James K. MacDougall
Großes Geld in kleinen Händen
Aus dem Amerikanischen von Eva Gärtner
FISCHER Digital
James K. MacDougall schrieb die Krimis ›Großes Geld in kleinen Händen‹ (engl. ›Death and the Maiden‹) und ›Ruhiges Grab gesucht‹ (›Weasel Hunt‹).
Der Kidnapper verlangt eine halbe Million Dollar für das kleine Mädchen. Privatdetektiv Stuart würde den Fall lieber der Polizei überlassen, aber schließlich übernimmt er es doch, den Koffer mit dem Lösegeld zu überbringen. Ihm ist verdammt mies in seiner Haut, und prompt läuft alles schief: Der Koffer gerät in falsche Hände, die Polizei taucht auf, und die kleine Susan hat kaum noch eine Chance ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561577-5
Die Hinterräder rutschten nach rechts über den Schneematsch auf die vereiste Fahrbahn. Das Gegensteuern brachte den Wagen zu einer Linksdrehung. Bremsen half nichts. Wir schlitterten hilflos hinter einem Traktor bergab an drei Autos vorbei, die bereits im Graben lagen, und rasten immer schneller auf den Anhänger des Traktors zu. Plötzlich geriet der Anhänger auf den Schneerand am Straßenrand, riß den Traktor zurück und landete im Graben. Wir prallten hart seitlich gegen den Anhänger, die Windschutzscheibe und das rechte Fenster bekamen Sprünge, die Stoßstange verhakte sich quietschend am linken Vorderrad des Anhängers. Mit einem Ruck standen wir.
Ich war gefahren. Das Ganze hatte keine zehn Sekunden gedauert. Nur mit knapper Not waren wir der Katastrophe entronnen. Als wir hielten, schlug mein Kopf gegen das Steuerrad und prallte zurück. Ich blinzelte benommen in das sich im dicken Schneetreiben reflektierende Licht der Scheinwerfer. Terry lag mit dem Kopf am rechten Seitenfenster. Er sagte nichts. Ich berührte seine linke Schulter mit der Hand. Er wandte mir den Kopf zu, ohne ihn vom Fenster abzuheben. Seine Augen waren geschlossen. Als ich mich zu ihm hinüberbeugte, sah ich einen fünf Zentimeter langen vertikalen Schnitt unmittelbar vor seinem Ohr, der oben am Kiefer endete. Blut lief über seine Wange. Er blinzelte ein paarmal, grinste dann und fiel schwach an meine Schulter.
»Dave, du Scheißkerl«, sagte er.
Ich lachte. Wir hatten es überstanden.
Das war vor fünfzehn Jahren nach den Weihnachtsferien unseres ersten Collegejahres gewesen. Terry und ich, wir kannten uns schon seit zwei Jahren und blieben seitdem immer in Kontakt, obwohl wir beide in unsere Heimatorte zurückkehrten, die zweihundertfünfzig Kilometer auseinander lagen.
Damals hatten wir zufällig den gleichen Dozenten um Erlaubnis für die Autofahrt gebeten.
Zufällig. Das ging mir durch den Kopf, als wir erleichtert nach dem Schrecken lachten. Wir fühlten uns glücklich. Und es war mehr als Zufall, das wußten wir beide. Wir hatten einen Augenblick lang gemeinsam den Tod oder zumindest die Möglichkeit des Todes erlebt, und das ist schwer zu vergessen. Wir waren in dieser einsamsten aller Augenblicke nicht so allein gewesen, und wir waren dankbar, daß wir lebten. Vielleicht auch, weil wir wußten, daß wir nicht allein waren.
Zufall war das nur gewesen, weil Terrys Bus, mit dem er bei mir angekommen war, Verspätung hatte. Wir waren aber ja Freunde, und Freundschaft ist nur zum Teil Zufall. Sie besteht eher aus dem, was man aus dem Zufall macht. Und das war der Grund dafür, daß wir uns in dieser Schneenacht zusammen auf der Autobahn befunden hatten.
Es gibt Augenblicke, die wir nie begreifen können und werden. Oder aber wir akzeptieren sie nicht. Karens Tod war einer von diesen. Terry und Ann waren damals gekommen, um mich zu besuchen. Sie redeten, wenn ich Stimmen um mich herum brauchte, und waren still, wenn Schweigen mehr zum Ausdruck brachte.
Vielleicht ist das Leben weniger schmerzhaft, wenn wir weniger darüber wissen.
Terry hatte mich am frühen Nachmittag angerufen, und nun saßen wir uns abends in seiner Küche am Tisch gegenüber.
