M. Rosine De Dijn
Die Unfähigkeit
Bilanz einer Liebesbeziehung
FISCHER Digital
M. Rosine De Dijn, geboren 1941 in Belgien, ist in Antwerpen aufgewachsen. Sie arbeitet als Autorin, Journalistin und Übersetzerin.
Die Begegnung mit einem verheirateten Mann bringt Marta aus dem Gleichgewicht. Sie gibt ihre Ehe auf. Jahrelang lebt sie in psychischer Abhängigkeit von ihrem Geliebten, den sie bedingungslos liebt und dessen Unfähigkeit, sich zwischen seiner Frau und ihr zu entscheiden, sie lange Zeit erträgt. Auch sie scheint unfähig zu sein, sich aus dem für sie unwürdigen Verhältnis zu lösen. Bleibt am Ende Bitterkeit oder Trauer um den Verlust einer Liebe?
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561600-0
Die Frau in der Gesellschaft
Lektorat: Ingeborg Mues
Textüberarbeitung: Astrid Wirtz
»Wirklich, ich bin sicher, daß alle Herzen, denen wir begegnen werden, so zerbrochen und zerschlagen sind, daß sie nur noch ein Haufen Narbengewebe sind.«
Aus dem »Goldenen Notizbuch« von Doris Lessing
Als ich dir nicht mehr entweichen konnte, bekam mein Leben eine andere Dimension.
In die Seifenblase einer Illusion stopfte ich Kinder und Kräutergarten, Strickzeug und Schafeschlachten, Einmachen und vor allem dieses greifbar Menschliche, die Zärtlichkeit und das Begehren. All dies sind Zutaten aus den wehmütig-romantischen Träumen, ersonnen in der Einsamkeit meiner Jung-Mädchen-Nächte und -Tage.
Wir kannten uns schon sehr lange, bevor es geschah. »Es geht mir nicht ums Bett. Du sollst mir erhalten bleiben«, sagtest du. Aber dann war es nicht mehr aufzuhalten; für mich war es Neuland, dieses Gefühl des Taumelns. Ich war 32 und hungrig. Die spröde Intellektuelle wurde zur Frau, zum ersten Mal. Ich hatte das Gefühl, daß mein Körper runde Formen bekam. Du warst zärtlich, leise und doch bestimmend.
Als ich zum ersten Mal mit dir schlief, hatte ich Muskelkater hinterher.
Meine Körperlichkeit und meine Sehnsüchte waren ungeteilt, ausschließlich. Das hatte ich nie gekannt, also auch nicht weitergeben können. So wurde dann das Leben an der Seite meines introvertierten Mannes in dieser letzten Lüge zur Qual.
Einmal träumte ich, wir gingen gemeinsam durch einen Tunnel, du nahmst mich an die Hand und führtest mich in die Dunkelheit. Schweißgebadet wurde ich wach, versteinert vor Angst, mir schien, als fände ich niemals mehr zurück. Später mußte ich öfter an diesen Traum denken. Der Tunnel.
Aus dem Wissen um die eigene Einsamkeit, wenngleich befangen, schrieb ein Freund meinem ratlosen Mann einen Brief:
den 22. August 1974
Lieber Ernst,
Deine schlechten Nachrichten haben uns sehr betrübt. Und leider weiß ich nur zu gut, daß es kaum Hilfe gibt auf dieser Welt. Du bist da, Ihr seid da allein. Grundsätzlich war ich bisher der Auffassung, wann immer einer von zweien wirklich weiß, daß er den anderen will, hat der andere kaum eine Chance. Aber was sind solche Regeln schon wert, wenn es immer eine Ausnahme gibt. Und Marta scheint dafür gemacht, ständig für Ausnahmen zu sorgen. Du schreibst nichts über die Hintergründe Eurer Schwierigkeiten. Nach meinem damaligen Eindruck ging Marta an Deinem Intellektualismus zugrunde. Wie sie mir zuzischte, als Du einmal hinausgingst: »Er hat mich im Stich gelassen.«
Ich kenne das Gefühl. Meiner Frau warf ich einmal vor – und bei jedem Zerwürfnis kommt der alte Groll wieder hoch –, sie würde jederzeit mit meinem Mörder Tee trinken, wenn sie der Meinung wäre, er sei im Recht. Liebe will nicht mit dem Verstand zu tun haben. Wie das Gefühl ja oft Deinen Verstand kränkt, so kränkt Dein Verstand immer wieder das Gefühl eines anderen. Und Marta hat bei allem Verstand anscheinend ein ausgeprägtes Gefühlsleben. Oh, wie belehrend das klingt!
