Vorväter hatten gewußt, was sie taten. Vielleicht gab es also doch noch eine Chance für den Garten Eden und den amerikanischen Traum; allerdings war inzwischen der Platz so knapp geworden, daß wir uns darin würden abwechseln müssen.
Ich nahm die Interstate 90 bis Mayfield; nach weiteren drei Kilometern war ich auf dem Green Hills Drive, der sich in sanften Wellen unter mir hob und senkte. Hier war – anders als in der Stadt – das Autofahren noch ein Vergnügen. Ich freute mich an dem Licht, das durch die Schneewolken hindurchbrach und die grauen und braunen Stämme traf oder das Weiß der Zäune aufleuchten ließ, mit dem manche Bewohner von Green Hills Drive ihre Erfolgsposition augenfällig machten.
Das Grundstück der Familie Larch war zur Straße hin durch eine Mauer abgeschirmt. Vor dem geöffneten Gittertor befand sich ein großer Wendeplatz, auf dem zwei blaue Streifenwagen standen. Ein bulliger Polizist in dunkelblauem Nylonparka winkte mich mit einer roten Signallampe weiter; ich hielt an. Mit raschen, kurzen Schritten kam er auf mich zu.
»Sind Sie blind? Sie sollen weiterfahren. Oder haben Sie hier was verloren?« Das war offenbar nur als rhetorische Frage gemeint, denn als ich sie bejahte, war er einigermaßen verblüfft. Doch er faßte sich rasch. Offenbar wußte er nicht recht, was er von mir halten sollte. »Sie kennen die Larches?«
»Nein.«
Das verblüffte ihn noch mehr. Er blies die Wangen auf, so daß er mich trotz seiner breiten Schultern unwiderstehlich an einen Posaunenengel erinnerte. »Was zum Kuckuck wollen Sie dann hier?«
Ich stellte den Motor ab und stieg aus. »Wer hat hier die Aufsicht?«
»Lieutenant Carlson. Aber er ist oben im Haus.« Er deutete durch das offene Tor; offenbar hatte er seine ursprüngliche Frage vergessen.
»Was ist denn hier los?«
»So genau weiß ich das auch nicht. Aber es ist eine ernste Sache. Sie graben …« Doch dann kehrte sein Mißtrauen zurück. »Was führt Sie her?«
»Sollte ich darüber nicht besser Ihrem Lieutenant Rede und Antwort stehen?«
In seinem Gesicht regte sich nichts. »Sie bleiben, wo Sie sind«, entschied er schließlich. »Ich muß zurück zur Straße.« Er machte ein paar Schritte, sah sich noch einmal nach mir um und wollte offenbar etwas sagen, aber dann rieb er sich nur mit der linken Hand übers Kinn und wandte sich ab.
Die Mauer war etwas über einen Meter hoch, stand aber auf einer ebenfalls gut meterhohen Böschung, so daß ich außer den Bäumen nichts sehen konnte. Über einem leichten Wind hörte ich Stimmen und Kratzgeräusche. Ich schlug den Mantelkragen hoch und ging auf das Tor zu, hinter dem sich die Auffahrt durch die Bäume schlängelte.
Durch die grauen Stämme und Äste hindurch sah ich, daß unter den Zweigen einer Blautanne, die zehn Meter rechts vom Tor direkt an der Mauer stand, eine Gruppe von Männern mit Graben beschäftigt war. Bis auf einen kleinen Glatzkopf waren sie alle in Uniform. Fast gleichzeitig erreichten mich zwei Stimmen, die eine aus der Gruppe: »Verdammt, er hat recht gehabt!«, die andere von der Straße: »He, Sie da!«
Die Entdeckung unter dem Baum war offenbar interessanter als mein Auftauchen, denn niemand achtete auf mich oder den, der hinter mir herrief, während ich mit langen Schritten auf die Gruppe zuging. Ich war an der Blautanne angelangt, ehe mir mein Verfolger die Hand auf die Schulter legte. Dann sah auch er in die Grube unter der Blautanne, in die gerade der Glatzköpfige gestiegen war, seinen dunkelgrauen Mantel bis über die Hüften hochschlagend, um ihn vor dem feuchten Erdreich zu schützen. Behutsam streifte er Erde von Fuß- und Wadenknochen eines menschlichen Skeletts. Es war zehn Minuten vor drei.