Diesmal war es Ende Mai und nicht Januar, und die Luft war heiß und stickig. Die letzten Strahlen der Sonne brachen sich auf den orangenen, grünen, goldenen und weißen Tönen der Tapete. Ich hatte meinen Stuhl aus der Sonne gerückt. Terry lehnte sich über den Tisch, er sah krank und elend in dem gelblichen Licht aus. Eine offene Whiskyflasche schimmerte bernsteinfarben zwischen zwei Gläsern, in denen die inzwischen geschmolzenen Eiswürfel lagen. Vor mir stand ein Teller, auf dem die Krümel der Schinkenbrote von meinem Abendessen ein Muster bildeten.
»Ruf die Polizei«, sagte ich.
»Das will ich ja, aber er läßt mich nicht.«
»Du solltest aber.«
»Ich weiß. Aber es war nicht mit ihm zu reden. Sprich du mit ihm. Ich habe ihm gesagt, daß ich mich mit dir in Verbindung setzen werde.«
»Mir wäre es lieber, die Polizei wäre auch dabei.«
»Sprich erst mit ihm allein. Dann können wir immer noch die Polizei rufen.« Dann schlug er mit der rechten Faust auf den Tisch.
»Ich bin ja deiner Meinung, aber wir müssen auf seine Angst Rücksicht nehmen. Vielleicht hat er ja recht.«
Es handelte sich um Kindesentführung. Eins der schlimmsten Verbrechen, denn Angst und Hoffnung sind gleichermaßen schwer zu ertragen. Terry hatte recht und unrecht zugleich. Das hat wohl jeder in einem solchen Fall. Es gab keine Entscheidung, die mit Gewißheit richtig war, denn Entführer haben von vorneherein jede mögliche Situation in ihren Plan einbezogen.
Das Opfer war ein fünfjähriges kleines Mädchen, Susan, das vom Kindergarten nach Hause gelaufen war. Es bestand kein Zweifel darüber, daß Susan entführt worden war, denn ein Lösegeld war bereits gefordert. Terry hatte den Brief gelesen. Der Vater des Kindes war ein Klient von ihm. Er lehrte an der staatlichen Universität, konnte aber mit Lösegeld erpreßt werden, weil seine Frau Geld geerbt hatte. Das war alles eindeutig und klar.
Susan war zwischen 11 Uhr 30 und 12 Uhr 15 im Haus einer Freundin gewesen, und als diese zum Mittagessen ging, hatte sie sich auf den Heimweg gemacht. Sie war nie zu Hause angekommen. Um 12 Uhr 30 hatte ihre Mutter angefangen, in den Häusern ihrer Freunde anzurufen und war, nachdem sie erfahren hatte, wo das Kind zuletzt gewesen war, den Weg, den Susan sonst immer nahm, hinuntergefahren. Ohne Erfolg kam sie um 13 Uhr 15 nach Hause und rief ihren Mann an. Dieser war nicht in seinem Büro, also stieg sie wieder in ihren Wagen und fuhr die Strecke nochmals ab. Bis sie zwanzig Minuten später zum zweitenmal nach Hause kam, war ihr Mann auch eingetroffen. Sie wollte sofort die Polizei rufen, aber er sagte, sie sollte damit warten, weil er im Briefkasten eine Nachricht gefunden hatte. Es war die Lösegeldforderung. John und Carol Stanley sollten eine halbe Million Dollar für die Rückkehr von Susan bezahlen.
Terry hatte einen Bourbon pur hinuntergekippt, während er mir das erzählte. Er war nervös und spielte mit einer Zigarette im Aschenbecher. »Seine Frau wollte die Polizei rufen. Die Nachricht sagte, das sollten sie nicht tun, er wollte sie also beruhigen, indem er mich um Rat fragte. Da habe ich an dich gedacht, Dave. Aber erst nachdem ich versucht hatte, ihn zu überreden, die Polizei zu verständigen. Er wollte es nicht riskieren, und ich kann auch nicht sagen, daß er unrecht hat – nicht bei dieser Kleinstadtpolizei.«
»Vielleicht kümmert sich die Bundespolizei um den Fall.«
»Das hat er alles abgelehnt.«
»Terry, laß dich da nicht zu tief reinziehen.«
»Das ist wohl, wenn es um eine Fünfjährige geht, kaum der richtige Ausdruck«, fuhr er mich an und richtete sich dann in seinem Stuhl auf. »Tut mir leid, Dave, Tatsache ist aber, daß ich ebenfalls daran gedacht habe, mich nicht zu sehr hineinziehen zu lassen, und das gefällt mir auch nicht an mir.«
»Na schön.« Ich nickte. Er war bereits zu tief drin. Vermutlich weil sein eigenes Kind acht Jahre alt war. Jedenfalls hatte er mich aus irgendeinem Grund um Hilfe gebeten, und ich würde seine Wünsche respektieren. Ich konnte nur hoffen, daß er recht hatte. »Dann gehen wir jetzt am besten hin«, sagte ich.