Aus eigener Erfahrung weiß ich, Du warst kein einfacher Freund. Überaus kritisch, oft verletzend. Daß wir trotzdem heute Freunde sind, mag Dir zeigen, daß Du mit einem sehr starken Gegengewicht aufzuwarten hast. Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wie Marta sich dem entziehen kann (und dabei setzte ich voraus, daß Marta in Eurer Ehe die Zentrifugalkraft ist). Aber Verletzungen können tödlich werden. Du mußt wissen, ob diese Wunde heilbar ist. Und wenn ja, bin ich sicher, daß sie es nur über das Gefühl ist. Keine Verstandesauseinandersetzungen!
Lieber Ernst, ich weiß, wie müßig all unsere Bemühungen sind. Grundsätzlich bewundere ich Marta auch hier, daß sie nicht resigniert sagt: »Was soll’s, wenigstens macht er eine Menge Geld«, sondern daß sie auf die Barrikaden steigt. Ernst, laß Dich einmal im Leben besiegen!
Hier geht alles seinen Gang. Wir erwarten meine Eltern im September. Danach meine Schwiegermutter. Wenn bei Euch alles aus sein sollte, es eine Hilfe für Dich bedeuten würde und Du es einrichten kannst, Du bist jederzeit herzlich eingeladen. Nun laßt es Euch so gut wie möglich gehen, schreib bald mal wieder.
Herzlichst
Ulrich
Ernst und ich hatten uns im Laufe der Jahre nichts Fundamentales aufgebaut. Wir waren nicht ineinander hineingestiegen, wir hatten uns niemals nackt gestellt, uns nicht ausgeliefert. Im Gegenteil, wir haben uns hübsch geschmückt mit Äußerlichkeiten, Belanglosigkeiten, Schein. Eine Liebesehe? Sicher – aber wußten wir, was das war? Hatten wir überhaupt eine Ahnung von diesem Geheimnis zwischen zwei Menschen?
Ich nicht. Ich war neun Jahre jünger und ganz glücklich mit einem Mann, der mir ruhig entgegentrat, mit mir alles gemeinsam unternahm, mich schätzte und achtete. Ich kochte und baute ein eigenes Nest. Auch ich schätzte und achtete ihn, ich liebte die Geborgenheit und das Gemütliche, die harmonischen Stunden, die stille Zweisamkeit. Kein Streit, um Gottes willen, kein Streit. Das Trauma meines Elternhauses voller Spannung, Streit und Ohnmacht, ohne Zärtlichkeit und Nähe, war mir zur zweiten Haut geworden. Meine Jungmädchenträume waren voller Sehnsucht nach Harmonie und Berührung, nach Ruhe und Beisammensein. Träume von Mutter, Vater und Kind spielen.
Ernst lehnte alles Unsachliche, Laute, Unbeherrschte und Affektierte ab. In dieser Atmosphäre ruhte ich mich aus, hier leckte ich meine Wunden. Irgendwo vermißte ich zwar die Anlehnung, das Unperfekte, das körperliche Wahrnehmen, die Leidenschaft, das Erotische und die Tatsache, daß ich meinem Mann alles anvertrauen wollte, auch die vielen kleinen Wunden in mir, die Unzulänglichkeiten und Bedürfnisse, die vielen kleinen und großen Fehler, die Tränen und die Freuden, das Unbeholfene und Unerfahrene, auch das Erfahrene. Aber dafür war in unserer Ehe kein Platz. Ich hatte Angst, Ernst Dinge zu erzählen, von denen ich meinte, er könnte und wollte sie nicht hören. Es würde die Ordnung stören, den Ablauf. Es würde Verwirrung und Intimität bringen. Gerade die Intimität fehlte, dies Vom-selben-Löffelchen-essen-Können. Ich hatte das Gefühl, er würde es nicht verkraften. Und ich wollte keine Vorwürfe, sondern Verständnis.
Instinktiv spürte ich, daß er für meine Sünden und kleinen »Schweinereien« kein Verständnis haben würde. Er war »sauber« und »absolut«. Und so blieb ein ganzes Stück meiner selbst für ihn verborgen.