Der Mann arbeitete sich geduldig bis zum Knie vor und hielt dann inne, um sich seinen Fund genauer anzusehen.
Dann entdeckte er mich. »Zum Teufel, Bannister«, fuhr er den Polizisten hinter mir an, »bringen Sie den Mann hier weg!« Er deutete zum Tor.
»Ich hab ihm gesagt, daß er draußen warten soll«, verteidigte sich Bannister.
»Was heißt hier warten? Sie sollten überhaupt niemanden hereinlassen.«
»Ich habe ihm gesagt, daß ich den Chef sprechen will«, erklärte ich. Der jüngere Streifenpolizist prustete kurz und hatte offenbar Mühe, sich zu beherrschen.
»Sind Sie Carlson?«
»Er ist noch nicht zurück. Ich erwarte ihn jeden Augenblick.« Er sah die Auffahrt hinauf, die hinter einem kleinen Hügel verschwand, dann wandte er sich an die beiden Männer, die hinter ihm standen. »Varner, Sie begleiten Bannister. Nehmen Sie den Mann mit und sorgen Sie dafür, daß er nicht verschwindet. Und rufen Sie den Coroner an; richten Sie ihm von mir aus, daß wir einen seiner Leute brauchen. Und sagen Sie Lieutenant Carlson Bescheid. Das hier wird ihn interessieren.«
Zu dritt gingen wir zurück zur Straße. Ich setzte mich in meinen Wagen und schaltete das Radio ein. Ein Streichquartett, modern und unvertraut, übertönte das Quaken des Polizeifunks.
Es folgte ein Klaviertrio von Beethoven. Ich wartete fast eine Viertelstunde und versuchte, mich inzwischen mit der Musik und dem Anblick der Spatzen zu trösten, die auf einem über die Mauer ragenden Ast hockten, hin und her hüpften und offenbar heftig miteinander stritten.
Der Skelettfund zwang mich, der Polizei den Brief zu zeigen und meine lächerliche Geschichte zu erzählen. Man würde eine Meinung – wenn nicht gar eine Antwort – von mir verlangen. Und ich hatte keine Antworten zu bieten, ich hatte nur Fragen.
Wenige Minuten, nachdem die Spatzen im Wald verschwunden waren, näherte sich vom Haus her ein dunkelgrüner Wagen ohne besondere Kennzeichen. Der Fahrer war allein. Er stellte den Wagen am Tor ab und verschwand hinter der Mauer; ich sah nur kurz einen schwarzen Regenmantel. Erst um drei Uhr vierzig kamen der Mann mit dem Regenmantel und der kleine Glatzkopf durch das Tor. Carlson trug keinen Hut. Sein dichtes, sandfarbenes Haar, das länger war als es sonst bei Vorortspolizisten üblich ist, wehte im Wind wie das dürre Unkraut an der Mauer. Er sagte etwas zu seinem Kollegen, dann schickte er Varner wieder hinein, kam zu mir und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Lausig kalt draußen. Wo ist Ihr Aschenbecher?« Er angelte sich eine Packung Marlboro aus der Hemdentasche. Ich zog schweigend den Aschenbecher heraus und betätigte den Zigarettenanzünder, aber er nahm seine eigenen Streichhölzer.
»Wie heißen Sie?« Er hatte einen Streifen von Sommersprossen in der Farbe seiner Haare über der Nase und unter beiden Augen.
»David Stuart.«
»Warum haben Sie hier gehalten?«
»Ich bin Privatdetektiv.«
Er schnalzte mit der Zunge. »Sie sind ja ein ganz Schneller.« Er machte das Radio aus.
»Man hat mich fürs Hiersein bezahlt.«
»Ihre Lizenz bitte.«
Ich hatte schon meine Brieftasche herausgeholt und hielt sie ihm geöffnet hin. Er nahm sie nicht in die Hand, forderte mich aber auch nicht auf, die Lizenz herauszuholen.
»Stecken Sie’s weg.« Er zog an seiner Zigarette. »Fürs Hiersein bezahlt? Wie soll ich das verstehen?«
»Dieses Schreiben ging heute bei mir ein.« Ich gab ihm den Brief.