»Danke, daß du so ohne Vorwarnung sofort gekommen bist.«
»Ich hatte gerade nicht so viel zu tun, und außerdem hast du mir bereits gedankt.« Der goldene Abendschein lag nicht mehr über dem Raum, er war jetzt in ein verschwimmendes Blau getaucht. Vielleicht konnte ich versuchen, Terry zu verstehen. »Ich fahre, mein Wagen steht in der Auffahrt.«
»Gut. Dann sage ich Ann Bescheid.«
»Weiß sie noch nichts davon?«
»Nein, aber vielleicht hat sie etwas erraten.« Er stand auf und ging nach oben. »Ich komme gleich.«
Ich hatte verstanden und ging durch die Hintertür zur Auffahrt hinaus. Ein ganz schwacher Windhauch bewegte Zweige und Blätter. Der Boden war trocken und rissig. Der Frühling sah nicht gerade vielversprechend aus. Seine Dürre hatte etwas Bedrohliches, es schien keinen Schutz vor ihr zu geben, nur unter ein paar Bäumen schimmerte das Gras noch grün in der wachsenden Dämmerung. Vier Häuser weiter auf der Straße spielten zwei Jungen mit einem Ball, warfen ihn abwechselnd hoch und höher gegen den Himmel. Einer von ihnen war Terrys Sohn Jim. Dann kam Terry die drei Stufen zur Auffahrt herunter und rief hinüber: »Jim, es wird zu dunkel, komm ins Haus!«
»Gleich, Daddy.«
»Sofort.« In Terrys Stimme lag Besorgnis.
Der Junge warf den Ball weg und kam langsam auf das Haus zu. Terry erschien mir älter an diesem Abend, und das nicht, weil wir uns fast ein Jahr lang nicht gesehen hatten, sondern weil er müde war. Beunruhigt war er außerdem. Seine Stimme, seine Miene, sogar seine Körperhaltung verrieten Angst.
»Ann möchte, daß du bei uns wohnst.«
»Ein Motel wäre für alle Beteiligten einfacher.«
»Nein, hier ist der Schlüssel. Wir haben ein drittes Schlafzimmer, das wir nie benutzen. Es sollte ein Gästezimmer sein.« Er lächelte. »Klingt altmodisch, nicht? Auch ich möchte lieber, daß du bei uns bleibst. Wir können dann besser reden. Und vielleicht, wer weiß, können wir sogar über uns selber sprechen.«
Ich nahm den Schlüssel und steckte ihn in die Jackentasche. »Hoffentlich können wir das.«
Terrys Viertel bestand aus Straßen mit Bäumen vor Häusern, die in den zwanziger und dreißiger Jahren gebaut waren. Terrys Haus war ein typisches Holzhaus mit einer Eingangshalle in der Mitte, drei Schlafzimmern und einer Veranda, die in ein Arbeitszimmer für ihn umgewandelt worden war.
Er hätte mehr erreichen können, mehr verdienen, hätte auch in eine andere Stadt ziehen können. Aber er war hier geboren, in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, und hatte mit einem Stipendium, das ein Versicherungsagent bezahlt hatte, Jura studiert. Anschließend war er nach Hause zurückgekehrt, gewissermaßen um seine Schulden zu zahlen. Für dieses Pflichtgefühl konnte man ihm nur Achtung entgegenbringen. Er war Anwalt und arbeitete für jeden, für Bauern, kleine Geschäftsleute, Mütter, die von der Wohlfahrt lebten, für Ärzte und sogar für die Agentur, die der Inhaber, der ihm das Stipendium bezahlt hatte, hinterlassen hatte. Er beklagte sich nie über Langeweile oder über die Monotonie seiner Arbeit, und auch Ann hatte sich nie beklagt. Ich kannte sie seit sie Terry geheiratet hatte. Wenn Terry besorgt war, wußte ich, daß Grund dazu bestand.