Er brauchte diese Offenheit nicht. Was vorbei war, war vorbei. Für Ernst war die Welt von unserem Hochzeitstag an in Ordnung. Alles andere wurde verschüttet. Er verbrannte die Briefe und Fotos meiner Vorgängerinnen, und es wurde weiter nie mehr davon gesprochen. Ich wußte und weiß nichts über ihn.
Für mich war der Hochzeitstag ein Anfang, aber auch eine Verlängerung. Ich wollte nichts zuschütten, wollte nichts verbergen, im Gegenteil, ich wollte teilnehmen lassen. Aber ich spürte, Ernst würde nicht teilnehmen. Dies entsprach nicht seinem Naturell.
Ernst lebt nach der Devise: »Da darf ich nicht hinschauen, dann brauche ich mich nicht damit auseinanderzusetzen.« Er zog einen Strich, setzte einen Punkt, vorbei, amputiert. 34 Jahre nicht mehr vorhanden. Wo lagen seine Schmerzen? Seine Sehnsüchte? Seine Leidenschaften? Welche Frauen hatte er geliebt? Meine Fragen störten ihn. Es machte ihn aggressiv. Unsere Ehe plätscherte dahin. Ich lernte ihn nicht kennen – letztlich wußte ich von meinem Mann so gut wie nichts. Später schrieb ich mal in meiner Bitterkeit: Natürlich hält sich eine Zweierbeziehung unter Umständen auch prima mit Benn, Hesse und der Frankfurter Allgemeinen unter dem Arm, vorausgesetzt, man hat das intellektuelle Zeug dazu. Man hat Künstler und interessante Leute im Adreßbuch, man genießt feierlich gedeckte Tische mit teurem Porzellan und Gespräche über die Ruhrfestspiele, man bewundert Landschaften und gotische Kirchen und führt am Kamin sachliche Unterhaltungen. Nur keine Affekte und Illusionen, bloß nicht ausrutschen. Objektiv sein, absolut sein, sich selbst ausklammern, dann erhebt der Mensch sich.
Später habe ich in den vielen, vielen einsamen Stunden nach der Trennung oft über die Geborgenheit und Stetigkeit nachgedacht, die ich verlassen hatte, die Ordnung, den intellektuellen Rahmen, die Fürsorge, die mir zuteil wurde und nach der ich mich doch so manches Mal zurücksehnte. Sie hatte immer etwas Schützendes, Kalkulierbares.
Aber der Weg zurück war undenkbar. Mir wurde bewußt, wie sehr ich eine tiefe menschliche Bindung brauchte. Dieses Gefühl, klein und unsachlich sein zu können, mit einem Menschen, der mich auch im Unrecht warm hält, mit dem ich Tisch und Bett teile, mit dem ich mich raufe, krank bin, traurig bin, singe, lache, arbeite, schlafe, mit dem ich ausrutschen kann, das habe ich im Laufe der acht Jahre Ehe nicht aufgebaut.
Mit wachsendem Wohlstand versteinerte sich gar unser bißchen Intimität immer mehr, das bißchen, das wir uns in den Gründerjahren zurechtgelegt hatten. Alles starb dahin, als echtes Geld verdient wurde, Dinge, die leise binden, die warm halten, Dinge wie Gardinen nähen, sparen für einen kleinen schönen Teppich, ein bißchen Tafelsilber, einen schönen alten Schrank. Und wir starben mit. Plötzlich verschoben sich dann die Machtverhältnisse, und das Wesentliche wurde zum Unwesentlichen, das Unwesentliche zum Wesentlichen. Vielleicht fühlte ich mich um meine Aufgabe betrogen. Die ganze Zärtlichkeit, die ich in den täglichen Dingen verbrauchte, der Freude meines Nestes wegen, wurden unwichtig. Ernst verdiente Geld, viel Geld.