»Es lagen zweihundert Dollar bei, das habe ich als Verpflichtung angesehen.«
»Lobenswerte Berufsauffassung.« Er schnippte seine Asche in Richtung des Aschenbechers, aber sie fiel daneben, landete auf meiner Seite des Kardantunnels und rollte in einem Stück auf die Matte hinunter. Ich setzte meinen rechten Fuß darauf und wartete.
Hier schien sich eine überaus herzliche Beziehung anzubahnen.
»Sie waren noch nie hier?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Weshalb ist man dann Ihrer Meinung nach gerade auf Sie gekommen?«
»Ich weiß nicht einmal, wer auf mich gekommen ist.«
»Was meinen Sie wohl, woher wir wußten, wo wir zu graben hatten?«
»Ein anonymer Brief?«
»Drei anonyme Anrufe, allerdings alle drei heute nach elf. Verstellte männliche Stimme.«
»Der Anrufer wollte also ganz sichergehen, daß Sie auch kommen würden.«
»Und zwar vor Ihrem Eintreffen.« Das war die erste Bemerkung, die eine Verbindung zwischen uns herstellte. »Er hat sogar damit gedroht, die Presse zu verständigen, wenn wir bis heute um drei nichts unternommen hätten.« Er paffte wie wild. »Ich möchte dabeisein, wenn Sie morgen mit ihm sprechen.«
»Da müssen Sie aber viel Zeit mitbringen.«
»Keine Angst, das richte ich mir schon ein.« Er klopfte wieder Asche von seiner Zigarette. Diesmal traf er in den Aschenbecher.
Ich wartete eine Weile und unternahm dann selbst einen Anlauf:
»Haben Sie im Haus etwas erfahren?«
»Sie tun, als ob das Ihr Fall wäre. Was Sie mitgeteilt bekommen, entscheide ich. Schließlich wollen Sie ja Ihre Lizenz behalten. Also keine Mätzchen morgen, wenn ich bitten darf – sonst können Sie ganz schnell einpacken.«
Er saß eindeutig am längeren Hebel, was ihn mir ganz bestimmt nicht sympathischer machte.
»Schon gut, was bleibt mir übrig …« Ich zuckte in übertriebener Hilflosigkeit die Schultern, aber die Ironie entging Carlson. Wenigstens wußte ich jetzt, woran ich war. Ich arbeite sowieso lieber allein. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich oben im Haus mal ein bißchen umhöre?«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber kommen Sie hinterher noch mal bei mir vorbei.«
»Kann ich den Brief haben?«
»Gehört zum Beweismaterial.«
»Ich möchte nur sehen, ob jemand darauf reagiert.«
»Meinetwegen. Aber daß Sie ihn mir nachher wiedergeben!« Er stieg aus. Nicht nur Mary hatte offenbar zu viele Fernsehkrimis gesehen.
»Lieutenant, könnten Sie bitte Ihren Wagen wegfahren?«
Er knallte meine Autotür zu und schrie dem Glatzkopf eine Anweisung zu. Carlson war kein angenehmer Zeitgenosse; ich würde mich bemühen, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Seine Drohung, mich um meine Lizenz zu bringen, war durchaus ernst zu nehmen.
Ein Mord in den Vororten macht unweigerlich Schlagzeilen. Er zerstört die Idylle; aus der Unterströmung, um die alle wissen, wird eine gefährliche Flut. Carlson würde in den nächsten Stunden, vielleicht die ganze Nacht hindurch, nicht zur Ruhe kommen. Die Reporter würden ihn bedrängen und verfolgen, während es für ihn nichts zu verfolgen gab. Wenn er schnell zu Ergebnissen kam, würde er der Held des Tages sein – sonst der Sündenbock. Aber er tat mir absolut nicht leid.
Während die Polizei auf den Coroner wartete, fuhr ich zum Haus hinauf. Das weiträumige, weißgeschindelte Gebäude, das auf der Anhöhe vor mir auftauchte, war eine Überraschung. Ich hatte das Gefühl, mit einer Kutsche vor einem englischen Landgasthof des 18. Jahrhunderts vorzufahren. Das Haus gehörte eigentlich zu einer anderen Welt, und doch wirkte es real in seiner Gediegenheit, gehörte genau an diesen und keinen anderen Platz. Nachdem niemand an die Tür kam, um meine Pferde zu wechseln, fand ich wieder in die Wirklichkeit zurück.