Er dirigierte mich durch den Ort. Ich kannte Wells ganz gut, weil ich schon öfter hiergewesen war. Während der Zeit, in der die beiden dort lebten, war seine Einwohnerzahl von zwanzig- auf dreißigtausend angestiegen, und die Universität steigerte die Einwohnerzahl im Winter bis zu über vierzigtausend. Wir fuhren jetzt auf sie zu, in den Norden der kleinen Stadt, wo die wohlhabendsten Bürger lebten.
Stanleys Haus war halb Holz, halb Ziegelstein, im Tudor-Stil erbaut, das Grundstück nahm einen Viertel Straßenblock ein. Eine Auffahrt im Halbkreis vor dem Haus, eine zweite führte zu der Garage an der Seitenstraße. Eine Reihe von drei bis vier Meter hohen Zedern versperrte die Sicht von der Straße her. Terry klingelte. Wir konnten das Glockenspiel trotz des Geräuschs des Rasensprengers vom Nachbarn hören. Eine ganze Minute verging, bis John Stanley erschien. Er trug einen gelockerten Schlips auf dem aufgeknöpften Hemdkragen. Seine beginnende Glatze war gerötet, die Augen waren verquollen und hatten dunkle Ränder. Er schien mindestens zehn Jahre älter als wir, aber der Glätte seines Halses und der Wangen nach war er es wohl doch nicht.
»Kommen Sie rein, Terry.« Er trat zurück. »Tut mir leid, daß ich Sie warten ließ. Carol hat sich oben hingelegt, und ich war bei ihr. Ich habe ihr etwas Valium gegeben, aber das scheint nicht viel zu helfen.« Er atmete schnell. »Ich habe nicht gewußt, wie schwer das Warten sein kann.«
Drinnen sah er mich an. »Sie sind Stuart?«
Ich nickte.
»Ich bin froh, daß Sie hier sind. Carol wird es auch sein. Danke, daß Sie so schnell gekommen sind.« Er drückte mir die Hand, schloß die Tür und lehnte sich gegen sie. »Ich will hinaufgehen und es ihr sagen. Ich bin gleich wieder zurück.«
Er stieg die breite Treppe mit dem geschnitzten Geländer hinauf. Terry und ich standen in der großen Halle. Terry lächelte. »Mein Gott, bin ich froh, daß du da bist. Er sieht schlecht aus, viel schlechter als heute nachmittag. Er hat gehofft, er wird etwas hören, und das hat er wohl nicht.« Er machte eine Pause. »Vielleicht kannst du ihn dazu überreden, die Polizei zu holen.«
»Ich will’s versuchen.«
Terry nickte und ging durch einen Bogen links in ein Wohnzimmer voran.
»Gehen wir in die Oper diesen Sommer?« fragte ich, um das Thema zu wechseln.
»Ich möchte es gern. Ann will Don Giovanni sehen. Ich werde ihr sagen, daß sie Karten besorgt und einen Tisch fürs Abendessen reservieren läßt. Bringst du Chris mit?«
»Wenn sie Zeit hat, natürlich. Besorgt zwei Karten für mich.«
»Gut.« Einen Moment lang schien er glücklich.
Ann mochte Chris ganz gern, das wußte ich, aber sie hatte etwas gegen diese Beziehung. Erst hatte sie nicht gewußt, was sie sagen sollte, als sie Chris kennenlernte und erfuhr, daß wir zusammenlebten. Wahrscheinlich kränkten wir ihren Sinn für häusliche Sitte und Ordnung. Aber sie freute sich immer, wenn ich da war. Stanley kam ins Wohnzimmer und ging zu seinem Schreibtisch neben dem Fenster. Er holte einen großen weißen Geschäftsumschlag heraus und gab ihn mir. Die Worte, die manchmal aus einzeln ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt waren, stammten aus einer Zeitung, vermutlich einer lokalen. Sie waren mit Tesafilm befestigt. Eine gute Arbeit.
Wir haben Ihre Tochter
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Sie werden von uns hören
Wenn Sie die Polizei benachrichtigen, muß sie sterben.
»Ist das heute mit der Post gekommen, zusammen mit den übrigen Briefen?«
»Ja. Da wußte ich noch nicht, daß Susan nicht nach Hause gekommen war. Ich bin froh, daß ich den Brief aufgemacht habe und nicht Carol. Sie war gerade unterwegs, um Susan zu suchen.«
»Was haben Sie gemacht, als Sie feststellten, daß niemand zu Hause war?«
»Nichts. Ich dachte, der Brief wäre ein schlechter Witz. Dachte, daß Carol Susan irgendwo zum Lunch mitgenommen hätte. Jedenfalls hoffte ich das. Dann kam Carol nach Hause. Sie hatte Susan nicht gefunden und sagte, Susan wäre nicht zum Lunch nach Hause gekommen.«
»Terry sagt, Sie haben die Polizei nicht gerufen.«
»Nein.«
»Aber Terry haben Sie benachrichtigt.«
»Er ist ja nicht von der Polizei. Und mit irgend jemand mußte ich sprechen. Carol war außer sich vor Angst. Und Terry war keine Gefahr, er mußte das Geheimnis einfach wahren. Nicht wahr?«
Stanley blickte Terry verzweifelt an.