Unsere Partnerschaft geriet aus dem Gleichgewicht; es wurden Kompetenzen abgesteckt. Es hieß nicht mehr »wir«, sondern »ich«. Ein Nachholbedarf setzte ein, materiell wie gesellschaftlich. Ernst büffelte für die Jagdprüfung, war nervös und gereizt durch die Praxis. Unsere gemeinsamen Stunden konnte man zählen. Zum Gespräch kamen wir schon lange nicht mehr. Ich suchte meinen eigenen Bereich, machte Pressereisen, die nicht absolut notwendig waren. Unser Haus füllte sich mit einem Sammelsurium von Menschen. In der Praxis war ich die Angestellte, zu Hause das Mädchen für alles, nach draußen die Journalistin und die Gastgeberin, die hervorragend kochen konnte. Was aber war ich für meinen Mann? Ich hatte das Gefühl, eine schlechte Arztfrau zu sein, eine dürftige Mutter, eine spärliche Geliebte und sicher kein richtiges Waidmannsweib.
Was wollten wir? Jagen? Ausstellungen organisieren? Botschaftseinladungen nachlaufen? Vernissagen abklappern? Und wir? Und unser Kind?
Dann schrieb ich ihm Briefe. Reden hatte keinen Zweck. Er schickte mir alle ungeöffnet zurück – mit der Aufschrift »Brigitte«. Damit war die Sache erledigt.
Wichtig für ihn waren nicht die Briefe. Er regte sich darüber auf, daß ich sie im Büro abgegeben hatte. Was sollte das Personal denken?
Mein Mann hat meine seelische Not nicht wahrgenommen. Aber wer hätte ihm auch dabei helfen können? Seine Erziehung? Sein Elternhaus? Ich sah das Unglück mit offenen Augen auf uns zukommen.
Die Lösung der Bindung – wenn es jemals eine gewesen ist –, ich wollte sie, ich ließ alles laufen, auf mich zukommen – und ich habe nichts dagegen unternommen. Ich wollte mich trennen.
Ernst hat es nicht gesehen, und das nahm er mir übel. Er nahm mir übel, daß ich nicht laut genug geschrien habe. Aber das Bedürfnis, auszubrechen, war stärker als ich selbst. Das Kartenhaus fiel zusammen. Wir konnten uns nicht berühren, wir hatten es nie gelernt, nie getan. Die Geräusche und Gerüche im Haus – alles hatte plötzlich etwas Mechanisches, Gestorbenes.
Ich konnte es nicht mehr ertragen.
Ich löste mich aus der Versteinerung und ging fremd, bewußt. Ernst machte, glaube ich, die Hölle durch. Theoretisch hatte auch er viel eingesehen. Er wollte alles ändern, die Jahre ausradieren, neu anfangen: amputieren. Er wollte alles, nur nicht relativieren. Nur nicht vorsichtig die Vergangenheit aufarbeiten, sich hineintasten. Und ich konnte und wollte nicht aus Pflicht, Anständigkeit, Bequemlichkeit oder ähnlichem umkehren, auch nicht wegen des Kindes. Das bringt kein Glück. Das wußte ich aus meinem Elternhaus.
Ernst hat sich dann, wahrscheinlich aus Verzweiflung, Bitternis, Verletzung und Liebe, so »auf mich gesetzt«, daß ich mich an die Wand gedrückt fühlte, vergewaltigt, gefangen. Liebe ist nicht Besitz, sondern Verzicht. Erst dann besitzt man den anderen.
Damals wurden mir Ernsts Qualitäten besonders bewußt. Ich war bei klarem Verstand. Ich wußte, daß ich sie vermissen würde. Das Loch, in dem ich saß, war tief und erstickend. Ich war leergepumpt, rastlos, heimatlos und zutiefst verletzt. Ich fühlte mich stumpf und aggressiv. Den letzten Rest an Respekt und Achtung für meinen Mann wollte ich nicht zerstören, weder durch Kleinkrieg noch durch kalten Krieg.
Ich glaube, wir haben auch damals schon – später erst recht – immer aneinander vorbeigeredet. Er hat nie verstanden, was ich meinte, daß ich wieder tastbar werden wollte. Wenn ich in Wehmut zu ihm sagte, »du bist nie klein bei mir gewesen«, und er fragte: »Wie klein willst du mich noch haben?«, dann wußte ich, daß er von meiner Sehnsucht nichts spürte, daß er meine Hand nicht ergreifen würde. Ich merkte auch, daß ich ihm nicht helfen konnte, daß ich ihm nie habe helfen können, daß ich ihm Unrecht tat, indem er neben mir vereinsamte. Er kam zu kurz.
Er hat mich nie zu seiner Vertrauten gemacht, nie zu seiner echten Geliebten, zu seiner ersten Konkubine, die bis in die Seele schauen und jeden Fleck am Körper spüren, kennen und fühlen darf.