Auch darin unterschied sich das Haus von einem Landgasthof, daß eine große Stille es umgab. Keine Wagen, kein Leben – man hätte denken können, es sei unbewohnt. Absichtlich hatte ich Carlson nicht danach gefragt, wer im Haus sein würde. Ich wollte mich durch sein Urteil nicht beeinflussen lassen. Das schien ihm ganz recht gewesen zu sein; von selbst hatte er sich nicht zu Auskünften bereitgefunden. Nach meinem zweiten Klopfen kam ein Dienstmädchen an die Tür. Ich bewunderte gerade den Blick über den Hang zum Wald. Sie hüstelte diskret.
»Eine herrliche Aussicht«, sagte ich, bemüht, sie versöhnlich zu stimmen. »Mein Name ist Stuart. Ich komme in derselben Angelegenheit wie Lieutenant Carlson.«
Sie musterte mich ein bißchen bedenklich. »Warten Sie hier, Mr. Stuart«, sagte sie schließlich. Sie trat gerade so weit zurück, daß ich hineinkonnte, legte aber offenbar Wert darauf, daß ich an der Tür stehenblieb. »Ich bin gleich wieder da.«
Die Halle war ein großer Raum, von dem eine breite Treppe nach oben führte. Sie enthielt lediglich einen Sekretär, zwei hochlehnige Stühle, einen großen Tisch mit herunterklappbarer Tischplatte und ein paar langweilige Ölbilder. Die Möbel waren echte alte Stücke, aber offensichtlich in Gebrauch, keine sterilen Museumsschätze. Ich ging zu dem Tablett hinüber, auf dem die eingegangene Post lag. Es befand sich – wie zu erwarten gewesen war – kein Umschlag darunter, der meinem Brief von heute vormittag ähnelte. Das Mädchen kam nicht wieder, aber nach wenigen Minuten erschien ein Mann, der etwa Mitte Dreißig sein mochte.
»Mr. Stuart? Ich bin Ben Larch.« Er streckte mir die Hand hin.
»Sie wissen etwas über die Leiche?« Sein Händedruck war fest und sachlich.
»Entschuldigen Sie, aber das muß ein Irrtum sein. Im Gegenteil, ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen.«
Er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Liegt nun auf unserem Grundstück eine Leiche oder nicht? Lieutenant Carlson sagte, man habe ihm von einer Leiche berichtet, und die Polizei sei dabei, in der Nähe der Straße zu graben.«
Der Polizei hatte der Anrufer also gesagt, wonach sie suchen sollte …»Ja, es wurde eine Leiche gefunden. Ein Skelett.«
Er runzelte die Stirn. »Aber wie sollten wir etwas davon wissen?«
Ein flüchtiges Lächeln. »Die Polizei hat mich um die Erlaubnis gebeten, auf meinem Grundstück graben zu dürfen. Offensichtlich wissen Sie mehr als wir. Sind Sie auch von der Polizei?«
»Ich bin Privatdetektiv. Sie sagten ›wir‹ …«
»Meine Mutter, meine Frau und ich. Ich habe noch einen jüngeren Bruder, der aber im Augenblick nicht da ist.«
»Könnte ich mit Ihrer Frau und Ihrer Mutter sprechen?«
Er machte ein skeptisches Gesicht. »Sie haben mir ja noch nicht einmal verraten, was für eine Rolle Sie in diesem Fall spielen.« Seine Stimme klang jetzt entschiedener, aber nicht unfreundlich.
»Nehmen Sie es mir nicht übel – aber das würde ich gern in Anwesenheit aller Familienmitglieder erläutern.«
»Meine Mutter ist sechzig Jahre alt, Mr. Stuart. Ich möchte sie mit dieser unerfreulichen Geschichte nicht mehr als nötig belasten.«
Ich reichte ihm den Brief. Er sah sich die Adresse an, erst dann nahm er den Briefbogen heraus. Mit unbewegtem Gesicht las er die wenigen Zeilen, schob das Blatt wieder in den Umschlag und gab ihn mir zurück.
»Kennt die Polizei diesen Brief?«
»Ja.«
»Und Sie durften ihn behalten?«
»Vorübergehend.« Ich lächelte; er war schnell von Begriff.