»Natürlich, keine Sorge«, beruhigte ihn Terry.
»Sie haben es also Terry gesagt«, nahm ich den Faden wieder auf. »Und Terry hat mir gesagt, Sie wollten auf gar keinen Fall die Polizei hinzuziehen.«
»Ja, das stimmt. Aber ich bin nicht völlig untüchtig. Ich habe bereits angefangen, das Geld zu beschaffen.«
»Und wie?« fragte ich.
»Ich habe einen Scheck von hunderttausend Dollar in Bankaktien eingelöst. Ich habe meinen Schwiegervater angerufen und die anderen vierhunderttausend organisiert.«
»Auf welchem Wege?«
»Er hat durch seine Bank bei meiner Bank für das Geld gebürgt.«
»Wann werden Sie es bekommen?«
»Morgen.«
»Von den Entführern haben Sie nichts mehr gehört?«
»Nein.«
Ich las den Brief noch einmal, legte ihn in den Umschlag zurück und gab ihn Stanley.
»Kennen Sie irgend jemanden, der Ihnen das angetan haben könnte?«
»Ich wußte, daß Sie das fragen würden. Aber ich habe nie mit jemandem wirklich Streit gehabt hier. Vielleicht mal eine kleine Auseinandersetzung mit einem Studenten wegen einer Zensur, aber nichts, das so etwas rechtfertigen würde. Nein, ich kenne niemanden, der das getan haben kann.«
»Na schön, aber überlegen Sie weiter. Terry hat mir erzählt, was Sie ihm berichtet haben. Würden Sie mir jetzt noch einmal wiederholen, was Ihre Tochter Ihrer Kenntnis nach heute getan hat?« Er berichtete von den Geschehnissen, und außer daß er den Namen von der Familie sagte, bei der Susan vor dem Lunch gewesen war, kam nichts Neues dabei heraus. Terry hatte gut zugehört.
»Haben Sie mit den Morgans gesprochen?« fragte ich.
»Ja. Carol hatte es schon getan, und ich dann noch mal. Ich habe ihnen gesagt, daß Susan zu Hause sei, damit sie nicht auch noch anfingen, sich Sorgen zu machen.« Er zögerte. »Mir wäre es lieber gewesen, Carol hätte sie nicht angerufen. Wir wollen nicht, daß es sich rumspricht.« Es klang, als meinte er mich, als er »wir« sagte.
Ich fragte: »Haben Ihnen die Morgans geglaubt?«
»Ich denke doch. Warum sollten sie nicht?«
Ich nickte. »Okay, angenommen, sie haben es geglaubt – was erwarten Sie jetzt von mir?«
»Nichts. Ich bezahle Sie, aber ich möchte nicht, daß Sie irgendwas unternehmen. Der einzige Grund, daß ich Sie holen ließ, war, meine Frau zu beruhigen. Sie wollte unbedingt etwas unternehmen.«
»Sie hat recht.«
»Verdammt noch mal, Sie haben den Brief gesehen. Ich rufe die Polizei nicht, ich gehe kein Risiko ein.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Sie arbeiten mit Terry zusammen, und Sie sind auch Anwalt. Ich erwarte, daß Sie sich still verhalten. Ich habe Ihnen das nur erzählt, weil Terry für Sie bürgt.«
»Kann ich Ihre Frau sprechen?« Ich ging nicht auf seine leeren Phrasen ein.
»Nein. Sie ist völlig fertig, und vielleicht hat sie sich jetzt endlich beruhigt. Ich möchte nicht, daß Sie sie stören.«
»Haben Sie ein Bild von Ihrer Tochter?«
»Ja – und auch eine Beschreibung von dem, was sie anhatte. Aber Sie dürfen das nicht benutzen, bevor ich es Ihnen erlaube.«
»Wird er nicht.« Terry hatte seine Zigarette ausgedrückt und stand auf.
»Versprochen?« fragte Stanley.
»Ja.«
Er ging zum Schreibtisch und kam mit einem Foto in Postkartengröße und einem Zettel zurück. Die meisten kleinen Kinder sehen reizend aus, und Susan war ausgesprochen hübsch. Das Farbfoto war in einem Atelier aufgenommen. Vor dem blauen Hintergrund schien sie hilflos und lächelte in die Kamera.