So konnten wir uns nicht wiederfinden. So trennten sich unsere Wege, sprachlos, wortlos. Ernst und ich waren uns fremd, wir sprachen verschiedene Sprachen, machten andere Gesten. Wir hatten keine Körperlichkeit, Sex vielleicht, aber keine zärtliche Körperlichkeit. Ich habe ihn bestimmt nicht glücklich gemacht. Ich konnte nicht auf ihn zugehen und ihn umschließen, umarmen. Meine Gedanken und Sehnsüchte waren immer weit fort von ihm. Ich habe ihn geachtet, er war gerade und ehrlich. Aber ich habe ihn nicht wecken können. Ich habe ihn auch nicht in mich hineinschauen lassen, habe den Schleier meiner Geheimnisse für ihn nicht lüften können, und ich weiß auch nicht, ob ich dies überhaupt jemals gewollt und deshalb etwas vermißt habe.
Ich frage mich, ob er mich wirklich begehrt hat; der Beischlaf war öde, langweilig. Wenn ich dies nur andeutete, wurde er aggressiv. Er hat meinen Körper nie richtig berührt, nie richtig gestreichelt. Für ihn habe ich keine Brüste, keine Klitoris, keine erogenen Zonen. Wir machten es stillschweigend, schnell. »Du bist frigide«, sagte er einmal.
War mir dies alles bewußt, als ich heiratete? Einiges, sicher. Ich war jung, nicht ganz unerfahren, aber unsicher. Von außen betrachtet stimmte alles: der Intellekt, der Umgang, der Beruf, der Stil, die kleinen Aufmerksamkeiten, die Zufriedenheit der Eltern, der Status und die Liebenswürdigkeit.
Ich war das Mädchen mit der preußischen Erziehung, zum Erfolg verdammt, nicht zum Glück. Ich war das flämische Mädchen, eingebettet in die flämische Geschichte, in das Schicksal dieses gebeutelten Volkes voller Minderwertigkeitsgefühle. Verdammt zum Erfolg, den die Minderheiten aufweisen wollen und müssen – Erfolg als Akt des Überlebens, der so leicht an Fanatismus grenzt. Aus Flandern mußte wieder etwas werden. Das habe ich gelernt. Wir und so auch ich sollten die Träger dieses neuen Staates sein. Träger einer neuen, würdigen Zukunft für ein gedemütigtes, ein unverstandenes Volk. Das hieß Leistung, Bildung, Kultur und Charakterfestigkeit – nicht Wohlstand und Geld, sondern Ideale.
Für Launen und Irrwege eines kleinen Mädchens war da kein Platz. Für Leben und Liebe keine Zeit.
Die neue Generation mußte erst einmal Götter Spukken. Es sollten Eliten sein, unbeugsam und von großem Geiste, intellektuell, unkäuflich wie Jan Breydel und Pieter de Conick, charaktervoll und mystisch wie die Figuren aus dem reichen, historischen Flandern des 14. und 15. Jahrhunderts.
Und so wurden mein Bruder und ich dazu erzogen, ständig besser zu sein als die anderen. Und so lebten wir stets über unsere Verhältnisse. Auf Zehenspitzen.
Meine Eltern: Mutter intellektuell, Vater materiell überfordert. Die Privatschulen waren teuer, von Vater kaum zu verkraften. Aber dafür war unsere Sprache erlesen, geschliffen, auffallend gut. Wir waren hübsche, nette und besondere Kinder. Die Dorfjugend wurde uns versagt. Sie war nicht standesgemäß.
Täglich von morgens früh bis abends spät waren wir in der Stadt, in der Ganztagsschule. Da blieb für Freunde im Dorf wenig Zeit. So oft es ging, stahlen wir uns davon und versteckten uns hinter den Hecken, damit Vater uns beim Dreikönigsingen im Dorf nicht erwischte. Die Bauern liebten es, uns singen zu hören. Sie beschenkten uns liebevoll mit Orangen und Süßigkeiten, die wir dann heimlich, in Taschen um den Hals gebunden, nach Hause schleppten. Nur Mutter durfte das wissen. Und sie verschwieg es. Doch verschwieg sie auch manches, wofür sie sich um unsert- und ihrer selbst willen hätte stark machen müssen.