»Um ihn mir zeigen zu können?«
»Offenbar. Allerdings wußte ich nicht, wen ich hier antreffen würde.«
»Kommen Sie, ich mache Sie mit meiner Mutter bekannt.« Er wußte wohl noch nicht so recht, was er von mir halten sollte, war aber offenbar entschlossen, mir zu beweisen, daß seine Familie von dem Brief nichts wußte. Wäre ich in seiner Lage, überlegte ich, würde ich es ebenso machen – entweder freiwillig oder weil mir gar nichts anderes übrigblieb.
Er nahm mir meinen Mantel ab und hängte ihn in die Garderobe, dann ging er voraus in einen großen Raum, der Wohnzimmer und Bibliothek zugleich war. Drei Wände waren bis an die sehr hohe Decke mit Büchern vollgestellt. Eine Leiter für die oberen Regale stand in ihrer Führungsschiene an der hinteren Wand. Die vierte Seite des Raums bestand aus kleinen quadratischen Fenstern, aus denen der Blick auf einen steilen, bewaldeten Hang ging. Vor den Fenstern stand eine Sitzgruppe aus gelbem Velours.
Als wir eintraten, saßen dort zwei Frauen, die über einem kleinen, zerbrechlich wirkenden Tisch die Köpfe zusammensteckten, als teilten sie ein Geheimnis. Zuerst schienen sie uns nicht zu bemerken; aber auch als die jüngere uns sah, hatten sie es nicht eilig, sich aus ihrem Gespräch zu lösen. Larch trat hinter seine Mutter und stellte mich vor.
Trotz ihrer weißen Haare wirkte Mrs. Larch nicht wie sechzig. Kerzengerade, in einem braun-gelb karierten Kostüm, sah sie aus, als sei sie gerade von der Vorstandssitzung eines Wohltätigkeitsvereins gekommen; ihre Schwiegertochter, in rotem Strickensemble und weißseidener Spitzenbluse, konnte ich mir gut am Bridgetisch vorstellen. Die junge Mrs. Larch trug ein einziges Schmuckstück, eine schlichte goldene Nadel, fünf Zentimeter über ihrer linken Brust, Mrs. Larch senior trug keinerlei Schmuck.
Larch hatte nichts von dem Brief gesagt, offenbar, um mir Gelegenheit zu geben, seine Familie auf die Probe zu stellen, was seine Mutter sofort zu der Frage veranlaßte: »Was mag wohl ein Privatdetektiv bei uns wollen, Mr. Stuart?« Es klang höflich, aber distanziert.
Ich gab ihr wortlos den Brief.
»Sehr sonderbar. Lies mal, Leslie.«
Die junge Mrs. Larch nahm den Brief, las ihn und streckte ihn mir hin, als handle es sich um eine Rechnung, die sie nichts anging. Sie mochte um die dreißig sein, ein paar Jahre jünger als ihr Mann.
»Denken Sie, einer von uns hätte diesen Brief geschrieben?« erkundigte sich Bens Mutter.
»Nein, aber ich wollte die Frage trotzdem stellen.«
»Die Polizei fand auch, daß er fragen sollte«, schaltete sich der Sohn ein.
»Ich glaubte, dem Polizisten hinreichend klargemacht zu haben, daß wir uns Belästigungen verbitten«, erklärte Mrs. Larch ohne Zorn, aber sehr entschieden. Es war die Stimme einer Frau, die gewöhnt ist, ihren Willen durchzusetzen. »Ich hoffe, ich muß mich nicht an seine Vorgesetzten wenden.«
»Das dürfte nicht nötig sein. Ich habe den Lieutenant darum gebeten, mich zu Ihnen zu lassen. Als er mit Ihnen sprach, wußte er noch nichts von dem Brief.«
»Er kennt meine Einstellung.«
»Sie haben einen herrlichen Blick über das Tal.« Ich wollte die Situation entschärfen und mochte noch nicht gehen. »Stören die Bäume im Sommer?«
»Nicht sehr. Aber der Abhang ist der reinste Urwald. Ich weiß wirklich nicht, weshalb Ben und Leslie unbedingt am Fuß des Hügels bauen wollten.« Sie akzeptierte den Themenwechsel, aber nicht mich.