»Es ist sehr ähnlich und erst ein paar Monate alt«, sagte ihr Vater. »Sie ist hübsch«, antwortete ich.
Auf dem Zettel stand: blaue Jeans, blaue Turnschuhe, ein rotblau gestreiftes Strickhemd.
Wir standen jetzt alle, und Terry und ich sollten eigentlich gehen. Aber ich war so überzeugt davon, daß das, was Stanley tun wollte, verkehrt sei, daß ich noch nicht gehen wollte.
»Mr. Stanley, wann werden Sie mich brauchen?«
»Das weiß ich noch nicht. Jetzt jedenfalls nicht.«
»Ich möchte mir vielleicht den Weg ansehen, den Susan immer nach Hause läuft. Ihre Frau ist ihn abgefahren, ich möchte laufen.«
»Es ist nach zehn Uhr. Was würden Sie jetzt finden? Die beiden Läden auf der Garfield Street sind geschlossen. Und außerdem möchte ich nicht, daß Sie das tun. Vielleicht wohnen die Leute, die sie entführt haben, dort, oder sie beobachten die Straße.«
»Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber ich warte bis morgen früh. Nichts ist immer genau gleich, und es besteht immer die Möglichkeit, daß irgend jemand sie gesehen haben kann.«
»Nein, das Risiko gehe ich nicht ein.« Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und am Hals hinunter.
»Gut, John. Wir warten.« Terry winkte mir ab und schüttelte den Kopf.
»Sie gehen morgen nicht in die Universität? Sie holen das Geld?« Stanley sah mich verständnislos an, ich mußte es also wiederholen.
»Ja, natürlich. Die Bank hat mir zugesagt, daß es nach zehn Uhr bereitliegt.«
»In was für Scheinen?«
»Zwanziger und Fünfziger.«
»Dann brauchen Sie einen Koffer«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Die Numerierung wird fortlaufend und von der Bank notiert sein.«
»Das habe ich befürchtet. Aber wenn ich um gebrauchte Scheine gebeten hätte, wäre die Bank mißtrauisch geworden.«
»Beweist das nicht, in was für einer Klemme Sie stecken? Die Entführer nehmen das Geld vielleicht gar nicht, wenn es numeriert ist.«
»Vielleicht ist ihnen das egal.« Jetzt klang seine Stimme geradezu flehend. »Was soll ich denn sonst machen?«
»Der Polizei Bescheid sagen. Dann wird die Bank auch mitziehen.« Ich erinnerte ihn natürlich nicht daran, daß die Polizei stets gegen die Zahlung von Lösegeld ist.
»Ausgeschlossen.« Er hob beide Hände. »Ich will nichts mehr davon hören. Gehen Sie jetzt bitte, ich bin sehr müde.«
»John«, sagte Terry, »rufen Sie mich an? Ganz gleich, warum, ganz gleich, wann. Ich muß vor neun Uhr im Büro sein.«
»Ja, aber wir müssen tun, was die Entführer sagen.«
»Natürlich. Gute Nacht.«
Terry sagte keinen Ton, bis ich den Motor angelassen hatte.
»Dave, du hättest nicht so in ihn dringen sollen. Du siehst doch, wie er leidet.«
»Irgend etwas stimmt da nicht, Terry.«
»Wie meinst du das?«
»Warum, verdammt noch mal, hat er dich überhaupt gerufen? Oder mich? Er will nicht einmal, daß wir ihn trösten. Er braucht uns nicht für das, was er tun will.«
»Vielleicht will er einfach nur das Gefühl haben, daß irgend jemand ihm helfen könnte. Vielleicht trösten wir ihn schon allein dadurch, daß wir da sind. Er hat doch gesagt, daß seine Frau jemanden wollte. Sie wollte sogar die Polizei einschalten.«
Terrys Stimme legte nahe, daß er fand, sie hätte unrecht.
»Wie gut kennst du ihn eigentlich?«
»Nicht sehr gut. Ich habe den Kaufvertrag für drei Grundstücke, die ihnen gehören, bearbeitet, habe ihre Testamente aufgesetzt und ein mündelsicheres Guthaben für Susan angelegt, aber« – seine Stimme veränderte sich – »es gab eine Zeit … Wir sind hier zusammen aufgewachsen. Wir sind auch gleich alt, nur nach der Schule trennten sich unsere Wege.«
»Das ist eine ganze Weile her jetzt, nicht wahr?« Ich lächelte in mich hinein.
»Ja, schon.«
Wir kamen bei ihm zu Hause an und blieben noch etwas im Wagen sitzen, nachdem ich die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte.
»Er war Klassenältester, und ich war Leiter des Schülerrats. Wir haben beide Basketball gespielt. Kamen beide von der verkehrten Seite der Straße. Aber er hat es weiter gebracht als ich. Komisch, daß uns das jetzt wieder zusammenbringt. Vor zwanzig Jahren hätten wir über die Vorstellung gelacht, daß er einmal eine halbe Million Dollar haben würde. Und jetzt, jetzt da er sie hat, beneide ich ihn nicht darum. Ich bin froh, daß ich nicht an seiner Stelle bin. Ist das sehr selbstsüchtig, Dave?«
»Daß du froh bist, daß du nicht vor dem gleichen Problem stehst wie er jetzt? Nein, keineswegs.«
»Danke.«
»Du hast noch immer irgendwelche idealistischen Vorstellungen über ein Leben, wie es sein sollte. Das dürfte dir den Alltag ziemlich schwer machen.«
»Nein, nicht immer.« Jetzt lachte er etwas. »Ich sehe allerdings Ungerechtigkeiten überall und brauche manchmal ein paar Drinks, um schlechte Nachrichten zu überstehen.«
»Du nimmst die Dinge zu persönlich. Daß dir Susan und die Familie leid tun, ist in Ordnung, aber identifiziere dich nicht zu sehr mit ihnen. Wenn etwas getan werden muß, dann laß mich es tun – oder die Polizei.«
»Du wirst aber jetzt nichts unternehmen, nicht wahr? Er hat dich doch drum gebeten.«
»Ich weiß es nicht.« Ich wußte es tatsächlich nicht. »Kennst du diese Leute, die Morgans, von denen Stanley gesprochen hat?«
»Nein, Dave. Ich vertraue dir, und jetzt keine Fragen mehr. Sage mir aber bitte, was du tust, wenn du was unternimmst, ja?«
»Klar.«
Wir gingen hinein. Ann schlief auf der Couch. Die Lampen waren an. Sie gähnte und streckte die Beine aus, ein offenes Buch lag auf dem Boden.
Sie war nie eine schöne Frau, aber im College recht hübsch gewesen mit ihrem hellbraunen Haar und den hellen blauen Augen. Sie hatte ein freundliches Lächeln und einen ausdrucksvollen Blick, dem man vertrauen konnte. »Seid ihr fertig?« fragte sie, während sie aufstand.
»Ich denke schon«, antwortete Terry.
Sie hätte auf eine so vage Antwort weiterfragen können, aber das tat sie nicht. »Sicher seid ihr hungrig, ich habe heute mittag einen Kuchen gebacken, und ich möchte jetzt ein Stück. Bringen Sie Ihr Gepäck rein, während ich den Kaffee mache.«
»Tu, was sie dir sagt«, meinte Terry und blinzelte mir zu.
»In Ordnung, klingt gut.«
Terry brachte mich nach oben. Das Zimmer hatte eine Schlafcouch, einen Schrank, einen Sessel und einen kleinen Tisch. »Jim wohnt neben dir. Auf der Stange im Schrank hängen Handtücher, das Badezimmer hat dafür nicht genug Platz. Sicher willst du dich frisch machen.«
»Es dauert nicht lange.«
Als ich hinunterkam ins Wohnzimmer, waren alle Lampen an, Terry hatte einen Cocktail in der Hand und Ann hatte zwei Tassen Kaffee und den Kuchen auf den Tisch gestellt.
»Ich habe Ann wegen der Oper gefragt.«
»Ja, ich würde gern gehen. Ich versuche, morgen früh Karten zu bekommen. Wir haben Freunde, die da helfen können«, sagte Ann.
»Ein früherer Kollege, der jetzt für Procter & Gamble arbeitet.«
»Den Job hätte Terry auch haben können.« Ann kam damit verdächtig schnell heraus, und ihr Mund war jetzt eng zusammengepreßt. Sie nahm ihre Tasse in die Hand.
»Das war nichts für mich«, sagte Terry. Es klang wie ein Schlußstrich.
Als ich an dem Abend einzuschlafen versuchte, konnte ich das bedrückende Gefühl nicht loswerden, daß irgendwie alles schieflief. Und ich fragte mich, ob dieses Kind überhaupt noch lebte. Wahrscheinlich. Schließlich war Lösegeld gefordert worden. Aber was für eine Angst mußte Susan haben, bevor sie endlich einschlafen würde.