»Setzen Sie sich doch, Mr. Stuart. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« fragte Larch. Als wolle er seinen offenkundigen Wunsch, die Spannungen abzubauen, noch unterstreichen, knöpfte er sein blaues Jackett auf. Ich ging auf die Geste ein, indem ich mir einen kleinen Scotch geben ließ, den ich eigentlich gar nicht wollte. Er nahm das gleiche, bot aber weder seiner Mutter noch seiner Frau etwas an. Ich fragte mich, ob sie keinen Alkohol tranken, oder ob der Scotch die Friedenspfeife symbolisierte, die nur zwei Häuptlinge miteinander rauchten.
»Sie sollen sich also mit der Leiche befassen, von der vorhin die Rede war«, sagte Mrs. Larch, ohne Herablassung zum Thema zurückkehrend.
»Es ist ein Skelett, Mutter. Mr. Stuart hat es gesehen.« Ben Larch setzte sich zu seiner Frau. Ich saß seiner Mutter gegenüber, meine Außenseiterposition kam klar zum Ausdruck.
»Wird es möglich sein, die Leiche zu identifizieren?« erkundigte sie sich mit Interesse.
»Möglicherweise aufgrund von Gebißmerkmalen oder irgendwelchen Gegenständen, die mit ihr zusammen vergraben worden sind.«
»Eine recht unappetitliche Angelegenheit, nicht wahr?«
»Ich gehe mal nach unten, Liebling.« Leslie Larch strich ihrem Mann übers Knie und stand auf. Sie war schon um die Sitzgruppe herumgegangen, ehe ich dazu kam, aufzustehen. »Nett, Sie kennenzulernen, Mr. Stuart. Vergiß nicht, daß wir heute noch weg wollen, Ben.«
»Nein, keine Sorge.«
Obgleich sie sehr förmlich wirkte, war sie eine sehr attraktive Frau. Es war schwer, ihr nicht nachzusehen, als sie das Zimmer verließ; allerdings schien ich der einzige zu sein, der das so empfand. Mutter und Sohn wechselten einen Blick, dann sahen sie mich an.
»Leslie ist ein empfindsames, intelligentes Mädchen«, erklärte Mrs. Larch.
»Empfindsam – oder taktvoll?« wollte ich wissen.
»Beides. Aber diesmal dürfte es sich um Empfindsamkeit gehandelt haben. Ich bin schon fast eine alte Frau, aber ich kann auch nichts Reizvolles an einem Gespräch finden, das sich um Skelette dreht.«
»Das geht wohl den meisten Menschen so, Mutter.«
»Ich wollte damit nur sagen, daß ein so junges Menschenkind wie Leslie kaum Gefallen an diesem Thema finden dürfte.«
Sie mochten auch damit recht haben, daß sie nichts davon hören wollte.
»Die Schrifttype kommt Ihnen nicht bekannt vor?«
»Nein. Aber mit meiner Maschine, soviel kann ich Ihnen versichern, ist der Brief nicht geschrieben worden, und das ist die einzige Schreibmaschine, die sich im Haus befindet«, erklärte Ben Larch kühl und überlegen.