Mein Schlaf war leicht und nicht gut. Einmal wachte ich auf, als Jim das Badezimmer benutzte. Ich machte Licht, meine Uhr zeigte zwei Uhr vierzig. Ich drehte das Licht wieder aus, bevor der Junge zurück ins Bett gegangen war, blieb aber wach liegen.
Ich wußte jetzt, was mich beunruhigt hatte. Stanley dachte, er könnte sich den Weg aus der Situation heraus erkaufen. Geld war seine einzige Lösung und bildete die Voraussetzung für sein Handeln, das heißt, dafür, daß er nicht handelte. Und das war es, was mich bestürzte, denn passives Nichtstun bringt mich zur Verzweiflung. Nein, Geld ist keine Garantie, weil es keine Garantie für irgend etwas gibt.
Jetzt wußte ich, was ich am nächsten Morgen tun wollte. Und schlief ein.
»Wo ist euer Telefonbuch, Ann?«
»Guten Morgen, es ist in der Schublade dort.« Es war acht Uhr fünfzehn, Terry war vor ein paar Minuten ins Büro gefahren.
Es gab mehr als fünfzehn Morgans, und ich kannte nur ein paar der Straßennamen.
»Kennen Sie einen Morgan, der ein Kind in Jims Schule hat?«
»Natürlich. Roberta Morgan ist Vizepräsidentin des Eltern-Lehrer-Vereins.« Sie nahm das Telefonbuch und suchte einen Namen heraus. »Hier, das ist die Adresse.«
Ich fragte sie, wie ich dorthin käme, und sie zeichnete mir eine kleine Straßenkarte auf. »Zufrieden? Wie wär’s jetzt mit einer Tasse Kaffee und einem Marmeladenbrötchen?«
»Gerne – und übrigens: guten Morgen.«
Sie lächelte, und mir wurde klar, daß sie viel besser als am Abend vorher aussah. Ihr Haar war gekämmt und ihr Gesicht glatter und von gesünderer Farbe. Ich blieb bei ihr am Herd stehen, bis der Kessel bald anfing zu pfeifen. Der Junge kam herein und ging etwas schüchtern an mir vorbei. Er war über das harmlose Alter hinaus und benahm sich etwas verlegen, obwohl er mich kannte.
Ann lächelte zu ihm hinunter. »Komm pünktlich zum Essen, Jim, trödele nicht irgendwo herum.«
»Mache ich, Mom.« Er grinste. »Wiedersehen!« und ging zur Hintertür hinaus, die er mit lautem Knall zufallen ließ. Ann zuckte amüsiert zusammen. »Meistens ist er ganz brav.«
»Was können Sie mehr erwarten?« fragte ich.
Ich setzte mich in die Sitzecke, und sie machte mir Kaffee. Auf dem Tisch lag die Morgenzeitung. Die Schlagzeile lautete: Terroristen halten 217 Geiseln in der Schule. Das war in einem Vorort von Detroit. Alle außer vierzehn Geiseln waren Kinder. »Ist es nicht furchtbar?« fragte Ann.
Ich nickte und las weiter. Acht bis zwölf Männer und Frauen, die mit automatischen Waffen ausgerüstet waren, hatten die Kinder kurz vor Schulschluß gestern festgehalten. Ihr Anführer wurde zitiert, zu den bedingungslosen Forderungen gehörten das Aufhören des Unterrichts nach destruktiven und entwürdigenden Geschichts- und Wirtschafttheorien, sowie die Freilassung eines Mannes, der wegen bewaffnetem Raubüberfall und Mord im Gefängnis saß. Es gab zusätzliche Berichte über Schüler, die noch rechtzeitig geflohen waren, und über Eltern, die schlaflose Nächte hatten.
»Ich kriege eine Gänsehaut bei so was.« Ann setzte sich und strich sich über die Ellenbogen. »Wie können Eltern jemals ihre Kinder wieder zur Schule schicken? Und jeder kauft Gewehre.« Sie runzelte die Stirn. »Und dann werden sie noch verteidigt, ich meine, die Terroristen. Von der Gesellschaft dazu gedrängt. Wer spricht noch von Verantwortung? Von persönlicher Verantwortung?«
Die Gespenster waren real, sie waren aus unseren dunkelsten Ängsten und Gedanken ins Tageslicht der Überschriften marschiert. Nicht als Individuen nur, nein, in Massen. Ich begriff Anns Zorn.
Ich faltete die Zeitung so zusammen, daß die Überschrift verdeckt war. »Was werden Sie heute machen?« fragte ich.