»Ich wollte Sie nicht kränken. Aber nachdem die Leiche hier gefunden wurde, können Sie es mir sicher nicht verdenken, daß ich mich über eine leicht verfolgbare Spur gefreut hätte.«
»Das ist verständlich, Mr. Stuart.« Mrs. Larch sprach jetzt im gleichen harmlosen Ton wie ihre Schwiegertochter, ehe sie das Zimmer verlassen hatte. »Allerdings gräbt man, wie der Polizeibeamte sagte, unmittelbar an der Straße, wo man der Öffentlichkeit viel näher ist als uns.«
Ich nahm einen Schluck Scotch und nickte. Das Schweigen war gefährlich. Ich beschloß, noch ein paar Dinge zu klären, ehe es noch deutlicher wurde, daß ich eigentlich gehen müßte. »Darf ich Ihnen noch ein oder zwei Fragen stellen? Ich muß Ihnen sagen, daß ich ebenso ratlos bin wie Sie. – Der unbekannte Briefschreiber hat mir einen Vorschuß geschickt, woraus ich schließe, daß er Wert auf meine Dienste legt, aber warum er gerade auf mich kam, ist mir ein Rätsel.«
»Warum nicht«, erwiderte Ben Larch rasch. »Sie stehen doch bestimmt im Telefonbuch. Wahrscheinlich hat man Sie aufs Geratewohl ausgesucht.«
»Wahrscheinlich. Nun, das ist mein Problem.« Ich versuchte, möglichst unschuldig zu lächeln. »Kennen Sie zufällig jemanden, der in den letzten ein, zwei Jahren verschwunden ist? Ein Dienstbote vielleicht, ein Nachbar …«
»Nein. Unser Gärtner hat im Juni gekündigt – eine sehr ungelegene Zeit –, aber verschwunden ist niemand. Außerdem, Mr. Stuart«, fuhr Mrs. Larch fort, »ist es wohl nicht sehr wahrscheinlich, daß ein Mörder sein Opfer in der Gegend zurückläßt, in der er es umgebracht hat.«
»Das ist wahr. Andererseits ist es nicht ganz ungefährlich, eine Leiche zu transportieren.«
»Und nicht sehr beruhigend.«
»Eben. Außerdem handelt es sich um eine besondere Situation, denn jetzt legt offensichtlich jemand Wert darauf, daß die Leiche gefunden wird.«
»Das scheint mir das größte Rätsel zu sein«, meinte Ben Larch.
»Weshalb legt es jemand, der erfolgreich eine Leiche versteckt hat, plötzlich darauf an, seine Tat bekannt werden zu lassen?«
»Genau.« Ich merkte, daß es ihm völlig ernst war. »Nur – meinen Sie nicht, daß es die Frage ist, warum jemand will, daß die Leiche entdeckt wird? Herauszufinden, wer sie dort vergraben hat, ist der nächste Schritt.«
»Ja, das meinte ich natürlich. Vielleicht erfahren Sie es morgen. Falls der Briefschreiber sein Wort hält.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, erscheint mir der Fall nicht sehr verlokkend.« Ich stand auf, mein halbvolles Glas ließ ich auf dem Tisch stehen. »Es war sehr liebenswürdig, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit einer so unerfreulichen Angelegenheit behelligen mußte. Das Haus ist wunderschön. Als ich vorhin davorstand, kam ich mir vor wie auf einem Landgut aus dem achtzehnten Jahrhundert.«
»Das haben Sie gut beobachtet, Mr. Stuart. Bens Vater, mein verstorbener Mann, empfand es ebenso. Deshalb sind wir in diesem Haus geblieben. Er hatte eine schöne Sammlung von Erstausgaben aus dem achtzehnten Jahrhundert.« Sie deutete auf die Bücherwände hinter mir. Es war eine erklärende, keine hinweisende Geste, aber ich wandte mich doch um. »Hauptsächlich britische Werke – er war ausgesprochen anglophil – aber auch ein paar Amerikaner. Interessieren Sie sich für dieses Gebiet?«
»Nicht gerade für dieses Thema. Aber ich finde die Vergangenheit allgemein faszinierend.«
»Ja, das ist sie.« Sie hätte offensichtlich das Thema gern weiterverfolgt, aber ihr Sohn sah auf die Uhr.
»Du weißt ja, Mutter, daß ich heute abend noch weg muß.«
»Sicher, so schlecht ist mein Gedächtnis nun doch noch nicht. Leslie hat es ja vorhin erst erwähnt.« Die Worte und die Stimme klangen kühl. »Ich habe auch noch zu tun.« Sie streckte mir die Hand hin. »Vielleicht hätten Sie Spaß daran, sich gelegentlich Bens Sammlung anzusehen? Sie ist wirklich beachtlich.«
»Gern.« Aber das, dachte ich, waren reine Floskeln. Es war unwahrscheinlich, daß wir uns wiedersehen würden.
»Ich begleite Sie hinaus, Mr. Stuart.« Larch wandte sich an seine Mutter, die jetzt am Fenster stand und ins Tal hinausblickte. Es sah wieder nach Schnee aus. »Wenn es nicht zu spät wird, komme ich nachher noch einmal vorbei.«
Sie wandte sich um, ein starres Lächeln um die Lippen. »Das wäre nett. Guten Tag, Mr. Stuart.«